Wer tot ist lügt nicht - T. H. Campbell - E-Book
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T. H. Campbell

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Beschreibung

Sara Rattlebags Leben steht auf dem Kopf. Sie wurde von ihrem Freund verlassen und der Abschluss des Geschichtsstudiums ist zum wiederholten Mal in weite Ferne gerückt. Da stirbt auch noch ihre Tante Maud. Sara fährt nach Sidbury, um den Nachlass zu regeln. Dort erfährt sie, dass ihre Tante über eine der Klippen an der Jurassic Coast gestürzt ist – allerdings nicht ohne Hilfe. Der einzige Zeuge: Silly Old Joe, der behauptet, mit Geistern sprechen zu können. Dann verschafft sich jemand Zugang zu Tante Mauds Cottage und ein rätselhafter Zeitungsartikel sowie die Memoiren von Saras Tante verschwinden. Es deutet alles darauf hin, dass jemand versucht, seine Spuren zu verwischen. Sara entschließt sich zu ermitteln und die Wahrheit hinter Tante Mauds Tod herauszufinden.

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Ähnliche


Kapitel 1 – Des Wahnsinns knusprige Beute
Kapitel 2 – Ankommen
Kapitel 3 – Gedankenkarussell
Kapitel 4 – Zusammenstoß
Kapitel 5 – Nachlass
Kapitel 6 – Silly Old Joe
Kapitel 7 – Ein Wiedersehen
Kapitel 8 – Bemühungen
Kapitel 9 – Totenwache
Kapitel 10 – Papierstapel
Kapitel 11 – Begräbnis
Kapitel 12 – Friedhofsbegegnung
Kapitel 13 – Memoiren
Kapitel 14 – Schatten
Kapitel 15 – Gespräche
Kapitel 16 – Teatime
Kapitel 17 – Schritte
Kapitel 18 – Beinahe-Date
Kapitel 19 – Reverend Leaves
Kapitel 20 – Ein richtiges Date
Kapitel 21 – Stimmen aus der Unterwelt
Kapitel 22 – Kein natürlicher Tod
Kapitel 23 – Parallelen
Kapitel 24 – Archivmäuse unter sich
Kapitel 25 – Untergetaucht
Kapitel 26 – Verabredet
Kapitel 27 – Kryptische Nachrichten
Kapitel 28 – Entwischt
Kapitel 29 – Es reicht
Kapitel 30 – Gelöst
Kapitel 31 – Verlassen
Kapitel 32 – Alles ist anders

T. H. Campbell

Wer tot ist lügt nicht

Über die Autorin:

 

 

 

Als T.H. Campbell verschlägt es die Autorin Heidi Troi auf die britischen Inseln, die schon von Kindesbeinen an zu ihren Sehnsuchtsorten gehören. Ob Schottland, Irland, Wales oder England – T.H. Campbell hat die Regionen abseits der Hotspots für Touristen erlebt und es zieht sie immer wieder dorthin. Lesend, wandernd oder manchmal auch beruflich.

Mit der Chronistin Sara Rattlebag reist sie zum ersten Mal schreibend nach Devon an die Jurassic Coast, die ihr von ihrer Wanderung über den South-West-Coast-Path in bleibender Erinnerung ist.

 

 

Buchbeschreibung:

 

Sara, ich will dich nicht bitten, dass du meinen Tod rächst. Ich will dich warnen. Er ist gefährlich. Ein schwarzes Herz unter einem blütenweißen Hemd. Achte auf dich Sara. Überlege gut, wem du traust. Pass auf dich auf, Kleines!

 

Sara Rattlebags Leben steht auf dem Kopf. Sie wurde von ihrem Freund verlassen und der Abschluss des Geschichtsstudiums ist zum wiederholten Mal in weite Ferne gerückt. Da stirbt auch noch ihre Tante Maud.

Sara fährt nach Sidbury, um den Nachlass zu regeln. Dort erfährt sie, dass ihre Tante über eine der Klippen an der Jurassic Coast gestürzt ist – allerdings nicht ohne Hilfe. Der einzige Zeuge: Silly Old Joe, der behauptet, mit Geistern sprechen zu können. Dann verschafft sich jemand Zugang zu Tante Mauds Cottage und ein rätselhafter Zeitungsartikel sowie die Memoiren von Saras Tante verschwinden. Es deutet alles darauf hin, dass jemand versucht, seine Spuren zu verwischen.

 

Sara Rattlebag ermittelt – unterstützt von Tante Mauds alten Freunden und zwei Männern, die um ihre Liebe konkurrieren.

 

T. H. Campbell

Wer tot ist lügt nicht

 

Ein Fall für Sara Rattlebag 1

 

 

 

Kriminalroman

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© April 2023 Empire-Verlag

Empire-Verlag OG, Lofer 416, 5090 Lofer

 

Lektorat: Antje Backwinkel – https://buchwinkelei.de/lektorat/

Korrektorat: Julia Kuhlmann – https://www.juliesbookhismus.de/Korrektorat/

 

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –

nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

 

Cover: Chris Gilcher

http://buchcoverdesign.de/

Illustrationen: Adobe Stock ID 264841842, Adobe Stock ID 471568468, Adobe Stock ID 53450549, Adobe Stock ID 248126974, Adobe Stock ID 388709967 und freepik.com.

Kapitel 1 – Des Wahnsinns knusprige Beute

 

»Aaargh!« Sara stemmte mit aller Kraft Nathans überdimensionale Lautsprecherbox hoch, taumelte damit die paar Schritte zum Fenster und beförderte sie mit einem weiteren Brüllen nach draußen. Dann strich sie sich eine ihrer kupferroten Strähnen zurück, die sich während des Kraftaktes aus dem nachlässig geschlungenen Knoten gelöst hatte, und wandte sich Nathans Plattensammlung zu. »Na warte! Dir werde ich’s zeigen!«

Sie hätte schon misstrauisch werden müssen, als er bei seinem Einzug in ihre Wohnung alle seine Besitztümer mit einem gelben Punkt gekennzeichnet hatte. Das tat kein verliebter Mann! Aber jetzt würde sie sich bei ihrem frisch gebackenen Ex rächen. Für die schnörkellose SMS, mit der er vor einer Stunde Schluss gemacht hatte – in einem Moment, in dem sie ihn mehr als sonst irgendwann gebraucht hätte. Dafür, dass er immer so verliebt ihre Sommersprossen gezählt hatte, um dann mit einer Kollegin in den Urlaub zu fahren, die vor allem eines hatte: eine ebenmäßige Haut ohne eine einzige Sommersprosse.

Natürlich war die Reise nur geschäftlich gewesen! Und natürlich sprach die Kollegin jeden in der Firma mit »Darling« an. Und natürlich war es purer Zufall gewesen, dass alle anderen Arbeitskollegen nach und nach abgesagt hatten, sodass am Ende nur Nathan und Catherine gefahren waren. Natürlich – schließlich hatte die Firma gezahlt und eine Stornierung des Hotels war natürlich nicht mehr möglich gewesen. Des Romantikhotels – das hatte Sara inzwischen herausgefunden. Und als wäre das alles nicht genug, dachte Nathan offensichtlich, er könne sie für dumm verkaufen. Als wäre sie so dämlich, ihm abzunehmen, dass zwischen ihm und dieser perfekten Catherine nichts laufen würde …

Sie schluchzte hart auf und schluckte die Tränen sofort wieder herunter. Sie würde nicht weinen. Nicht wegen dieses bescheuerten Kerls. Nein! Sie würde sich genau dort rächen, wo es so richtig wehtat: bei seinen Sammlerstücken. So wahr sie Sara Rattlebag hieß! Mit beiden Händen griff sie sich die alten Vinylplatten, rannte damit zum Fenster und ließ eine nach der anderen in hohem Bogen durch die Luft segeln.

»Da hast du deinen Jimmi Hendrix! Und deine Beatles! Und deinen Frank Sinatra!«

»Gibt es was von Janis Joplin?«

Sara lugte über das Fenstersims nach unten auf die ruhige Seitenstraße in Notting Hill. Ihr Nachbar Gareth stand inmitten von Schallplatten, die teilweise aus ihren Umschlägen gerutscht waren – und winkte mit der Scheibe »Electric Ladyland« von Jimmi Hendrix.

»Sicher!«

»Kann ich hochkommen und die Platte in Sicherheit bringen?« Gareth legte den Kopf schief. »Ich meine, es ist sicher unheimlich befriedigend, mit den Dingern Frisbee zu spielen, aber … die armen Babys können ja nichts dafür.«

Plötzlich entwich all die Wut aus Saras Körper. Gareth hatte recht – weder die Platten noch die Lautsprecherbox konnten etwas für ihre momentane Lage. Sie konnten weder etwas dafür, dass Nathan beschlossen hatte, dass Bling-Bling-Catherine den Platz an seiner Seite dekorativer ausfüllen würde, noch konnten sie etwas für Saras Stiefmutter mit ihrem falschen Lächeln und auch nichts für die bissigen Kommentare, die sie immer dann in Saras Richtung abfeuerte, wenn ihr Vater gerade nicht im Raum war. Am allerwenigsten konnten sie etwas dafür, dass Saras Doktorvater ihre Arbeit gestern zum dritten Mal abgelehnt hatte – mit der Begründung, kein Mensch interessiere sich für die verstärkenden Auswirkungen weiblicher Literatur auf die Entwicklung feministischer Ideen in der Epoche des Regency und reziprok die abschwächende Auswirkung selbiger Literatur auf die feministischen Bemühungen der Gegenwart.

Und niemand konnte etwas für Tante Mauds Tod. Sara schluchzte auf und sank hinter dem Fenster zu Boden. Ihre Tante Maud, ihre absolute Lieblingstante, ihr Zufluchtsort in den Sommern, war tot. Gestern Abend hatte ihr Vater angerufen. Gefühlskalt und sachlich wie immer hatte er sie davon in Kenntnis gesetzt. »Maud ist tot. Kannst du dich bitte um Beerdigung und Nachlass kümmern? Ich komm nicht weg.« Kein »Es tut mir leid.« Nicht einmal die Frage, ob sie selbst wegkam – wozu auch? Ihr Vater wusste zu gut, dass sie gerade mal wieder ohne Job war. Kurz nach dem Gespräch hatte er ihr ein Onlineticket für den Zug und die Kontaktdaten des Bestattungsunternehmens geschickt.

»Alles okay?« Gareths Stimme drang durch das Fenster und holte Sara zurück in die Gegenwart.

Sie wischte sich die Tränen von den Wangen. »Klar. Alles okay. Komm rauf.«

Wenig später stand Gareth in Saras Wohnung. »Mannomann! Du … räumst auf?«

»Kann man so sagen.« Sara schniefte. »Ich räume mit meinem Leben auf.«

»Was ist denn alles davon betroffen?« Mit hungrigen Augen sah er in der kleinen Wohnung umher.

Sara machte eine weit ausholende Bewegung. »Nathan hat auf alle seine Besitztümer einen gelben Punkt geklebt. Bedien dich.«

Gareth stieß einen Freudenschrei aus. »Die Stereo.«

»Nimm sie mit.«

»Die Kopfhörer?«

»Sind deine.«

»Der … Samowar?«

»Nope.« Sara stellte sich schützend vor das Ding. Gareth konnte ihretwegen alles mitnehmen – auch das Doppelbett, auf dem tatsächlich ebenfalls ein gelber Punkt klebte, weil Nathan es bezahlt hatte. Aber der Samowar blieb, wo er war.

»Er hat aber einen gelben Punkt.«

»Hat er nicht.«

»Doch.«

Sara löste den Klebepunkt und schnipste ihn zu Boden. »Hat er nicht. Siehst du?«

»Alles klar. Dann eben nicht …« Gareth zuckte mit den Schultern und begann, Nathans Vinylplattensammlung vom Boden aufzulesen. Kurz darauf verschwand er mit vollen Armen durch die Wohnungstür nach draußen – allerdings nicht, ohne sich vorher noch einmal umzudrehen. »Ich komme gleich wieder.«

Müde signalisierte Sara ihm, dass das in Ordnung war. Dann schaute sie sich um. Ihre Wohnung sah aus, als sei ein Wirbelsturm durchgezogen. Alles lag drunter und drüber. Auch an normalen Tagen herrschte bei ihr das Chaos, doch nach Nathans Nachricht, dass zwischen ihnen Schluss war, hatte Hurrikan Sara ganze Arbeit geleistet. Und dieses Durcheinander würde wohl eine Weile so bleiben, denn in einer Stunde ging Saras Zug – kaum genug Zeit, um einzupacken, was für die kommende Woche das Allernotwendigste war: die Trauerkleidung für die Beerdigung, ein paar Wechselklamotten, ihr Laptop und eine Siebentagesration Kate Kearney’s Dairy Cream Fudge. Für das, was auf sie zukam, brauchte sie Nervennahrung.

Kapitel 2 – Ankommen

 

»Und achte darauf, dass der Grabstein nicht zu teuer wird.«

»Ja, ich werde dafür sorgen.« Am liebsten hätte Sara aufgelegt. Ihr Vater hatte ganz offensichtlich keinen Funken Gefühl. Sie nahm sich vor, den schönsten Grabstein zu besorgen, den sie finden konnte. Koste er, was er wolle. Tante Maud hatte Keltenkreuze geliebt, und ein Keltenkreuz sollte sie haben. Sara konnte zwar mit ihren Gelegenheitsjobs – mal als Aushilfskellnerin, mal als Lehrerin – nur gerade so die Miete und ihren Lebensunterhalt bestreiten, aber das Geld für dieses Grabkreuz würde sie aufbringen. Musste sie aufbringen.

Während die Landschaft an ihr vorbeizog, hörte sie mit wachsendem Ärger den Anweisungen ihres Vaters zu. Kamen die tatsächlich von ihm oder von seiner neuen Ehefrau Felicitas? Inzwischen war er beim Blumenschmuck angekommen.

»Alles, nur keine Lilien …«

»Ja, ich achte darauf.« Sara verzog das Gesicht zu einer verächtlichen Grimasse. Wenn ihr Vater behauptete, dass Tante Maud zu Lebzeiten keine Lilien gemocht hatte, kannte er sie wohl gar nicht. Sara wusste es besser. In Mauds Garten blühten mindestens zwanzig verschiedene Lilienarten, die zu jeder Jahreszeit eine Augenweide waren. Sie hatte diese Blumen geliebt.

»Hast du Trauerkleidung? Du weißt, auf dem Land hängen sie noch an den Traditionen.«

»Ja, Dad.«

»Und halte um Himmels willen die Totenwache klein, ja? Ich hab wenig Lust dafür zu zahlen, dass sich ganz Sidbury auf meine Kosten den Bauch vollschlägt.«

Natürlich nicht, dachte Sara.

»Und frag den Nachlassverwalter, wie viel das Haus wert ist.«

»Mach ich.« Sara war es völlig egal, wie viel Tante Mauds Haus wert war. Ihre Tante lebte nicht mehr darin. Aber es tat ihr weh, dass es für ihren Vater offensichtlich beschlossene Sache war, es zu verkaufen. Genauso wie er mit felsenfester Überzeugung davon ausging, dass der ganze Besitz seiner Schwester an ihn überging.

»Ich lege jetzt auf. Die Verbindung ist grottig.« Sara drückte den Anruf weg und seufzte. Sie konnte ihren Vater nicht mehr ertragen, der nicht einmal versuchte, den Mangel an Trauer über den Tod seiner Schwester zu verbergen. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie noch mindestens zwei Stunden Zugfahrt bis Exeter vor sich hatte. Danach ging es mit dem Bus weiter.

Draußen zog das White Horse von Cherhill vorbei. Zweieinhalb Stunden, berichtigte sich Sara selbst. Sie schloss die Augen und überließ sich den Erinnerungen an ihre Tante.

Maud war die ältere Schwester von Saras Vater Frank gewesen. Zwischen ihr und ihm lagen sechzehn Jahre Altersunterschied und so hatte es in seiner Kindheit kaum Berührungspunkte zwischen den beiden Geschwistern gegeben. Trotzdem hatte sie regen Anteil an Saras Leben und ihrer Entwicklung genommen. In den Ferien, vor allem in den Sommerferien, hatte sie ihre Nichte zu sich nach Sidbury aufs Land geholt, hatte mit ihr ausgedehnte Wanderungen an der Jurassic Coast unternommen – einmal sogar eine mehrtägige auf dem South-West-Coast-Path. Sie war es auch gewesen, die die Liebe zur Geschichte und zu Geschichten, besser gesagt, zu den großen englischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern in Saras Herz gepflanzt hatte. Sara erinnerte sich an lange Vorleseabende, an denen Tante Maud für sie die Geschichten von Jane Austen zum Leben erweckt hatte. Abende, an denen sie zusammen über den Ausgang der Krimis um Henri Poirot gerätselt oder gemeinsam Tränen über das tragische Leben von David Copperfield vergossen hatten. Die schönsten Erinnerungen ihrer Kindheit brachte Sara mit Tante Maud in Verbindung … Nun war sie weg. Sara hatte sie erst vor zwei Wochen besucht. Da schien sie noch vor Gesundheit zu strotzen, war fröhlich, hell im Kopf und umtriebig, wie es nur eine Rattlebag sein konnte.

Wie konnte es sein, dass sie tot war?

Unter Saras geschlossenen Wimpern stahlen sich zwei Tränen hervor, doch sie machte sich nicht die Mühe, sie wegzuwischen. Sie musste ihre Gefühle nicht verstecken. Erstens war ein Mensch gestorben, der ihr lieb und teuer gewesen war, und zweitens saß sie völlig allein in dem Großraumabteil. Während sie sich weitere Begebenheiten mit Tante Maud in Erinnerung rief, nickte Sara schließlich ein.

 

Dreieinhalb Stunden später stand Sara vor Tante Mauds Cottage, das etwas außerhalb von Sidbury am Fuße eines kleinen Hügels stand. Sie ließ den Blick über das Häuschen wandern, das in Kindertagen ihre Zuflucht gewesen war, über das reetgedeckte Dach und die Trockenmauer, die es umrundete und hinter der Rosenbüsche aufragten, die jetzt im Sommer in voller Blüte standen. Tante Maud hatte Rosen geliebt …

Saras Sicht verschwamm. Doch sie fasste sich, packte den Griff ihres Trolleys fester und schob die weiß lackierte Gartenpforte auf. Ein leises Quietschen ertönte. Sara lächelte. Tante Maud hatte nie etwas gegen das Quietschen unternehmen wollen – im Gegenteil. »Da weiß ich immer, dass mich wer besuchen kommt und kann schon mal Tee aufsetzen«, hatte sie gesagt.

Wäre Maud noch am Leben, hätte sie genau in diesem Augenblick die Tür geöffnet und Sara entgegengelacht. Doch die Tür blieb zu. Sara merkte, wie sich in ihrem Inneren etwas verkrampfte. Ein kleiner Teil von ihr hatte bis zu diesem Moment gehofft, dass alles nur ein böser Traum war – doch diese verschlossene Tür war endgültiger als die drei Worte ihres Dads: Maud ist tot.

Sie machte einen Schritt auf das Häuschen zu, holte Luft und … stieß einen schrillen Schrei aus. Eine Hand hatte sich in ihre Schulter gegraben.

»Sara!«

Sara zuckte herum und blickte in das Gesicht von Mauds langjähriger Freundin. »Miss Spinster! Haben Sie mich erschreckt!«

Die alte Freundin von Tante Maud sah stark gealtert aus. Ihr graues Haar lag in wirren Locken um ihren Kopf und wand sich unter einem Stirnband hervor, an dem eine blaue PVC-Sonnenblende befestigt war. Doch ansonsten war sie gekleidet wie der Inbegriff einer alten englischen Dame. Stoffhosen mit Bügelfalten, ein pinker Strickpulli mit dazu passendem Strickjäckchen. Kette, Ohrringe und Lippenstift hatten denselben Farbton wie ihr Outfit.

»Das wollte ich nicht, Kindchen.« Miss Spinster sah zerknirscht aus. »Ich habe auf dich gewartet, um dir den Ersatzschlüssel für das Cottage zu übergeben. Maud hatte ja einen bei mir deponiert. ›Nancy‹, hat sie immer gesagt, ›bewahre du einen Ersatzschlüssel bei dir auf. Man weiß ja nie, was passiert.‹ Und dann ist ja wohl etwas passiert. Es tut mir so leid, Kindchen. Noch dazu, wo es ein völlig überflüssiger Tod war – und so unverständlich. Ich meine, wer hätte jemals gedacht, dass gerade Maud über die Klippen stürzen würde. Sie, die doch immer …«

»Warten Sie mal! Tante Maud ist über die Klippen gestürzt?« Sara starrte Miss Spinster entsetzt an. Tante Maud war hier aufgewachsen. Sie kannte jeden Stein auf den Klippen der Jurassic Coast, wusste um die Zeichen, die einem sogenannten Landslip vorangingen, und stürzte ganz sicher nicht einfach so eine Klippe hinunter.

»Oh, das wusstest du nicht, Kindchen? Tut mir leid, dass du es von mir erfahren musst, aber – ja – sie ist von der Klippe am Salcombee Hill gestürzt. An einem windstillen Tag, mittags, bei Sonnenschein. Es war schrecklich …« Miss Spinster legte Sara die Hand auf den Arm. »Ich glaube übrigens nicht, was die Leute sagen, Sara.«

So sensationslüstern wie Mauds beste Freundin sie ansah, war Sara nicht sicher, ob sie wissen wollte, was die Leute sagten.

Miss Spinster näherte sich ihr vertraulich. »Maud hat sich nicht selbst das Leben genommen. Dazu war sie zu lebensfroh. Obwohl, man kann ja nie in die Menschen hineinschauen. Möglich wäre es schon, denke ich, aber … nein. Ich kann das einfach nicht glauben.«

Die neue Information landete wie eine Ladung Eis in Saras Magen. Tante Maud sollte sich selbst das Leben genommen haben? Ihre lebenslustige und unternehmerische Tante Maud, mit der sie noch vor zwei Wochen Pläne für einen gemeinsamen Urlaub geschmiedet hatte? Das konnte nicht sein. Oder doch?

»Andererseits …« Miss Spinster hob vielsagend eine Augenbraue. »… kann ich auch nicht glauben, dass sie einfach so über die Klippen gestürzt ist. Ich meine … Wir sprechen von Maud!« Zustimmungsheischend sah sie Sara an.

Sara nickte mechanisch.

»Da glaube ich eher an die Fassung von Silly Old Joe. Obwohl die auch völlig abstrus ist. Aber dass Maud über die Klippen springt – oder fällt – ist einfach nur lächerlich. Nicht wahr?«

Sara war sich nicht sicher, ob sie weitere verleumderische Gerüchte über den Tod ihrer Tante vertrug. Schon gar nicht die von Silly Old Joe, der es vor Jahren irgendwie geschafft hatte, am Rande des Militärgeländes von einer verirrten Kugel erwischt zu werden – am Kopf –, und seitdem als leicht verrückt galt. Er sah ständig Dinge, die es nicht gab und hörte Stimmen, die niemand sonst hörte. Manchmal unterhielt er sich nachts auf dem alten Friedhof auch mit den Toten von Sidbury. Nein, auf eine Geistergeschichte, in der Tante Maud die Hauptrolle spielte, hatte Sara wenig Lust. Neugierig war sie trotzdem.

»Was ist denn die Fassung von Silly Old Joe?«

Miss Spinster kam ganz nahe an Sara heran und raunte ihr in verschwörerischem Ton zu: »Er behauptet, jemand habe Maud die Klippe hinuntergestoßen.«

Kapitel 3 – Gedankenkarussell

 

»Er behauptet, jemand habe Maud die Klippe hinuntergestoßen.«

Die Worte schossen durch die Windungen ihres Gehirns und ließen ihre Synapsen Funken schlagen. Eine gefühlte Ewigkeit lang – so lang nämlich, wie die Worte brauchten, bis ihr Gehirn sie verarbeitet hatte, war Sara außerstande, sich zu bewegen. Sie starrte in die aufgerissenen Augen von Miss Spinster und erst, als sich die Welt um sie herum zu drehen begann, erinnerte sich ihr Körper daran, dass er Sauerstoff brauchte. Sara sog in einem tiefen Atemzug frische Luft in ihre Lungen.

Dann wandte sie sich abrupt ab, riss Miss Spinster den Schlüssel des Cottages aus der Hand und marschierte, ohne ein weiteres Wort, auf das Häuschen ihrer Tante zu. Zittrig steckte sie den Schlüssel ins Schloss, sperrte auf und ließ die weiße Tür nach innen schwingen. Unvermittelt flitzte mit einem gequälten Laut Mauds Kater zwischen Saras Beinen hindurch nach draußen und schnell wie der Wind durch das Gartentor auf die Straße.

»Na, der ist erst mal weg«, stellte Miss Spinster fest und fügte vorwurfsvoll hinzu: »Dabei habe ich ganz schön lang gebraucht, um ihn ins Haus zu locken.«

Sara versuchte, ihr schlechtes Gewissen zum Schweigen zu bringen. Tante Maud hatte immer darauf geachtet, dass der Kater im Haus blieb. Einerseits, weil sie keine Scherereien mit den Nachbarn wollte, andererseits, weil er ein Ausbund an Ungeschicklichkeit war.

»Und ich habe keine Lust, Sir Arthur Doyle irgendwann von der Straße zu kratzen.« Sir Arthur Doyle – das war der Name des Katzenviehs. Es gab Sara immer einen kleinen Stich, wenn sie den unvollständigen Namen des Erschaffers von Sherlock Holmes – Sir Arthur Conan Doyle – hörte, nach dem Tante Maud ihren Kater, wegen des kleinen dunklen Flecks unter seiner Schnauze, benannt hatte. Doch ihre Tante hatte ihre Einwände immer abgetan. »Sir Arthur Conan Doyle ist einfach zu lang. Kein Mensch sollte so heißen. Und schon gar kein Kater.«

Nun war Sir Arthur Doyle also nach draußen entkommen und das fühlte sich für Sara bereits wie ein Verrat an – oder eher die Missachtung von Tante Mauds Prinzipien. Aber es war nun mal nicht zu ändern und Sara hoffte, dass der Kater später, wenn sie mit der Katzenfutterdose hantierte, zu ihr zurückkommen würde. Und wenn nicht … Darum würde sie sich später kümmern. Erstmal musste sie all die Informationen verarbeiten, die sie in den letzten Minuten erhalten hatte.

Sie trat in den Flur und drehte sich nochmal um. »Bis demnächst, Miss Spinster.«

»Ja, ja, Kindchen, bis demnächst. Aber …«, Miss Spinster kam mit kleinen Schritten auf das Haus zu, »… ich muss dir noch das hier geben.« Sie streckte Sara einen Zettel hin. Darauf war eine Telefonnummer vermerkt. »Das ist die Nummer von Mr. Fulbright, dem Testamentsvollstrecker. Du sollst dich bei ihm melden, sobald du hier bist.«

Sara nickte, nahm den Zettel entgegen und drückte die Tür vor Miss Spinsters Nase zu. Mit geschlossenen Augen lehnte sie sich an die Wand und ließ sich daran herunterrutschen. Das Quietschen der Gartenpforte verriet ihr, dass Mauds beste Freundin sich verzog. Dann war alles still.

Genau wie vor zwei Wochen roch es nach den Lavendelblüten, die Maud jeden Sommer sammelte und zusammen mit ihren geliebten Rosenblüten in flachen Schalen zu Potpourris anordnete. Darüber konnte Sara den Duft des Apple-Crumbles ausmachen, den Maud immer gebacken hatte, wenn sonntags ihre beiden Freunde, Miss Spinster und der ehemalige Polizist Robert – kurz Bobby Bobby – zum Sonntagstee samt Literaturzirkel gekommen waren.

Sara seufzte und öffnete die Augen. Erinnerungen … Sie schaute durch die Tür in den Hauptraum, in den durch eines der südseitigen Fenster ein Sonnenstrahl fiel. Da war der große Kamin, vor den sie zu Weihnachten immer die Socken gehängt hatten, davor das Sofa, auf dem die wild gemusterte Patchworkdecke lag und die beiden Sessel mit verschieden karierten Bezügen. Auf dem Tischchen, um das Sofa und Sessel angeordnet war, lag ein aufgeschlagener Ordner mit vergilbten Blättern, daneben befanden sich eine Lupe, eine Schere und eine Pinzette.

Sara lächelte. Tante Maud war die selbst ernannte Chronistin von Sidbury gewesen. Jedes noch so kleine Ereignis hatte sie dokumentiert, Bilder von Festen und Feiern eingefordert, Häuser vor und nach ihrem Umbau fotografiert, jeden Zeitungsartikel, der auch nur im Entferntesten mit dem Dorf zu tun gehabt hatte, fein säuberlich ausgeschnitten und in Ordnern wie diesem gesammelt.

»Das ist Zeitgeschichte, Sara«, hatte sie immer gesagt. »Wir wissen nicht, was zukünftige Generationen an unserer Zeit bedeutsam finden werden, aber wir können Informationen für sie sammeln und ihnen unser Wissen weitergeben. Verstehst du?«

Sara hatte verstanden und sich mit Feuereifer ebenfalls in die Archivarbeit gestürzt. Genau wie Maud hatte sie die Lupe über die Artikel der Tageszeitung gleiten lassen, hatte bedeutsame Berichte ausgeschnitten, Häuser vor und nach ihrer Renovierung fotografiert, aufgeschrieben, wer getauft worden, wer geheiratet oder gestorben war.

»Eines Tages wird hier meine Traueranzeige kleben«, hatte Maud einmal gesagt. »Das hoffe ich zumindest.«

Und Sara hatte mit dem Kleine-Finger-Schwur gelobt, dafür zu sorgen, dass auch Mauds Tod in der Chronik von Sidbury festgehalten wurde.

Sie griff in ihre Handtasche und holte den Rest ihres Reiseproviants hervor – Kate Kearney’s Dairy Cream Fudge. Damit ausgerüstet, stemmte sie sich hoch und ging hinüber zum Tischchen. Sofort fiel ihr die Schlagzeile eines Artikels ins Auge: »Tote nach Klippensturz unauffindbar.« Sie erstarrte. Den Tod ihrer Tante schwarz auf weiß dokumentiert zu sehen, machte ihn so wirklich. War sie bereit dafür? Gegen ihren Widerstand näherte sie sich dem Ordner. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen, die Wörter in ihrem Kopf und so brauchte sie ein paar Anläufe, bis sie realisierte, dass es sich nicht um einen Artikel über Tante Mauds Unfall handelte, sondern um ein Ereignis aus dem Jahre 1995. Gedankenverloren schob sie eines der Fudges zwischen ihre Lippen. Während sich die tröstende Süße in ihrer Mundhöhle ausbreitete, überflog sie die Zeilen. Waren die Ähnlichkeiten Zufall? Ein Zeuge hatte gesehen, wie eine Frau mittleren Alters von der Klippe am Salcombe Hill gestürzt war, die Flut und ein aufkommender Sturm hatten die Bergungsarbeiten behindert, und so hatte die Leiche nicht geborgen werden können. Man vermutete, dass es sich bei dem Unfallopfer um eine gewisse Elizabeth Walker handelte, die einen sechsjährigen Sohn hinterließ. Der Verfasser des Artikels stellte Parallelen zu Geraldine O’Connor her, einem Adelsfräulein, das zu Zeiten von Queen Victoria auf dem Anwesen Sidbury Manor gelebt und geliebt hatte. Offenbar hatte es keine Gegenliebe des angetrauten Barons gegeben, der sie – so munkelte man noch Jahrhunderte später – die Klippen hinuntergestoßen hatte, um eine jüngere Frau zur Baroness machen zu können. Auch Sara kannte die Geschichte, Tante Maud hatte sie ihr oft genug erzählt – am liebsten, wenn der Nebel das Land in eine gespenstische Stimmung getaucht hatte. Denn die Legende erzählte, dass die junge Baroness als Geist auf die Burg zurückgekehrt war und ihrem Ehemann das Leben schwergemacht hatte – woraufhin er sich ebenfalls die Klippen hinuntergestürzt hatte. Dass dies freiwillig geschah, wurde in der Legende allgemein bezweifelt. Ein weiteres Fudge wanderte in Saras Mund, während sie den Artikel weiterlas. Offenbar hegte der Verfasser leise Zweifel, was die Umstände des Todes von Elizabeth Walker anging. Er begrüßte die Ankündigung der Polizei, dass man untersuchen werde, ob es sich tatsächlich um einen Unfall oder um Fremdverschulden gehandelt hatte.

Neben dem Artikel waren zwei Bilder abgedruckt. Auf dem einen war eine Frau zu sehen – vermutlich das Opfer –, das andere zeigte die Klippen am Salcombe Hill, etwas östlich von Sidmouth. Direkt an den Klippen verlief der South West Coast Path, ein Fernwanderweg, über den man von Minehead in Somerset aus an der Küste entlang ganz Cornwall umrunden und bis nach Poole Harbour in Dorset wandern konnte. Zwischen Land und Klippen war kein Zaun. Das war Tante Maud ein Dorn im Auge gewesen, seit sich Sara erinnern konnte. Unzählige Male hatte sie ihre Nichte eindringlich gebeten, sich vom Klippenrand fernzuhalten, hatte Saras Sinne für die Geräusche geschärft, die einen Erdrutsch ankündigten. Nie und nimmer hätte Maud sich dem Klippenrand so weit genähert, dass es gefährlich geworden wäre. Und doch war sie in die Tiefe gefallen, oder gestoßen worden. Sara schälte ein weiteres Fudge aus seinem Papier und steckte es sich in den Mund. Unwillkürlich kamen ihr die Worte von Miss Spinster in den Sinn. Silly Old Joe war verrückt, aber hieß es nicht immer, Narren und Greise sprächen die Wahrheit? Doch wer sollte ausgerechnet Tante Maud über die Klippe und in den Tod stoßen wollen? Tante Maud, die ihr Leben lang nur Gutes getan hatte? Sara schüttelte den Kopf. Silly Old Joe war verrückt. Es musste etwas anderes dahinterstecken.

Aber warum hatte Maud den Ordner aus dem Jahr 1995 herausgesucht? Warum lag er immer noch hier, aufgeschlagen auf der Seite mit dem gleichen Unfall, den sie dann selbst erlitten hatte?

Kapitel 4 – Zusammenstoß

 

Der Testamentsvollstrecker hatte seine Kanzlei in Lyme Regis und Sara kein Auto. Zu Fuß war die Strecke von drei Meilen zwar zu bewältigen, doch in der nachmittäglichen Julihitze kam man auch ohne einen Gewaltmarsch ins Schwitzen.

Sara trat durch die Küchentür in den Hintergarten des Cottages, der – ähnlich wie der Vorgarten – vor Farben nur so strotzte. Alle Arten von Rosen blühten um die Wette, und an der Steinmauer wechselten sich Lilien mit Lavendel und verschiedensten Küchenkräutern ab. Ein buntes Durcheinander an Farben und Gerüchen, so typisch für Maud. Sie hatte diese Vielfalt geliebt und Stunden hier zugebracht. In der hinteren rechten Ecke stand ein kleines Gartenhäuschen, das von Wicken überwuchert war. Darin stand Tante Mauds Fahrrad – hoffte Sara zumindest.

Mit einiger Mühe stemmte sie die Tür auf und stellte erleichtert fest, dass der Drahtesel tatsächlich da war. Es handelte sich um ein altes Militärfahrrad aus dem Zweiten Weltkrieg, das Tante Maud irgendwann auf einem Flohmarkt gekauft und bis zum heutigen Tag in Schuss gehalten hatte. In einem Blechköcher, der an der Lenkstange angebracht war, hatte sie Zeitungen transportiert, in dem Eisenkoffer, der an der Oberstange baumelte, hatte sie statt Panzerfäusten ihren Geldbeutel verstaut, und auf dem Gepäckträger hatte sie einen großen quadratischen Korb festgezurrt, in dem ihre Einkäufe und mehr Platz fanden.

Sara prüfte den Luftstand in den Reifen und stellte zufrieden fest, dass sie prall gefüllt waren. Sie schob das alte Ding aus dem Schuppen und durch den Garten. Auf der Straße vor Mauds Cottage stieg sie auf und trat in die Pedale. Bald hatte sie die Häuser von Sidbury hinter sich gelassen und rollte die schmale Straße entlang durch die Wiesen.

Schön war es hier. All das Grün beruhigte Geist und Seele. Statt der grauen Häuserwände in London gab es von Hecken umfasste Weiden, auf denen Schafe grasten, und auch der Verkehr war nicht nennenswert. Hin und wieder überholte sie ein Wagen, aber mehr …

Ein Wagen rauschte so dicht an ihr vorbei, dass der Rückspiegel ihre rechte Hand streifte. Sie geriet aus dem Gleichgewicht und stürzte in hohem Bogen in die gerade so innig bewunderte Hecke. Dornen zerkratzten ihr das Gesicht, die Pedale ihre Beine. In ihren Ohren kreischte eine Autobremse, dann wurde es schwarz um sie. Schritte näherten sich.

»Verdammt! Sie ist tot. Was hast du gemacht, Dad?«

»Sie ist nicht tot, Zac. Sieh mal, ihre Brust hebt sich.«

Redeten die über ihre Brust? Was war das bloß für ein Benehmen? Gab es keine wahren Gentlemen mit feinen englischen Manieren mehr? Und wohin waren die Zeiten entschwunden, in denen Männer beim Anblick eines Knöchels errötet waren? Nun knieten sie über halbtoten Frauen am Straßenrand und unterhielten sich über deren Brüste. Sara stöhnte unwillig.

»Ihre Augen flattern. Sie kommt gleich wieder zu sich. Komm, lass uns weiterfahren.« Das kam von »Dad«.

Weiterfahren? Sie lag halbtot im Straßengraben und der Typ wollte weiterfahren?

»Dad! Das ist Fahrerflucht.«

Ah! Zumindest einer hatte Anstand.

»Miss … Wachen Sie auf! Geht es Ihnen gut, Miss?«

Uuups! Da waren Finger auf ihrem Oberkörper. Nicht gerade auf ihrer Brust, aber auch nicht weit davon entfernt. Finger, die sie anstupsten. Und höher wanderten … und …

»Halt! Stopp!« Sara schlug die Augen auf. »Weg mit den Grabschfingern!«

»Sorry.«

Der junge Mann, der neben ihr kniete, zog seine Finger zurück und hatte den Anstand zu erröten. Gut so. Das Rot stand ihm gut zu Gesicht. Es wurde so schön von seinem Haar aufgenommen, das noch röter aufflammte als ihr eigenes.

»Sie sind wach? Geht es Ihnen gut?«

»Ja. Danke. Und auf Wiedersehen.« Sara rappelte sich auf und schüttelte benommen den Kopf. »Ich muss das mit der Beerdigung klären.«

»Beerdigung? Aber Sie leben doch noch.« Der Rotschopf sah verwirrt aus.

»Ja, noch. Um ein Haar hätten Sie ja dem Bestatter ein doppeltes Einkommen beschert. Wobei – ich bin gar nicht sicher, ob mein Vater zugelassen hätte, dass ich in Sidbury bestattet werde. Ich vermute, er würde das in London über die Bühne gehen lassen. Weniger Umstände für ihn … Schließlich hat er gar keine Zeit, sich hier am Arsch der Welt um die Begräbnisangelegenheiten zu kümmern. Meinen Sie nicht auch?«

»Ich …« Der junge Mann war völlig aus dem Konzept. Wobei – so jung war er eigentlich gar nicht, Anfang bis Mitte dreißig vielleicht, trotz Dad an seiner Seite. Der hob gerade die Augenbrauen.

Sara stützte sich auf die Ellbogen. »Wie auch immer. Ich muss nach Sidmouth zu den Humble Brothers, um die Einzelheiten für die Beerdigung meiner Tante zu klären und dort sollte ich eigentlich in …«, Sara sah auf die Uhr, »… acht Minuten sein. Und in einer Stunde habe ich einen Termin bei Mr. Fulbright, der mit mir über den Nachlass sprechen will. Daher werde ich jetzt wieder auf mein Fahrrad steigen und losradeln, aber es wäre mir lieb, wenn Sie vorausfahren würden. Ein zweites Überholmanöver dieser Art würde ich wohl nicht überleben. Also …« Sara deutete auf den Wagen mit Londoner Kennzeichen, der mit offenen Türen und laufendem Motor auf der schmalen Straße stand.

»Geht es Ihnen wirklich gut?«

Sara bog ihren Kopf nach rechts und links, untersuchte Arme und Knie und betastete ihr Gesicht. »Arme und Beine sind noch dran, der Kopf ebenso, auch wenn er sich etwas ramponiert anfühlt. Ich vermute, die Kratzer in meinem Gesicht lassen in der nächsten Woche keine Teilnahme an einem Schönheitswettbewerb zu, aber wenn Sie brav sind und jetzt sofort verschwinden, sage ich allen, dass mein Kater daran schuld ist. Sir Arthur Doyle. Übrigens, sollten Sie ihn sehen: Er ist schwarz und hat genau auf der Schnauze einen weißen Fleck, der aussieht wie der Schnurrbart von Sir Arthur Doyle. Sagen Sie ihm, er soll nach Hause gehen.«

Der junge Mann nickte.

Der ältere – Dad – betrachtete Sara kritisch, dann wandte er sich um und rief seinem Sohn über die Schulter zu: »Du hast die Dame gehört. Wir sollen verschwinden. Kommst du?«

»Ja, Dad.« Der Fuchskopf rappelte sich auf. »Und Sie sind sicher in Ordnung?«

»Daddy wartet.« Sara zeigte auf den ungeduldig dreinblickenden Mann.

»Ja. Ich … Entschuldigung jedenfalls und …« Der Mann lächelte – auf einmal gar nicht mehr verlegen. »Vielleicht sieht man sich mal wieder.« Er nickte ihr zu, dann eilte er zu seinem Vater.

Sara rappelte sich auf und stieg auf ihr Rad, welches das Manöver wunderbarerweise besser überstanden hatte als sie selbst. Als sie aufstieg, verschwand der Wagen der beiden gerade in der Ferne.

Kapitel 5 – Nachlass

 

»Dann hätten wir einmal das Grundpaket mit Beratung, Unterstützung und Begleitung während des gesamten Trauerprozesses, die Überführung vom Hospital inklusive Bereitstellung des Leichenwagens – keine Kutsche –, Herrichten des Grabs samt eines vorübergehenden Grabzeichens, Ausheben des Grabs und Gedenkgottesdienst in der Kirche von Sidbury – ohne Chor.«

Mr. Humble, der einzig verbliebene lebende Bruder im Bestattungsunternehmen Humble Brothers, saß Sara in seinem dunklen Büro an einem Mahagonischreibtisch gegenüber und verlas zum dritten Mal den Auftrag für Tante Mauds Bestattung. Langsam schwand Saras Geduld und ihre Hand fuhr unwillkürlich zu dem Fudgevorrat in ihrer Handtasche. In letzter Sekunde konnte sie sich davon abhalten, eines in den Mund zu stecken. Das hätte wohl auf den Bestatter etwas seltsam gewirkt. Stattdessen konzentrierte sie sich auf den Mann unbestimmten Alters, der in etwa so aussah, wie sie sich Doktor Doolittle immer vorgestellt hatte. Das Auffallendste an ihm waren seine übergroßen Ohren, die von einer ebenso übergroßen, fleischigen Nase im Gleichgewicht gehalten wurden. Sein Haarwuchs beschränkte sich auf die Augenbrauen, die wie zwei flauschige Teppichstücke über den Augen hingen, darüber trug er eine glänzende Glatze, auf die er sich eine Hornbrille geschoben hatte, während seine Lesebrille auf der Nasenspitze hing.

»Hören Sie, Sie haben mir das jetzt zum dritten Mal vorgelesen. Ich bin sicher, es passt. Können wir einfach zusehen, dass meine Tante unter die Erde kommt? Möglichst würdevoll?«

»Apropos würdevoll. Wir haben da einen Trauerredner, der sich ganz vorzüglich …«

»Kein Trauerredner.« Sara stand auf. »Ich unterschreibe den Auftrag jetzt so, wie wir es ausgemacht haben. Und dann muss ich leider gehen. Ich habe noch einen Termin.«

»Oh, natürlich. Verzeihen Sie. Wir werden alles zu Ihrer Zufriedenheit ausrichten. Das Begräbnis wird wunderschön. Am Ende werden Sie sich wünschen, dass es Ihr eigenes ist.«

Sara konnte nicht verhindern, dass ihr bei den Worten ein Schauder über den Rücken lief. Der Bestatter merkte es.

»Ich meinte: Nur das Beste für Ihre Tante. Nur das Beste. Wir zaubern ein Begräbnis für sie, an das Sie sich noch lange erinnern werden. Sehr lange.«

Mr. Humbles Entschuldigung hatte den Klang einer Prophezeiung und wieder lief es Sara kalt über den Rücken.

»Wie auch immer …« Sie stand auf und zwang ein Lächeln auf ihr Gesicht. »Wir sehen uns dann übermorgen.«

»Genau. Genau. Wir sehen uns ja schon übermorgen.« Mr. Humbles Gesicht glänzte vor Eifer, als hätte Sara einem Date mit ihm zugestimmt.

»Auf jeden Fall möchte ich Ihnen mein Beileid aussprechen, liebe Miss Rattlebag. Mein allerherzlichstes, tiefempfundenes Beileid. Oder um es mit Michelangelo Buonarotti zu sagen: Ich bin nicht tot, ich tausche nur die Räume, ich leb’ in euch, geh’ durch eure Träume.«

Beinahe im selben Moment schob sich eine Wolke vor die Sonne und in dem ohnehin schon düsteren Raum wurde es noch düsterer. Sara sah sich unwillkürlich um und erwartete beinahe, Tante Maud durch das Büro der Humble Brothers spazieren zu sehen, doch da war nichts.

Als sie sich wieder Mr. Humble zuwandte, sah sie seinen erwartungsvollen Blick. Seine Lippen zogen sich hoch und entblößten eine Reihe schlechter Zähne. Ein grüner Überrest zwischen den Schneidezähnen verriet Sara, dass er zum Mittagessen wohl Spinat gegessen hatte. Sie schüttelte sich innerlich und machte, dass sie hinauskam.

 

Wenig später stand Sara vor der Tür des Testamentsvollstreckers Mr. Fulbright.

»Miss Rattlebag, bitte treten Sie doch ein.« Er bedeutete ihr, auf dem Stuhl vor seinem Mahagonischreibtisch – schon wieder einer – Platz zu nehmen und setzte sich dann selbst in den Ledersessel auf der anderen Seite. »Schön, dass Sie es einrichten konnten. Eigentlich habe ich ja Ihren Vater erwartet, schließlich ist er der Bruder der Verstorbenen, aber …«

Da er auf eine Erklärung zu warten schien, fühlte Sara sich verpflichtet, ihm eine zu liefern. »Er ist leider verhindert.« Im nächsten Moment ärgerte sie sich, dass sie ihren Vater, der ganz sicher nicht verhindert war, vor diesem Testamentsvollstrecker verteidigte.

»Ihre Tante hat genau das wohl vorhergesehen, denn ich habe von ihr zwei Kuverts erhalten.« Mr. Fulbright wedelte mit den beiden Umschlägen vor Saras Nase herum. Auf einem konnte sie den Namen ihres Vaters entziffern, auf dem anderen ihren eigenen. Plötzlich schwappte die ganze Trauer in ihr hoch und sie hatte einzig und allein den Wunsch, die Angelegenheit schnell hinter sich zu bringen und dann in Tante Mauds Cottage in den alten Fotoalben zu blättern, um die Erinnerungen an ihre Tante wieder aufleben zu lassen.

»Sind Sie bereit?«, fragte Mr. Fulbright.

Sara brachte lediglich ein Nicken zustande.

»Dann öffne ich jetzt das Kuvert mit dem Nachlass Ihrer Tante.« Mr. Fulbright griff nach einem Brieföffner und schlitzte mit einer schnellen Bewegung den Umschlag mit ihrem Namen auf. Er entfaltete das Blatt, das darin lag, räusperte sich und vergewisserte sich, dass er Saras volle Aufmerksamkeit hatte.

»Meine liebe Sara, natürlich bist du hier und kümmerst dich um den elenden Bürokratiekram und nicht Arthur, mein Bruder, dieser Hund. Ich habe darauf gewettet – meinen Wettgewinn löst du bitte bei Bobby Bobby und Miss Spinster ein. Lass nicht zu, dass sie sich drücken, hörst du? Jedenfalls vermache ich mein gesamtes Hab und Gut dir – mit zwei Ausnahmen. Die Pfeifensammlung meines Vaters soll Bobby Bobby bekommen – und sag ihm, er kann aufhören, so zu tun, als wäre er Nichtraucher … Wir wissen alle, dass das nicht stimmt. Die Erstausgabe vom Dienstagabend-Klub vererbe ich Miss Spinster. An dich gehen mein Häuschen samt Garten und mein Bankkonto – in der Hoffnung, dass die Humble Brothers es mit dem Begräbnis nicht leeren. Während ich das schreibe, sehe ich, wie deine Augen glänzen – ein bisschen, weil du weinst, aber ein bisschen auch, weil du dich freust, dass mein zauberhaftes Häuschen ab sofort dir gehören wird.« Mr. Fulbright sah hoch und schmunzelte, als er Tante Mauds Prophezeiung erfüllt sah, »Aber freu dich nicht zu früh, denn das Ganze ist an ein paar Bedingungen geknüpft. Sitzt du? Nein? Dann setz dich besser hin.«

Sara lächelte unter Tränen. Aus jedem Wort, das der Testamentsvollstrecker vorlas, hörte sie ihre Tante so sehr heraus, dass es weh tat.

»Erste Bedingung: Sonntags um vier findet in meinem Cottage der Krimiclub statt. Eigentlich wollten wir es wie Agatha Christie halten und uns dienstags treffen, aber – nun ja – Miss Spinster hat da ihre Tombolarunde und die Freude wollen wir der alten Dame ja nicht nehmen. Jedenfalls: Den Krimiclub soll es auch nach meinem Tod geben, das Rezept für den Apple-Crumble findest du in meinen Memoiren, die Mr. Fulbright dir überreichen wird.« Mr. Fulbright schob ein schwarzes Notizbuch über den Tisch. »Zweite Bedingung: Sir Arthur Doyle hat lebenslanges Wohnrecht im Cottage und das Recht, abends auf dem Ohrensessel am Kamin zu liegen und gestreichelt zu werden. Dritte Bedingung: Das Cottage ist dazu bestimmt, der Lebensmittelpunkt eines Menschen zu sein. Es ist kein Wochenendhäuschen. Wenn du es erben willst, musst du nach Sidbury ziehen und – vierte Bedingung – die Chroniken von Sidbury weiterführen. Jemand muss das machen und du bist meiner Meinung nach die perfekte Wahl dafür. Wenn du mit diesen Bedingungen einverstanden bist, wird Mr. Fulbright dir bei allen weiteren Schritten zur Seite stehen. Das gilt auch für den Fall, dass dein Vater das Testament anfechten wird, was ich leider ebenso vorhersehe, wie dass deine erste Amtshandlung als Chronistin sein wird, den Bericht über mein Ableben aus der Zeitung auszuschneiden und einzukleben. Nachdem wir jetzt das Bürokratische geklärt haben, noch eines: Du bist wie eine Tochter für mich, Sara, und ich möchte, dass du weißt, dass ich dich mein Leben lang geliebt habe. Und ich hoffe, dass ich das noch so lange weiter tun kann, bis du selbst zumindest ein paar graue Haare hast, wenn du diese Zeilen liest. Ich liebe dich! Vergiss das nie! Deine dich ewig liebende Tante Maud.«

Mr. Fulbright ließ das Blatt sinken.

Sara schluckte. Sie war dem Testamentsvollstrecker dankbar dafür, dass er nicht gleich zur Tagesordnung überging, sondern ihr etwas Zeit ließ, um die letzte Nachricht ihrer Tante zu verdauen. Konnte sie einfach ihre Zelte in London abbrechen und nach Sidbury ziehen? Die Antwort war: Sie konnte. Nathan gab es nicht mehr. Die Kneipe, in der sie hin und wieder jobbte, würde einfach eine andere Studentin für Aushilfsjobs engagieren, ihren Vater und dessen Frau besuchte sie ohnehin kaum. Selbst einen Freundeskreis gab es nicht, den sie vermissen würde. Die Wahrheit war: In London war sie einsam. Das würde sie vermutlich auch in Sidbury sein, aber hier wäre es zumindest eine gelassene Einsamkeit.

Sie nickte und sah Mr. Fulbright an. »Ich nehme die Erbschaft an.«

»Sie werden die Bedingungen erfüllen, die Ihre Tante daran geknüpft hat?«

Wieder nickte Sara.

»Sie werden in Sidbury leben und Ihren Wohnsitz in London aufgeben?«

»Ja.«

»Dann freue ich mich, Sie als Alleinerbin von Maud Rattlebag bestätigen zu dürfen.« Mr. Fulbright schob Sara feierlich ein paar Dokumente zur Unterzeichnung hin – unter anderem eine Beauftragung für den Fall, dass ihr Vater das Testament anfocht – und stapelte Besitzurkunden, Bankbüchlein, Grundbuchauszüge und andere Unterlagen vor ihr auf. Dabei erklärte er ihr ununterbrochen, was sie als Nächstes zu tun habe.

Ganz zum Schluss legte er ihr mit einer bedeutungsvollen Geste einen Schlüsselbund in die Hand. »Alle Schlüssel zu Ihrem Cottage. Möge es Ihnen Glück und Freude bringen.«

»Danke«, flüsterte Sara. »Ich vermute, wir werden uns noch öfter sehen, oder?«

»Ich fürchte auch.« Mr. Fulbright nickte ihr aufmunternd zu. »Ich wünsche Ihnen alles Gute und …«, er zögerte, »… glauben Sie nicht alles, was man Ihnen über Ihre Tante erzählen wird.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ach, nur so …« Mr. Fulbright lächelte. »Ihre Tante war eine großartige Frau. Davon konnte ich mich vergangene Woche persönlich überzeugen.«

»Das war sie.« Sara nickte. Dann erhob sie sich, immer noch wie betäubt. »Das war sie wirklich. Und sie wird fehlen.«

»Davon bin ich überzeugt.«

Sara schüttelte dem Testamentsvollstrecker zum Abschied die Hand und verließ die Kanzlei. Noch während sie die Tür hinter sich schloss, hatte sie das Gefühl, dass Mr. Fulbright etwas Wichtiges gesagt hatte. Doch sie war zu müde und zu traurig, um weiter darüber nachzudenken.

Kapitel 6 – Silly Old Joe

 

Der Abend senkte sich bereits über Sidbury, als Sara dort ankam. Die Stille erschien ihr beinahe unheimlich, ganz anders als das niemals schlafende London. Sie sagte sich selbst, dass es hier im Dorf nichts Böses gab, während sie ihr Cottage – ja, ihr eigenes Cottage – aufsperrte. Es war ein seltsames Gefühl, als Eigentümerin den Schlüssel in dem alten Schloss umzudrehen. Ihr Herz klopfte, als warte dort drinnen etwas völlig Unbekanntes auf sie. Dabei war es doch dasselbe alte, wenn auch wunderhübsche Häuschen mit seinen überbordenden Tapeten und Mustern …

Bedächtig ließ sie die Tür nach hinten schwingen. Ihre Hoffnung, dass ein hungriges Fellbüschel angelaufen kommen würde, wurde enttäuscht. Sir Arthur Doyle stromerte offenbar noch irgendwo im Dorf herum … Und das, obwohl sie heute hoch und heilig versprochen hatte, sich um ihn zu kümmern – und obwohl sie ein Wesen gebraucht hätte, das ihr über dieses Gefühl der Verlassenheit hinweghalf.

»Sir Arthur Doyle?«, rief sie zaghaft. Vielleicht war er ja inzwischen wieder nach Hause gekommen und hatte sich irgendwo zusammengerollt. Doch es kam keine Antwort. Sara ließ die Haustür offen, ging in die Küche und klaubte geräuschvoll eine Dose Katzenfutter aus der Anrichte. Sie schüttete den Inhalt in den Napf, klopfte mit dem Löffel dagegen, doch Sir Arthur Doyle war wohl seinem Forscherdrang gefolgt und auf Ermittlungstour in Sidbury unterwegs – was bedeutete, dass sie ihn suchen musste.

Sie stellte die leere Dose auf die Anrichte, schnappte sich die Weste aus Granny-Squares, die Tante Maud immer getragen hatte und verließ ihr Cottage auf der Suche nach dem Kater.

»Sir Arthur Doyle!«

Sie schaute in die Vorgärten der benachbarten Häuser, lugte unter Büsche und rüttelte an Hecken. Eine wütend zeternde Amsel flatterte auf, aber Sir Arthur Doyle blieb verschwunden.

Bald senkte sich Dunkelheit über Devon und Sara war froh über die Straßenlampen, die wie so vieles in England aus einer anderen Zeit zu stammen und für die Ewigkeit gemacht zu sein schienen.

Als irgendwann tatsächlich eine Katze ihren Weg kreuzte, fuhr Sara zusammen vor Schreck.

»Sir Arthur Doyle?«

Doch es war nicht der schwarz-weiß gefleckte Kater von Tante Maud, sondern eine Karthäuserkatze – Mrs. Bloomsburys alte Pinkie, wie Sara erkannte. Entmutigt setzte sie ihren Weg fort, bis sie Stimmen hörte und … ein entferntes Maunzen. Es kam von der Sidbury Chapel, die mitten auf dem verwunschenen Friedhof lag … Genau dem, auf dem bald auch Tante Maud ihre letzte Ruhestätte finden würde.

Sara schluckte und beschleunigte ihre Schritte. »Sir Arthur …«

»Miau!«

Sie betrat das Kirchengelände durch ein Tor, bog um die Kirche und erstarrte. Auf einem kleinen Mäuerchen zwischen all den keltischen Grabkreuzen saß Silly Old Joe und hielt eifrig gestikulierend eine Rede. Bei dem Dorfnarren handelte es sich um einen mittelgroßen, mittelschweren Mann mittleren Alters, dessen Haarwuchs Löcher aufwies. Nach der verirrten Kugel, die ihren Weg aus dem Gewehrlauf eines jungen Schützen der Army zu seinem Kopf und dort in den rechten Schläfenlappen gefunden hatte, waren ihm die Haare büschelweise ausgefallen und nicht mehr nachgewachsen. Dieses Aussehen war es, das ihn zusammen mit seinem skurrilen Verhalten bei den Dorfbewohnern zu Silly Old Joe gemacht hatte.

»… in den nächsten Tagen. Und ihr werdet sie alle willkommen heißen, ja? Besonders du, Geraldine – schließlich ist sie auf dieselbe Weise in das Reich der Toten übergegangen wie du. Wobei natürlich keiner eurer Tode dem anderen gleicht. Nein, Gott bewahre! Jeder eurer Tode ist einzigartig und wird von Silly Old Joe gewürdigt und geehrt … Aber eben auch der von Maud Rattlebag. Und ich wünsche mir, dass ihr sie herzlich in eurem Kreis aufnehmt.«

Sara fühlte, wie sich die Härchen in ihrem Nacken – und nicht nur dort – aufstellten. Sprach Silly Old Joe wirklich mit den Toten oder war da jemand bei ihm? Sie machte einen Schritt auf ihn zu.

»Weil wir gerade dabei sind, Geraldine … Dein Tod war tragisch, aber hast du deinem Ehemann inzwischen … Nein? … Oh, das kann ich mir vorstellen, aber ich kann ihn ja nicht ausbuddeln. Du könntest dich aber endlich mal bei ihr entschuldigen, Matthew. Oder was meinst du, Sir Arthur Doyle?«

Als habe der Kater ihn verstanden, gab er ein zustimmendes Miauen von sich.

»Nein, ich kann da wirklich nichts machen, Geraldine. Wie soll ich das denn erklären? Hallo, die Toten haben gesagt, sie wollen nicht nebeneinander liegen? Die würden mich doch glatt für verrückt erklären …«

Sara konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Kein Wunder, dass die Leute ihn für verrückt hielten. Wieder machte sie einen Schritt auf Joe zu. Ihre Füße raschelten im Kies und er wandte sich ihr zu.

»Die Nichte von Maud Rattlebag! Leute, lasst uns Sara Rattlebag begrüßen.«

Ein Windstoß kam auf und Sara beschlich das unheimliche Gefühl, dass er etwas mit Joes Gesprächspartnern zu tun hatte. Sie durchbohrte die Dunkelheit mit ihrem Blick, doch da war nichts – und niemand – außer Silly Old Joe und Sir Arthur Doyle. Aber was hatte sie erwartet? Skelette, die aus den Gräbern stiegen, vermoderte Hände, die durch die Erddecke nach ihr griffen? So ein Blödsinn! Es gab keine Geister.

Ein weiterer Windstoß kam auf – diesmal heftiger. Die Bö riss an ihrem Haar und biss ihr kalt in die Haut.

»Verärgere die Toten nicht mit deinen Gedanken, Sara.« Joe machte beschwichtigende Gesten in die Richtung der Gräber. »Sie meint es nicht so. Aber sie gehört nicht zu den Sehenden. Seid ihr nicht böse.«

Wie zur Antwort streichelte ein sanfter Luftzug Sara über die Wangen und ließ die Birkenblätter ein paar Schritte weiter leise rascheln.

Joe wandte sich wieder an Sara. »Maud ist noch nicht hier.«

Sara wollte nicht darüber nachdenken, dass Maud in ein paar Tagen hier liegen würde und hob unbehaglich die Schultern. »Ich war auf der Suche nach …«

»Sir Arthur Doyle, ich weiß. Und du steckst voller Fragen.« Silly Old Joe legte den Kopf schief und betrachtete Sara prüfend. »Doch bist du bereit für die Antworten?«

Sara nickte – obwohl sie sich absolut nicht bereit fühlte. Für keine der Antworten, die auf ihre Fragen passen mochten. Hatte Maud sich selbst das Leben genommen? Oder hatte der Verrückte vor ihr tatsächlich gesehen, wie Tante Maud die Klippe hinuntergestoßen worden war, wie Miss Spinster angedeutet hatte? Sara wollte nicht glauben, dass es wirklich einen Menschen gab, der Tante Maud den Tod gewünscht – und sogar nachgeholfen – hatte. Aber wenn doch: Hätte sie es verhindern können, wenn sie hier gewesen wäre? Bei diesem Gedanken fühlte sie sich sofort schuldig. Sie hätte da sein müssen für ihre Tante, so wie diese ihr ganzes Leben lang für Sara da gewesen war – mehr als Saras Mutter und ihr Vater zusammen.

Die Selbstvorwürfe bohrten sich tiefer in ihr Hirn. Sie hatte sie zu selten besucht. Nicht nachgefragt, wenn sie auf ein »Wie geht’s?« mit einem »Wie geht’s?« geantwortet hatte. Verdammte englische Höflichkeit, die es verbot, auf diese Frage ehrlich zu antworten.

»Sie ist noch nicht bereit für Antworten.« Silly Old Joe schnitt eine bekümmerte Grimasse, sah zu den Gräbern und wackelte mit dem Kopf. »Aber die Zeit wird kommen, wo sie Antworten braucht, und wir werden für sie da sein, nicht wahr, Geraldine?« Er sah zu einem halb eingesunkenen Grabstein, hinter dem – wie Sara wusste – Geraldine O’Connor lag, das tote Adelsfräulein, das vor über hundert Jahren völlig unerklärlich über dieselbe Klippe in den Tod gestürzt war wie Tante Maud.

»Ich bin bereit für Antworten.« Sara wappnete sich. Sie wusste nicht, was sie sich von dem Verrückten erhoffte – und ob sie glauben konnte, was er mit ihr teilte –, aber sie musste wissen, was er zu sagen hatte.

»Jemand hat Maud die Klippe hinuntergestoßen.«

Sara schnappte nach Luft. Obwohl Miss Spinster bereits angedeutet hatte, dass der Verrückte mit dieser Geschichte hausieren ging, machte es doch etwas mit ihr, es selbst zu hören. Und wieder fragte sie sich, wer Interesse daran gehabt haben könnte, Tante Maud tot zu sehen.

»Bist du sicher?«

Auf dem Gesicht des Verrückten zeichnete sich Empörung ab. »Es war ein Mann. Ich kann eine Personenbeschreibung abgeben. Warte … ich habe ihn sogar gezeichnet.« Er vergrub die Hände in den tiefen Taschen seiner Cargohosen und förderte einen zerknitterten Zettel zutage. »Die Polizei wollte mein Phantombild nicht.«

Er streckte Sara das Bild hin, das er auf einer alten Rechnung angefertigt hatte. Ein Männchen mit schwarzem Haar und ebenso schwarzen Augen war darauf abgebildet, das einen Ausfallschritt zu den Klippen hin unternahm, über die ein Weibchen in einem Rock purzelte. Jeder Grundschüler konnte ein treffenderes Bild zeichnen. Nahm der Verrückte sie auf den Arm? Doch Silly Old Joe schien absolut ernsthaft. Na ja, nicht jeder konnte ein Künstler sein.

»Hatte der Täter schwarzes Haar?«

»Nein, rostbraunes. Ich hatte nur keinen Stift in der Farbe zur Hand. Daher hab ich den schwarzen …«

»Die Augen waren aber schwarz?«

»Die Augenfarbe hab ich nicht gesehen. Ich stand ja am Strand und er und Maud waren auf dem höchsten Punkt der Klippe.«

Sara widerstand dem Impuls, die Augen zu verdrehen. »Hast du dir sonst irgendwelche Auffälligkeiten gemerkt?«

»Ich hab alle in das Phantombild gezeichnet.« Silly Old Joe tippte auf verschiedene Punkte des Bildes. »Das rostbraune Haar, die buschigen Augenbrauen. Die Nase …« Er stockte und zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Ich kann wohl nicht allzu gut zeichnen … Es tut mir leid. Aber …«

»Ist schon in Ordnung, Joe«, sagte Sara. »Die Polizei wird den Täter schon finden. Du hast der Polizei deine Geschichte doch erzählt?«

Silly Old Joe fiel in sich zusammen. »Die Polizei hält mich für verrückt.«

Sara fühlte Mitleid mit dem Mann aufsteigen. Natürlich tat die Polizei seine Geschichte als Hirngespinst eines Verrückten ab. Vor allem, wenn er mit so einem Phantombild aufwartete. Wahrscheinlich wäre es klug, ihm ebenfalls nicht zu glauben. Aber etwas in ihr konnte nicht anders.

»Ich behalte das mal, ja?« Sie wedelte mit dem Zettel und Joe nickte eifrig.

»Mach das. Und ich spreche mit Maud, wenn sie kommt.«

Sara rieselte es kalt über den Rücken.

»Vielleicht kann sie den Täter ja besser beschreiben. Schließlich war sie näher dran als ich. Wann kommt sie denn?«

Sara starrte ihn irritiert an. »Maud kommt nicht mehr. Sie ist … tot.«

»Na ja, wann kommt sie auf den Friedhof? Damit ich mit ihr reden kann und – na ja – damit ich die anderen Leutchen hier noch ein bisschen auf sie vorbereiten kann. Sie war doch etwas … speziell.«

Sara fröstelte. Silly Old Joe war so überzeugend in seiner Verrücktheit.

»Übermorgen.«

»Das ist gut. Ich hoffe, du hast dich nicht für eine Einäscherung entschieden. Die Toten, die verbrannt worden sind, haben manchmal große Probleme, sich wieder zu sortieren.«

Sara schüttelte den Kopf. »Nein. Sie wird im Sarg bestattet.« In einem 680 Pfund teuren, mit Eichenfurnier getäfelten Sarg – zudem laut Mr. Humble das komfortabelste Modell, das zurzeit auf dem Markt war. Saras Augen brannten, wenn sie daran dachte.

Sir Arthur Doyle rettete sie mit einem langgezogenen »Miau« aus der Situation.

»Er hat Hunger. Ich werde ihn mal füttern gehen.« Sara packte den Kater und hob ihn hoch. Sir Arthur Doyle wehrte sich nicht und Silly Old Joe wackelte verständnisvoll mit dem Kopf.

»Wir werden inzwischen deiner Tante Maud ein warmes Willkommen bereiten.«

Wieder fröstelte es Sara und sie machte, dass sie davonkam.

Kapitel 7 – Ein Wiedersehen

 

Als Sir Arthur Doyle Sara mit forderndem Miauen weckte, hatte Sara sich gefühlt die ganze Nacht mit wirren Träumen herumgewälzt. Mr. Humble, Silly Old Joe und Mr. Fulbright hatten eindringlich auf sie eingeredet, aber Sara hatte den Stimmsalat nicht entwirren können, und jetzt, wo sie wach war, konnte sie nicht mehr rekonstruieren, was die drei Männer im Traum von ihr gewollt hatten. Ihr Kopf fühlte sich an, als wäre er mit Watte gefüllt. Denken war unmöglich.

»Miau!«

Sara öffnete ein Auge. Durch das Fenster fiel fahles Morgenlicht, die Nacht war wohl vorüber.

»Miau!«

Der verdammte Kater machte nicht den Eindruck, als würde er Ruhe geben. Genervt wälzte sie sich aus dem Bett, tastete sich verschlafen an der Blümchentapete entlang, hinaus auf den dunklen Flur, in dem Sir Arthur Doyle stand und die Haustür anmaunzte.

»Hast du kein Katzenklo?« Sara schlurfte auf die Tür zu und öffnete sie. Sir Arthur Doyle fuhr wie der Blitz hinaus – und Sara zusammen. Da stand ein Paar Beine. Beine in luftigen Sommerhosen, die unter einem ebenso luftigen Hemd zu sehen waren. Langsam ließ Sara den Blick weiter nach oben wandern.

»Sie!«

Sara sah eine fuchsrote Mähne, dann dämmerte ihr, woher sie das Gesicht kannte. »Sie!«

Okay, das war nicht besonders geistreich, aber das war er auch nicht gewesen. Sie starrte dem Mann, der sie tags zuvor beinahe begrabscht hätte, ins Gesicht.

Er hielt ihrem Blick kurz stand, dann wurden seine Augen von etwas unterhalb ihres Gesichts angezogen. Sara sah an sich hinunter und ein heißer Schreck durchfuhr sie. Die Nacht war schwül gewesen, so warm, wie das in England eigentlich selten der Fall war, und sie hatte lediglich ihren Slip und ein Top an.

»Sie!«, presste sie erneut hervor, trat einen Schritt zurück und knallte dem jungen Mann die Tür vor der Nase zu. Was wollte er von ihr? Wie hatte er sie ausfindig gemacht? Und warum? Und was um Himmels willen machte er um diese Zeit hier vor ihrem Haus?

Ein leises Klopfen holte sie aus dem Gedankenkarussell.

»Miss … Ich … Verzeihung, ja? Ich … hab einen Termin.«

Das war … verwirrend. Wann hatte sie diesem Fuchskopf einen Termin gegeben? War sie gestern nach dem Unfall so benebelt gewesen, dass sie dem Fremden ihre Adresse gegeben hatte? Sie schüttelte den Kopf, um den Schlaf aus ihren Hirnwindungen zu vertreiben, doch da war nicht die leiseste Erinnerung daran, dass sie mit Herrn Flatterhose da draußen einen Termin vereinbart hatte. Wozu auch?

Er klopfte wieder. »Bei Miss Rattlebag … Ich … bin vielleicht doch zu früh?«

Sara schüttelte den Kopf. Was wollte der Fuchs von ihr?

Klopf! Klopf!

Sie kniff sich in den Arm. Das war alles nur ein weiterer wirrer Traum, oder?

Einmal noch ertönte das Klopfen, dann hörte es auf. »Ich bin wohl doch zu früh … Dann warte ich wohl am besten im Rosengarten auf sie. Ja?«

Trotz seiner Ankündigung verharrte er vor der Tür. Nachdem Sara weiterhin keine Antwort gab, entfernten sich seine Schritte im Kies von der Eingangstür weg und am Haus entlang – dorthin, wo Tante Maud ihren Rosengarten angelegt hatte.

Sara riss die Tür auf, streckte den Kopf hinaus und brüllte ihm nach: »Wann sollen wir einen Termin ausgemacht haben?«

Fuchskopf blieb stehen und wandte sich um. »Wir beide?«

Sara stellte zufrieden fest, dass auf seinem Gesicht ein verwirrter Ausdruck erschien. Ausgleichende Gerechtigkeit. Sie nickte.

»Haben wir einen Termin?«

»Das frage ich ja gerade Sie.«

Mr. Flatterhose schüttelte leicht den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste.«

Sara verdrehte die Augen. »Was wollen Sie dann von mir?«

»Von Ihnen?« Sein Gesicht leuchtete auf und er lachte erleichtert auf. »Nein, ich will doch nichts von Ihnen, sondern von Miss Rattlebag.«

»Die bin ich.« Sara konnte sich nicht verkneifen, ihn noch einmal zu verwirren, obwohl sie langsam ahnte, wen er in Wirklichkeit suchte. »Okay, okay … Sie suchen meine Tante.«

»Dann ist ja alles in Ordnung.« Er wirkte erleichtert.

Nichts ist in Ordnung, dachte Sara. »Was wollen Sie denn von ihr?«

»Sie können mir nicht helfen. Es geht um Miss Rattlebags Chronik.«

»Für die bin ich jetzt zuständig.«

»Ich möchte aber trotzdem mit ihr persönlich sprechen.«

Sara seufzte. »Ich muss Sie leider enttäuschen. Meine Tante ist … gestorben.«

»Nein! Deshalb waren Sie gestern auf dem Weg zu …« Der junge Mann wurde blass. »Aber … aber … als ich vergangene Woche mit ihr gesprochen habe, war sie noch …«

»Quietschfidel?« Sara nickte. »Als ich sie vor zwei Wochen besucht habe auch. Warten Sie. Ich zieh mir rasch was über, dann können wir reden. Geben Sie mir fünf Minuten?«

Als er nickte, zog sie ihren Kopf zurück, knallte die Tür zu und rannte in ihr Zimmer, um sich etwas anzuziehen – etwas, das ihn hoffentlich nicht auf dumme Gedanken kommen ließ.

 

»Was wollten Sie denn genau von meiner Tante?« Sara stand hinter dem Herd und kratzte in der Pfanne herum, in der das Rührei anzubrennen drohte.

»Sie wollte in der Chronik etwas für mich suchen.« Der junge Mann, der sich inzwischen als Zachary – »Du kannst mich auch Zac nennen« – Walker vorgestellt hatte, saß an dem kleinen Küchentischchen und sah ihr dabei zu, wie sie das Frühstück zubereitete. »Kann ich irgendwie helfen?«

Sie wandte sich ihm zu. »Möchtest du das Brot toasten?« Damit wäre er zumindest beschäftigt, denn weder die viel zu warme Jogginghose noch die Granny-Square-Weste halfen als Rüstung gegen seine – zugegebenermaßen bewundernden – Blicke.

Sie stellte ihm das Toastbrot hin und er machte sich brav daran, es in den Toaster zu schieben. Inzwischen kippte sie das Rührei auf zwei Teller, auf denen schon gebratene Pilze, Tomaten, Baked Beans und der Bacon lagen, dessen Duft die Küche erfüllte. Genau im richtigen Moment pfiff der Teekocher und sie stellte ihn auf den Tisch, dazu die beiden Teller mit dem Frühstück.

»Darf ich?«, fragte Zac und wartete ihr Einverständnis gar nicht ab, sondern goss vorsichtig Teewasser zuerst in ihre, dann in seine Tasse.

»Danke.« Sara schob ihm Besteck hin und fischte sich eine der Toastscheiben aus dem Toaster, die gerade hochgesprungen waren. »Und jetzt erzähl mal, was meine Tante für dich suchen sollte.«