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Den 16. Juni 1883 sollte man in Latigo nicht so schnell vergessen...
Die Benbow-Bande war in der Stadt, und niemand wagte es, sich ihnen entgegenzustellen. Seelenruhig hockten die Banditen mit dem geraubten Geld im Hotel und warteten auf die hereinbrechende Nacht: denn dann konnten sie sich ungeschoren davonmachen. Aber Sheriff Owen Dallas hatte ihnen den Tod geschworen - er ganz allein...
Der Roman Ein langer Tag in Latigo des US-amerikanischen Western-Autors Wesley Ray erschien erstmals im Jahr 1955; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1965 unter dem Titel Der Sheriff von Latigo.
Dieser Western-Klassiker erscheint als durchgesehene Neuausgabe in der Reihe WESTERN-COLT.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
WESLEY RAY
Ein langer Tag
in Latigo
Roman
Western-Colt, Band 17
NordheimBücher
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
EIN LANGER TAG IN LATIGO
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Den 16. Juni 1883 sollte man in Latigo nicht so schnell vergessen...
Die Benbow-Bande war in der Stadt, und niemand wagte es, sich ihnen entgegenzustellen. Seelenruhig hockten die Banditen mit dem geraubten Geld im Hotel und warteten auf die hereinbrechende Nacht: denn dann konnten sie sich ungeschoren davonmachen. Aber Sheriff Owen Dallas hatte ihnen den Tod geschworen - er ganz allein...
Der Roman Ein langer Tag in Latigo des US-amerikanischen Western-Autors Wesley Ray erschien erstmals im Jahr 1955; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1965 unter dem Titel Der Sheriff von Latigo.
Dieser Western-Klassiker erscheint als durchgesehene Neuausgabe in der Reihe WESTERN-COLT.
Owen Dallas verließ die Stadt noch in der stillen Dunkelheit vor Tagesanbruch zu seinem gewohnten Morgenritt, Die Kühle der Nacht war noch in der Luft, und von den Bergen wehte der harzige Duft der Schirmkiefern herab. Auf der felsigen Anhöhe hinter dem Hotel hielt er an, drehte sich ohne abzusteigen eine Zigarette und blickte über die Stadt hinweg.
Die aufgehende Sonne begann den Osthimmel grau zu verfärben. Nach einer Weile hörte er hinter sich auf dem Weg leichten Hufschlag und drehte den Oberkörper. Im schwachen Licht sah er eine einsame Gestalt, einen Mann, der einen Esel führte.
»Morgen«, sagte Owen. »Willkommen in Latigo.«
Der Mann erwiderte den Gruß mit einem Grunzlaut; vom Alter gekrümmt und faltig, erinnerte er Owen an ein Stück Rohleder, das zu lange der Witterung ausgesetzt gewesen war. Er blieb einige Schritte vor dem Reiter stehen und hob seine wässerigen alten Augen. »Ein Mann des Gesetzes, wie?«, krächzte er.
»Sheriff.«
»Was für eine Stadt haben Sie hier, Sheriff?«
»Keine schlechte«, antwortete Owen. »Sehen Sie selbst.«
Der Alte wiegte seinen grauen Schädel. »Ich mag die Städte nicht, und die Menschen erst recht nicht. Darum wandere ich meistens nachts.« Er warf einen Blick auf die Dächer unter ihnen. »Ich werde hier oben mein Lager aufschlagen.«
»Wie Sie wollen.«
Der alte Mann machte sich daran, seinen Esel abzuladen.
Er sagte: »Man kann viel über eine Stadt erfahren, wenn man zusieht, was alles passiert. Vielleicht gehe ich später hinunter; vielleicht auch nicht.«
Owen nickte ihm zu und ritt weiter. Er fühlte den Blick des Alten auf seinem Rücken. Ein seltsamer Kauz, wahrscheinlich Prospektor, der aus den Bergen gekommen war, um Proviant einzukaufen; ein Mann, der lange allein gelebt hatte und misstrauisch gegen Städte und Menschen geworden war.
Nachdem er in die Stadt zurückgekehrt war, ließ er sein Pferd im Mietstall stehen, frühstückte im Longhorn Café und ging dann hinüber zum Sheriff-Büro, einem Blockhaus mit zwei Gefängniszellen im hinteren Teil.
Sein Schreibtisch war mit einem Wust von Papieren und anderen Gegenständen bedeckt. Owen brummte etwas und schüttelte den Kopf. Er war im Begriff, sich in den Drehstuhl fallen zu lassen, als er durch die Morgenstille Hufschlag hörte.
Neugierig und für einen Vorwand dankbar, den Papierkrieg aufzuschieben, durchquerte er das Büro und ging zur Tür. Während er horchte und der Hufschlag draußen allmählich lauter wurde, fiel sein Blick zufällig auf den Abreißkalender an der Wand neben dem Gewehrständer. Es war Mittwoch, der 16. Juni 1883.
Er trat über die Schwelle und blieb im Eingang stehen. Die von Wagenrädern zerfurchte Hauptstraße lag menschenleer, aber von Süden näherte sich eine Gruppe Reiter. Als sie den Stadtrand erreichte, erkannte er den Mann an der Spitze: John Mitchell, Eigentümer der Ladder-Ranch. Die Haltung des Mannes hatte etwas Herausforderndes. Vielleicht lag es daran, dass er seinen alten grauen Hut aus der Stirn geschoben hatte. Seine langen Schnurrbartenden hingen zu beiden Seiten seines Mundes über sein Kinn herab.
Owen blieb im Eingang stehen und beobachtete die Reiter. Er zählte sie. Zwölf Mann. Alle bewaffnet. Fünf von ihnen waren kleinere Rancher aus der Umgebung, die übrigen gehörten zu Mitchells Mannschaft.
Der Anblick dieser Truppe in aller Frühe ließ Owens blaue Augen wachsamer werden. Er rückte an seinem Patronengurt und trat ins Freie. Er war zweiunddreißig, ein Mann mit dunklem Teint und hohen Backenknochen, die in manchen Leuten die Vermutung nährten, er sei ein Indianermischling.
Nun lehnte er sich an die Wand des Blockhauses, zog den Tabaksbeutel aus der Tasche und begann sich eine Zigarette zu drehen. Er ließ sich Zeit und machte seine Sache sorgfältig, ohne die Reiter aus den Augen zu lassen.
Noch vor einem Augenblick war die Straße völlig verlassen gewesen, aber als er jetzt das Streichholz an der Wand anriss, merkte er, dass die Kavalkade mehrere Bewohner aus ihren Lehmziegelhäusern und Holzhütten gelockt hatte.
Len Smith, der Ausfeger, kam mit einem Eimer in der Hand aus dem Ace High Saloon. Als er die zwölf Berittenen gewahrte, schüttete er das Wasser mit einem hastigen Schwung auf die Straße und zog sich in den Eingang zurück.
Dem Saloon gegenüber erhob sich das Latigo Hotel, das einzige zweistöckige Gebäude der Stadt. Der junge Kit Jackson kam vor die Tür und starrte mit großen Augen umher. Der Vater des Jungen, Fred Jackson, dem das Hotel gehörte, erschien in Hosenträgern und Hemdsärmeln und stellte sich neben seinen Sohn.
Der Stallmann, der Grobschmied und mehrere Ladenbesitzer standen vor ihren Geschäften und sahen zu, wie John Mitchell seine Reiter zum Sheriff-Büro führte, wo Owen Dallas rauchend an der Wand lehnte.
Blauer Rauch aus den Kaminen breitete sich in Schleiern über die Stadt aus. Owen roch das frische Brot, als der Laufjunge des Bäckers mit einem zugedeckten Korb vorbeirannte.
John Mitchell schien mit Ausnahme von Owen Dallas keinen von ihnen zu beachten. Vor dem Sheriff-Büro schwenkten die Reiter ein und bildeten mit John Mitchell in der Mitte einen Halbkreis.
»Howdy, Jungs«, sagte Owen und löste sich von der Wand. »Ihr seid ziemlich früh unterwegs.«
»Wir haben guten Grund dazu«, sagte Mitchell. »Einen verdammt guten Grund.«
Owen blickte ihn fragend an.
»Du meinst, du hast noch nichts davon gehört?«
»Wovon?«
Tom Summers, ein Reiter, der vor zwei Wochen bei Mitchell angefangen hatte, lachte. »Er ist Sheriff, aber er weiß nicht, was hier passiert.«
Nach einem ärgerlichen Seitenblick auf Summers wandte sich Owen an den Rancher: »Ich bin kein Freund von Ratespielen. Was ist los?«
»Farmer.« Mitchell spuckte das Wort aus. »Ein ganzer Wagenzug von ihnen kommt den Arkansas herauf.«
»Sie müssen anderswo hinwollen.«
Mitchell schüttelte seinen zottigen Kopf. »Zwei von meinen Reitern, die Pferde nach Union gebracht hatten, trafen diese Kartoffelklauber auf dem Rückweg, als sie gerade ihr Lager aufschlagen wollten. Sie haben sich mit ihnen unterhalten und erfahren, dass sie auf dem Weg hierher sind.«
Owen Dallas zog die Brauen hoch. »In der Umgebung von Latigo gibt es kein freies Land. Wo wollen sie sich ansiedeln?«
»Es gibt nur eine Gegend, die dafür in Frage käme. Das Stück Land, das Nat Corey vom alten Henry Knight kauft.«
»Haben sie deinen Leuten das erzählt?«
»Nein. Pete und Ed sagten, die Farmer seien ziemlich einsilbig gewesen. Aber mir ist sonnenklar, wie die Dinge liegen; und wenn Corey denkt, wir lassen uns einen Hau- fen Farmer vor die Nase setzen und wir halten still, ist er total verrückt.«
»Immer mit der Ruhe«, sagte Owen beschwichtigend. »Nathan Corey hat Knights Land noch nicht gekauft. Wie sollte er da...«
»Der Verkauf ist so gut wie perfekt. Morgen unterschreiben sie die Papiere, und Nat zahlt Henry in bar aus.«
»Das weiß ich«, sagte Owen geduldig. »Aber wenn Corey die Absicht hätte, das Land an Fremde weiterzuverkaufen, würde er inzwischen etwas gesagt haben.«
Mitchell legte seine Rechte auf das Sattelhorn und beugte sich vor. »Eben nicht! Er weiß genau, dass es auf diese Nachricht hin Stunk geben wird. Vielleicht befürchtet er auch, dass der alte Henry seinen Preis hinaufschrauben würde, wenn bekannt wird, dass er das Land mit fettem Profit an Siedler weiterverkauft.«
Owen verspürte einen ersten Anflug von Unbehagen. Er blickte zu Coreys Haus hinauf, einem massiven, zweigeschossigen Steingebäude auf einem Hügel oberhalb der Stadt. Sein Unbehagen wuchs, als er an den kalten und unfreundlichen Nathan Corey dachte. Aber der Mann war Beths Vater, und ihm hatte Owen letzten Endes seine Anwesenheit in Latigo zu verdanken.
»Ich werde mit Corey reden«, sagte er. »Ich will mal hören, was er dazu zu sagen hat.«
»Dann hol dein Pferd«, erklärte Mitchell. »Wir reiten alle zu ihm.«
Owen schüttelte seinen Kopf. »Ihr seid zu aufgeregt. Es wäre vielleicht besser, wenn ihr im Saloon warten und mich allein mit Corey reden lassen würdet.«
»Unsinn. Ich bin hergekommen, um etwas zu erfahren, nicht um die Zeit totzuschlagen. Wenn Corey noch im Bett ist, werden wir ihn schon munter machen, und wenn er zugibt, dass er diese Farmer hergeholt hat...«
»Ich will keinen Krawall. Lass mich die Sache auf meine Weise regeln.«
Mitchells neuer Mann, Tom Summers, ein breiter Kerl mit schweren Schultern und einem dicken Nacken, sagte wegwerfend: »Ein Gespräch mit Corey ändert nichts an der Tatsache, dass ein Haufen Farmer auf dem Weg hierher ist. Ich sage, wir sollten ihnen entgegenreiten und sie aufhalten. Wir können ihnen den guten Rat geben, umzukehren, und dann dafür sorgen, dass sie es auch tun.«
Mehrere der anderen murmelten beifällig und nickten.
Owen ließ seinen Zigarettenstummel fallen und trat die Glut aus, ohne seinen Blick von Summers abzuwenden. »Das sind starke Worte für einen Mann, der hier nichts hat, was er verlieren könnte.«
»Ich arbeite für Mr. Mitchell«, erwiderte Summers und straffte den Oberkörper. »Und wenn ich bei jemandem anheuere, fühle ich mich verpflichtet, seine Interessen zu vertreten.«
»Du scheinst ein bisschen zu loyal für einen Mann zu sein, der erst vor ein paar Wochen angefangen hat«, sagte Owen. »Vielleicht wäre es richtiger, wenn du deinem Boss das Reden überließest.«
Sie starrten einander an. Nach einer Weile unheilvollen Schweigens sagte Mitchell: »Wir sind nicht gekommen, uns mit dir zu zanken, Sheriff.«
»Dann geht in den Saloon, wartet dort und gebt mir Gelegenheit, mit Corey zu sprechen.«
»Was soll dabei herauskommen?«
»Wenigstens erfahren wir so, ob er mit den Siedlern ein Geschäft gemacht hat.«
Mitchell schwieg einen Augenblick. Seine buschigen Brauen zogen sich zusammen. Schließlich sagte er: »Eins ist sicher: Dies hier ist ein Viehzuchtgebiet, und ich lasse nicht zu, dass Farmer herkommen und die Wiesen umpflügen.«
»Auch ich sähe das sehr ungern«, sagte Owen. »Aber wenn sie von Corey Land kaufen, kann ich sie nicht daran hindern.«
»Aber ich kann sie hindern, bei Gott! Und ich werde es tun, bevor sie Gelegenheit bekommen zum ersten Spatenstich!«
»Damit würdest du gegen das Gesetz verstoßen.«
»Vielleicht, aber ich und meine Nachbarn haben alles besprochen, und wir werden den Dingen ins Auge sehen. Du kannst mit uns reiten, oder aber wir nehmen die Sache selbst in die Hand.«
»Die Siedler haben wahrscheinlich Frauen und Kinder bei sich«, wandte Owen ein. »Wenn ihr diese Leute mit Gewalt aufhalten wollt, könnte jemand verletzt werden.«
»Wir werden ihnen Gelegenheit geben, umzukehren.«
»Und wenn sie nicht wollen?«
»Dann steht ihnen ein Kampf bevor.«
Owen wurde ärgerlich. »Hör zu, Mitchell: In dieser Gegend stellst du etwas dar, aber wenn du gegen das Gesetz verstößt, wirst du wie jeder andere im Knast landen.«
»Wir hatten schon vor dir einen Sheriff, Dallas. Er war ein guter Mann, mit allen Leuten befreundet. Er wusste, dass dies hier Rinderland ist und dass es die Viehzüchter waren, die ihn in sein Amt gewählt hatten.«
Mit einem Blick zum Saloon sagte Owen: »Und jetzt ist er Ausfeger im Ace High.«
»Sicher, er wurde nicht wiedergewählt und konnte sich nie ganz davon erholen. Aber der Job im Saloon hält ihn beschäftigt, gibt ihm etwas, womit er sich nützlich machen kann. Er wird keine Not leiden, dafür werden wir sorgen.«
Tom Summers fixierte Owen unverwandt. »Ich habe mir erzählen lassen, dass du ein Mann bist, mit dem man nicht leicht auskommt, Sheriff, dass du in dieser Stadt auf Ordnung siehst. Aber wie du heute Morgen zögerst, das gibt einem zu denken.«
Owen blickte ihn an. »Du scheinst es ein bisschen eilig zu haben, aber mir fehlt im Augenblick die Zeit und die
Lust, mich mit einem Herumtreiber abzugeben, der gern zeigen möchte, was für ein Kerl er ist.«
»Ich weiß, du bist ein vielbeschäftigter Mann«, spottete Summers. »Vielleicht liegt es daran, dass du um Coreys Tochter herumschwänzelst, statt...«
Owens Geduld war am Ende. Mit ein paar langen, schnellen Schritten erreichte er den Mann. Summers wollte zur Waffe greifen, überlegte es sich jedoch anders und zog seinen rechten Stiefel aus dem Steigbügel. Owen wich dem Tritt aus und packte Summers' Fuß mit beiden Händen. Er drehte mit einem heftigen Ruck, und Summers heulte auf. Sein instinktiver Befreiungsversuch brachte ihn aus dem Gleichgewicht, und Owen zerrte ihn aus dem Sattel. Als der Mann hilflos auf den Rücken fiel, packte Owen ihn an der Weste und zog ihn in die Höhe.
John Mitchell blieb ruhig auf seinem Pferd sitzen, aber in seiner Crew wurde Gemurmel laut. Zwei von ihnen tasteten unschlüssig nach ihren Revolvern und warteten offenbar auf ein Zeichen Mitchells. Owen sah die Bedrohung aus den Augenwinkeln, aber Summers versuchte sich loszureißen, und er brauchte beide Hände, um den Mann zu bändigen.
In diesem Augenblick rief Deputy Sheriff Billy Easter vom Eingang des Longhorn Cafés herüber: »Mein Revolver ist auf euch gerichtet, Jungs!«
Die zwei Männer ließen die Hände sinken. Billy Easter kam über die Straße, einen langläufigen Colt in der Hand.
Summers fluchte. Er konnte sich losreißen und versuchte sich mit einem wilden Schwinger Luft zu verschaffen, der jedoch nur Owen den Hut vom Kopf fegte. Bevor der Mann einen neuen Schlag ins Ziel bringen konnte, griff Owen an, packte ihn bei den Schultern und stieß ihn zurück gegen sein Pferd. Während er ihn dort festhielt, knurrte er: »Ich habe dir gesagt, dass ich keine Zeit habe, mich mit dir herumzuschlagen. Setz dich wieder auf dein Pferd, sonst bringe ich dich hinter Gitter, bis du dich abgekühlt hast.«
»Tu' wie er sagt, Summers«, befahl Mitchell, »und halt deine verdammte Klappe. So wie die Dinge stehen, brauche ich jeden Mann, den ich habe.«
Owen trat zurück. Er beobachtete Summers sorgfältig und wartete. Die blassen Augen des Mannes spiegelten Unentschlossenheit. Seine großen Hände öffneten und schlossen sich, und sein keuchender Atem war das einzige Geräusch in der Stille.
»Du hast mich gehört!«, sagte Mitchell scharf.
Summers zögerte noch einen Augenblick. Dann drehte er sich auf dem Absatz herum, nahm die Zügel und stieg in den Sattel.
Owen bückte sich und hob seinen Hut auf. Auf dem Weg zu Billy Easter, der noch immer mit gezogenem Revolver dastand, klopfte er den Staub aus seinem Hut. »Die sind ein bisschen aufgeregt, Billy«, sagte er. »Aber es ist schon gut; du kannst das Ding wegstecken.«
Billy Easter gehorchte zögernd. Seine dunklen Augen blieben misstrauisch auf Mitchell und seine Leute gerichtet. Mitchells Schnurrbartenden zuckten bedrohlich. »Hör zu, Dallas! Es gefällt mir nicht, wie dieses Bürschchen meine Nachbarn und mich mit dem Schießeisen bedroht. Ich war schon damals dagegen, dass du einen wie ihn einstellst.«
»Das hast du oft genug betont«, erwiderte Owen. »Aber Billy tut seine Arbeit ordentlich. Wenn ihr jetzt zum Saloon reitet und mir Gelegenheit dazu gebt, werde ich mit Corey sprechen.«
Mitchell hob die Zügel. »Aber lass uns nicht zu lange warten, weil wir sonst auf den Gedanken kommen könnten, ohne dich loszureiten und diese Farmer aufzuhalten.«
Sie wendeten ihre Pferde und ritten zurück. Vor dem Ace High ließen sie die Tiere stehen und trampelten über den hölzernen Gehsteig.
Owen stand schweigend neben seinem Deputy und sah die Männer nacheinander im Saloon verschwinden.
»Es sieht nicht gut aus«, sagte Billy Easter.
Owen antwortete nicht. Er blickte zum Ace High hinüber, wo Tom Summers im Eingang stehengeblieben war. Eine Hand auf dem Türflügel, den Oberkörper halb gedreht, beobachtete er die beiden Männer vor dem Sheriff-Büro.
»Ein übler Patron«, bemerkte Billy.
Owen nickte und sah Summers in den Saloon gehen.
Längs der Straße standen die Leute jetzt in kleinen Gruppen von zweien oder dreien beisammen und stellten Mutmaßungen über die Bedeutung des soeben Gesehenen an. Owen machte sich auf den Weg zum Mietstall und fühlte die besorgten Blicke.
Owen holte seinen Braunen aus dem Stall und ritt die Straße hinunter über die Brücke durch das Wohnviertel am Nordrand der Stadt. Die meisten der kleinen Holzhäuser machten einen baufälligen, verwahrlosten Eindruck und hielten keinen Vergleich mit dem Steingebäude auf dem Hügel aus.
Coreys Haus erinnerte Owen an eine Festung, und während er den Hügel hinaufritt, fragte er sich wieder einmal, was einen Mann dazu bewegen mochte, sich ein solches Haus zu bauen. Wenn Nathan Corey eine große Familie gehabt hätte, wäre es noch verständlich gewesen, aber da waren nur er, seine Tochter und eine Haushälterin.
Für einen Mann, der aus dem Bergland kam, wo der Benbow-Clan und eine Anzahl weiterer verkrachter Existenzen ein armseliges Farmerdasein fristeten, hatte es Nathan Corey zweifellos zu etwas gebracht. Nach dem Tod seiner Frau war er in die Stadt gezogen und hatte einen kleinen Laden eröffnet. Owen hatte damals noch nicht in Latigo gelebt, aber er hatte die Geschichte von Coreys Erfolg bis zum Überdruß gehört: wie der Mann sein Geschäft vergrößert, ein Transportunternehmen aufgezogen und sich schließlich an Bergwerksgesellschaften beteiligt hatte.
Man nahm Corey nicht nur übel, dass er seinen Kunden niemals Kredit eingeräumt hatte, sondern man beschuldigte ihn auch, für den geschäftlichen Ruin einiger Rancher verantwortlich gewesen zu sein. Owen bezweifelte, dass dieser kalte Egozentriker irgendwo einen echten Freund besaß, aber das änderte nichts daran, dass Corey der reichste Mann in Latigo und Umgebung war.
Owen erinnerte sich jetzt an seine erste Begegnung mit Corey. Sie lag sechs Monate zurück und hatte an einem kalten Januartag im Windsor Hotel in Denver stattgefunden. Die Straßen waren vom Schnee verstopft gewesen. Owen hatte seinen Dienst in einem Bergarbeiterlager quittiert und war in die Stadt gekommen, um nach einem neuen Job Ausschau zu halten.
Owen saß an jenem Tag in seinem schlecht geheizten Hotelzimmer und betrachtete eine alte Narbe auf seinem linken Handrücken, eine von mehreren, die sein Körper aufwies. Kleine Erinnerungen an die wilden Städte und die Schießereien. Narben, eine gebrochene Nase und eine zersplitterte Kniescheibe waren ungefähr alles, was ihm die Jahre als Sheriff eingetragen hatten. Sie waren schnell vergangen, waren ihm entglitten, bevor er es richtig begriffen hatte. Jahre des harten Lebens, der Entbehrungen und der Gefahr.
Er blickte in die Zukunft und fand keinen Gefallen an dem, was er sah. Es war an der Zeit, aufzugeben, seinen Dienst zu quittieren, solange er noch jung genug war, nur einen neuen Anfang zu machen. Der nächste Job würde sein letzter sein. Diesmal war er entschlossen, einen Teil seines Lohnes zu sparen und auszusteigen.
Und während er dasaß und über die verlorenen Jahre nachsann, kam Nathan Corey ins Hotel und schimpfte über die lange Reise aus dem San Juan County, die kalte Fahrt mit der Postkutsche von Latigo nach Union, wo er in die Schmalspurbahn umgestiegen war.
Nathan Corey, ein stattlicher Mann von etwa fünfzig Jahren, wanderte zigarrenrauchend in Owens Hotelzimmer auf und ab, zu nervös, um sich einen Stuhl zu nehmen. Er hatte in Denver noch andere Geschäfte zu erledigen und war nur gekommen, weil er Owens Bild in der Rocky Mountain News gesehen hatte.
In Latigo brauchten sie einen guten Gesetzesbeamten. Die Zustände in der Stadt waren nicht schlimm, hauptsächlich Rowdytum und kleinere Ausschreitungen, aber wenn man nichts dagegen unternähme, würde sich die Situation verschlimmern, sagte Corey, und er wollte, dass seine Heimatstadt so ruhig und friedlich bliebe, wie sie immer gewesen war.
Das Angebot klang gut, ein annehmbares Gehalt und wenig Arbeit mit dem Revolver. Eine Neuwahl stand bevor, und die meisten Einwohner fanden, dass ein Wechsel an der Zeit wäre. Len Smith hatte sein Amt schon zu lange ausgeübt. Owens guter Ruf sicherte ihm den Wahlsieg. Ihm selbst gefielen die Stadt und ihre Umgebung, und er fasste den Entschluss, nach dem Ende seiner Amtsperiode in der Nähe von Latigo eine Ranch zu gründen.
Nach einiger Zeit fand er sogar einen Platz am Pine Creek, den er billig von einem Mann kaufen konnte, der von der Viehzucht die Nase voll hatte. Es war nicht viel; eine Blockhütte, umgeben von einem Dickicht, das erst gerodet werden musste. Aber Owen freute sich auf den Tag, wo er das Sheriff-Büro verlassen und hier neu beginnen konnte.
Während er jetzt den Hügel hinaufritt und nachdachte, fragte er sich, ob nicht Beth Corey der eigentliche Grund war, warum er beschlossen hatte, nach seiner Amtszeit in Latigo zu bleiben. Beth war etwas Besonderes; die erste Frau, die es je vermocht hatte, in Owen mehr als nur flüchtiges Interesse zu wecken.
Er wusste, dass er um einen hohen Einsatz spielte, aber Beth besuchte ihn immer wieder in seinem Büro, ließ ihm seine Hoffnungen und führte ihn an der Nase herum. Irgendwie schien sie nie dahin zu kommen, ihm zu sagen, woran er eigentlich war; er musste erst zu ihrem Vater gehen, um es zu erfahren. Wie ein dummer Junge war er vor ein paar Tagen zu Besuch gekommen und hatte Beth nicht angetroffen. Sie sei von Allard, dem Bankier, zu einer Wagenfahrt eingeladen worden, hatte Nathan erklärt.
Charles Allard und Beth Corey gingen miteinander, seit Allard vom College zurückgekommen war. Nun, nachdem sein Vater gestorben war und ihm die Bank hinterlassen hatte, war Charles ein wohlhabender Mann, und seiner Hochzeit mit Beth stand nichts mehr im Wege. Ja, und was noch mehr war: die Hochzeit sollte schon am folgenden Tag der Öffentlichkeit bekanntgegeben werden.
Am Rand des Vorplatzes ließ Owen sein Pferd unter einem Ahornbaum zurück. Dann schritt er langsam auf das Haus zu. Einmal blickte er zu den Fenstern im ersten Stock hinauf, aber Beth war um diese Zeit sicher noch nicht aufgestanden. Mit einer Haushälterin, die kochte und sich um alles kümmerte, konnte Beth schlafen, solange sie wollte. Sie konnte tun, was ihr gefiel, dachte er, vorausgesetzt, es stand nicht im Widerspruch zu den Vorstellungen ihres Vaters.
Auf sein Klopfen öffnete Mrs. Lamont, die Haushälterin, eine stämmige Frau von etwa fünfzig Jahren. Sie betrachtete den frühen Besucher mit kritischen Blicken.
»Ich möchte gern Mr. Corey sprechen.«
»Er frühstückt gerade«, sagte Mrs. Lamont. »Sie werden später wiederkommen müssen.«
»Was ich mit ihm zu besprechen habe, ist wichtig«, erklärte Owen Dallas. »Sagen Sie ihm, dass ich hier bin.«
Die Haushälterin zögerte, dann sagte sie gereizt: »Mr. Corey legt Wert darauf, beim Essen nicht gestört zu werden.«