16,99 €
«Anna lag genau in dem Streifen, den der Vollmond ins Zimmer warf.» So beginnt dieser Roman, in dem Dirk von Petersdorff von vier Menschen Ende dreißig erzählt, die miteinander verbunden und voneinander angezogen sind, aber den Weg ins Leben nicht im gleichen Takt gefunden haben.
Tim und Anna sind verheiratet, haben einen kleinen Sohn, Tims bester Freund Johannes führt immer noch eine Art Studentenleben und ist gerade Single, hatte aber mal eine Liebesnacht mit Anna und scheint weiterhin eine für Tim nicht ganz berechenbare Verlockung für Anna darzustellen. Anna sehnt sich nach ihrer früheren Ungebundenheit und ihren Abenteuern, Johannes dagegen beneidet die beiden. Tim allerdings hat seinen momentanen Erfolg in der Firma nicht ganz seriös zustande gebracht und alles kann wieder kippen … Und dann ist da noch Doris, Annas beste Freundin, die es mit den Männern nicht hinkriegt. Am Ende aber vielleicht doch.
Ironisch-schwebend, spannend und in dichten, poetischen Szenen erzählt Dirk von Petersdorff von der stets brüchigen Balance im Leben seiner Figuren, die das Gefühl der Unsicherheit nicht loswerden.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2018
Dirk von Petersdorff
Wie bin ich denn hierhergekommen
Roman
C.H.Beck
«Anna lag genau in dem Streifen, den der Vollmond ins Zimmer warf.» So beginnt dieser Roman, in dem Dirk von Petersdorff von vier Menschen Ende dreißig erzählt, die miteinander verbunden und voneinander angezogen sind, aber den Weg ins Leben nicht im gleichen Takt gefunden haben.
Tim und Anna sind verheiratet, haben einen kleinen Sohn, Tims bester Freund Johannes führt immer noch eine Art Studentenleben und ist gerade Single, hatte aber mal eine Liebesnacht mit Anna und scheint weiterhin eine für Tim nicht ganz berechenbare Verlockung für Anna darzustellen. Anna sehnt sich nach ihrer früheren Ungebundenheit und ihren Abenteuern, Johannes dagegen beneidet die beiden. Tim allerdings hat seinen momentanen Erfolg in der Firma nicht ganz seriös zustande gebracht und alles kann wieder kippen … Und dann ist da noch Doris, Annas beste Freundin, die es mit den Männern nicht hinkriegt. Am Ende aber vielleicht doch.
Ironisch-schwebend, spannend und in dichten, poetischen Szenen erzählt Dirk von Petersdorff von der stets brüchigen Balance im Leben seiner Figuren, die das Gefühl der Unsicherheit nicht loswerden.
Dirk von Petersdorff, geboren 1966, lebt in Jena, wo er an der Friedrich-Schiller-Universität unterrichtet. Er veröffentlichte u.a. Essays, die Erzählung «Lebensanfang» (2007) und mehrere Gedichtbände, zuletzt «Sirenenpop» (2014). Er erhielt u.a. den Kleist Preis und den Preis der LiteraTour Nord. Er ist der neue Herausgeber des «C. H.Beck Gedichtekalenders».
Anna lag genau im Lichtstreifen, den der Vollmond ins Zimmer warf
In dieser Nacht schreckte Johannes hoch
Am Samstagvormittag stand Tim im Bad und rasierte sich gründlich
Tim stand auf einer Leiter und umarmte in drei Metern Höhe einen Baum
«Das Pulver im Kakao löst sich nicht auf», klagte Elias
Anna lag auf dem Dachboden
Um vier Uhr morgens erwachte Tim
Beim Aufwachen umarmten sie sich
Anna lief an den Wiesen entlang
Johannes fuhr auf seinem alten roten Rennrad zu seiner Wohnung
Anna vor einer Brotteigmaschine
«Verbrannt wurde von einem Ende zum anderen ganz Haithabu im Zorn
Johannes räumte auf
Am Montagmorgen um 8.55 Uhr rief der Chef an
Tim war erleichtert und hatte ein schlechtes Gewissen
Tims Chef machte Ernst
Johannes saß auf der Gartenbank und wartete auf Elias
Tim verließ seine Bank in Chicago
Sie haben eine Wiese auf den Hügeln oberhalb der Stadt gemietet
«Dieser Johannes, meinst du wirklich?»
Doris stand am Bahnhof
Noch eine Runde durch die Waschstraße
Tim hielt noch an einer Currywurstbude
Anna und Tim setzten sich noch nach draußen
Der Einkaufszettel lag vor Tim auf dem Esstisch bereit
Johannes dachte an seine Probestunde
Auf sandigen Kurvenwegen unter hohen Buchen durch den Park
Im Ofen glühte ein Holzscheit. Mitte Mai war es noch einmal kühl geworden. Vor dem Ofen lagen im Kreis: ein Paar Socken, eine Espresso-Tasse mit Zuckerdose, ein Haarband, der Plan für die kommende Woche, wie Anna ihn immer anlegte, und ein Taschenbuch, «Einführung in den Koran». Sie kam aus ihrer Mondlicht-Ecke heraus, und sie setzten sich auf den Dielenboden. Sie war noch benommen von ihrer Entspannungsübung, und er sah auf den Wochenplan, eine A4-Seite im Querformat. Für morgen stand dort WARZT, 8:30. Ein Termin bei dem Hautarzt, der seit Wochen ergebnislos gegen die Warzen auf den Füßen ihres Sohnes Elias ankämpfte. Für heute Nachmittag hatte sie ein «J» fürs Joggen eingetragen.
Als er auf das Buch über den Koran blickte, fing sie an zu reden: Als sie für Elias «Räuber Ratte» kaufte, habe sie das in der Buchhandlung mitgenommen, weil sie das Gefühl habe, so wenig zu wissen. «Ich verstehe nicht mal die Schaubilder zum Klimawandel bei Spiegel ONLINE. Und abends sitze ich vor einem schmalen Ofen in einer dunklen riesigen Welt und habe keine Ahnung, was im Koran steht, nicht im Geringsten.» Sie schlürfte den Bodensatz aus ihrer Espresso-Tasse. Tim sah sich das Inhaltsverzeichnis an. Das erste Kapitel hieß: «Das missverstandene Buch. Der Koran im Abendland». Das vierte Kapitel war angekreuzt: «Hauptthemen der frühen koranischen Botschaft».
Sie legte ein Stück Holz nach, ein Birkenscheit, dessen Rinde sich in der Glut sofort zu kräuseln begann und dann Feuer fing. «Was ich nicht verstanden habe: Wieso kommen die gleichen Geschichten im Koran und in der Bibel vor? Zum Beispiel die, mit der Elias aus dem Kindergarten gekommen ist und von der er ein Bild malen soll, mit den sieben fetten und den sieben mageren Jahren, wo die mageren Kühe die fetten fressen oder umgekehrt. Das kommt in beiden Religionen vor, und sie bekämpfen sich.» «Nicht immer», unterbrach Tim sie. «Ja, nicht immer», sagte sie, «aber trotzdem ist das unlogisch.»
«Meinetwegen», sagte er, «aber was heißt hier schmaler Ofen, riesige Welt? Denk an Indien.» Sie unterdrückte ihr aufkommendes Lächeln, weil Tim an solchen Stellen immer mit ihrem Arbeitsaufenthalt in Indien ankam. Der hatte sich als bewundernswert in seinem Kopf festgesetzt, während es ihr im Nachhinein ganz anders vorkam: als sei sie mit und in der Arbeit durch die Welt geflogen, in einer Blase aus Aufgaben und Terminen, die einen umgibt, während die Wirklichkeit nur draußen vor der Blasenhaut wechselt und schillert. Vielleicht war es auch einfach nicht gesund, zu viel über Welt, Wirklichkeit und all das nachzudenken, aber genau das wollte sie andererseits, und sie hatte die Auszeit nach der Geburt von Elias gerade um ein weiteres Jahr verlängert.
Sie stand auf und holte eine angebrochene Weinflasche und zwei Gläser aus der Küche. «Weißt du, eigentlich liegt es daran, dass der Nachmittag ein Fiasko war.» Während sie Weißburgunder einschenkte, begann sie zu berichten: Isabelle, eine neue Kindergartenbekannte, die aus Kenia stammte und seit einigen Jahren in Deutschland lebte, war zu Besuch gekommen. Elias und Isabelles Kinder verschwanden nach draußen, wo sie mit dem Nachbarsjungen einen Baumstumpf bearbeiten wollten. Der Nachbarsvater hatte extra dafür die Kinderspaten noch einmal angeschliffen. «Ich saß hier drinnen mit Isabelle und war unruhig. Ich konnte nicht sehen, was draußen mit den Spaten passierte, aber ich wollte mich mit Isabelle richtig unterhalten. Du weißt ja.»
Ja, er wusste, sie meinte niederziehende Spielplatzgespräche, in denen Mütter ebenso langatmig wie genau die Nahrungsgewohnheiten und Verdauungsschwierigkeiten ihrer kleinen Kinder oder den Schulablauf und die Hausaufgaben ihrer großen Kinder referierten, mit müde-forcierter Stimme, immer weiter, als ob sie sich beim Reden an einem Geländer entlanghangelten, während auf der anderen Seite das tiefe Nichts gähnte. An solchen Nachmittagen gerate man in völlige Dumpfheit, als ob man stundenlang Fertigkuchen mit Sprühsahne esse, so müsse man sich das vorstellen, und Tim hatte sich ununterbrochen quellende Sprühsahne vorgestellt, die die Sandfläche bedeckte und von den Kindern geduldig mit Schaufeln verrührt wurde, bis ein weißer Sandbrei entstand.
Dieser Nachmittag sollte anders verlaufen, mit interessanten Gesprächen, aber zunächst folgten Anna und Isabelle doch den Kindern nach draußen, um die Lage im Blick zu behalten. Am Anfang war alles ruhig gewesen, Isabelles kleine Tochter erntete Gras aus den Terrassenrillen, zupfte und sammelte die Halme, die Jungs stießen ihre Spaten gleichmäßig in die Wurzeltiefe, und die ältere Tochter der Nachbarn streichelte abwechselnd die Katze und ihr Smartphone. Isabelle erzählte vom Autohandel ihres Vaters in Nairobi und von ihrem Wirtschaftsstudium in München: «Ich habe damals extra wegen der Mathe-Klausuren ein Verhältnis mit einem Typen angefangen, der konnte lineare Algebra – SHIT!», rief sie laut und rannte zu ihrem Sohn, der dem Nachbarssohn den Spaten gegen das Schienbein stieß: «Das ist der Nigerianer in ihm!», rief sie. Ihr Mann war Nigerianer. Anna bekam einen Schreck: Durfte man das sagen, war das in Ordnung, eine inner-afrikanische Angelegenheit, sozusagen? «Ich bin ganz ruhig geblieben, habe zu den anderen Gärten hinübergesehen, ob es Reaktionen gibt, und bin dann zu den Kindern gegangen. Ich habe sie überredet, Abwerfen mit dem neuen gelben Softball zu spielen.»
Wieder zurück auf der Gartenbank wollte sie Isabelle auf ihre Flechtfrisur ansprechen. Aber sie habe sich nicht getraut. Für Afrikanerinnen seien Frisuren und Flechttechniken wichtig, das seien Zeichen und Bekenntnisse, sozusagen, und dieser ganze Haarbereich sei kompliziert, da könne man nicht einfach drauflosreden, um sich in der eigenen Unwissenheit zu verfangen. Stattdessen fragte sie Isabelle nach ihrer neuen Arbeit, und die erzählte von ihrem Job bei einem Unternehmen, das Medizintechnik exportierte und sich auf den russischen Markt spezialisiert hatte. Mit ihr im Büro würden zwei Russinnen sitzen, und die würden ständig schlecht über Deutschland reden. Als Anna überlegte, wo sie mit der Antwort anfangen sollte, mit dem Zweiten Weltkrieg, rief jemand laut: «ICH SEH HIER NUR GEWALTHANDLUNGEN.» Es war der Nachbarsvater, der sich im T-Shirt und mit muskelbepackten Oberarmen auf den Rand des geöffneten Küchenfensters stützte. Tatsächlich lagen die Jungs ineinander verkeilt auf dem Rasen. Irgendwo zwischen ihnen schimmerte der Softball durch, an dem sie zerrten, aber das war noch weit unterhalb der Gewaltschwelle, und warum musste der so brüllen? Isabelle war das erste Mal zu Besuch, und jetzt hallte es noch einmal laut: «ICH SEH HIER NUR GEWALTHANDLUNGEN.»
Anna stand wie angewurzelt auf der Terrasse und blickte die Reihe der Gärten hinab. Genau in jedem zweiten befand sich eines der riesigen, runden Trampoline, die man jetzt überall kaufen konnte. Sie kamen ihr wie Ufos vor. In ihrem Kopf und Bauch begann es zu kreisen, Gedanken wie startende und landende Ufos, und sie wusste nicht, woran sie sich festhalten sollte, und statt an irgendetwas Vernünftiges musste sie ausgerechnet an ihre ersten Management-Seminare denken, nämlich an den DREIBEINIGEN HOCKER DES SELBSTVERTRAUENS, von dem sie dort immer geredet hatten. Dieser Hocker kann nicht umkippen, seine drei Beine sind: «Erstens, Fähigkeiten haben, zweitens, sich anerkannt fühlen, drittens, Verantwortung übernehmen.» Die Jungen waren jedenfalls weitgehend unverletzt, und Isabelle wollte sowieso gerade gehen. Man umarmte sich und sagte «auf bald», «war schön».
«Das war der Nachmittag. Deshalb habe ich mich abends in den Mond gelegt, sozusagen.» Tim blickte sie schweigend an. Sie saßen auf den Dielen, wurden müde, sahen dem Birkenstück beim Verbrennen zu. «Wie ist denn Räuber Ratte?», fragte Tim. «Ach, diese Ratte trägt Räuberkleidung, reitet auf einem Pferd und nimmt allen anderen alles weg, aus Prinzip, einer freundlichen alten Häsin den Klee, den Eichhörnchen die Nüsse und den Ameisen ein Blatt. An dieser Stelle wollte Elias nicht weiterlesen, sondern lieber gleich schlafen. Im Moment hat er wieder mehr Ängste als vor einem Jahr.» Als Tim schwieg und sie aufstanden, fügte Anna noch hinzu: «Übrigens wollen die Nachbarn an einem der nächsten Wochenenden ein paar Spielplatzgeräte aufbauen, für uns alle zusammen. Eine Gemeinschaftsaktion. Es wäre gut, wenn wir dabei sind. Ich habe uns für die Montage der Seilrutsche eingetragen.» Tim nickte.
Was war passiert? Am Morgen war er nach Basel gefahren, wo eine frühere Freundin, Katrin, in einem Museum arbeitete. Er wollte sie besuchen, «klar, komm vorbei, ich mach am Freitag eine Abend-Führung», hatte sie am Telefon gesagt, und er könne auch bei ihr übernachten, sie freue sich auf ihn. Er hatte sich immer für sie interessiert, und jetzt hatte er neuen Mut gefasst. Er musste sein Leben ordnen: diese wechselnden Jobs, die er nur mechanisch ausführte und die ihn kaltließen; das langsame Verbrauchen der Erbschaft seiner Eltern; und vor allem die Luft der Einsamkeit, die ihn umgab. Wenn er nach Hause kam und seine Wohnung aufschloss, fühlte er sich nicht mehr frei, dann schlang sich diese Einsamkeit um ihn. «ER IST EIN TRÄUMER», hatte der Fahrlehrer damals über ihn gesagt, als er nicht gemerkt hatte, dass sich vor der Brücke zwei Spuren auf eine verengten und der Fahrlehrer deshalb abrupt bremsen musste. Im Zug nach Basel erinnerte er sich an die Komplimente, die ihm Frauen bisher gemacht hatten; er hatte dunkelbraune Locken, seine Augen konnten ins Lodern geraten, eine markant-männliche Nase, feine Gesichtszüge, und er war hager, aber das konnte man auch athletisch nennen.
Als er durch den gläsernen Eingangsbereich des Museums trat, sah er die Besuchergruppe schon um Katrin versammelt. Er stellte sich dazu. Sie lächelte kurz und unauffällig herüber, während sie mit ihren einführenden Worten fortfuhr. So konnte er sie in Ruhe betrachten: das lange, schwarze Haar, noch viel schimmernder, als er es in Erinnerung hatte. Und wie diese Pracht jetzt auf einem feinen, weißen Wollpullover ruhte! Ihre Formen, von der Schulter abwärts: genau die lebendige Schwere und Fülle, nach der er sich sehnte. Genau das Gegenteil von den zerbrechlichen Tänzerinnen auf den Bildern, die sie gerade erläuterte. Sie war beim Sprechen leicht errötet, sie hatte die Stelle als Kuratorin noch nicht lange, und als sie nun erneut zu ihm herübersah, wurde sie noch ein wenig röter. Das gefiel ihm: Die anderen in der Gruppe mussten denken, dass sie einmal etwas miteinander gehabt hatten. Aber dazu war es leider nie gekommen, selbst auf der ganz heißen Madrid-Exkursion nicht, auf der doch zahlreiche Hüllen gefallen waren und er sich knapp vor der Erfüllung wähnte. Später hatte sie ihm, vielleicht zum Trost, eine selbst bemalte Stehlampe geschenkt, in Regenbogenfarben. Die stand treu in seiner Wohnung, und als er sie neulich Abend gegen die Dunkelheit einschaltete, hatte er beschlossen, Katrin zu besuchen.
Aber jetzt musste er sich auf ihre Erläuterungen zu den Werken von Edgar Degas konzentrieren, der offenbar ununterbrochen Tänzerinnen gemalt hatte: Ballett-Mädchen vor und nach dem Auftritt, allein und in Gruppen. Während Katrin darüber sprach, trat ein kleiner älterer Herr mit braunem Samtjackett und sauber hochgewellter Frisur hinzu. Die Hände in den Taschen, lächelte er in Katrins Richtung. Sie grüßte nickend, wurde wieder rot und begann, schneller zu sprechen. Johannes erinnerte sich, dass sie am Telefon einen berühmten Professor erwähnt hatte, der dem Museum verbunden war und vielleicht an der Führung teilnehmen wollte, was sie aber nicht hoffe. Nun steckte sie in ihren Worten fest, «sehen Sie, wie diese Tänzerin das Tutu überstreift, während diese hier das Tutu schon trägt». Sie stieß das Wort «TUTU» wie einen hohen Vogellaut mehrmals aus und sah Hilfe suchend zu dem Professor herüber: «Aber vielleicht möchten Sie dazu einige Hintergrundinformationen geben?»
Der zog langsam die Hände aus den Taschen, wandte sich der Gruppe zu und breitete die Arme aus, in den Raum hinein: «Wenn Sie die Entwicklung von Degas’ Werk betrachten, wie sie hier dokumentiert ist …» Und dann sprach er von den heilen und ganzen Körpern im Frühwerk, die später ihre Kontur verlören, unvollständig wirkten, «zusammengesetzt», während Johannes zwischen Mitleid mit Katrin und Ärger schwankte: darüber, dass sie nun dreiunddreißig waren und sich zurückdrängen ließen wie mit Mitte zwanzig. Warum setzte Katrin sich nicht durch, eine große Frau gegen diesen Ober-Zwerg, der gerade triumphierend «Sehen Sie hier, dieses Bein sieht ja aus wie eine Prothese!» rief. In seinen zufriedenen Rundumblick hinein sagte Katrin einen Satz, den er als «RICHTIG» bezeichnete, um sogleich wieder das Wort zu ergreifen.
Wir sind selbst schuld, dachte Johannes, wir haben die Sicherheit nicht, wissen nichts von dieser heilig-großen «Entwicklung» überall, wie es kommen musste, sondern laufen nur herum und verlieren uns in den Dingen. Wie kann man so laut «RICHTIG» sagen und dabei auch noch genüsslich schnalzen? Uns fallen immer gleich die Widersprüche ein: Sind die frühen, die richtigen Frauen von Degas nicht doch viel schöner als die späteren, abstrakten, die nur noch herumflattern? Doch, Johannes fand sie auf jeden Fall schöner, und grummelnd folgte er der Besuchergruppe. Später saß er mit Katrin in ihrem Büro. An dem runden Besprechungstisch ließ sie einen Stuhl zwischen ihnen frei. Als er fragte, wie es ihr ginge, und als er sie hoffnungsvoll ansah, erklärte sie ihm ihr neues Ausstellungskonzept: Irgendwelche Gegenstände, die im 20. Jahrhundert ihre symbolische Bedeutung verlieren, er hörte nicht richtig zu. Sie nahm eine Mappe mit Farbkopien, «sieh mal hier, eine sowjetische Bäuerin, eine Kolchos-Bäuerin». Die trug ein hellrotes Kleid und fuhr Fahrrad an einem Feld entlang. «Die Frage, die wir uns stellen, ist: Interessierte den Maler die Kraft der Revolution? Oder etwas ganz anderes?» Ihn interessierte auf jeden Fall etwas ganz anderes, aber sollte er jetzt darauf antworten?
Sie blätterte weiter und zeigte ihm ein Bild, auf dem ein halb schläfriger Mann sich auf einem Brett durch ein Moor stocherte. Birken waren zu sehen, und eine der Birken wechselte ganz seltsam die Wuchsrichtung. Daneben Schilfgras sowie ein überdimensionaler Pilz, der eingeschnitten war und durch den man wie durch ein Fenster zu einem Haus mit Innenhof sah. Außerdem zeigten Kunststoffpfeile aus dem Pilz heraus in verschiedene Richtungen: insgesamt völlig planlos. «Das passt doch zu dir, oder?», fragte sie. Er sah sie immer noch lächelnd an, obwohl er merkte, dass ihr Rendezvous sich in keine gute Richtung entwickelte. «Du, ich muss jetzt los. Ich übernachte bei meinem Freund, wirf meinen Wohnungsschlüssel einfach morgen früh in den Postkasten.» Sie legte ihm die Hand auf die Schulter.
Also stiefelte er allein zum Ausgang. Im Vorbeigehen sah er in einem der Museumsräume riesige Seerosenbilder, die ihn noch mehr deprimierten. Die waren von dem anderen Maler, dessen Namen er vergessen hatte und der am Ende seines Lebens immer nur Seerosen in Teichen gemalt hatte, nur Seerosen, nur Teiche, die vor sich hin schillerten und nichts anderes konnten als schillern. Abgefertigt, dachte er, sie hat mich abgefertigt, sie hat gar nicht wahrgenommen, wer ich bin. Sie muss in ihre Spur hineinfinden, braucht keine Ablenkung mit irgendeinem Johannes von früher, Frauen können so grausam sein, und ich weiß nicht einmal, welche Spur für mich vorgesehen ist.
Vor dem Museum stand ein Kind, blies in eine Pusteblume und sah zufrieden zu ihm hoch. Einige Samen blieben in seinen Locken hängen. Er ging weiter und stieg in die rüttelnde Straßenbahn. Drei Stationen. Er schloss die Augen und stellte sich Katrin in dem roten Kleid der Kolchos-Bäuerin vor. Sie radelte auf einem einsamen Feldweg auf ihn zu und würde gleich abspringen. Das Bild wischte er mit einer Handbewegung ärgerlich zur Seite. Eine Chinesin, die ihm gegenübersaß, stand ängstlich auf und setzte sich in den vorderen Teil des Wagens.
Bei Katrin zu Hause schaltete er sofort den Fernseher ein. Aber was sollte das nun? Ein Mann bewegte seinen Kopf schnell zwischen den Brüsten einer Frau hin und her und machte dabei seltsame Geräusche, während eine Stimme erläuterte, dass es sich um «MOTORBOATING» handele. Was für Programme sah Katrin denn? Hatte sie das abonniert? Oder war er ins Pay-TV geraten, und Katrin würde eine Rechnung erhalten, mit Datum, und sie würde rekonstruieren, dass nur er an diesem Abend in ihrer Wohnung gewesen war und perverse Sender gesehen hatte? Zitternd schaltete er sofort aus – vielleicht war das noch unterhalb der Grenze des Messbaren.
Er ging in ihre Küche, die Sperrholzwände wie seine besaß. Auf einem Campingtisch in der Mitte stand eine Topfpflanze mit lappig herunterhängenden Blättern, länger nicht mehr gegossen. Wahrscheinlich lebte Katrin ständig bei ihrem Freund. Im Schrank fand er eine Pflaumenschnapsflasche, unten bauchig, langer, schmaler Hals. Er schenkte sich vorsichtig ein. Er musste über Frauen nachdenken, obwohl er wusste, dass dies kein günstiges Thema war, wenn er stabil bleiben wollte. Denn Frauen waren stärker als er. Sie besaßen emotionale Kraft, den Willen, die Entschiedenheit. Frauen, die Männer packen, anheben und an einen Wandhaken hängen. Das stand schon im Nibelungenlied: Brunhilde, eine Herrscherin, hängte ihren Mann oder einen anderen, der ihr Mann werden wollte in dieser Nacht, an einen Kleiderhaken, so hatte er das in Erinnerung. MOTORBOATING mit Brunhilde. Er nahm sich noch einen Schnaps, trank ihn schnell, füllte das Schnapsglas zwischendurch mit Wasser und goss der traurigen Pflanze ein.
Frauen konnten sich ihrer Sache so sicher sein. Er hatte gelesen, dass eine Hollywood-Diva, nicht Liz Taylor, aber so ähnlich, nur jünger als Liz Taylor, eine Diva der nächsten oder übernächsten Generation, jedenfalls hatte sie gesagt: «Auf meine Haare konnte ich mich immer verlassen. Ich habe auf sie gehört. Meine Haare haben mir immer gesagt, wann es Zeit war zu gehen.» Er nieste und trank, wobei ihm Tränen in die Augen traten. Wie unfassbar eins mit sich selbst musste man sein, wenn die Haare wussten, was zu tun war und es einem auch noch sagten? Was hatten ihm seine dunkelbraunen Locken, die doch gar nicht so übel aussahen, jemals zugeflüstert? Nichts, gar nichts, Stille herrschte in seinen Locken wie in dieser Wohnung. Wenn er an seine Beziehungen dachte, dann waren sie höchstens mittellang, im Nachhinein peinlich, jeder Enthusiasmus eigentlich doch nur ein Herumstochern im trüben Grund, er durfte nicht daran denken. Er wollte so gerne an die frühe Phase mit Katrin andocken und mit ihr direkt ins richtige Leben abbiegen, was er damals versäumt hatte.
Er war dran mit einem Schnaps. SCHWEIZER QUALITÄTSPRODUKT, das konnte er bestätigen. Er stieß mit der Pflanze an. Pflanzen konnten sich schnell erholen. Am Abend waren sie fast tot. Am nächsten Morgen standen sie straff-lebendig da, als sei nichts gewesen. Primeln, zum Beispiel. Ein Schluck Wasser und schon wie neugeboren, das macht doch Mut. Er musste erneut niesen. Wahrscheinlich war das eine allergische Reaktion auf die Sperrholzwände, die vor Jahrzehnten mit einem irrsinnigen Chemie-Kleber angepappt worden waren, der später verboten wurde. TOTENKOPF-KLEBER. Eine rosa-giftige Masse, die sich hinter den Sperrholzplatten als Wurm aufblähte und ihn attackierte. «Ruhig, Brauner», sagte er zu sich selbst, «Hufe ruhig halten.»