Whisperworld 2: Flucht in die Wüste - Barbara Rose - E-Book

Whisperworld 2: Flucht in die Wüste E-Book

Barbara Rose

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Beschreibung

Lesespaß mit Sogwirkung – auf nach Whisperworld! In Whisperworld, einem Land fernab der Zivilisation, werden Kinder zu Tierflüsterern.  Sie wachsen über sich hinaus, retten bedrohte Arten und finden Freunde fürs Leben.    Eine aufregende Reise für Leser*innen ab 9 in eine unbekannte Welt - voll mit wilden Tieren, Fantasiewesen und spannenden Prüfungen! Oh nein! Die Karte von Whisperworld wurde gestohlen und verrät, wo das Hauptquartier im Deepwood zu finden ist! Die zukünftigen Tierflüsterer Amy, Chuck, Mohit, Paul und Coco fliehen überstürzt. Ihr neues Ziel: die Wüste Sablo Diablo. Dort lernen sie ein neues Teammitglied kennen und stoßen auf ein Rätsel: Der große Salzsee ist fast ausgetrocknet. Das Leben vieler Tiere ist bedroht. Die Freunde steigen in ein verzweigtes Höhlensystem, wo sie die Ursache für das fehlende Wasser vermuten.Doch mit dem, was sie in der Dunkelheit finden, hat keiner gerechnet ...          Ein Buch voller Fantasie und Abenteuer, das Kindern auch das Thema Artenschutz näherbringt

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Barbara Rose

Whisperworld – Flucht in die Wüste

Mit Bildern von Alina Brost

In Whisperworld, einem Land fernab der Zivilisation,

werden Kinder zu Tierflüsterern.

Sie wachsen über sich hinaus,

retten bedrohte Arten

und finden Freunde fürs Leben.

Oh nein! Die Karte von Whisperworld wurde gestohlen und verrät, wo das Hauptquartier im Deepwood zu finden ist! Die zukünftigen Tierflüsterer Amy, Chuck, Mohit, Paul und Coco fliehen überstürzt. Ihr neues Ziel: die Wüste Sablo Diablo. Dort lernen sie ein neues Teammitglied kennen und stoßen auf ein Rätsel: Der große Salzsee ist fast ausgetrocknet. Das Leben vieler Tiere ist bedroht. Die Freunde steigen in ein verzweigtes Höhlensystem, wo sie die Ursache für das fehlende Wasser vermuten. Doch was dort in der Dunkelheit auf sie wartet, überrascht sie alle …

Buch lesen

Viten

Personenvorstellung

Glossar

„Die Wege der Weisheit führen durch die Wüste“(Sprichwort der Beduinen)

Whisperworld – ein Land am Ende der Welt.

Geheim und verborgen.

Nur ein einziges Buch erzählt seine Geschichte.

In Whisperworld leben Tierarten, die längst als ausgestorben galten.

Dort finden bedrohte Tiere eine Heimat.

Dort werden sie beschützt.

Beschützt von den Tierflüsterern.

Jedes Mädchen und jeder Junge träumt vom Ruf nach Whisperworld.

Denn in Whisperworld werden Kinder zu Tierflüsterern.

Mädchen und Jungen, die alles geben, um unsere Welt zu retten.

Wer wird auserwählt?

Wer darf bleiben?

Hörst du das Flüstern aus Whisperworld?

Mit fließenden Bewegungen glitt die Schlange durch die leicht offen stehende Tür ins Baumhaus. Der kräftige Körper des Reptils bewegte sich so geschmeidig, dass es keinen Laut verursachte. Zielgerichtet wand sich das Tier in Richtung des Betts am hinteren Ende des Raumes.

Doktor Noa war beim Lesen eingeschlafen, die Solarlampe auf ihrem Nachttisch brannte noch. Milchige Lichtpunkte fielen auf die Schuppen der Giftschlange und brachten sie zum Glänzen. Als die gewaltige Königskobra den ersten Bettpfosten erreicht hatte, richtete sie sich auf. Direkt neben dem Kopf von Doktor Noa hielt sie inne, breitete ihren Nackenschild aus und zischte.

Schchchchchh!

Während sie den Kopf rhythmisch auf das Gesicht der schlafenden Frau zubewegte, öffnete die Schlange das Maul. Kraftvoll stieß sie die gespaltene Zunge heraus, sodass ihre Giftzähne zum Vorschein kamen.

Doktor Noa blinzelte. „Viktoria!“ Langsam erhob sie sich im Bett und stopfte sich das Kopfkissen in den Rücken. „Was machst du denn hier?“

„Schchchchchh“, zischte die Schlange noch einmal und legte den Kopf auf der Bettdecke ab. Erneut gab sie Laute von sich, doch dieses Mal verstand Doktor Noa das Reptil genau: „Ich habe gehört, dass die Karte verschwunden ist. Ganz Whisperworld spricht darüber.“

Doktor Noa nickte. „Bist du deshalb gekommen? Um mir davon zu berichten? Silvester war unterwegs zu einer Expedition. Jemand muss die Karte entwendet haben, als er geschlafen hat. Ich mache mir Sorgen …“

„… dass dieser Jemand in Whisperworld eindringen könnte. In unseren geheimen Rückzugsort.“

Doktor Noa hob die Brauen. „Weißt du etwas, Viktoria?“

Die Kobra hob den Kopf und breitete erneut ihren Nackenschild aus. „Verschiedene Tiere haben von merkwürdigen Geiern und zwei aggressiven Hyänen erzählt, die sich Richtung Deepwood aufgemacht haben sollen.“ Sie zischelte warnend. „Ihr solltet vielleicht besser für eine Weile aus dem Hauptquartier verschwinden.“

„Verschwinden? Ich weiß nicht, ob sie schon so weit sind. Die fünf beginnen gerade erst, sich im Deepwood heimisch zu fühlen.“

„Ich glaube nicht, dass ihr eine Wahl habt. Ihr solltet zum Außenposten in die Sablo Diablo fliehen.“

„Die Wüste?“ Doktor Noa runzelte die Stirn.

„Niemand wüsste, dass ihr dort seid, Doc.“ Die Kobra peitschte mit dem Schwanz. „Außerdem könnte ein Aufenthalt in der Wüste hilfreich sein. Es gibt dort Schwierigkeiten …“

„Ja, davon habe ich auch schon gehört. Okay“, Doktor Noa lächelte, „dann müssen die zukünftigen Tierflüsterer sich das wohl mal ansehen. Danke, Viktoria.“

„Immer gern“, zischte die Schlange.

Doktor Noa seufzte. „Aber wenn wir in die Sablo Diablo reisen, wie erfahre ich dort, ob die Karte wieder aufgetaucht ist? Wir müssen danach suchen. Unbedingt.“

„Du hast recht.“ Die Kobra wiegte den Kopf hin und her. „Wie wäre es, wenn du eine Schnelle Einsatztruppe aufstellst? Lady Poppy kann mit Eko und Madu hierbleiben, für den Berggorilla und unseren alten Elefanten ist die Wüste viel zu anstrengend. Ich mache mich wieder auf den Weg durch Whisperworld und werde mich weiter umhören. Eine Gruppe Berggorillas hat angeboten, den Deepwood zu bewachen.“

„Diese liebenswerten Tiere haben schon meinem Vater und Großvater geholfen.“ Doktor Noa atmete tief ein und aus. „Ihre Art ist so stark gefährdet, dass sie Whisperworld unter allen Umständen erhalten möchten.“

Viktoria legte wieder den Kopf auf die Bettdecke. „Mach dir keine Sorgen, Eleonor! Mit Briefen, die die Wandertauben in die Wüste bringen, bleibst du auf dem Laufenden.“

Doktor Noa knetete ihre Hände. „Du hast recht, die Sablo Diablo ist ein guter Ort, um die neuen Tierschützer zu unterrichten. Und eine wunderbare Gegend für zahlreiche Prüfungen. Ich werde keine Zeit verlieren und sofort mit Max, Silvester und Poppy sprechen. Und vielleicht ist ein erstes Treffen in der Wüste gar nicht schlecht für unsere neue Schülerin.“

„Bekommt ihr Zuwachs?“, fragte die Königskobra.

Doktor Noa seufzte. „Das Mädchen heißt Enisa. Ihre Großmutter ist kürzlich gestorben, deshalb konnte sie nicht mit den anderen anfangen … wir mussten ihr Zeit zum Trauern geben. Max und Lola sollen Enisa gleich in die Sablo Diablo bringen.“ Energisch schob sie die Decke zur Seite. „Also los! Wir dürfen keine Zeit verlieren.“

„Der Hund ist sicher völlig dehydriert. Er wurde im Wald gefunden, gefesselt an einen Baum.“ Mit geübtem Blick betrachtete Jaspal Jai das verängstigte Tier in der Ecke seiner Praxis. „Sieh dir die Striemen an seiner Lende an, Mohit. Er wurde misshandelt.“

Mohit schluckte. Genau wie sein Vater war auch er vom Anblick des Hundes erschüttert. „Armer Kerl, du bist ja nur noch Haut und Knochen!“

Auf wackeligen Beinen stand der Mischlingshund im Behandlungszimmer. Durchnässt, mager und völlig entkräftet, das Fell struppig und verfilzt. Mit seinen dunklen Knopfaugen blickte er Mohit und dessen Vater abwartend an.

Aus der Tierarztpraxis war Mohit viel gewohnt. Aber dieses Tier sah wirklich erbarmungswürdig aus. Ein Nachbar hatte den Hund gefunden. Jetzt stand der Mischling in geduckter Körperhaltung und mit eingezogener Rute im Raum. Mohit konnte die Furcht in seinen Augen sehen.

„Na, dann wollen wir mal“, murmelte Mohits Vater. „Hebst du ihn auf den Praxistisch, Mohit? Ich hole mein Stethoskop.“

Mohit machte einen Schritt auf den Hund zu. Das Tier wich ängstlich zurück und sträubte das Nackenfell. Als Mohit dennoch ein weiteres Stück näher kam, fletschte der Mischling die Zähne und knurrte leise.

„Mohit?“ Jaspal Jai warf einen Blick über seine Schulter. „Du bist zu schnell. Der Hund hat Angst, er hat schlechte Erfahrungen mit Menschen gemacht, sein Knurren ist eine Warnung. Du darfst ihn nicht bedrängen.“

Mohit verstand sofort. Verdrossen biss er sich auf die Lippe. Wie oft hatten sie darüber gesprochen, dass die Körpersprache für Tiere so wichtig ist. Und jetzt hatte er wieder nicht aufgepasst und war viel zu hektisch gewesen. Dabei wollte er dem Tier doch nur helfen!

„Es war nur ein kleiner Fehler, Mohit. Keine große Sache“, sagte Jaspal Jai. „Nicht so viel denken, präsent sein, sich in das Tier hineinversetzen. Du kannst das.“

Mohit atmete tief durch und konzentrierte sich. Er trat einen Schritt zurück, nahm ein paar selbst gebackene Hundekekse aus einer Schale und hockte sich in einiger Entfernung vor den zitternden Mischling. Gleichzeitig begann er, beruhigend auf das Tier einzureden. So, wie er es von seinem Vater gelernt hatte. Dabei vermied Mohit es, dem Hund direkt in die Augen zu sehen, das wirkte weniger bedrohlich. Stattdessen fixierte er beim Reden abwechselnd die Ohren, die Pfoten oder den Boden.

„Tut mir leid, ich wollte dir keine Angst machen.“ Mohit bemühte sich, seiner Stimme einen warmen Klang zu geben. „Du hast bestimmt Schlimmes erlebt. Aber wir wollen dir helfen.“ Bedächtig legte er einen Hundekeks auf seine Handfläche und hielt sie dem Mischling hin, ohne dabei jedoch den Arm zu weit in dessen Richtung zu strecken. „Komm, ich habe hier etwas für dich.“

Noch immer war der Blick des Hundes starr auf Mohit gerichtet. Doch der ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, sondern summte leise vor sich hin.

In Zeitlupe öffnete sich die Schnauze des Hundes ein wenig, seine Wangenmuskeln entspannten sich und der Blick wurde aufmerksam und neugierig.

„Nimm“, sagte Mohit und hielt den Keks ein Stückchen näher. Der Hund reckte den Kopf, trottete auf Mohit zu und schnappte sich das Leckerli von dessen Handfläche.

„Er kann deine guten Absichten spüren“, hörte Mohit seinen Vater im Hintergrund sagen. „Lass ihm noch einen Moment Zeit, dann heb ihn vorsichtig hoch.“

Fünf Minuten später hatte Mohit den Mischling auf den Praxistisch und unter die Wärmelampe gelegt und rubbelte sein feuchtes Fell mit einem weichen Handtuch trocken. Vorsichtig überprüfte sein Vater dabei mit dem Stethoskop, ob das Herz und die anderen Organe des Hundes funktionierten, während Mohit weiter leise mit dem Tier sprach.

„Das machst du ausgezeichnet, Mohit“, flüsterte Jaspal Jai. „Siehst du hier die frischen Bisswunden und die kaum vernarbten Schnitte? Die müssen wir unbedingt versorgen. Sie können für den Hund lebensgefährlich werden. Er braucht eine Spritze gegen Wundstarrkrampf. Willst du sie ihm geben?“

Mohits Wangen röteten sich. Er wusste, dass es ein großer Vertrauensbeweis seines Vaters war, dass Mohit einem völlig fremden Tier eine Spritze verabreichen sollte. Schon einige Male hatte Mohit das bei den zahlreichen Tieren getan, die mit der Familie Jai im Haus oder im weitläufigen Garten lebten. Am schwierigsten war es bei Pim, dem alten Asiatischen Elefanten gewesen, den Mohits Vater einem Zirkus abgekauft hatte, um ihm einen ruhigen Lebensabend zu ermöglichen. Als Pim eine schwere Fußentzündung hatte, musste Mohit die Spritze regelrecht in die dicke Haut des Tieres rammen. Zum Dank hatte Pim ihn mit seinem Rüssel von oben bis unten mit Matschwasser besprüht.

„Natürlich möchte ich das übernehmen.“ Mohit griff nach der von seinem Vater fertig aufgezogenen Spritze. „Keine Sorge, das geht ganz schnell, und dann fühlst du dich bald wieder besser“, murmelte er dem Hund zu.

Mit geübten Handbewegungen gab Mohit die Spritze, tupfte die Einstichstelle ab und kraulte den Hund am Hals.

Jaspal Jai lächelte und hob den gestreckten Daumen. „Du bist der geborene …“

Den Rest des Satzes hörte Mohit nicht mehr. Ein Geräusch hatte ihn abgelenkt. Er vernahm ein kurzes Pfeifen, das durch die geöffnete Tür drang, und dann …

Mohit?

Da war ein merkwürdiges Flüstern, das aus dem Garten zu kommen schien. Hatte draußen jemand seinen Namen gerufen?

„Was ist los?“, wollte Jaspal Jai von seinem Sohn wissen.

„Hast du es nicht gehört?“ Mohit sah seinen Vater an.

„Was habe ich nicht gehört?“ Mohits Vater zuckte mit den Schultern.

Mohit? Mohiiiiit!

Da, schon wieder! Ein kurzes, melodisches Pfeifen. Deutlich vernahm Mohit den Ruf, der für seinen Vater offensichtlich unhörbar war.

„Kannst du dich bitte um den Hund kümmern, Papa?“ Mohit zog die Handschuhe aus und wischte sich die Hände an einem Handtuch ab. „Ich muss draußen etwas nachsehen.“

Als er in den Garten trat, flog gerade ein Vogel mit einem gelb-roten Kopf und einem grün leuchtenden Rücken an ihm vorbei. Ein Papagei, da war sich Mohit sicher, auch wenn er einen solchen noch nie gesehen hatte. Und er hätte auch schwören können, dass der Vogel im Flug kurz seinen Kopf zu ihm drehte und ihn ansah, bevor er sich auf einem Kirschbaum niederließ, unter dem gerade Pim döste.

Mohit?

Schon wieder dieses Flüstern!

Mohit! Mooooohit!

Mohit kniff die Augen zusammen. War es etwa der Papagei, der ihn rief? Doch in diesem Moment erhob sich der Vogel wieder und verschwand am Horizont. Enttäuscht drehte sich Mohit um und wollte zurück in die Praxis laufen, als Pim sich mit einem Tröten bemerkbar machte.

„Pim? Was ist denn los, ich …“

Mohit blickte zurück. Der Elefant kam ihm mit ausgestrecktem Rüssel entgegen.

„Was hast du da?“ Er griff nach einer Papierrolle, die der Elefant in seiner Rüsselspitze hielt. „Danke …?“

Mohit runzelte die Stirn und öffnete die Nachricht. Mit großen Augen begann er zu lesen:

Mohits Herz raste. Wieder und wieder überflog er die Botschaft, starrte das Papier an, las erneut.

Whisperworld! Er hatte eine Einladung bekommen. Unglaublich! Er ließ den Brief sinken, und er fiel zu Boden, Mohit merkte es nicht. Er wusste auch nicht, wie lange er reglos und völlig überwältigt einfach nur dagestanden hatte. Bis er spürte, dass jemand sanft eine Hand auf seine Schulter legte. Als Mohit sich umdrehte, stand sein Vater hinter ihm, die Papierrolle in der geballten Faust, und sah ihn mit strahlenden Augen an.

„Ich wusste es. Ein Mitglied der Familie Jai reist nach Whisperworld. Die Legende ist also wahr.“

„Ja, die Legende ist wahr.“ Mohits Gesicht war ein einziges Leuchten. „Jetzt passiert das, was ich mir am meisten gewünscht habe. Ich reise nach Whisperworld.“

Mohits Vater knuffte seinen Sohn leicht in die Seite. „Ich bin so stolz auf dich. Du bist der geborene Tierflüsterer!“

Nebelschwaden waberten wie Gespenster durch die Baumkronen, noch herrschte Dunkelheit, als Mohit auf die Terrasse der Elefantenbude trat. Eigentlich war es fürs Aufstehen noch viel zu früh, der Unterricht begann erst in zweieinhalb Stunden. Aber Mohit konnte nicht mehr schlafen. Irgendetwas hatte ihn geweckt. Ein Gewirr aus Stimmen, ein lautes Zischen, das gedämpfte Brüllen eines Löwen – wahrscheinlich Carlos. Und jetzt war da diese seltsame Unruhe in ihm, eine Vorahnung, dass etwas passieren würde. Aber vielleicht hatte er sich alles nur eingebildet, vielleicht waren die nächtlichen Geräusche ein Traum gewesen.

Mohit?

Moooooohiiiiit!

Mohit lächelte. Er wusste, was dieses Flüstern in den Wipfeln zu bedeuten hatte. Es war das Flüstern von Whisperworld. Und er, Mohit Jai, wurde gerufen.

Mohit!

Plötzlich verlor die Dunkelheit rund um ihn alles Bedrohliche, Mohits Angst vor dem Schwarz der Nacht war wie weggeblasen. Die Miracorns waren da. Und sie riefen ihn!

Mohit, sei unser Freund!

Mohit trat an das Geländer der Terrasse, die an eine Seite der eckigen Elefantenbude anschloss, und wartete. Innerhalb von Sekunden tauchten aus allen Himmelsrichtungen feine Lichtpunkte auf, wurden größer, wirbelten durch die Bäume und direkt auf Mohit zu.

Wir rufen dich, Mohit.

Du sollst unser Tierflüsterer sein!

Das war sie, seine Einladung, sein Ruf. Mohit wurde warm ums Herz. Er senkte den Blick und dachte an seinen Vater, dachte daran, wie stolz er auf ihn gewesen war, als Pim die Einladung überreicht hatte. Und nun würde er, Mohit Jai, Tierflüsterer der Miracorns werden.

Erneut hob Mohit den Kopf und sah den Lichtpunkten entgegen, die sich auf ihn zubewegten.

Kleine, leuchtende Flugwesen. Mit ihrem warmen, schummrigen Licht hatte Mohit die Miracorns bei ihrer ersten Begegnung für eine Art Glühwürmchen gehalten. Aber sie besaßen Kopf, Arme, Hände, Beine und schillernde Flügel. Tierwesen, die meist in Schwärmen auftraten und die es sonst nirgendwo auf der Welt gab. Seither beobachtete Mohit sie beinahe täglich.

In ihrer Gegenwart war seine Angst vor der Dunkelheit verschwunden, an ihrer Seite fühlte er sich sicher. Schon einige Male hatte er versucht, sich mit Nemal, dem ältesten Miracorn aus dem Deepwood, zu unterhalten. Doch ihre Annäherung hatte eine Weile gedauert. Miracorns waren scheue Wesen.

Mohit streckte beide Arme nach vorn und drehte die Handflächen nach oben. Die Zeit des Wartens war vorüber. Wie ein Mückenschwarm umflatterten die Miracorns den Jungen und gossen ihr milchiges Licht auf die Umgebung. So konnte Nemal problemlos auf Mohits Handfläche landen. Als Nemal einen sicheren Stand hatte, hob Mohit ihn nah an sein Gesicht.

Damit Menschen und Tiere oder Tierwesen sich in Whisperworld verstehen können, muss es eine Verbindung zwischen ihnen geben. Außerdem hilft es, wenn der Zuhörer sich auf sein Gegenüber konzentriert.

Und genau das tat Mohit jetzt.

„Guten Morgen, Mohit“, flüsterte Nemal. „Du hast gespürt, dass ich komme.“

Mohit nickte glücklich. Er hatte seinen kleinen Freund verstanden. Jedes Wort! Mohit fühlte sich in diesem Lichtbad im dunklen Dschungel wohl und geborgen. „Ich habe das Flüstern gehört, Nemal. Das Flüstern von Whisperworld.“

Das winzige Flugwesen nickte. „Die Zeit ist gekommen, dass du unser Tierflüsterer wirst. Wir brauchen einen starken Freund an unserer Seite, denn wir selbst sind zu klein, um uns vor den Widrigkeiten von Whisperworld zu schützen. Und erst recht vor allem, was es noch außerhalb dieser Welt gibt.“ Nemal streckte die winzige Hand nach Mohits großer aus. „Du solltest Doktor Noa bald von unserer Übereinkunft berichten.“

„Sehr gern“, murmelte Mohit ergriffen.

„Versprich uns, dass du auf dich achtgibst“, erwiderte Nemal. „Der Dschungel ist nicht mehr sicher.“

Mohit runzelte die Stirn. „Was …?“

Nemal schlug mit den kleinen Flügeln, sodass ein Lichtfunken herausstob. „Sei unbesorgt, Mohit. Miracorns gibt es überall in Whisperworld. Möglicherweise auch irgendwann in der ganzen Welt, wenn die Zeit gekommen ist, dass wir magischen Wesen uns dort frei und furchtlos bewegen können.“ Er seufzte laut. „Egal wo du dich in Whisperworld aufhältst, einer von uns wird an der Zeremonie teilnehmen. Wir sind eine große Familie und du bist bald ein Teil von ihr.“

Nemal erhob sich und tauchte ein in die Tiefen des Deepwood, gefolgt von einer Traube kleiner Lichtpunkte.

Mohit sah ihm grüblerisch hinterher. Was hatte Nemal mit seiner Andeutung gemeint? Würden sie den Deepwood verlassen? Er musste dringend mit Doktor Noa sprechen!

„Coco hat es schon geschafft“, murmelte er. „Sie ist Tierflüsterin der Luchse. Und eigentlich wäre jetzt meine Zeit gekommen, ganz bestimmt … aber irgendwie spüre ich, dass es komplizierter wird …“

Damit meinte er nicht nur das Problem mit der verschwundenen Karte, sondern auch Chuck. Mohit hatte das Gefühl, dass Chuck ebenso bald von einer Tierart als Tierflüsterer ausgewählt werden würde.

„Wer wird der Nächste sein? Er oder ich?“ Mohit biss sich auf die Unterlippe. Er wollte nicht länger warten.

Nach Mohits Ankunft in Whisperworld hatte es eine Weile gedauert, bis er und die Miracorns problemlos miteinander kommunizieren konnten. Doch seine Achtsamkeit in Bezug auf Tiere, die ihn sein Vater gelehrt hatte, und die stetigen Hinweise der Lehrer, die alle Tierflüsterer ausbildeten, hatten schließlich Wirkung gezeigt. Mohit hatte auf seine Körpersprache und die der Tierwesen, auf Mimik und Gestik und seine Stimmfarbe geachtet. Schnell waren die schimmernden Miracorns Teil seines Lebens in Whisperworld geworden. Und heute war endlich der Tag gekommen, an dem sie ihn zum Tierflüsterer ihrer Art berufen hatten.

Hinter dem Dunst begann es zu dämmern, die aufgehende Sonne tauchte den Horizont in ein blassrosa und orangefarbenes Licht. Hunderte von schillernden Vögeln schwirrten zwischen den Bäumen umher und saugten Nektar aus den Blüten.

„Guten Morgen, ihr Frühaufsteher!“, rief Mohit den wendigen, kleinen Flugkünstlern mit gedämpfter Stimme zu, um seine Mitbewohner Chuck und Paul nicht zu wecken.

In Whisperworld hatte Mohit gelernt, dass Kolibris die ersten Tagtiere waren, die frühmorgens mit ihrer Arbeit begannen. Weit vor den meisten anderen Vögeln und vor allem den Insekten, die erst erschienen, wenn es etwas wärmer wurde. So sicherten sich die Kolibris ausreichend von dem begehrten Nektar, den die duftenden Blüten während der Nacht produziert hatten.

Mohit liebte den Tagesanbruch und das Erwachen des Deepwood.

In den frühen Morgenstunden war es im Dschungel noch ziemlich frisch. Mohit fröstelte. Er schlang sich die Arme um den Körper, lehnte sich an das Geländer des Baumhauses und sah über die Wipfel. Inzwischen trug der Himmel Pastellfarben, die Luft war erfüllt vom Zwitschern und Tirilieren der Aras, Tukane, Paradiesvögel und Kakadus. Zwar schlief der Dschungel nie, aber die Geräusche der Nacht hörten sich für Mohit gespenstischer und gefährlicher an als die Laute, die tagsüber aus dem Dickicht drangen.

Mohits Blick glitt über den tropischen Wald unter sich, über die Blätter der Kakao-, Gummi- und Mahagonibäume, die nach dem leichten Regenschauer saftig glänzten. Fast zwei Monate war er schon in Whisperworld, und noch immer konnte er sich an dem grünen Meer nicht sattsehen.