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Frank Rannigun wäre gern Sheriff in der kleinen Stadt geblieben. Doch dann erfuhr er, dass man Press, seinem Bruder, Schwierigkeiten machte. Wer Press kannte, wunderte sich nicht darüber, denn er war schon immer ein wilder, ungehobelter Kerl gewesen. Nun saß er im Gefängnis, und der Galgen erwartete ihn. Niemand glaubte, dass er unschuldig war und dass er mit dem Mord, dessen man ihn beschuldigte, nichts zu tun hatte. Und die Leute, die ihn hätten entlasten können, schwiegen. Sie hatten nichts zu gewinnen, wenn Press am Leben blieb. Aber sie hatten viel zu verlieren, wenn er nicht gehängt wurde...
Es musste mit allen Mitteln verhindert werden, dass Frank seinen Bruder aus der Zelle holt. Deshalb sollte auch er sterben.
So standen die Dinge, als Frank Rannigun nach Leadville kam...
Der Roman Sheriff in der toten Stadt des US-amerikanischen Western-Autors Wesley Ray (= Ray Gaulden, * 27. Juni 1914, † 18. März 1986) erschien erstmals im Jahr 1957; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1971.
Dieser Western-Klassiker erscheint als durchgesehene Neuausgabe in der Reihe WESTERN-COLT.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
WESLEY RAY
Sheriff in der
toten Stadt
Roman
Western-Colt, Band 22
NordheimBücher
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
SHERIFF IN DER TOTEN STADT
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Frank Rannigun wäre gern Sheriff in der kleinen Stadt geblieben. Doch dann erfuhr er, dass man Press, seinem Bruder, Schwierigkeiten machte. Wer Press kannte, wunderte sich nicht darüber, denn er war schon immer ein wilder, ungehobelter Kerl gewesen. Nun saß er im Gefängnis, und der Galgen erwartete ihn. Niemand glaubte, dass er unschuldig war und dass er mit dem Mord, dessen man ihn beschuldigte, nichts zu tun hatte. Und die Leute, die ihn hätten entlasten können, schwiegen. Sie hatten nichts zu gewinnen, wenn Press am Leben blieb. Aber sie hatten viel zu verlieren, wenn er nicht gehängt wurde...
Es musste mit allen Mitteln verhindert werden, dass Frank seinen Bruder aus der Zelle holt. Deshalb sollte auch er sterben.
So standen die Dinge, als Frank Rannigun nach Leadville kam...
Der Roman Sheriff in der toten Stadt des US-amerikanischen Western-Autors Wesley Ray (= Ray Gaulden, * 27. Juni 1914, † 18. März 1986) erschien erstmals im Jahr 1957; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1971.
Dieser Western-Klassiker erscheint als durchgesehene Neuausgabe in der Reihe WESTERN-COLT.
Frank Rannigun verließ das Sheriff's Office und betrat die von Wagenrädern zerwühlte Straße von Gold Hill. Dunkelheit lag über dem Minen-Camp und verbarg die hässlichen Abraumhalden hinter den beiden Häuserreihen. Die Gebäude bestanden durchweg aus Baumstämmen oder Fachwerk.
Eine höllisch fadenscheinige Fassade für eine Stadt, dachte Rannigun und überlegte wieder einmal, warum er eigentlich diesen Job angenommen hatte.
Mondlicht spiegelte sich im Abzeichen auf seiner Jacke und erhellte das breitflächige Gesicht. Ein großer Mann mit blondem Haar, das sich bis in den Nacken kräuselte. Die Waffe war tief am Oberschenkel angebunden.
Die Straße war fast völlig verlassen. Das einzige Geräusch kam aus dem Sluice Box Saloon, der nur wenige Häuser entfernt war. Und dort fing üblicherweise auch meistens der Ärger an. Seit drei Nächten war es jedoch ruhig gewesen. Zu ruhig für einen Mann wie Frank Rannigun, dem es ständig in den Fingern juckte, auch etwas zu tun.
Er kam zum Hotel, einem schäbigen, ungestrichenen Gebäude, und blieb stehen, als er von Jason Weeks, dem Besitzer, von der Veranda her angesprochen wurde.
»Alles verdammt ruhig im Camp, Sheriff.«
Rannigun nickte. Seine grauen Augen sahen zum Saloon hinüber.
Weeks, ein kleiner Mann, drehte eine Zigarre zwischen seinen dünnen Fingern und sagte: »Man sollte kaum glauben, dass es noch das alte Camp ist, das Sie vor einem Monat hier angetroffen haben.«
»Männer werden immer einen Höllentanz veranstalten, solange sie glauben, damit durchkommen zu können«, antwortete Rannigun.
»Die Raubeine im Camp sind viel zu lange damit durchgekommen«, sagte der Hotelbesitzer. »Die meisten anständigen Leute hier in der Stadt hatten ja Angst, auch nur den Kopf aus der Tür zu stecken. Aber wir konnten eben niemanden finden, der diesen Stern tragen wollte.«
»In der ersten Woche habe ich mein Geld mit Arbeit verdient«, sagte Rannigun. »Aber jetzt ist der Job ja der reinste Ruhestand.«
Weeks sah den anderen forschend an.
»Sie denken doch hoffentlich nicht daran, uns schon wieder zu verlassen?«
»Sie brauchen mich hier doch gar nicht mehr«, stellte Rannigun fest und langte nach seinem Tabaksbeutel. »Mit diesem Job kann doch jetzt jeder fertig werden.«
»Nur weil Sie die Leute in Schach halten, aber das bedeutet noch lange nicht, dass sie nicht sofort wieder über die Stränge schlagen werden, wenn sie dazu Gelegenheit bekommen.«
Rannigun drehte sich eine Zigarette und ließ seinen Blick über die leere Straße schweifen.
»Wir sehen uns später noch«, sagte er, dann ging er weiter und überquerte die Straße.
Dichter Tabaksqualm hing wie eine Wolke unter der Decke des Saloons, der bis auf den letzten Platz von Minenarbeitern besetzt war.
Rannigun schob sich langsam durch die Menge, vorbei an den Karten- und Spieltischen.
»Howdy, Sheriff!«, rief ihn ein großer Minenarbeiter grinsend an. »Na, wie geht's?«
Rannigun nickte nur und setzte seinen Weg fort.
An einem der Kartentische saß der Rotschopf, der von sich behauptet hatte, verdammt schnell mit einem Schießeisen zu sein. Aber das war, bevor er sich mit Rannigun angelegt hatte. Jetzt trug er keine Waffe mehr, und um seine rechte Hand war ein schmutziger Verband gewickelt.
Alles in allem gar kein so schlechter Haufen, dachte Rannigun. Überwiegend Männer, die schwer schufteten und gelegentlich auch mal Dampf ablassen wollten. Man musste ihnen nur verständlich machen, dass man es ernst meinte, und ein paar Köpfe zusammenschlagen, dann bereiteten sie einem kaum noch viel Ärger.
Eine Frau in rotem Kleid kam hüftenschwingend und lächelnd auf Rannigun zu.
»Sag mal, Alice... du kannst es wohl nie lassen, was?«, fragte Rannigun lächelnd.
»Wenn ich's täte, würde es dir bestimmt auch nicht gefallen«, antwortete Alice. »Aber was ist? Spendierst du mir 'nen Drink?«
»Mach ich das nicht immer?«
Sie setzten sich an einen Ecktisch, zwei gefüllte Gläser vor sich, und sahen einander an.
Alice beobachtete ihn eine ganze Weile schweigend. Dann sagte sie: »Willst du denn heute Abend gar nicht trinken?«
»Hab' keinen Durst«, brummte er und ließ seinen Blick über die Menge wandern.
»Da steckt doch etwas mehr dahinter«, behauptete Alice und beobachtete ihn noch aufmerksamer. »Du hast dich schon die ganze letzte Woche so merkwürdig benommen.«
»Was meinst du mit... merkwürdig?«
Sie zuckte die Achseln.
»Das weiß ich auch nicht, aber du bist irgendwie anders als damals, als du herkamst.«
Ohne sie anzusehen, sagte er: »Damals gab's ja hier auch noch 'ne Menge Aufregung.«
»Ach? Dann findest du mich also nicht mehr aufregend, was?«
»Diese Aufregung hab' ich doch nicht gemeint«, sagte er und verzog verschmitzt das Gesicht.
Alice nippte an ihrem Drink.
»Ich hab's noch nie ausgehalten, lange tatenlos herumzusitzen.« Rannigun starrte mürrisch in sein Whiskyglas. »Vielleicht gibt's drüben in Leadville mehr zu tun.«
»Vielleicht hättest du das Tal überhaupt nicht verlassen sollen. Macht dir das etwa zu schaffen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Ich hab' mich ja einen Monat lang dort unten aufgehalten, aber selbst das war schon viel zu lange für mich.«
»Aber dein Bruder ist immer noch dort.«
Rannigun schwieg und dachte nach. Der gute alte Press! Wollte Schluss machen mit den wilden Zeiten und sesshaft werden. Sie hatten sich immer sehr nahegestanden, die beiden Brüder. Sie waren zusammen geritten und hatten zusammen gekämpft. Zwei Männer von nirgendwoher; immer zusammen, immer in die gleiche Richtung... bis sie in diese Stadt namens Mariposa gekommen waren.
Rannigun lächelte vor sich hin, als er sich an diese Pokerpartie erinnerte, bei der Press am Schluss eine kleine Ranch gewonnen hatte. Zuerst hatten beide darüber gelacht, zum ersten Mal in ihrem Leben Landbesitzer zu sein, aber dann hatte Press die Sache plötzlich ernst genommen. Es wäre doch immerhin ein Anfang, hatte er behauptet, und es wäre für sie beide endlich allerhöchste Zeit, sich irgendwo niederzulassen.
Frank Rannigun konnte die Dinge nicht so sehen. Zu lange war er schon ruhelos umhergezogen. Also hatte er seinen Bruder aufgefordert, sich ihm wieder anzuschließen, wenn jener bei seinem Versuch, zur Abwechslung einmal Rancher zu spielen, das letzte Hemd verloren haben würde. Dann war Frank weitergeritten in der festen Absicht, möglichst viele Meilen zwischen sich und das Tal zu bringen. Allzu weit war er allerdings nicht gekommen. Nur bis zu diesem Minen-Camp hier oben in den Bergen.
»Für mich war das nichts«, sagte Rannigun und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Frau am Tisch zu. »Teufel, ich würde ja verrückt werden, wenn ich mich so anbinden ließe wie Press!«
Alice sah ihm forschend ins Gesicht.
»Vielleicht hatte ein Mädchen etwas mit deinem Entschluss, das Tal wieder zu verlassen, zu tun?«, fragte sie.
»Yeah, 'n Mädchen hat's schon gegeben«, sagte Rannigun und lächelte flüchtig. »Aber das hatte gar nichts mit meinem Entschluss zu tun.«
»Bist du da auch ganz sicher?«
»Verdammt sicher!«
Wieder nippte Alice an ihrem Drink.
»Wie war sie denn so?«
»Ich weiß nur, dass wir nicht zusammenpassten.« Er drehte das Whiskyglas zwischen den Fingern und nahm den Lärm um sich herum nur noch verschwommen wahr. »Sie war eben nicht von meiner Art.«
Danach schwiegen sie eine ganze Weile. Rannigun beobachtete, wie die Minenarbeiter ihr sauer verdientes Geld an der Bar oder an den Spieltischen mit vollen Händen ausgaben. Er verspürte wieder diese alte und doch so vertraute Unruhe. Plötzlich griff er nach seinem Glas und leerte es auf einen Zug.
»Also dann... bis später«, sagte er und stand vom Tisch auf.
Alice blieb sitzen und sah zu ihm auf.
»Wie hat dieses Mädchen denn geheißen?«, fragte sie.
»Helen Miles«, antwortete er kurz, dann fügte er noch hinzu: »Aber ihretwegen brauchst du dir wirklich nicht den Kopf zu zerbrechen.«
Er verließ den Saloon und ging an den dunklen Häusern vorbei über die Straße. Bis zum Stadtrand war es nur ein kleines Stück. Hier blieb er stehen und starrte in die Richtung, in der das Tal lag. Er musste wieder an seinen Bruder denken... und an all die guten und schönen Zeiten, die sie miteinander verlebt hatten.
Er lächelte vor sich hin, doch dieses Lächeln erlosch schlagartig, als seine Gedanken sich mit Helen Miles beschäftigten.
»Einmal Herumtreiber, immer Herumtreiber«, murmelte er vor sich hin, weil er sich daran erinnerte, dass Helen Miles die gleichen Worte gebraucht hatte.
Seine innere Unruhe wurde immer stärker, als er in die Stadt zurückging. Vielleicht sollte er doch lieber wieder weiterreiten. Yeah, diesen Blechstern ablegen und sich erneut auf den Weg machen, dachte er. Es hatte doch keinen Zweck mehr, sich noch länger hier herumzudrücken.
Er kam am Saloon vorbei und ging auf das Sheriff's Office zu. Auf der Straße war niemand zu sehen, aber er hatte plötzlich das unbehagliche Gefühl, beobachtet zu werden. Seine Hand griff unwillkürlich nach dem Griff seines 45er Colts. Er hatte das Büro fast erreicht, als das Scheppern einer Blechdose seine Aufmerksamkeit auf einen Gang zwischen zwei Häusern lenkte.
Rannigun konnte gerade noch eine geduckte Gestalt erkennen, dann krachte ein Schuss.
Der Sheriff sah den roten Mündungsblitz und spürte, wie das Geschoss seinen Kopf streifte.
Rannigun taumelte zurück und hatte Mühe, auf den Beinen zu bleiben, aber riss den Colt aus dem Halfter.
Vom Eingang der dunklen Gasse her krachte ein weiterer Schuss. Die Kugel jaulte an Rannigun vorbei und verfehlte ihn nur um Zollbreite. Doch inzwischen hatte er sein Gleichgewicht wiedergefunden und hielt die eigene Waffe in der Faust. Er feuerte zweimal rasch hintereinander, dann wechselte er rasch den Standort.
Es fiel kein Schuss mehr. Dann verrieten huschende Schritte, dass sich der Heckenschütze aus dem Staube machen wollte.
Rannigun erreichte mit wenigen Sprüngen die Gasse und feuerte sofort, als er den flüchtenden Mann am hinteren Ende entdeckte. Jener war noch kurz an einer mondbeschienenen Stelle zu sehen, dann verschwand er in der Dunkelheit hinter der Häuserreihe. Rannigun lief weiter, blieb aber kurz vor dem Ende des dunklen Ganges stehen, weil er damit rechnen musste, dass der andere nur darauf wartete, seinen Gegner hier auftauchen zu sehen.
Blut rann aus der Kopfwunde über das Ohr. Rannigun spürte den scharfen, brennenden Schmerz. Nachdem er kurz gewartet hatte, schob er vorsichtig den Kopf um die letzte Hausecke, zog ihn aber schleunigst zurück, als prompt ein Schuss krachte. Die Kugel pfiff jedoch harmlos ein gutes Stück an ihm vorbei. Jetzt trat Rannigun ins Freie, riss dabei den Abzug durch und sah einen dunklen Schatten in einem Hauseingang verschwinden.
Vorsichtig bewegte sich Rannigun durch den dunklen Gang. Er verlor zwar ziemlich viel Blut, aber allzu schlimm konnte die Verletzung wohl nicht sein, dachte er, denn sonst wäre er jetzt kaum noch auf den Beinen.
Er beobachtete den Hauseingang, blieb stehen, zog drei Patronen aus dem Gurt und lud seine Waffe nach. Dann erst ging er weiter und hielt sich dicht an den Hauswänden. Obwohl die Tür im Dunklen lag und vom Mondlicht nicht erreicht wurde, erkannte Rannigun einen der Hintereingänge des Hotels.
Das Echo der letzten Schüsse war verhallt. Jetzt herrschte wieder absolute Stille.
Rannigun hielt den schweren Colt schussbereit in der rechten Hand und näherte sich äußerst vorsichtig dem Hotel. Ein schwaches Geräusch drang an seine Ohren... das Knarren von Scharnieren, dann schwere Stiefelschritte auf Holz.
Der Heckenschütze wollte also über die Hintertreppe des Hotels nach oben gehen.
Rannigun rannte auf die Tür zu, zögerte einen Moment und trat dann ins Freie.
Sofort krachte oben auf der Treppe wieder ein Schuss.
Rannigun zog sich schleunigst in den Schutz der Dunkelheit zurück.
Das Geschoss fetzte Holzsplitter aus dem Türrahmen.
Rannigun wartete einen Moment, dann hörte er wieder schwere Schritte. Der Mann lief über den oberen Korridor. Rannigun betrat das Hotel durch den Hintereingang. Für einen Moment wurde ihm schwindelig, doch er schüttelte dieses Gefühl energisch ab und ging weiter. Immer noch lief Blut über das Ohr. Rannigun nahm die Waffe in die linke Hand, um mit dem rechten Handrücken das Blut abwischen zu können.
Die Treppe lag vollkommen im Dunklen, aber auf dem oberen Korridor brannte eine Öllampe. Hastige Schritte verrieten Rannigun, dass sein Mann bereits die Vordertreppe hinablief.
Rannigun atmete schwer und keuchend. Der starke Blutverlust machte ihm doch zu schaffen, als er weiterging. Kurz darauf hörte er eine Tür zuschlagen. Er rannte die Vordertreppe hinunter, und als er die Halle erreichte, tauchte plötzlich Weeks, der Hotelbesitzer, auf.
»Was ist denn hier los?«, fragte er.
Rannigun konnte einen Zusammenprall mit dem anderen nicht mehr vermeiden. Er wurde von seinem eigenen Schwung fortgerissen. Beide Männer gingen zu Boden. Wertvolle Sekunden verstrichen, bevor es Rannigun endlich gelang, sich von Weeks loszureißen und wieder auf die Beine zu kommen. Ohne dem Hotelbesitzer etwas zu erklären, rannte Rannigun ins Freie.
Ein Mann rannte auf eine Haltestange vor einem der Häuser zu.
Rannigun feuerte, verfehlte aber sein Ziel. Er fluchte, als er sah, wie sich der Verfolgte auf den Rücken eines Rappen schwang, tief über den Pferdehals beugte und in halsbrecherischem Galopp über die dunkle Straße davonpreschte. Rannigun hatte gerade noch die weiße Blesse auf der Stirn des Rappen erkennen können, dann war der Mann, wer immer es auch sein mochte, in der Dunkelheit verschwunden. Wütend jagte Rannigun ihm noch eine Kugel hinterher, dann ließ er die Hand mit der Waffe sinken. Auch dieser Schuss war natürlich danebengegangen.
Von dem Mann hatte Rannigun so gut wie nichts zu sehen bekommen, aber es dürfte in der näheren Umgebung wohl nicht allzu viele Rappen mit einer weißen Blesse auf der Stirn geben.
Rannigun kehrte zum Hotel zurück.
Weeks stand vor dem Eingang und fragte aufgeregt: »Was war denn los, Rannigun?«
»Jemand hat mir in einer dunklen Gasse aufgelauert«, antwortete Rannigun.
Weeks fluchte leise, dann stellte er erschrocken fest: »Mann, Sie bluten ja wie 'n abgestochenes Schwein!«
»Kann nicht so schlimm sein«, sagte Rannigun und presste eine Hand auf die immer noch sehr stark blutende Kopfverletzung. »Sehen Sie sich's mal an, ja?«, bat er den Hotelbesitzer.
»Wir sollten wirklich einen Knochensäger in der Stadt haben«, knurrte Weeks.
Sie wollten ins Hotel gehen, hielten aber noch einmal an, als am fernen Ende der Straße plötzlich Hufschläge aufklangen.
Rannigun sah sofort in diese Richtung.
Zwei Reiter kamen auf sie zu. Als sie näher heran waren, erkannte Rannigun einen Mann und eine Frau.
Das Paar hielt vor dem Hotel an, als es den Sheriff und den Hotelbesitzer auf der Veranda stehen sah.
Rannigun beobachtete die beiden sehr aufmerksam. Sein Interesse galt vor allem dem Mädchen, denn jetzt hatte er es erkannt. Es war niemand anders als Helen Miles!
Das Mädchen schien etwas fragen zu wollen, doch dann erkannte es Rannigun und sagte zu seinem Begleiter: »Das ist er, Phil!«
Der Mann namens Phil war dem Aussehen nach ein Cowboy. Er blieb im Sattel, während das Mädchen abstieg und auf den Hoteleingang zukam.
»Was willst du denn hier?«, fragte Rannigun. »Bist du nicht ein bisschen weit von zu Hause fort?«
»Ich bin hergekommen, um dich zu suchen.«
Spöttisch meinte er: »Ach? Und ich dachte immer, du machst dir nichts aus mir! Das hast du doch selbst behauptet.«
Das Mädchen trat nun in den Lichtschein, der aus der offenen Tür fiel.
Ein kleines Mädchen mit fransenbesetztem Reitrock und karierter Jacke. Unter dem flachkronigen Stetson quoll dunkelrotes Haar hervor.
»Schmeichle dir nur nicht selbst!«, erwiderte sie genauso spöttisch, und sie lächelte dabei auch nicht.
Rannigun grinste sie an.
Dann entdeckte sie das Blut an seinem Kopf und riss erschrocken die Augen weit auf.
»Du bist ja verletzt!«, rief sie alarmiert.
»Ist nicht weiter schlimm.«
Sie trat rasch dicht an ihm heran, drehte seinen Kopf ins Licht und untersuchte die Verletzung.
»Wir müssen die Blutung zum Stillstand bringen«, erklärte sie resolut. »Los, kommt mit! Gehen wir 'rein!«
»Bringen Sie ihn auf sein Zimmer«, sagte Weeks. »Dort gibt's Wasser und saubere Handtücher.«
Rannigun ging über die Treppe voran und überlegte dabei, was das Mädchen wohl hier wollte. In seinem Zimmer setzte er sich auf die Bettkante, während Helen die dicke Jacke auszog. Er beobachtete sie, wie sie sich rasch und gewandt im Zimmer hin und her bewegte, eine Schüssel mit Wasser füllte und nach einem Handtuch griff.
»Wie hast du eigentlich herausbekommen, dass ich hier bin?«, wollte er wissen.
Sie trug die Waschschüssel zu einem kleinen Tisch neben dem Bett und machte ein Ende des Handtuchs nass.
»Einer unserer Nachbarn im Tal ist vor kurzem durch Gold Holl gekommen und hat mir erzählt, dass es hier einen verdammt rauen Marshal namens Rannigun geben soll.«
Sie beugte sich über ihn und wischte mit dem nassen Handtuch behutsam das Blut von seinem Kopf.
Rannigun zuckte zusammen und fragte: »Und was willst du hier?«
»Es geht um deinen Bruder Press. Ich dachte, dass du ihn vielleicht ganz gern einmal Wiedersehen möchtest.« Sie tupfte vorsichtig die Wunde ab und redete dabei weiter. »Er sitzt nämlich im Gefängnis.«
Rannigun zog sich mit einem Ruck von ihr zurück und starrte sie an.
»Was sagst du da? Press im Gefängnis? Weswegen denn?«
»Weil er einen Mann getötet hat.«
»Das ist doch verrückt! Press würde niemals...«
Sie trat einen Schritt zurück und sah ihn ruhig an.
»Aber er hat's nun mal getan. Die Geschworenen haben ihn schuldig gesprochen, und nun will man ihn hängen... am Freitagmorgen.«
Es war auf einmal sehr still im Hotelzimmer. Die Lampe warf tanzende Schatten auf die geblümten Tapeten.
Rannigun saß regungslos auf der Bettkante und starrte Helen Miles an.
»Wen hat Press getötet?«, fragte er schließlich.
»Den Bankier Elton Stokes.«
»Und welchen Grund soll Press dafür gehabt haben, diesen alten Mann umzubringen?«
»Dein Bruder wollte ein Darlehen von der Bank. Es kam zum Streit, in dessen Verlauf Stokes deinem Bruder einen Schlag mit dem Spazierstock über den Kopf versetzte.«
Rannigun schüttelte den Kopf.
»Press würde doch deswegen niemals einen Mann töten!«, behauptete er.
Helen Miles, die immer noch das blutige Handtuch festhielt, sagte: »Von der Bank aus ging Press in einen Saloon und begann zu trinken. Mehrere Zeugen haben gehört, wie er Stokes gedroht hat.«
»Das beweist noch lange nicht, dass er den alten Bankier auch tatsächlich getötet hat.«
»Ich weiß nur, dass Mr. Stokes noch in derselben Nacht durch einen Schuss getötet wurde, den jemand aus einem dunklen Gang heraus auf ihn abgefeuert hatte.«
Rannigun saß wie erstarrt da und konnte noch immer nicht fassen, was ihm das Mädchen eben erzählt hatte. Aber er konnte sich vorstellen, wie alles verlaufen war. Press Rannigun stand im Ruf, ein besonders wilder Bursche zu sein. Die beiden Brüder waren nach Mariposa gekommen, hatten getrunken und gepokert und sich auch zweimal herumgeprügelt, solange Frank noch dort gewesen war. Dass Press beschlossen hatte, sich dort für immer niederzulassen und zur Ruhe zu kommen, würde den Bewohnern gar nichts zu bedeuten haben. Dafür war Press einfach noch nicht lange genug dort. Er hatte noch keine Gelegenheit gehabt, auch zu beweisen, dass es ihm mit seinem Entschluss, fortan ein geordnetes und gesetzmäßiges Leben zu führen, tatsächlich ernst war.
»Jemand hat ihm diese Geschichte angehängt«, meinte Rannigun. »Nur so kann's gewesen sein.«
Helen wrang das Handtuch in der Waschschüssel aus und wollte die Verletzung weiterbehandeln, doch Rannigun schüttelte unwillig den Kopf.
»Das ist schon gut genug«, sagte er. »Verbinde die Wunde 'n bisschen und...«
»Aber du hast sehr viel Blut verloren«, unterbrach Helen. »Du solltest die Verletzung lieber von einem Arzt...«
»Hier gibt's keinen Arzt«, fiel er ihr nun ins Wort. Er stand auf und ging zum Waschständer hinüber. An der Wand darüber hing ein kleiner Spiegel. Rannigun starrte hinein und betrachtete seine Verletzung. Hölle, es hatte ihn schon viel schlimmer erwischt!
»Ist ja nur 'n Kratzer«, meinte er und drehte sich wieder nach dem Mädchen um. »Wenn du mir jetzt noch einen kleinen Verband anlegst, wird's schon gehen.«
»Natürlich!«, antwortete sie sarkastisch. »Du bist ja so groß und zäh! So ein Kratzer macht dir überhaupt nichts aus.«
Rannigun sah sie an. Sie mag mich nicht, dachte er, und dann erinnerte er sich wieder an ihre Worte an jenem Tag, als er Mariposa verlassen hatte: »Einmal Herumtreiber, immer Herumtreiber!«
Er ging zum Bett zurück, stark beunruhigt von den schlechten Nachrichten, die er eben gehört hatte. Während das Mädchen ihm einen Kopfverband anlegte, dachte er an den Mann, der vor kurzem versuchte hatte, ihn umzubringen. Offensichtlich hatte jemand etwas von Helens Absicht erfahren, ihn von den Vorgängen in Mariposa zu unterrichten, und jetzt wollte man verhindern, dass er dorthin zurückkehrte.
Helen war mit dem Verbinden fertig und trat zurück, als draußen auf dem Korridor leichte Schritte aufklangen. Einen Moment später kam Alice, das Mädchen aus dem Saloon, herein, ohne vorher anzuklopfen.
»Ich habe eben gehört, was passiert ist, Frank.«
Dann sah sie Helen Miles und sagte: »Oh, ich wusste gar nicht, dass du Gesellschaft hast.«
Rannigun stellte die beiden einander vor und erklärte kurz, warum Helen hergekommen war.
»Ich hatte solche Angst, dass du ernsthaft verletzt sein könntest«, sagte Alice. »Meinst du, dass es einer der Minenarbeiter gewesen ist?«
Rannigun schüttelte den Kopf und sah Helen an.
»Ich möchte fast darauf wetten, dass es niemand aus dieser Gegend war.« Er wandte sich direkt an Helen. »Kennst du im Tal jemanden, der einen Rappen mit weißer Blesse auf der Stirn reitet?«
»Nein, ein solches Pferd habe ich noch nie bei uns im Tal gesehen.« Helen griff nach ihrer Jacke und wollte zur Tür gehen. »Falls es hier noch ein Zimmer für mich gibt, möchte ich mich ganz gern ein bisschen ausruhen, bevor ich zurückreite.«
»Lass mich nur rasch das Hemd wechseln, dann kannst du mein Zimmer haben«, sagte Rannigun. »Ich werde es sowieso nicht mehr brauchen.«
»Du willst noch heute Nacht los?«
Er nickte.