Wie alles gut wird ... wenn wir nicht mehr besser werden - Axel Rabenstein - E-Book

Wie alles gut wird ... wenn wir nicht mehr besser werden E-Book

Axel Rabenstein

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Beschreibung

Der Journalist und ambitionierte Freizeitsportler Axel Rabenstein qualifiziert sich unverhofft für die Ironman® 70.3 WM 2023 in Lahti, Finnland. In dem nun vor ihm liegenden Jahr möchte er sich bestmöglich darauf vorbereiten. Seit einiger Zeit musste er jedoch feststellen, dass er nicht mehr die Leistung erbringen kann, die er immer erbracht hat und auch weiterhin erbringen möchte. Er wird von Verletzungen und Unsicherheiten geplagt. Er ist körperlich und mental erschöpft. Sehr ehrlich und mit viel Humor geht der Autor mit seinen bisherigen Verhaltensweisen und seinem sportlichen Ehrgeiz ins Gericht und fragt sich, wie man als ambitionierter Sportler mit dem Leistungsverlust im Alter umgehen kann. Auf seiner Reise durch Seele und Körper trifft er Wissenschaftler und ehemalige Leistungssportler und fragt diese um Rat.

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Seitenzahl: 222

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AXEL RABENSTEIN

Eine Geschichtevom Älterwerdenals Sportler

»Um achtzehn zu bleiben, bis man stirbt, muss man eben mit achtzehn sterben.«

– Haruki Murakami –

Wie alles gut wird ... wenn wir nicht mehr besser werden

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Details sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie das Recht der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form – durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren – ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, gespeichert, vervielfältigt oder verbreitet werden.

© 2024 by Meyer & Meyer Verlag, Aachen

Auckland, Beirut, Dubai, Hägendorf, Hongkong, Indianapolis, Kairo, Kapstadt, Manila, Maidenhead, Neu-Delhi, Singapur, Sydney, Teheran, Wien

Member of the World Sport Publishers’ Association (WSPA)

ISBN 9783840338625

E-Mail: [email protected]

www.dersportverlag.de

INHALT

MIND YOUR AGE

1 Land der tausend Hügel

2 Reflexionen am See

3 Am Fuße des Vulkans

TREAT YOUR BODY

4 Leben ist Veränderung

5 Das grüne Sofa

6 Im Zitronengarten

TELL YOUR SOUL

7 Bei den Shaolin

8 Der mittlere Weg

9 Körper trifft Seele

FIND YOUR WAY

10 Der Rat der Älteren

11 In unserer Natur

12 Alles wird gut

Anhang

1 Literaturliste

2 Bildnachweis

 

 

MINDYOURAGE

1 LAND DER TAUSEND HÜGEL

Wir strengen uns an. Wir setzen uns Ziele, die wir verfolgen, wie ein Raubtier seine Beute. Wir haben Träume und rennen ihnen hinterher. Manche entwischen uns, andere erwischen wir, aber das Glück währt nur kurz, denn die Zufriedenheit ist flüchtig. Dann geht es weiter. Wir geben unser Bestes, wieder und immer wieder, auf der ewigen Hetzjagd nach mehr.

Warum ist es dort, wo wir sind, nicht gut genug?

Die Propellermaschine beschleunigt. Es drückt mich in den Sitz. Ein Moment der Leichtigkeit, dann erheben wir uns vibrierend in die Luft.

Häuser und Hütten werden kleiner und kleiner. Leuchtend grüne Vegetation und fruchtbare, rote Erde. Schon überfliegen wir die Ufer des Victoriasees, der sich graublau unter uns ausbreitet und bis zum Horizont reicht.

Flug Nummer WB 435 mit RwandAir, von Entebbe nach Kigali.

Da wir unterwegs die Zeitzone wechseln, ergibt sich die kleine Kuriosität, dass wir um 12:00 Uhr in Entebbe starten und nach 55 Minuten Flugzeit um 11:55 Uhr in Kigali ankommen.

Losgeflogen und fünf Minuten jünger gelandet. Das nehme ich gerne mit.

Es hätte Möglichkeiten für eine direktere Anreise gegeben, aber ich hatte diese hier gewählt, weil ich gerne unterwegs bin und noch ein wenig mehr von der Region sehen wollte.

Der Anlass für meine Reise war allerdings nicht das Unterwegssein, sondern die Teilnahme an einem Triathlon. Ich wollte für einige Tage nach Rwanda reisen, dort mein Bestes geben und wieder nach Hause fliegen.

Was ich nicht ahnte: Mein Kurztrip nach Afrika sollte mich nicht nur in das Ziel eines Triathlons führen – sondern gleichzeitig an den Start einer längeren und viel größeren Reise bringen.

Eine Reise, die mich vieles hinterfragen ließ.

Fortan sollte es nicht mehr darum gehen, was ich mir abzuverlangen in der Lage bin. Sondern darum, was ich mir abverlangen möchte. Es sollte darum gehen, zu verstehen, was mich antreibt. Und welchen Weg ich für mich und meine Zukunft einschlagen wollte.

Als Sportler. Und als Mensch.

Der Ironman® 70.3 Rwanda findet in Gisenyi statt. Ich erreiche das Städtchen nach einer vierstündigen Anreise mit einem Sammeltaxi aus Kigali, in dem es unter den Mitreisenden ausgesprochen heiter zuging. Leider verstand ich kein Wort.

Gisenyi liegt am Kivusee, in der Provinz Rubavu, an der Grenze zur Demokratischen Republik Kongo. Das Klima ist mild, am frühen Abend hat es angenehme 20 Grad.

Auf der glatten Oberfläche des Sees spiegeln sich die Lichter der kongolesischen Millionenstadt Goma, deren Häuser einen guten Kilometer weiter am Ufer zu sehen sind.

Es ist ein Ort im Spannungsfeld der Natur.

In den tief hängenden Wolken ist die Silhouette des 3.470 Meter hohen Nyiragongo zu erahnen, der sich 20 Kilometer nördlich von Goma erhebt und als einer der bedrohlichsten Vulkane der Erde gilt. Im Jahr 2002 brach der Vulkan aus, die Lava floss mitten durch die Großstadt in den Kivusee. Eine halbe Million Menschen wurde evakuiert.

Ein erneuter Ausbruch im Mai 2021 führte zu einer Massenflucht, die das benachbarte Rwanda veranlasste, vorübergehend seine Grenzen für fliehende Menschen zu öffnen.

Hier am Ostafrikanischen Graben ist die Erde besonders aktiv. Im Tiefenwasser des Kivusees befindet sich eine aus dem Erdreich gespeiste, hohe Konzentration an Methangas, das aufgrund des Wasserdrucks in einer Tiefe von mehr als 250 Metern festgehalten wird, ohne von dort zu entweichen.

In den vergangenen Jahren wurde ein signifikanter Anstieg der Methangaskonzentration festgestellt. Sollte es so weitergehen, ist damit zu rechnen, dass der See gegen Ende des 21. Jahrhunderts infolge einer Gasexplosion komplett in die Luft fliegt.

Es ist ein Ort im Spannungsfeld des Menschen.

Von April bis Juli 1994 gehen Angehörige der Hutu-Mehrheit auf die Minderheit der Tutsi los. Es sind Hassgefühle, die über Hunderte von Jahren zwischen der Tutsi-Eilte und der Arbeiterklasse der Hutu entstanden, die von der Kolonialmacht Belgien gezielt angeheizt und instrumentalisiert wurden und sich schlussendlich entluden.

Hundert Tage dauerte der Völkermord. Er forderte 800.000 Todesopfer.

Rwanda hat inzwischen zur Ruhe gefunden. Seit dem Jahr 2000 wird das Land von Präsident Paul Kagame regiert. Sein Führungsstil wird international als »autokratisch« kritisiert, freie Wahlen und Pressefreiheit sind nicht garantiert, unliebsame Oppositionelle können schon mal spurlos verschwinden; aber Kagame hat Rwanda nach dem Genozid geeint und zu einem der sichersten Länder Afrikas gemacht.

Auf der anderen Seite der Grenze, drüben in Goma, ist es noch immer alles andere als sicher, hier tobt die Fehde zwischen Hutu und Tutsi weiter.

Mehr als 100 Gruppierungen und Milizen streiten sich in blutigen Auseinandersetzungen um Macht und Kontrolle und erhalten dabei, der UN zufolge, heimliche Unterstützung aus den Nachbarländern Uganda und Rwanda.

Warum? – Weil unter der rote Erde Nord-Kivus Bodenschätze im Wert von 20 Billionen US-Dollar liegen. Neben Gold und Diamanten sind auf kongolesischer Seite 80 Prozent des weltweit bekannten Vorkommens an Coltan zu finden. Das enthaltene Tantal benötigt der Mensch zur Herstellung von Elektrolytkondensatoren, als essenziellen Bestandteil von Laptops, Smartphones, Elektroautos und Spielekonsolen. Der Aufschwung Rwandas hat auch mit den Einkünften aus dem Coltanexport zu tun. In den vergangenen Jahren hat man sich zum größten Coltanexporteur der Welt gemausert. Obwohl man selbst über keine nennenswerten Vorkommen an Coltan verfügt.

Der Fortschritt bahnt sich seinen Weg. Im Land der tausend Hügel geht es bergauf. Und so hat die World Triathlon Corporation das kleine Rwanda im Jahr 2022 als erst viertes afrikanisches Land nach Südafrika, Ägypten und Marokko zum Austragungsort eines Rennens ihrer weltweiten Ironman®-Serie gemacht.

Am heutigen Tag liegt eine magische Ruhe über diesem Ort in Afrika. Kleine Wellen gleiten sanft auf den Sandstrand. Hier im Kivusee kann herrlich gebadet und geschwommen werden.

Nein, keine Krokodile.

So einfach das Schwimmen in Gisenyi zu realisieren ist, so anspruchsvoll gerät die Aufgabe, eine geeignete Radstrecke festzulegen. Geplant war eine Runde in den Volcanoe Nationalpark.

»Wir hatten vor, den Kurs über die RN4 zu führen«, sagt der Renndirektor, ein Südafrikaner, nur wenige Tage vor dem Wettkampf. »Es kamen allerdings Bedenken auf, diese Straße für die Dauer des Wettkampfs zu sperren, die RN4 verbindet die Demokratische Republik Kongo mit Rwanda und Kigali.«

Zu unkalkulierbar erschienen die Auswirkungen, eine Millionenstadt wie Goma einen halben Tag oder länger von ihrer Pulsader abzuschneiden.

Zudem wäre es wohl ein unerwünschtes Sicherheitsrisiko für Polizei und Militär, sich über Stunden auf der wichtigsten Straße der Region nicht frei bewegen zu können (ohne dabei den einen oder anderen Triathleten aus dem Weg zu räumen) – während auf der anderen Seite der Grenze ein Konflikt vor sich hin brodelt, der so unberechenbar ist wie der Nyiragongo im Hintergrund.

Es habe den Vorschlag gegeben, die Straße einspurig zu nutzen und dies mit Hunderten von Polizisten abzusichern, die auf dem Mittelstreifen stehen. Das war aber kein guter Vorschlag.

Die RN4 führt von der Grenze zur Demokratischen Republik Kongo über einen Berg mit Steigungen von mehr als zehn Prozent in die grünen Hügel des Nationalparks.

Malerische Strecke. Der Verkehr setzt sich allerdings aus schnaufenden Lastwagen, couragierten Pkw-Lenkern und Fahrradfahrern zusammen, die schon mal, mit zwei Kartoffelsäcken beladen, den Berg hinabbrausen und – weil sie keine Bremse am Rad haben – ihre Fahrgeschwindigkeit mit am Vorderreifen aufgesetztem Flip-Flop drosseln.

Am Straßenrand Frauen mit meterlangen Bambusstäben auf dem Kopf, spielende Kinder, kauende Ziegen, staunende Senioren. Und dann stelle man sich eine Hundertschaft ambitionierter Triathleten vor, die auf einer freigeblockten Fahrspur den Sekunden hinterherjagt.

Am Ende ist man sich einig, die Radstrecke auf die Uferstraße des Kivusees zu verlegen: mit vier Runden über 90 Kilometer und kumulierten 1.200 Höhenmetern.

Ich habe mich nicht im weitläufigen Luxushotel Serena einquartiert, dem Dreh- und Angelpunkt der Veranstaltung, sondern etwas außerhalb in einer kleinen Pension mit einem gepflegten Garten, die ein US-Amerikaner betreibt, der sich hier niedergelassen hat.

In der Nacht vor dem Rennen wache ich auf. Regen trommelt auf das Dach, es schüttet unnachgiebig. Bis zum Morgen klart es auf, aber die Erde ist nass.

Es wird ein schwülwarmer Tag werden.

Am Morgen des 14. August steht ein bunt gemischtes Teilnehmerfeld aus 37 Nationen bereit: der beeindruckend austrainierte Italiener Filippo, der darauf abzielt, sich hier in Afrika einen von 45 Slots für die WM 2023 im finnischen Lahti zu sichern; der radbegeisterte Belgier Thibault, der im Jahr 2010 in Rwanda die Brauerei Skol gegründet hat und beim ersten Ironman® in seiner Wahlheimat selbstredend am Start ist; der deutsche Globetrotter Fritz, der seit 8.000 Kilometern von Kapstadt bis Kivu im Sattel sitzt und mit Tourenbike an den Start geht; der freundliche Ted aus Kenia, der eigenen Angaben zufolge den Halbmarathon in 1:14 Stunden läuft, beim Einschwimmen allerdings die Brille verkehrt herum auf den Kopf setzt; und auch lokale Athleten, denen man kurzfristig doch noch eine Gratisteilnahme ermöglicht hat, weil eine Startgebühr von knapp 300 US-Dollar in Rwanda dem Lohn von mehreren Monaten entspricht und für die Einheimischen nicht leistbar ist.

Laut Ergebnisliste gehen 155 Einzelstarter ins Rennen, von denen 107 das Ziel erreichen werden.

Der Ironman® 70.3 Rwanda 2022 startet per Sprung vom Steg in einen von der Regennacht aufgewühlten, trüben, mit 23 Grad Celsius jedoch angenehm temperierten Kivusee.

Zu schwimmen sind 1,9 Kilometer im Rechteck. Die Orientierung im grauen Wasser fällt mir schwer, ich schwimme ein ziemliches Zickzack, beinahe übersehe ich eine Wendeboje. Zudem glaube ich, schon jetzt eine gewisse Kurzatmigkeit zu spüren, was mit der Höhe zusammenhängen mag. Der Austragungsort Gisenyi liegt 180 Kilometer südlich des Äquators auf 1.481 Meter über dem Meer.

Nach 36:15 Minuten steige ich aus dem See, der eines Tages explodieren wird.

Da es mir für diese Reise zu aufwendig erschien, ein eigenes Rad mitzunehmen, habe ich mir vor Ort eines geliehen. Der stets entspannte Malik aus Kigali hat auf einem Grünstreifen am Parkplatz des Serena-Hotels einen temporären Bikeshop im Freien eröffnet.

Das Rennrad ist in Ordnung, hat aber ein paar Jahre und Kilometer auf dem Buckel.

Die ersten 55 Kilometer laufen gut. Die Strecke schmiegt sich über Kurven und Hügel in die Landschaft, der Blick schweift über den noch immer zementgrauen Kivusee.

In einem Dorf stehen hunderte Einheimische zwischen im Hang verteilten Hütten. Sie beobachten das ungewöhnliche Treiben auf der Straße, aufmerksam und doch irgendwie teilnahmslos, im besten Falle belustigt.

Wir sind hier mittendrin im ruralen Afrika. Triathleten passen selten ins Bild, aber hier noch etwas weniger. Während man bei Veranstaltungen an anderen Orten häufig von Passanten angefeuert wird und die Erfahrung macht, eine originelle Abwechslung darzustellen, überwiegt hier in Rwanda das Gefühl, als Fremdkörper durch die Dörfer zu rollen.

Wahrscheinlich käme hier auch nicht jeder auf die Idee, seine Kalorien absichtlich zu verbrennen. An der Verpflegungsstation auf der Radstrecke greife ich mir eine weiße Trinkflasche mit Wasser und eine blaue mit isotonischem Getränk.

Die Mischung ist kaum trinkbar, so viel Pulver wurde hineingerührt. Die Helfer haben es wohl gut gemeint. Nachdem ich die Flasche zur Hälfte ausschütte und mit Wasser aus der anderen Flasche auffülle, ist das Getränk noch immer pappsüß. Statt drei oder vier Löffel Getränkepulver müssen an die zwanzig in der Flasche gewesen sein.

Am südlichen Wendepunkt geht es einen kurzen, knackigen Anstieg nach oben. Als ich hier in der dritten von vier Runden hinauftrete, habe ich, wie schon zuvor, Probleme, den kleinsten Gang einzulegen.

Diesmal springt die Kette raus, verhakt sich, und ich falle um. Ich liege in den Klickpedalen auf der Straße. Als ich es geschafft habe, wieder aufzusteigen, um den Rest des Bergs in Angriff zu nehmen, stelle ich fest, dass irgendetwas nicht mehr rund läuft.

Beim Umfallen habe ich meinem Hinterrad einen Achter verpasst. Es schleift bei jeder Umdrehung an der Bremse, so stark, dass auch ein Weiterstellen der Bremsbacken nicht hilft.

Die verbleibenden eineinhalb Runden mit knapp 35 Rennkilometern absolviere ich mit schleifender Felge. Es wird wärmer und wärmer. Mein Schnitt sinkt ins Bodenlose. Als ich nach 3:32 Stunden von meinem lädierten Bike steige, bin ich komplett erledigt.

Meine Beine krampfen, obwohl ich noch keinen Schritt gelaufen bin. Einen Moment lang überlege ich, auszusteigen, aber das habe ich noch nie getan. Ich trotte los wie ein getretener Hund.

Der abschließende Halbmarathon führt in Richtung Grande Barrière, dem Grenzübergang zur Demokratischen Republik Kongo, biegt dann von der Uferstraße ab und zieht sich 2,5 Kilometer bis zum Wendepunkt kontinuierlich bergauf. Dreimal ist dieser Anstieg zu bewältigen, über die 21 Kilometer summieren sich noch einmal gute 200 Höhenmeter.

Die Sonne steht inzwischen hoch. Die Luft ist dampfig. Immer wieder gehe ich, um dann wieder zu laufen und doch wieder zu gehen.

Es wird der längste Halbmarathon meines Lebens. Gefühlt. Und auch wirklich. Nach 2:17 Stunden und insgesamt 6:32 Stunden erreiche ich das Ziel. Platz fünf in meiner Altersklasse M45.

Von elf.

Die Finishermedaille, die ich im Ziel um den Hals gehängt bekomme, zeigt das Gesicht eines Gorillas. Ich mag die Medaille. Sie liegt schwer in der Hand, die Mimik des Gorillas ist entschlossen, so, wie ich mir das für mich in einem Wettkampf wünsche.

Unter den Menschenaffen sind die Berggorillas die größten. Sie leben hier im Nationalpark, in den üppig bewachsenen Hügeln der Virunga-Vulkane. Streng geschützt, es sind die Letzten ihrer Art.

Berggorillas sind Vegetarier und ernähren sich fast ausschließlich von Blättern. Sie leben in kleinen Gruppen zusammen, die von einem ausgewachsenen Männchen angeführt werden, das an seinem silbrig verfärbten Fell zu erkennen ist.

Verteidigt ein Silberrücken seine Gruppe gegen einen potenziellen Angreifer, erzeugt er in den Achselhöhlen einen besonders intensiven Duft. Damit macht er klar, dass er bereit ist, dafür zu kämpfen, dass man ihn und seine Sippe in Frieden lässt.

Weitere Drohgebärden sind ein starrer Blick, gefletschte Zähne sowie ein Trommeln auf die Brust. Je größer das Männchen, desto tiefer die Frequenz des Resonanzkörpers.

Rivalen können daran erkennen, wie groß ihr Gegenüber wirklich ist. Auseinandersetzungen werden so nach Möglichkeit vermieden. Und wenn es doch mal kracht, kann keiner behaupten, er hätte nicht gewusst, worauf er sich einlässt.

Die Rückreise trete ich mit dem Bus an. Es schien mir interessant, die rund 600 Kilometer bis Entebbe durch Uganda auf dem Landweg zurückzulegen.

In meiner Vorstellung sah ich mich zurückgelehnt am Fenster sitzen und auf das vorbeziehende Afrika blicken. Meine Vorstellungskraft ist für ihr blumiges Wesen bekannt. Sie ist überraschend schnell im Entwerfen schöner Bilder. Die Realität kann da nicht immer mithalten.

In diesem Fall hatte ich bei der Planung übersehen, dass der Bus nach Uganda ein Nachtbus ist.

Der Tag nach dem Triathlon. Ich spüre eine tiefe Müdigkeit. Lieber wäre ich noch einen Tag geblieben, hätte mich ausgeruht und wäre dann nach Kigali gefahren, um von dort nach Hause zu fliegen. Stattdessen finde ich mich am späten Nachmittag an der Petite Barrière ein, dem kleineren der beiden Grenzübergänge nach Goma, von dem die Busse in die ugandische Hauptstadt Kampala fahren.

Am Ticketschalter erwerbe ich den um zwei Euro teureren Platz ganz rechts vorne, von dem ich mir den größten Komfort erhoffe. Nach dem Einsteigen darf ich bis kurz vor Abfahrt sogar darauf spekulieren, beide Plätze rechts vorne für mich zu haben.

Ich richte mich ein und mache es mir gemütlich. Angenehm schläfrig, mit Musik auf den Ohrstöpseln und sogar Vorfreude auf die Fahrt.

Dann steigt aber doch noch die Realität zu: in diesem Fall in Person eines eindrucksvoll beleibten Mitreisenden, der sich schwungvoll neben mir in den Sitz fallen lässt und dabei ein gutes Drittel meines Platzes mitbesetzt.

Im Bus ist es stickig. Ich klemme zwischen Sitznachbar und Fenster. Und ich frage mich, warum ich früher so viel Spaß an solchen Situationen hatte.

Der Grenzübergang nach Uganda liegt in den Bergen auf knapp 2.000 Meter Höhe. Es ist kalt, und wir stehen im Nieselregen. Erst in der Schlange zur Ausreise aus Rwanda. Stempel. Dann in der Schlange zur Einreise nach Uganda. Stempel.

Wir sind noch nicht lange in Uganda unterwegs, als der Bus erneut hält. Diesmal ist es ein Checkpoint des Militärs, irgendwo auf einer kurvigen Straße zwischen Kisoro und Kabale.

Erneut steigen wir aus und stehen im Regen, während Soldaten den Bus durchsuchen.

Am Straßenrand knistert ein Lagerfeuer. Es wirft lange Schatten. Beleuchtet wird die Szene von den Scheinwerfern unseres Busses.

Aus der Dunkelheit sind Stimmen zu hören. »Mzungu«, murmeln sie immer wieder, »Mzungu, Mzungu«. In ihrer ständigen Wiederholung, zwischen den Rauchwolken des flackernden Feuers, klingt es wie ein unheilvoller Zauberspruch.

Es dauert, bis ich verstehe, dass ich angesprochen werde. Es sind Kinder, die sich eine kleine Aufmerksamkeit von mir erhoffen.

Wörtlich übersetzt, bedeutet »Mzungu« so viel wie »jemand, der ziellos umherwandert« oder einfach »Wanderer«. Im 18. Jahrhundert bezeichnete der Begriff europäische Entdecker, die in der Region der Großen Afrikanischen Seen unterwegs waren. Heute wird der Ausdruck verwendet, um diejenigen zu beschreiben, die augenscheinlich nicht von hier sind.

Im Feuer werden Maiskolben geröstet, das Stück für 1.000 ugandische Schillinge, etwa ein Vierteldollar. Einfach, aber warm und lecker.

Nach zehn Minuten dürfen wir wieder einsteigen, und der Bus setzt seine Fahrt nach Kampala fort, wo wir morgens um fünf ankommen und an einem Parkplatz der Busgesellschaft aussteigen.

Es ist stockdunkel und viel früher, als ich dachte; zu früh, um durch Kampala zu schlendern, so, wie ich mir das vorgestellt hatte.

Ich nehme mir ein Taxi nach Entebbe. Es kostet mehr als die komplette Busfahrt aus Rwanda, aber um diese Zeit bin ich dort besser aufgehoben.

Bis wir angekommen sind, ist die Sonne aufgegangen. Die Zeit bis zum Abflug verbringe ich am Aero Beach, am Ufer des Victoriasees, wo ein paar ausrangierte Flugzeuge zu einer Art Freilichtmuseum arrangiert wurden.

Ich wollte immer den Victoriasee sehen. Warum, kann ich gar nicht genau sagen. Als Kind hatte ich eine Weltkarte im Zimmer, die ich vor dem Einschlafen, im Bett liegend, Abend für Abend studierte, und dieser große blaue Fleck in der Mitte des afrikanischen Kontinents wurde zu einem meiner vielen Sehnsuchtsorte.

Nun war ich hier. Aß einen Barsch. Und trank ein Bier.

Es gibt einen vielfach ausgezeichneten Dokumentarfilm namens Darwin’s Nightmare. Er handelt davon, was hier geschah, nachdem die Briten in den 1960er-Jahren den vermehrungsfreudigen Nilbarsch im Victoriasee aussetzen ließen, um dem regionalen Fischfang einen kleinen Boost zu verpassen.

Die Anzahl der ausgesetzten Nilbarsche war übersichtlich, es waren nur 35 Stück. Der Effekt des Experiments jedoch war signifikant.

Der Nilbarsch ist ein gefräßiger Raubfisch. Innerhalb der folgenden 30 Jahre beteiligt er sich im Victoriasee an vorderster Front an der Ausrottung von 400 Fischarten.

Ein ökologisches Desaster.

Der Film erzählt von arbeitslosen Fischern und von russischen Piloten, die mit ihren Transportmaschinen Waffen für afrikanische Regierungen aus Osteuropa anliefern und auf dem Rückweg Fischfilets einladen, die in Europa sehr gerne gegessen werden.

Der Regisseur sagte über seinen Film: »Darwin’s Nightmare könnte ich auch in Sierra Leone erzählen, nur wäre der Fisch ein Diamant, in Honduras eine Banane und in Angola, Nigeria oder im Irak, schwarzes Öl.«

Ich sitze am See. Der Wind treibt die Wolken über den Himmel, der Victoriasee schwappt ungeordnet ans Ufer. Neben mir stakst ein Ibis durch den Sand.

Ich fühle mich erfüllt in diesem Moment. Vielleicht, weil ich einen Sehnsuchtsort meiner Kindheit erreicht habe. Vielleicht, weil mir die Weite des Sees ein Gefühl der Freiheit schenkt. Vielleicht, weil das Vormittagsbierchen eine gelungene Mischung aus Euphorie und Melancholie bewirkt.

Was ich in diesem Moment nicht weiß, ist, dass ich mich in Rwanda versehentlich für die Ironman® 70.3 WM 2023 in Lahti qualifiziert habe.

Ich bin noch nie so langsam geschwommen. Ich habe noch nie so lange für 90 Kilometer auf dem Fahrrad gebraucht. Und ich bin den langsamsten Halbmarathon meines Lebens gelaufen.

Ich war mental am Straucheln und ziemlich am Jammern. Herausgekommen ist ein WM-Ticket.

Einige afrikanische Athleten konnten ihren zugeteilten WM-Slot offenbar aus finanziellen oder organisatorischen Gründen nicht annehmen. So bin ich nachgerückt.

Nun darf ich mich auf eine Weltmeisterschaft vorbereiten.

2 REFLEXIONEN AM SEE

Der Altausseer See liegt am Südwestfuß des Toten Gebirges, das so heißt, weil es auf seinem Zentralplateau kaum Quellen, kaum Wasser und kaum Pflanzen gibt.

Unten am See ist aber alles ganz normal. Wie ein Bühnenbild ragt im Hintergrund die 600 Meter hohe, schroffe Felswand des Trisselbergs auf. Rundherum gibt es einen herrlichen Weg am Ufer entlang, der sich in einer Stunde zu Fuß absolvieren lässt, im Schatten von Bäumen, die bis ans klare Wasser reichen.

Der See im steirischen Teil des Salzkammerguts ist nicht besonders bekannt, obwohl ihn schon Millionen Menschen auf der ganzen Welt gesehen haben: Hierher verfolgt Daniel Craig aka James Bond im Film Spectre die Spur zu einer Person namens Der blasse König, den er schließlich nach kurzer Bootsfahrt am Nordwestufer des Sees in einer einsamen, mystischen Hütte antrifft, wo sich dieser nach kurzem Gespräch mit Bond erschießt.

Die Hütte steht dort noch immer, als wäre nichts gewesen.

Auch auf der anderen Seite des Sees, vorne im Örtchen Altaussee, hat sich schon reichlich Prominenz eingefunden. Kate Moss, Liv Tyler, André Heller und viele weitere waren hier, um sich Gutes tun zu lassen.

Ein mehrstöckiges, eher unscheinbares Hotelgebäude, dem man ansieht, dass bei der Konstruktion der Versuch unternommen wurde, das Ganze so gut wie möglich in seine Umgebung zu integrieren. Viel Holz und weniger Pomp, als die elitäre Liste an Gästen dies vermuten ließe.

Hier kümmern sich Gesundheitsspezialisten um das Wohl ihrer Besucher. Und hier habe auch ich mich eingefunden, um im Rahmen eines zehntägigen Performanceprogramms meine physische Kondition zu analysieren, die wichtigsten Stellschrauben zu eruieren und in der Folge meine Leistungsfähigkeit gezielt zu steigern.

Von meiner Qualifikation für die Ironman® 70.3-WM 2023 hatte ich Anfang September erfahren, zwei Wochen nach meiner Rückkehr aus Rwanda.

Die Nachricht kam per E-Mail. Es war ein Freitag. Ich stieß einen spitzen Schrei der Freude aus, dann stand ich minutenlang schweigend auf der Terrasse und ließ die Neuigkeit auf mich wirken.

Ich fühlte mich weltmeisterlich.

Man muss dazu sagen, dass eine Ironman® WM neben der rein sportlichen Komponente auch ihre kommerzielle Seite hat. Herzlichen Glückwunsch zur Qualifikation, hier ist unsere Kontonummer: Laut Veranstalter bleiben einem 48 Stunden, um die eigene Teilnahme verbindlich zu bestätigen, wofür 650 Euro zuzüglich 60 Euro Bearbeitungsgebühr zu entrichten sind.

Ich fühlte mich trotzdem weltmeisterlich.

Ich möchte auch noch einmal betonen, dass ich mich nicht bei einem topbesetzten Rennen in Europa oder Nordamerika qualifiziert habe, bei dem die Besten der sogenannten Age Grouper nicht sehr weit vom Trainingspensum und Leistungsniveau eines Profis entfernt sind. Ich habe mich in Rwanda qualifiziert. In einer Nische der Triathlonwelt. Als Fünfter von elf.

Ich fühlte mich trotzdem weltmeisterlich.

Dieser Abend wird mir unvergesslich bleiben. Ich hatte meinen Laptop aufgeklappt und noch einmal mein Mailprogramm geöffnet, obwohl es dafür Freitagabend gar keinen Grund gab.

Als hätte ich gespürt, dass eine Nachricht auf mich wartet.

Ich sah den Absender, öffnete die Mail und las die ersten zwei Zeilen, die da lauteten: »Congratulations! You received a slot through roll down from the 2022 IRONMAN 70.3 Rwanda event … you are qualified to compete in the 2023 IRONMAN 70.3 World Championship in Lahti, Finland.«

Mein Herz begann zu rasen. Ich kramte in der Schreibtischschublade nach einer alten Zigarette, die ich dort seit zwei oder drei Jahren in einer Schachtel mit Kugelschreibern aufbewahrte.

Ich rauche nicht. Ganz selten, wenn ich in Gesellschaft bin und getrunken habe, kann es sein, dass die Lust auf eine Zigarette in mir aufsteigt. Keine Ahnung, welche Synapsen sich in diesem Moment die Hand reichten. Ich wollte unbedingt diese Zigarette rauchen.

Der Tabak war trocken, die Zigarette flammte beim Anzünden auf. Ich musste husten, bekam augenblicklich eine verstopfte Nase und machte das Ding nach drei Zügen wieder aus.

Es waren an die zehn Minuten, die ich auf der Terrasse stand und in den Nachthimmel blickte. Anfangs ein wenig benebelt, dann klarer und klarer. Ich spürte ein Feuer in mir, eine besondere Erregung. Es hatte etwas von Aufbruch, von sonderbarer Sinnhaftigkeit, fast schon Bestimmung: ein Jahr lang trainieren, um am 27. August 2023 in Finnland mein Bestes zu geben.

Den ersten Monat trainierte ich wild drauflos. Am liebsten hätte ich zwei Einheiten am Tag durchgezogen, aber dazu war ich gar nicht in der Lage. Zu oft fühlte ich mich abgeschlagen, vor allem dann, wenn ich trotz Müdigkeit zum Laufen ging und danach noch abgeschlagener war.

Nicht selten arbeitete ich halbtags, obwohl ich genug für einen ganzen Tag zu tun hatte, quetschte einen Halbmarathon in die verlängerte Mittagspause, holte nach einem angetäuschten Mittagsschlaf, in dem weder Kopf noch Körper zur Ruhe fanden, meinen zweijährigen Sohn aus der Kita ab, verbrachte den Nachmittag mit väterlicher Aufsichtspflicht auf dem Spielplatz, und schaffte abends dann noch den Rest an verbliebener Arbeit weg.

Ich war gestresst von Arbeit, Training und Familie. Es war offensichtlich, dass mein Körper mit der Rastlosigkeit, mit der ich in diesen Tagen durchs Leben hetzte, nicht klarkam.

Trotzdem sah ich es zunächst nicht.

Manchmal steht man sich selbst im Weg.

Wie ein Trottel auf der Rolltreppe.

Kommt man an seinem Ego nicht vorbei, ist es ein kluger Zug, den Rat einer anderen Person in Anspruch zu nehmen. Das ist nicht unbedingt meine Stärke, aber in diesem Fall hatte ich Glück: Es ergab sich die Möglichkeit, das Performanceprogramm in Altaussee zu durchlaufen, um meine körperliche Leistungsfähigkeit auf den Prüfstand zu stellen.

Hier wurde mir nahegelegt, meine Ambitionen mit der Realität zu synchronisieren. Und auf das zu hören, was mir mein Körper mitzuteilen versucht.

In Altaussee werde ich auf Herz und Nieren getestet. Und natürlich auf Blut, Fett und Muskulatur. Das Ergebnis: erhöhte freie Radikale, aber auch hohe antioxidative Kapazität; Sauerstoffaufnahme passt, Stoffwechselleistung im grünen Bereich, sehr gute Fett- und Zuckerverbrennung; Harnbefund unauffällig; Körperfett und Muskelmasse in Ordnung.