Wie dunkel die Schatten - Regine Kölpin - E-Book + Hörbuch

Wie dunkel die Schatten Hörbuch

Regine Kölpin

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Beschreibung

Sei vorsichtig! Zwischen den Schatten der Straße wartet der Tod …
Der beklemmende Thriller für Fans von Gerlinde Friewald

Ein belegtes Brot für die Obdachlose Frieda – das ist Paula ins Blut übergegangen. Jeden Morgen hält die Studentin an der Bushaltestelle inne und wechselt ein paar Worte mit Frieda. Bis diese eines Tages verschwunden ist. Zurück bleibt nur ihr verwaister Wollmantel und die Isomatte. Als einige Tage später ganz in der Nähe ein Obdachloser zusammengeschlagen wird, ist Paula sofort klar, dass Frieda ihren Stammplatz nicht freiwillig verlassen hat. Doch dann fühlt Paula sich auf einmal selbst verfolgt und bekommt Drohbriefe, die sie davor warnen, Friedas Verschwinden auf den Grund zu gehen. Und plötzlich steht die junge Studentin selbst im Mittelpunkt der Ermittlungen … Wem kann sie jetzt noch vertrauen?

Erste Leserstimmen
„vielschichtiger Thriller, der mir sicherlich noch lange im Gedächtnis bleiben wird“
„spannend, intelligent, beklemmend“
„gesellschaftskritischer, wirklich gut recherchierter und realitätsnaher Krimithriller!“
„Ich habe das E-Book in einer Nacht verschlungen – so fesselnd!“

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Zeit:9 Std. 37 min

Sprecher:Julia Blankenburg

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Über dieses E-Book

Ein belegtes Brot für die Obdachlose Frieda – das ist Paula ins Blut übergegangen. Jeden Morgen hält die Studentin an der Bushaltestelle inne und wechselt ein paar Worte mit Frieda. Bis diese eines Tages verschwunden ist. Zurück bleibt nur ihr verwaister Wollmantel und die Isomatte. Als einige Tage später ganz in der Nähe ein Obdachloser zusammengeschlagen wird, ist Paula sofort klar, dass Frieda ihren Stammplatz nicht freiwillig verlassen hat. Doch dann fühlt Paula sich auf einmal selbst verfolgt und bekommt Drohbriefe, die sie davor warnen, Friedas Verschwinden auf den Grund zu gehen. Und plötzlich steht die junge Studentin selbst im Mittelpunkt der Ermittlungen … Wem kann sie jetzt noch vertrauen?

Impressum

Überarbeitete Neuausgabe Juni 2021

Copyright © 2023 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-96817-702-1 Hörbuch-ISBN: 406-4-06780-905-7 Taschenbuch-ISBN: 978-3-96817-759-5

Copyright © 2015, KBV-Verlag Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2015 bei KBV-Verlag erschienenen Titels Straßenschatten. (ISBN: 978-3-95441-236-5).

Covergestaltung: Vivien Summer unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com: © Inhabitant, © Phatthanit, © Oksana Mizina, © Amelia Fox, © Diana Taliun, © Sanit Srianan, © Steve Collender Korrektorat: Katrin Gönnewig

E-Book-Version 24.11.2023, 12:39:09.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Wie dunkel die Schatten

Oldenburg, Niedersachsen

Nacht von Sonntag auf Montag

Bushaltestelle P+R Marschweg

Eine Nacht wie jede andere. Sie unterscheidet sich nicht wesentlich von denen zuvor. Der Mond thront am Himmel, wird immer wieder von Wolkenfetzen verdeckt. Das Marschwegstadion klebt über der Szenerie wie ein Mahnmal, während das Summen der Autobahn ein beruhigendes Gefühl von Normalität vermittelt.

Heute aber gibt es keine Normalität. Heute schleicht sich die Gefahr wie auf vielen Katzenpfoten heran, wird gleich ihre tödlichen Krallen ausfahren und sich dann genauso lautlos zurückziehen, wie sie gekommen ist. Verhüllte Gesichter tasten sich näher, sehen ihre Opfer, die im Schutz der Plastikwand der Haltestelle kauern. Die Köpfe der beiden sind auf die Brust gesunken. Sie liegen nicht, sie hocken, so als wagten sie nicht, sich dem Schlaf ganz hinzugeben. Trotzdem ahnen sie nichts von dem, was gleich auf sie zukommt. So wie zwei Schäfchen, die sich von der Herde entfernt haben, ohne die Gefahr zu kennen. Und das nur, weil die Frau auf das Almosen hofft, das sie hier Morgen für Morgen erhält. Heute sind sie zu zweit, am nächsten Tag wird sie allein sein, wie immer. Oder auch nicht. Dieses Dasein ist nicht planbar, es gleicht den ziehenden Wolken am Himmel.

Die Frau wird bezahlen für eine alte Schuld. Sie wollte sie wiedergutmachen und ist gescheitert, so wie sie mit allem, was sie begonnen hat, gescheitert ist. Der Preis dafür ist hoch: Es soll ihr Leben kosten.

Der Überfall kommt plötzlich, wie aus dem Nichts. Schwarze Gestalten tauchen aus dem Dunkel auf, umstellen die Haltestelle. Menschen mit maskierten Gesichtern, aber mit Hass in den Augen. Abscheu, der sich gleich über den beiden wehrlosen Personen entladen wird. Egal, ob der Alte Teil des Auftrags ist oder nicht. Er wird mitbeseitigt. Dann kann er nicht reden. Lautlos saust der erste Hieb nieder, trifft auf zerberstende Gesichtsknochen. Der Mann sackt sofort in sich zusammen. Die Frau aber ist jünger. Flinker. Wie ein Wiesel schießt sie durch die schmale Lücke zwischen den Beinen ihrer Widersacher und hastet in die schützende Dunkelheit, in Richtung der Büsche am Marschwegstadion. Einer von ihnen verfolgt sie, doch sie kennt die Nacht besser als er. Sie ist dort zu Hause, seit vielen Jahren ein Schatten der Straße, der es vermag, unsichtbar zu sein. Der nur zum Vorschein kommt, wenn er es für richtig hält. Der Frau sind Wege bekannt, die ihr Verfolger nicht einmal erahnt. Sie entkommt, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Die Wut entlädt sich nun ausschließlich gegen den Mann. Einer muss heute sterben. Die Alte holen sie später.

Er weint nicht, als Stiefel seinen Oberbauch treffen. Er wimmert nicht einmal. Nimmt die Schläge klaglos hin wie einen Schicksalsschlag, dem er ohnehin nicht entkommen kann. Es ist nicht das erste Mal, dass er »gestiefelt« wird.

Blut tropft auf das graue Pflaster, eine schmale rote Spur verläuft auf den Steinen und vermischt sich mit dem Fleck aus frischem Hundeurin. Oldenburg schläft um diese Zeit, und mit ihm jene, die dem Mann hätten zu Hilfe eilen können. Jetzt haben sie freie Hand.

Ein abschätzender Blick auf das zerfurchte Gesicht, auf die dreckigen Finger, die eben noch den Fetzen Lumpen umkrallt haben, sich nun aber nach und nach lösen. Der Alte öffnet die Augen. Klagt stumm an, versteht nicht, was geschieht. Ein dunkler Stiefel gräbt sich ein letztes Mal in seine Seite, entlockt ihm nun doch einen leisen Ton. Seine Lider zucken, auch das lässt von Sekunde zu Sekunde nach.

Einer der jungen Männer reibt sich die Faust. Die Knöchel seiner Hand haben menschliche Haut gespürt, die bei der Wucht des Aufpralls geplatzt ist. Jetzt klebt Blut an ihnen. Es hat geknackt wie morsche Äste, die unter Fußsohlen bersten. Egal, es ist kein Mensch, der dort liegt. Es ist Dreck. Abschaum. Müll. Der Typ quatscht nicht mehr. Nie wieder. Nicht über das, was war, nicht über das, was er weiß, nicht über das, was mit ihm geschehen ist. »Sollen wir ihn nicht wegbringen? Er kann woanders verrecken. Hier findet man ihn sofort.« Die Stimme klingt heiser, fast hysterisch, wie aus dem Off. Er muss sich zusammenreißen, darf keine Schwäche zeigen.

»Du hast recht. Besser, wenn der Typ nicht direkt auf dem Präsentierteller liegt. Je später sie ihn finden … Geben wir ihm dahinten den Rest.« Sie schleifen ihn weg. Der Kopf holpert über den Weg wie ein hüpfender Fußball, bis sie ihn in die Büsche hinter der Bushaltestelle gezerrt haben. »Habt ihr das Shirt?«

Einer zieht ein Messer. Ein anderer zerrt ein schwarz-pinkes Shirt aus der Tasche.

Plötzlich kommt Bewegung in die Gruppe. Aus der Ferne nähert sich ein Martinshorn. »Nichts wie weg!« Die Gestalten werden von der Dunkelheit verschluckt. Nur eine verharrt ein wenig länger, blickt auf das blasse Gesicht, das unter dem heraussickernden Blut kaum noch zu erkennen ist. Es wäre an ihm, dem Alten die Klinge ins Fleisch zu rammen und so ein Held zu sein. Seine Hand tastet sich in die Hosentasche, umfasst den Schaft, zieht das Klappmesser heraus. Es blitzt im Schein der Straßenlaterne kurz auf. Als er sich umsieht, wird der Himmel vom Blaulicht zerhackt. Er muss verschwinden. Ein Hieb mitten in die Brust. Er rutscht ab, hat nicht richtig getroffen. Er schnappt sich das Messer, rotzt dem alten Mann ins Gesicht, bevor er geht. Die Zweige der Büsche schnellen über dem Verletzten zusammen, verbergen gnädig, was keiner sehen will. Der Penner ist entsorgt. Wie das Taschentuch, mit dem sich einer von ihnen das Blut von den Händen gewischt und das er ein paar Meter weiter auf den Weg geworfen hat. Sie werden gleich irgendwo ein Bier trinken. Ausgiebig feiern. Auftrag ausgeführt.

Die Blaulichter biegen in den Sodenstich ab, kommen nicht an der Haltestelle Marschweg vorbei. Es wird ruhig am Stadion.

Als am frühen Morgen der erste Hund am Marschwegstadion vorbeikommt, schnüffelt der kurz am Gebüsch, kläfft, gehorcht seinem pfeifenden Herrn. Der aber sieht nur ein Papiertaschentuch, das auf dem Pflaster klebt und dessen Ecke vom seichten Wind hochgeweht wird.

Tag 1

Montagmorgen

Bushaltestelle P+R Marschweg

Die Frau war nicht da. Paula sah es schon, als sie mit dem Fahrrad auf die Haltestelle zufuhr. Das Bushäuschen und die Straße davor wirkten wie leer gefegt. Lediglich der schwarze Mantel und die fleckig-blaue Isomatte in der Ecke zeugten von ihr, der Obdachlosen, der Paula seit dem Sommer jeden Morgen ein belegtes Brot in die Hand drückte. Eine Obdachlose, eine von vielen, die in der Stadt lebten und die sich vor allem am Abend und in der Nacht an der Hunte unter der Autobahnbrücke am Westfalendamm trafen. Tagsüber saßen sie am Netto-Markt an der Nadorster Straße oder gingen um die Ecke zur Obdachlosenhilfe. Ein paar sah Paula auch immer an der Lambertikirche. Der Wind pfiff unangenehm über die Straße, dunkle Wolken türmten sich auf. Paula kam sich beobachtet vor. Hier stimmte etwas nicht. Sie stellte das Rad ab und sah hinter die Haltestelle, ging dann um das Bushäuschen, blickte in Richtung Stadion. Die Metalltüren waren wie immer, wenn kein Fußballspiel war, fest verschlossen. Die bunten Toilettenhäuschen waren die einzigen Farbtupfer. Paula umrundete auch das hinter der Haltestelle liegende Gebüsch, doch außer einer leeren Schnapsflasche, einem benutzten Kondom und einer weggeworfenen Tabakpackung bemerkte sie nichts Auffälliges. Alles war wie immer. Die Frau aber war wie vom Erdboden verschluckt.

Als Paula wieder bei ihrem Rad angelangt war, hatte sich das ungute Bauchgefühl noch verstärkt. Wo steckte die Frau, deren Namen sie nicht kannte, mit der sie noch nie im Leben ein Wort gewechselt hatte und die ihr doch irgendwie nahe war. Ich fühle mich verantwortlich, dachte Paula. Verdammt noch mal verantwortlich. Das Hupen eines Autos ließ Paula zusammenzucken und holte sie aus ihren Gedanken zurück. Sie sollte sich beeilen, die Vorlesung an der Uni begann gleich, und sie war ohnehin spät dran. Um die Frau musste sie sich später Gedanken machen.

Montagmorgen

Schlosspark Oldenburg

Sie war entkommen. Unter ihr war nur noch der Dreck auf dem Boden. Tiefer konnte man nicht sinken. Nicht mehr unterwegs, festgewachsen in der Stadt, die einen auch nicht haben will. So wie die Ratten. Frieda kauerte jetzt im Schlosspark hinter einer der Bänke, den Schal fest ins Gesicht gezogen. Besser, niemand sah ihr Gesicht. Falls sie kommen sollten. Sie holen. Noch einmal draufhauen. Sie töten wie den Mann gestern, der mit ihr an der Haltestelle die Nacht verbringen wollte, weil es unter der Brücke am Westfalendamm, wo sie in der Nacht meist auf Platte waren, Stunk gegeben hatte. Ein paar Berber, herumstreunende, die mal hier, mal dort in den Städten unterwegs waren, hatten Ansprüche angemeldet, weil sie in der Obdachlosenunterkunft keinen Platz mehr bekommen oder sie gar nicht erst gefunden hatten. Was auch immer. Frieda hatte nicht so genau hingehört. Jedenfalls war der Plastikkönig ausgetickt, hatte sich als Boss aufgespielt, und Frieda war gegangen.

Die Haltestelle erschien ihr eine gute Idee. Aber nach dem Angriff hatte sie ihre Habseligkeiten dort liegen lassen. Bis auf die Alditüte, die hielt sie stets fest umklammert. Darin befand sich alles, was sie zum Leben brauchte: ihre Taschenlampe, eine Kerze mit einer halben Packung Streichhölzer, ein Dosenöffner. Dazu ihre Waschsachen, wie eine abgewetzte Zahnbürste mit Zahnpasta und eine Haarbürste, an der die meisten Borsten aber schon abgebrochen waren. Viel mehr brauchte man nicht, um auf der Straße zu überleben. Der Rest ergab sich jeden Tag neu. Manchmal ging sie ins »Bunte Kaufhaus« zum »Shoppen«, manchmal in den Tagesaufenthalt. Aber ihre Besuche dort wurden seltener. Sie kam sich danach immer besonders klein und niedrig vor. Auch wenn es ihr widerstrebte, musste sie die Isomatte und den Mantel später holen gehen. Letzte Woche hatte ihr jemand den Schlafsack geklaut, wie sollte sie da ohne den Mantel die immer kälter werdenden Nächte überstehen? Um einen Schlafsack mit Isofunktion musste sie sich auch noch kümmern. Dazu würde sie wohl die Diakonie noch einmal aufsuchen und fragen müssen. Noch wagte sie aber nicht, die Deckung zu verlassen, war froh, wenn sich Spaziergänger in die Anlage verirrten und sie sich dadurch sicherer fühlte. Ihr war, als würde sie noch immer verfolgt, wobei der Übergriff gestern bestimmt nicht ihr und dem Mann persönlich gegolten hatte.

Sie kannte kaum jemanden. Die Menschen in ihrem Leben kamen und gingen. Ein paar blieben länger, andere nur einen Tag. Jeder mit einer Geschichte im Rucksack, die keiner kennen wollte, glichen sie sich doch zu sehr. Außerdem verbesserte es die Lage auch nicht. Sie war eine von denen ganz unten. Die anderen bezeichneten sich selbst als Stadtratten, aber das Wort mochte Frieda nicht, auch wenn es ihr eben selbst durch den Kopf geschossen war. Sie war ein Einzelgänger, ein Schatten. So wie die anderen auch. Aber keine Ratte. Dem Wort haftete so viel Negatives an. Obwohl Ratten intelligente Tiere waren. Ab und zu fütterte Frieda sie mit ein paar Krumen. Sie machten sogar Männchen. Trotzdem wollte sie keine von ihnen sein. Sie war ein Mensch.

Aber jetzt hatte sie Angst. Angst, dass sie wiederkamen, weil sie Leute wie sie suchten. Weil sie für viele einfach nur Dreck waren. Weil sie »Sitzung machten«, Pfandflaschen aus Containern sammelten und viele von ihnen zu viel tranken. Weil sie ihre »Bombe«, eine Zwei-Liter-Flasche Wein, brauchten, oft schon morgens als »Klapperschluck«, damit der Tremor in den Händen vertrieben wurde. Frieda trank nicht. Nur ab und zu, wie normale Sesshafte auch.

Frieda hatte nie gewagt sich hinzulegen, seit sie auf Platte war, also auf der Straße lebte. Im Freien nächtigte, weil sie keine Wahl hatte. Seit sich ihr Leben weit unter dem Nullpunkt abspielte. Mit den Jahren hatte sie das Schlafen in der Hocke gelernt. Tiefschlaf konnte tödlich sein. Auch unter der Huntebrücke. Jeder war sich selbst der Nächste. Das Sprichwort galt überall und in jeder Lebenslage. Es gab nur ein Wort, das sie durch den Tag trieb: überleben. Einfach irgendwie überleben.

Sie ärgerte sich oft über den Plastikkönig. Er spielte sich ständig als Boss auf, weil er ein »Lebenskünstler« war. Der Plastikkönig hielt sich für was Besseres, obwohl er genauso ein Stadtstreicher war wie sie alle hier. Die Haltestelle am Marschweg war für Frieda eine gute Alternative gewesen, denn dort bekam sie Morgen für Morgen ihr Almosen von diesem jungen Mädchen, das sie immer freundlich, wenn auch ängstlich ansah. Das Brot half ihr, über den Tag zu kommen. Vielleicht hatte der Mann neben ihr das beobachtet und gehofft, etwas abzustauben. Gesprochen hatten sie nicht miteinander, aber doch hatten sie sich gegenseitig das Gefühl gegeben, nicht völlig allein zu sein. Sie hatte seinen regelmäßigen Atemzügen gelauscht und selbst die Augen geschlossen.

Der Überfall kam plötzlich, wie aus dem Nichts. Dunkle, verhüllte Gesichter, mit Hass im Blick. Kein Schrei hatte ihre Lippen verlassen, als der erste Hieb auf sie niedergesaust war. Dennoch war sie entkommen. Der Mann nicht. Frieda rieb ihre schmerzende Schulter, wo sie getroffen worden war. Die Wunde an der Stirn war schon verkrustet.

Montagmorgen

Stadt Oldenburg

Weg zur Carl von Ossietzky Universität

Das Bild der Frau verließ Paula auch auf dem Weg zur Uni nicht. Sie überquerte die Bloherfelder Straße, als Reifen quietschten und ein Auto abrupt stoppte. »Mensch, Mädchen, pass doch auf! Das ist hier keine Spielstraße!« Der schwarze Audi entfernte sich mit durchdrehenden Rädern.

Paula stützte sich auf den Fahrradlenker und atmete langsam ein und aus. Das war ja gerade noch mal gut gegangen. Sie musste sich zusammenreißen, aber die Gedanken an die Frau schmerzten sie. Die Erinnerung daran, wie sie jeden Morgen an die Plastikumrandung gelehnt dagesessen hatte, den Kopf auf die Knie gesenkt und den Mantel leicht hochgezogen, damit er ihren hageren Rücken wärmte. Vor sich eine Untertasse und auf ein Almosen wartend. Sie bedankte sich auch für herabgeworfene zwei Cent. Sie trug Handschuhe, solche, an denen man die Fingerspitzen beiseiteklappen konnte. Sie hatte sie selbst im Sommer an. Ihre Habseligkeiten passten in eine Plastiktüte von Aldi, Lidl oder Netto.

»Sie hat ihren Mantel und die Matte liegen lassen. Ohne das würde sie doch nicht einfach so verschwinden«, murmelte Paula. Sie bestieg ihr rot bemaltes Hollandrad wieder und strampelte gegen den Wind an. »Das ist sicherlich fast alles, was sie hat. Merkwürdig.« Paula fröstelte, obwohl ihr der Schweiß über den Rücken lief. Sie hatte sich den Schal dreimal fest um den Kopf gewickelt, weil sie sich gegen den Wind schützen wollte. Doch diese Kälte kam von innen.

»Warum beschäftigt mich das so? Ich kenne ihren Namen nicht, gar nichts.« Sie hatten nie ein Wort miteinander gewechselt. Ein freundliches Lächeln, ein verlegenes Nicken, und das war es.

Mittlerweile war sie an der Kreuzung Ammerländer Heerstraße/Uhlhornsweg angekommen, und das Universitätsgebäude hob sich gegen den düster wirkenden Himmel ab. Die Studenten schoben sich in Strömen in Richtung Campus.

»Ich muss mich jetzt zusammenreißen. Die Vorlesung gleich ist wirklich wichtig«, murmelte Paula, fuhr zum Fahrradstand und schloss ihr Rad ab. »Ich als Studentin kann ohnehin nichts für diese Menschen tun. Außer ihr eben dieses Brot zu schenken oder immer mal was in ihre Hüte zu werfen. Immerhin ist das mehr, als andere tun. Sie wird schon wieder auftauchen. Oder sie ist wieder ihrer Wege gegangen. Neue Stadt, neues Glück.«

»Hallo«, wurde Paula angesprochen. »Redest du mit dir selbst oder lernst du laut?«

»Beides«, antwortete sie und sah auf die Uhr. Sie war fast eine Dreiviertelstunde später dran als sonst, hatte bereits die erste Hälfte der Vorlesung verpasst. Professor Wasserthür war zwar ein fairer Mann und hatte für alles Verständnis, für alle Verbrecher, Mörder und Totschläger dieser Welt, aber nicht dafür, dass man seine heilige Vorlesung verschlief. Die bissigen Bemerkungen kannte jeder seiner Studenten zur Genüge.

Paula hoffte, dass ihre Freundin Ines es pünktlich in die Uni geschafft hatte und sie ihr die Mitschrift von den ersten fünfundvierzig Minuten der Vorlesung geben konnte. Es war schwer genug, sich ständig durch die Paragrafen zu arbeiten. Das Studium der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften verlangte den Studenten einiges ab.

Paula betrat die Uni, kam sich merkwürdig fehl am Platz vor. Die Flure lagen, im Gegensatz zum Forum, leer vor ihr. Paulas Schritte hallten auf den Fliesen, als sie sich durch das Gebäude arbeitete. Schließlich stand sie vor der richtigen Tür. Sie senkte ihre Hand auf die Klinke, zog sie aber rasch zurück. Es war besser, sich die ganzen Unterlagen von Ines oder einem anderen Kommilitonen zu holen und nachzulernen. Sie würde mit ihrem Zuspätkommen einen schlechteren Eindruck hinterlassen, als wenn sie gar nicht erst erschien.

»Ich gehe erst mal in die Mensa, nicht dass mich der Prof noch hier sieht.« Vielleicht würde sie ein Kaffee ablenken.

Paulas Gedanken kehrten zu der Frau zurück. Sie hatte Ines einmal von ihr erzählt. Ziemlich am Anfang, als es begonnen hatte. Ines fand das alles reichlich exotisch. »Dass du dich so etwas traust«, hatte sie gesagt, »dich mit so einer einzulassen. Mir sind die suspekt. Ich hätte echt Schiss.« Dennoch hatte sie Paula zunächst mit Fragen gelöchert. Wie die Obdachlose aussah und wo genau sie saß. Aber wie Ines eben war, hatte sie das Thema danach nicht mehr interessiert. Es war am Ende wohl doch nicht exotisch genug.

Das Brot hatte Paula noch immer in der Tasche. Es fühlte sich an, als gehöre es nicht dorthin.

Montag, später Vormittag

Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Paula verließ das Hauptgebäude und überquerte die Straße. Der Campus lag jetzt ruhig vor ihr, nur wenige Studenten lümmelten rauchend herum. Paula öffnete die Glastür der Mensa, nahm den Schal ab und zog ihren nachlässig zusammengebundenen Pferdeschwanz zurecht. Ihr schlug eine Wolke abgestandener Luft entgegen.

Die Mensa war fast leer, keine Schlange am Tresen. Paula holte sich einen Becher Kaffee. Dann suchte sie einen Tisch in der Ecke und griff in die Jackentasche. Das belegte Brot roch frisch, aber dennoch schmeckte es fad, als Paula abbiss. Sie legte es auf dem Tablett ab. Warum zum Teufel hatte die Frau heute Morgen nicht an Ort und Stelle gesessen? So, wie sie es seit drei Monaten Morgen für Morgen tat? War es, weil sie, Paula, sich verspätet hatte? Wartete sie etwa immer nur auf das Almosen und ging anschließend ihren unbekannten Weg? Etwas in Paula sagte, dass es so nicht war. Diese Frau hatte Zeit. Den ganzen Tag. Und sie hatte Paula stets erwartungsvoll entgegengesehen. Es war wie eine stille Übereinkunft zwischen ihnen. Eine besondere Form der Freundschaft. »Quatsch, Freundschaft«, sagte Paula zu sich. »Ich weiß ja nicht mal, wie sie heißt. Was beunruhigt dich eigentlich, Paula?« Dass die Frau den Mantel, der sie stets wie ein Schutzschild umgab, zurückgelassen hatte. Er wärmte und schützte sie zugleich. Und genau den hatte sie nicht mitgenommen. Das war es, was Paula nicht zusammenbekam. »Es scheint so, als habe sie es schrecklich eilig gehabt, zu verschwinden.« Am gesamten Bild war etwas nicht stimmig. Ganz und gar nicht stimmig.

Paula seufzte auf und biss trotzig ein weiteres Mal ab. Das war wieder typisch für sie, über so etwas nachzusinnen und nicht über ihr Studium, was wirklich wichtiger war, als sich den Kopf über eine unbekannte Frau zu zerbrechen. Vermutlich war sie der einzige Mensch, der sie vermisste und sich Sorgen machte. Die Frau hatte stets allein dort gesessen. Vielleicht waren diese Leute immer für sich. Sie lebten mal hier und mal dort. Es gab sicher einen ganz harmlosen Grund für alles. Vielleicht war ein Bekannter vorbeigekommen, und sie waren gemeinsam weitergezogen. Ihre Sachen würde sie später holen. Wer sollte sie schon stehlen? Solche wertlosen Lumpen.

Die Mensa füllte sich, als ein paar Studenten hereinkamen.

»Jetzt einen Kaffee! Der wird helfen, unsere Sinne wach zu kriegen. Ganz schön chillig heute an der Uni, wenn zwei Profs krank sind!« Die weitere Unterhaltung wurde vom zunehmenden Geschirrklappern und den Gesprächen der anderen Studenten übertönt. Den einen der Jungs erkannte Paula sofort. Es war Arne, ein Angeber ohnegleichen. Er wirkte stets wie aus dem Ei gepellt, wusste durchaus, dass keine Studentin wegsah, wenn er sie mit seinen braunen Augen fixierte. Er war ein Kumpel von Piet, den sie letzte Woche bei ihrem Fakultätsgrillfest auf der Dobbenwiese näher kennengelernt hatte. Ein echt netter Typ, ein wenig schüchtern, aber ehrlich und auf eine sympathische Art anders als die übrigen Studenten, die ihre Finger in der Freizeit meist um Bierflaschenhälse krallten und sich häufig nicht benahmen, wie es zukünftige Wissenschaftler, oder was auch immer sie werden wollten, tun sollten.

Paula war klar, dass sie mit dieser Meinung alleine dastand, und meist hielt sie den Mund. Anecken kostete Nerven, die sie nicht hatte. Ihre Energie galt einzig ihrem Studium. Raus aus der Enge, was Besseres werden als ihre getrennt lebenden Eltern, die gar nicht merkten, wie eintönig ihr Leben war. Paula wollte was anderes, und dafür musste sie einen möglichst guten Abschluss hinlegen. Ines bezeichnete sie deshalb als Streberin. Ich will mein Studium ebenso rasch es geht durchziehen, dachte Paula. Ich muss schließlich Geld sparen. Dafür arbeitete sie zwanzig Stunden als studentische Hilfskraft. Ihre Freundin hatte das nicht nötig und konnte sich mit dem Studium Zeit lassen. Sie hatte es mit dem selbstbestimmten Leben nicht besonders eilig. Ihr Vater führte im Gerichtsviertel ein angesehenes Anwaltsbüro mit einem großen Mitarbeiterstab. Ein Platz, in welcher Form auch immer, war Ines dort sicher, egal, wie ihr Universitätsabschluss aussah. Sie würde ihren Neigungen entsprechend ein Büro mit Blick auf den Schlosspark bekommen, dazu einen schicken Firmenwagen und alles, was man sich für einen gut verdienenden Anwalt vorstellte. Für Paula aber waren gute Noten unabdingbar, denn wie sollte sie sonst später einen guten Arbeitsplatz finden? Darüber brauchte sich Ines keine Gedanken zu machen.

Arne hatte sich mit Freunden an einem der Nebentische niedergelassen, sie flegelten sich auf den Stühlen. Neben Arne saß ein Rothaariger, der eine bunt bestickte Weste trug. Mit seinen Locken fiel er auf. Sein Name war Tim. Aber seine Freunde nannten ihn der Frisur wegen Angel. Beim Grillfest auf der Dobbenwiese am Kaiserteich waren er und Arne allerdings so betrunken gewesen, dass Paula keine Lust gehabt hatte, sich mit ihnen abzugeben. Sie schienen sie jetzt nicht zu erkennen, worüber Paula erleichtert war. Es gab Typen, die kannte man besser nicht. Mit Piet hingegen hatte sie sich in der letzten Woche dreimal getroffen. Sie waren im Kino gewesen, zu einer Musikveranstaltung und einmal im Strohhalm in der Wallstraße, danach im Big Ben. »Vielleicht hat er ja nachher Lust, sich mal wieder mit mir zu treffen«, flüsterte Paula. Zum Glück saß sie hier alleine, denn ihre Art, Selbstgespräche zu führen, kam anderen oft eigenartig vor. Als ein paar Studentinnen vorbeikamen, ließ Arne sofort einen blöden Spruch ab. Dennoch fühlten sich die Frauen, ihrem aufreizenden Benehmen nach, offenbar geehrt. Die ersten Vorlesungen waren vorbei, und die Mensa füllte sich immer mehr. Gleich würde kaum mehr ein Durchkommen möglich sein. Paula suchte Ines, was im Normalfall keine Schwierigkeiten bereitete, weil ihre Freundin auffiel. Ganz anders als Paula, die mit keinen besonderen Äußerlichkeiten dienen konnte. Aschblondes, glattes Allerweltshaar, schlanke Figur, was sie ihrem regelmäßigen Volleyballtraining verdankte, grüne Augen und wenige versprengte Sommersprossen auf der kleinen runden Nase. Ines hingegen war anders. Sie hieß nicht nur Ines, sie sah auch aus, wie man sich eine Ines vorstellte: dunkler Teint mit dunklem Haar, ein Hauch von eleganter Hochnäsigkeit und ein Glimmen in den Augen, das unvergleichlich war. Genau wie das Lächeln, das immer wieder verschmitzt über ihr Gesicht huschte. Dazu perfekt sitzende Kleidung mit dazu passenden Schuhen. Sie verkörperte die Vorstellung, die man von einer Tochter aus gutem Hause hatte, in höchster Vollendung. Und doch war sie seit Kindertagen Paulas beste Freundin, obwohl die beiden unterschiedlicher nicht hätten sein können. Insgeheim bewunderte Paula sie, vielleicht lag da das Geheimnis.

Paula schreckte aus ihren Überlegungen auf, als kurze Zeit später ihre Freundin in die Mensa stolzierte. Sie trug eine knallenge Jeans, darüber ein tief ausgeschnittenes Top, in dem Paula schon lange erfroren wäre. Ines fror scheinbar nie. War ihr kalt, schlüpfte sie in eine Sweatshirtjacke, und das war es dann.

»Hallo, da bist du ja«, sagte Ines, als sie bei ihrer Freundin angelangt war. »Hast verdammt gut daran getan, die Vorlesung auszulassen. Es war ziemlich langweilig.« Sie umwehte ein Hauch von Dior.

Paula schüttelte den Kopf. »Nein, ich wollte nicht schwänzen. Ich hab verschlafen, und dann«, sie zögerte, weil sie nicht wusste, ob sie ihrer Freundin von der verschwundenen Frau erzählen sollte, »ist mir etwas sehr Merkwürdiges passiert.«

»Dir passiert ja immer etwas Merkwürdiges«, sagte Ines mit einem Grinsen.

»Du bist quasi das weibliche Wesen, dem Merkwürdigkeiten nur so zufliegen.«

Paula war nicht nach Lachen zumute. Sie erklärte ihrer Freundin mit ein paar Sätzen, was geschehen war, und schloss mit: »Ich weiß, es klingt albern, aber ich habe wirklich Angst, dass der Frau irgendetwas zugestoßen ist.«

»Du machst dir deshalb Sorgen? Weil sie heute nicht da war? Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?« Ines hob die Brauen. »Morgen sitzt sie bestimmt wieder da. Ganz gewiss. Wenn nicht, dann übermorgen. Sie will sicherlich weiter an deinem exklusiven Frühstück teilhaben. Ist schließlich alles umsonst. Warte, ich hole mir nur einen Kaffee.« Sie verschwand und kam kurze Zeit später zurück.

»Mach dir nicht zu viele Gedanken. Kann doch auch sein, dass sie einfach eine Stadt oder eine Straße weitergezogen ist.« Ines setzte sich Paula gegenüber und riss die Milchpackung auf. »Wir können ja mal an der Lambertikirche oder in dieser Suppenküche nach ihr Ausschau halten, wenn sie bis morgen nicht aufgetaucht ist.« Sie schüttelte den Kopf. »Dass du dir über solche Tippelbrüder – oder in diesem Falle eher Tippelschwestern – Gedanken machst.« Dann wechselte sie sofort das Thema. »Kommst du am Samstag mit ins Twister nach Sande? Hätte mal wieder Lust, richtig abzutanzen.« Ines kippte sich drei Packungen Milch in den Kaffee und schleckte anschließend ihre vollgekleckerten Finger genüsslich ab.

Paula zuckte mit den Schultern, weil sie es jetzt noch nicht wusste. Das Wochenende war noch so weit weg. Außerdem musste sie lernen. Diese Diskothek lag sechzig Kilometer von Oldenburg entfernt. Man musste mit der Nordwestbahn dorthin fahren, die Nacht durchtanzen und konnte frühestens am nächsten Morgen mit dem ersten Zug zurück. Paula wusste nicht, ob ihr Durchhaltevermögen dafür ausreichte.

»Wenn du nicht so weit fahren willst, was meinst du zu einem Weiberabend bei dir in der WG? Wir laden Bille und Mia ein und …«

Paula war während Ines’ Gerede mit den Gedanken schon wieder abgedriftet. Ihre Freundin ging ihr mit ihrer superguten Laune auf die Nerven. Ohne auf Ines’ weiteren Vorschlag einzugehen, fragte sie: »Wir könnten auch gleich gemeinsam zur Polizei gehen und fragen, ob sie etwas über die Frau wissen.«

Ines schüttelte ärgerlich den Kopf. »Du bist unverbesserlich. Ich rede mit dir, und du hörst mir gar nicht zu. Da geh du besser allein hin, denn das halte ich für absolut übertrieben. Ich würde einfach ein paar Tage abwarten, ob sie nicht von selbst wieder an die Futterkrippe zurückkehrt.«

Paula mochte es nicht, wenn Ines so abfällig sprach. Obwohl sie recht hatte. Was sollte sie der Polizei schon erzählen?

Der Vormittag mit dem Tutorium perlte an Paula ab. Sie war einfach nicht bei der Sache. Es war, als braue sich über ihr eine dunkle Wolke zusammen. Paula hatte ein gutes Bauchgefühl, und wenn etwas unstimmig war, hatte sich das im Nachhinein immer bestätigt. Sie musste herausfinden, ob etwas mit der Frau passiert war. Ich gehe nach der Uni zur Polizei, beschloss sie. Egal, für wie unsinnig Ines das hält.

Noch während die anderen über Softskills debattierten, rief sie heimlich mit dem Smartphone alle Polizeiwachen in der Gegend auf. Schließlich entschloss sie sich für die am Friedhofsweg, auch wenn das ein Stück zu fahren war. Aber es war die größte, und Paula hatte das beste Gefühl dabei. Allerdings war sie nach dem Tutorium zunächst mit Piet verabredet, er hatte ihr eben eine WhatsApp geschrieben. Auf dem Campus und in der Mensa hatte sie ihn nicht gesehen, und auch seine Freunde waren verschwunden. Paula war unsicher, ob sie ihn einweihen sollte, so gut kannten sie sich schließlich nicht. Paula wollte keine Freundschaft zerstören, die vielleicht Zukunft hatte. Nicht dass er sie schon jetzt für abgedreht hielt. Das wäre schade, denn es gab einfach zu wenig Menschen, mit denen sie so ungezwungen reden konnte wie mit Piet. Es bestand aber natürlich auch die Möglichkeit, dass er verstand. »Du glaubst in deinem Alter wohl noch an Wunder«, flüsterte Paula und beschloss, die Sache spontan zu entscheiden.

Montagmorgen

Schlosspark Oldenburg

Frieda fror. Es half nichts, sie musste sich auf den Weg zum Marschwegstadion machen und ihre Sachen holen. Sie hätte ihren Mantel in der letzten Nacht anbehalten und sich nicht nur darin einwickeln sollen. Auf der anderen Seite wäre sie mit dem dicken Mantel längst nicht so schnell gewesen und würde vermutlich gar nicht mehr hier sitzen. Hauptsache, keiner hatte ihn gestohlen. Auch wenn er Löcher aufwies und an den Armen ausgefranst war, so wärmte er doch, und nicht jeder hatte ein solches Prachtstück. Dafür hatte Frieda in einer Nacht- und Nebelaktion bei einer Altkleidersammlung drei Tüten aufgerissen. An die Container kam man ja nur schwerlich heran, und im »Bunten Kaufhaus« war nichts Richtiges dabei gewesen. Es war wie Weihnachten, Ostern und Silvester an einem Tag gewesen, als sie das erste Mal in den Mantel hineinschlüpfte. Solche Schätze warfen andere Menschen weg! Er hatte sogar noch nach Reinigung gerochen, als sie ihn das erste Mal in den Händen gehalten hatte. Weicher, dunkelblauer Stoff auf rauer Haut. Immer wieder waren winzige Fäden an ihren schwieligen Händen hängen geblieben. Das hatte irgendwann aufgehört, als der Mantel nach und nach verfilzte. Sie hätte sich den Mantel gestern noch schnappen sollen. Welch ein Fehler, ihn zu vergessen.

Frieda rappelte sich auf. Streckte sich, ordnete alle Gelenke. Es knackte. Ihr Herz schlug unwillkürlich schneller, als sie sich auf den Weg machte. Es war ein Stück zu laufen. Aber jetzt, am helllichten Tag war die Gefahr sicher am geringsten, dass man sie angriff. Und wenn sie sich nicht beeilte, wäre der Mantel weg.

»Sie werden den toten Mann ja irgendwann finden«, flüsterte sie. »Und meinen Mantel, den vielleicht jemand erkennt, wenn sie einen von uns ausquetschen.« Wenn Frieda am Marschweg ankäme, galt es, sich zu sputen, damit niemand sie bemerkte und Fragen stellte. Sie hatte schließlich nichts gesehen, außer diesen Augen. Die Gesichter waren verhüllt, und es waren viele gewesen. Wenn die Polizei schon vor Ort war, musste sie verschwinden. So, als gäbe es sie nicht.

Frieda trat in die Gartenstraße, den Schal hatte sie vors Gesicht gezogen. Ob das Mädchen sie schon vermisste? Sicher war sie am Morgen dagewesen und hatte sich gewundert, warum Frieda nicht dort gesessen hatte, obwohl ihre Sachen dort lagen. Über den Mann wollte Frieda nicht nachdenken. Zu brutal hatten die Schläger auf ihn eingedroschen. Er war beileibe nicht so behände wie sie, und sie hatten all ihre Wut, woher sie immer auch kam, an ihm ausgelassen.

Frieda stand eine Weile am Tor und taxierte die Umgebung. Eine alte Frau führte ihren Pudel spazieren, beim Zahnarzt verließ ein Vater mit seinem Kind die Praxis. Eine junge Mutter schob den Kinderwagen über den Gehweg an ihr vorbei und würdigte sie keines Blickes. Dieses Bild versetzte Frieda einen Stich. Nicht nachdenken, nicht weiterdenken. Das durfte sie jetzt nicht beschäftigen. Sie musste funktionieren. Einfach funktionieren. Keine weiteren Fehler machen. Immer auf der Hut sein, sich durchs Leben schieben, als gäbe es kein Morgen. Weil es das vielleicht auch wirklich nicht gab. Es war sinnlos, den nächsten Tag zu planen. Jede Nacht könnte die letzte sein. Sie alle lebten im Jetzt, das Morgen war unklar, das Übermorgen unendlich weit weg. Und dennoch wusste Frieda stets, welcher Tag war. Sie wollte nicht völlig zerrinnen. Dann würde sie ihr Ziel aus den Augen verlieren. Dennoch galt es zu überleben. Auf der Straße, unter der Brücke. In Bushaltestellen. Meist allein. Jetzt musste sie sich das holen, was ihr gehörte. Es war wenig genug.

Montagnachmittag

Schlosspark Oldenburg

Piet wartete vor der Uni, hatte sich auf den Fahrradlenker geflegelt und hielt sein Gesicht in die Herbstsonne. Paulas Herz schlug unwillkürlich ein paar Takte schneller.

»Schön, dich zu sehen.« Piet richtete sich auf, als er sie erkannte. Seine warme Stimme ergoss sich wie Öl über ihre Haut. Einen Augenblick später gesellte sich Arne dazu und wollte unbedingt vorgestellt werden. Piet tat dies eher unwirsch, und sein Kumpel trollte sich rasch, als er merkte, wie unerwünscht er war. »Ich melde mich noch«, sagte er zum Abschied und grinste Paula breit an.

Piet nahm sie kurz in den Arm, und als sie seine Nähe spürte, wusste sie, dass sie ihm alles sagen durfte und auch sollte. Ganz abgesehen davon, dass sie ohnehin kein Mensch war, der gut schweigen konnte. Ihr lag das Herz stets auf der Zunge, was sich oft als Nachteil erwies, weil sie dadurch leicht angreifbar war.

»Lass uns abhauen!«, schlug sie vor und zog ihn fort. Sie holten ihre Räder und fuhren in den Schlossgarten, auch wenn der ein ganzes Stück von der Uni entfernt lag. Doch Paula mochte das Stück Grün in der Stadt, das auf sie wie eine Oase wirkte. Am Ufer des Sees befand sich eine halbrunde, helle Balustrade, dahinter erstreckte sich das Elisabeth-Anna-Palais. Auf der nahe gelegenen Wiese stand eine grüne Bank mit schön gestalteter Metalllehne. Gestiftet von Rechtsanwalt Dr. Cornelsen. Sie stammte also von Ines’ Vater, der sich gern als Wohltäter der Stadt gab. Er organisierte Benefizveranstaltungen, bei denen er allen möglichen Organisationen die dabei eingenommenen Summen zukommen ließ. Im letzten Sommer hatte er einer Obdachlosenhilfe schon zum dritten Mal etwas gespendet. Das stand natürlich immer ganz groß in der Zeitung, ein Dr. Cornelsen tat keine milden Werke, ohne dass es jemand bemerkte. »Tu Gutes und rede drüber«, war seine Devise. Dabei ließ er offenbar auch mal eine Bank zum Ausruhen springen.

Paula war es egal, ob seine soziale Ader gespielt war oder nicht. Er war Ines’ Vater, und somit wollte sie ihn nicht kritisieren. Sie würde ihre Freundschaft nicht gefährden, wobei sie zugeben musste, dass sie zu Ines’ Mutter ein wesentlich besseres Verhältnis hatte als zu ihrem Vater. Frau Cornelsen mochte Paula und motivierte sie immer wieder, genau das zu leben, was sie sich wünschte.

»Wollen wir uns kurz hinsetzen?«, schlug sie Piet vor, der das Schild ebenfalls entdeckt hatte und den Namen mit einem Schmunzeln registrierte. »Was gibt es denn so Wichtiges?«, fragte er.

Sein Blinzeln in den Augen ließ Paula zusammenzucken, ihr Herz stolperte, sie schnappte nach Luft; tatsächlich fehlten ihr für einen Moment die Worte. Sie war über ihre Reaktion selbst erstaunt und fühlte sich von ihren eigenen Gefühlen überrannt. Es wäre besser, sie behielt das im Griff. Komplikationen konnte sie nicht brauchen. Sie rückte ein Stück ab und zeigte auf einen Erpel, der sich ihnen in der Hoffnung näherte, ein Stück Brot abzustauben. Piet schob sich dennoch näher. Krampfhaft suchte sie nach einem unverfänglichen Thema, denn der Enterich war enttäuscht weitergewatschelt.

»Ist kalt geworden«, stieß sie schließlich hervor.

Piet grinste breit über das ganze Gesicht. »Das wolltest du aber nicht loswerden.« Er legte einen Arm um ihre Schulter. Dieses Mal wehrte Paula sich nicht. »Ja. Nein. Stimmt.« O Gott, was stammelte sie denn so? Was sollte Piet nur von ihr denken, wenn sie keinen klaren Satz herausbekam?

Piet sah sie abwartend an. »Leg los! So schlimm kann es ja nicht sein. Oder bist du zur Mörderin geworden? Ich könnte ja mal in der Zeitung nachsehen, ob ich was über dich finde.« Piet hatte einen Witz machen wollen, aber Paula war nicht in der Lage, darauf einzugehen. Weshalb war sie nicht selbst auf die Idee gekommen, sich eine Zeitung zu holen und nachzusehen, ob etwas passiert war? Oder wenigstens online zu schauen. Sie gab sich einen Ruck. Nun war es zu spät, sie musste Piet einweihen, sonst würde er sie tatsächlich für abgedreht halten.

Die ersten Worte fielen Paula verdammt schwer. Kaum aber waren sie ihr über die Lippen gekommen, sprudelte die ganze Geschichte aus ihr heraus. Piet wirkte beeindruckt. Er schob die Unterlippe anerkennend vor. »Du kümmerst dich seit Wochen um diese Frau? Wahnsinn.«

»Na, kümmern ist übertrieben«, wehrte Paula ab. Ein belegtes Brot zu schenken, hatte eher was von einem Almosen. Aber es war eine Art Beziehung, das schon.

»Und nun ist sie weg? Einfach so?«, hakte er nach.

»Sie ist wie vom Erdboden verschluckt.«

»Merkwürdig«, sagte Piet. »Vor allem, weil sie so überlebenswichtige Dinge zurückgelassen hat. Ich meine, für die Frau wichtige Dinge.«

»Das finde ich nämlich auch. Ich werde gleich zur Polizei gehen. Da stimmt was nicht. Ich mache mir Sorgen.« Nun war es ausgesprochen. Paula war darüber sehr erleichtert. Es war wie ein Befreiungsschlag.

»Ist es nicht besser, ein paar Tage zu warten?«, fragte Piet.

»Es kann doch sein, dass sie morgen wieder da ist.« Paula zuckte mit den Schultern.

»Ich kann mir vorstellen, dass sie demnächst zurückkommt«, sagte er vorsichtig, dabei streifte seine Nasenspitze ihr Haar. »Sie wird ihre Sachen abholen. Wie soll sie sonst schlafen? Es wird doch immer kälter. Und ich glaube auch nicht, dass sie auf die liebgewonnene Angewohnheit verzichten wird, von dir beschenkt zu werden. Außerdem ist sie nicht sesshaft, ich denke, da ist es normal, dass sie nicht ständig zur gleichen Zeit am selben Ort ist, oder?«

Paula schüttelte entschieden mit dem Kopf. »Sie saß dort seit Wochen jeden Tag. Da stimmt etwas nicht. Ich will nur nachfragen, das ist doch nichts Schlimmes und schadet nicht.«

»Und wenn sie dich nicht ernst nehmen? Allzu viel hast du da nicht in der Hand. Dir ist nicht einmal ihr Name bekannt.« Piet runzelte die Stirn.

Enttäuscht rückte Paula von ihm ab. »Ich werde keine Nacht mehr ruhig schlafen können, wenn ich dem nicht nachgehe. Stell dir vor, es ist doch etwas passiert, und ich habe nichts, aber auch gar nichts unternommen! Ich will nicht weggucken, verstehst du das denn nicht?«

Piet stupste sie an. »Du bist ohnehin nicht umzustimmen. Dein Ruf als Sturkopf eilt dir schließlich voraus. Ich hätte es wissen müssen. Obwohl ich die Aktion für maßlos übertrieben halte.« Er stand auf. »Wo willst du es melden?«

»Ich dachte an die Wache im Friedhofsweg.«

»Die in der Innenstadt liegt aber viel näher«, gab Piet zu bedenken. »Was hältst du davon, wenn wir zuerst alle Treffpunkte der Obdachlosen abfahren und schauen, ob sie irgendwo ist? Finden wir sie nicht, begleite ich dich zum Friedhofsweg. Ist ja auch die größte Wache. Ob das von Vorteil ist, weiß ich nicht. Egal. Das Wetter ist gut, und noch eine kleine Tour durch die Stadt schadet ja nichts.«

Zunächst radelten sie zur Lambertikirche. Dort war es ruhig. Am Montagmorgen waren nur wenige Menschen in der Innenstadt.

»Hier ist niemand«, stellte Paula enttäuscht fest.

»Also auf zum Netto-Markt und zur Diakonie!« Piet setzte sich wieder aufs Rad. Nach zehn Minuten erreichten sie auch diese Punkte.

»Nichts, Piet. Es ist zwecklos.«

Piet aber gab nicht auf und sprach einen der Männer an. Der hielt den Kopf gesenkt und gab sich taub. Eine Frau suchte sofort das Weite.

»Das bringt wohl nichts.« Er zuckte enttäuscht mit den Schultern.

»Ob es sich lohnt, noch zur Brücke am Westfalendamm zu fahren?«, fragte Paula zweifelnd.

»Jep. Wir müssen erst alles versucht haben. Sonst brauchen wir nicht zur Polizei zu gehen.«

Sie radelten weiter, Piet schwitzte. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich an deiner Seite zu solch einem Sportprogramm komme«, sagte er grinsend, während sie durch das Gerichtsviertel und von dort zum Westfalendamm fuhren.

Die Hunte befand sich linker Hand, das Wasser lag in der Sonne glitzernd da. Schließlich erreichten sie den großen Platz unter der Autobahnbrücke. Über ihren Köpfen dröhnte der Verkehr. »Sieht nicht so aus, als wäre hier wer«, raunte Paula.

Sie umrundeten den dicken Pfeiler. Hier lagen nur halb leere Flaschen herum, ein Stück Butterbrotpapier tanzte in der Luft, als eine Böe es anhob. »Die sind nur nachts hier. Dann schlagen sie ihre Lager auf und rotten sich zusammen.« Paula kam ihr Vorhaben plötzlich so sinnlos vor. »Lass uns die Sache einfach vergessen«, sagte sie schließlich. »Ich glaube, es ist einfach so, wie es ist.

Piet sah sie zweifelnd an. »Sicher?«

»Sicher!«

Paula ging mit gesenktem Kopf zurück zum Rad und wollte nur noch nach Hause. Sie fuhren unterhalb der Autobahnbrücke weiter, am OLantis-Bad vorbei, bis sie am Marschweg ankamen. Unschlüssig stoppte Paula. Noch ein kurzes Stück nach links, und sie wäre zu Hause.

»Was ist?« Piet wäre ihr fast ins Hinterrad gefahren.

Paula deutete nach rechts in Richtung Haltestelle. »Ich seh nur kurz nach, ob ihre Sachen da noch liegen.«

Schon von Weitem sah sie, dass der Mantel und die Matte weg waren. »Sie hat alles geholt«, sagte sie zu sich. »Ganz sicher hat sie das! Es geht ihr gut.« Paula betrachtete das Plastikhäuschen eingehend. Sie näherte sich, umrundete die Haltestelle noch einmal, als ob sie dort etwas finden würde, was sie weiterbrachte. Es war genauso wie am Morgen. Im Gebüsch hing allerdings ein gelber, ziemlich schmutziger Schal, den sie vorhin nicht bemerkt hatte. »Ich weiß nicht«, sagte sie schließlich. »Und was ist, wenn doch jemand anders die Sachen geklaut hat? Hier stimmt was nicht, ich weiß nur nicht was!«

Piet schwieg. Er hatte sein Handy herausgeholt und tippte auf der Tastatur herum.

Als Paula die Umgebung in sich aufsog, um nichts, aber auch wirklich gar nichts zu verpassen, wurde sie das mulmige Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Sie blickte sich um, suchte nach den Augen, die sie in ihrem Rücken zu spüren glaubte. Doch auf dem rückwärtigen Weg pickten nur zwei Spatzen an einem Brötchen herum, und eine Saatkrähe beäugte ein paar Meter daneben eine achtlos weggeworfene Pommestüte.

Sie betrachtete noch einmal die Werbewand, an der die Frau gelehnt hatte. Darum herum lagen Zigarettenkippen auf dem grauen Pflaster, einer der orangefarbigen Sitze war seit gestern völlig zerkratzt. Hinter ihr knackte es, dann ertönte das Krächzen der Krähe. Sie fuhr herum, doch der große Vogel hatte lediglich die beiden Spatzen vom Brötchen verscheucht. Dennoch glaubte sie eine Bewegung hinter dem weißen Häuschen am Tor zum Stadion bemerkt zu haben. Doch diese Befürchtung bestätigte sich nicht. Hier gab es nichts zu sehen, nichts herauszufinden. Die Frau war weg, der Mantel und die Matte ebenfalls, wer auch immer beides geholt haben mochte. Paula schnappte sich ihr Rad. Nun war sie es, die die Krähe verjagte.

Piet schien erleichtert und steckte das Handy in die Jackentasche. »Sie hat die Sachen abgeholt. Alles ist gut!«

Paula nickte. »Wahrscheinlich hast du recht, aber …«

»Was aber?«

»Hast du nicht auch eben gedacht, dass da jemand war? Einer, der uns beobachtet hat?«

Piet seufzte: »Ich habe eben die Online-Nachrichten gecheckt, aber nichts gefunden. Lass uns zur Polizei gehen! Dann bist du beruhigt. So bringt das doch nichts! Du machst dich ja verrückt!« Piet zupfte Paula am Ärmel. »Nun komm. Ich begleite dich.«

Montagmittag

Marschwegstadion Oldenburg

Frieda sah das Mädchen mit einem Jungen auf die Haltestelle zuradeln. Sie suchen mich tatsächlich, dachte sie und drückte die Isomatte fest an sich. Noch war es still an der Haltestelle, man hatte den Mann also noch nicht gefunden, wohin auch immer sie ihn verschleppt hatten. Frieda wollte bloß weg von hier, aber jetzt war dieses Mädchen dort! Sie entfernte sich Schritt für Schritt rückwärts und versteckte sich so, dass sie nicht gesehen werden konnte. Im Augenblick erschien es ihr besser, unsichtbar zu sein.

Nun kauerte sie ein Stück entfernt und beobachtete die beiden. Das Mädchen suchte die Umgebung ab. Warum tat sie das? Wusste sie davon, was in der Nacht passiert war? Der Junge tippte auf der Handytastatur herum und wirkte unruhig. Und dann erkannte sie ihn … Er war doch … Frieda war sich nicht sicher. Sie drehte sich um, rannte los und verschwand in der nächsten Seitenstraße. Sie hetzte durch die Straßen, als wäre der Teufel hinter ihr her. Sie hätte alles lassen sollen. Es wäre besser für alle gewesen. Viel besser. Doch nun war es zu spät. Es gab kein Zurück. Der alte Mann war schon tot, sie wäre die Nächste. Es war kein zufälliger Anschlag gewesen. Sie hatten sie töten wollen. Nur sie allein. Und sie ahnte, warum.

Frieda flitzte in Richtung Innenstadt, dort konnte sie am besten untertauchen, dort bemerkte man sie nicht, wenn sie zwischen den Häuserzeilen saß. Zuvor aber brauchte sie eine Toilette, sie wollte sich waschen. Es wurde immer schwerer, eine öffentliche zu finden, denn die meisten kosteten Geld, das sie nicht hatte. Aber wenigstens hatte sie ihren Mantel und die Matte wieder.

Montagnachmittag

Polizeidienststelle am Friedhofsweg

Paula und Piet radelten über den Theaterwall in die Auguststraße, bis sie den Friedhofsweg erreicht hatten. »Von der Uni aus wäre es näher gewesen«, keuchte Piet, als sie vor dem großen Waschbetonbau mit den braunen Fenstern standen, einem mehrgeschossigen Gebäude mit dem Charme der Siebzigerjahre. Die Flotte an blau-silbernen Einsatzfahrzeugen auf dem Gelände um das Haus herum wirkte einschüchternd. Sie stellten die Räder ab und liefen die Rampe vor dem Gebäude hinauf. »Willkommen in der Polizeiinspektion Oldenburg/Ammerland«, zitierte Piet.

Sie klingelten an der Wache und wurden sofort eingelassen. Piet schob Paula rechts zu einer Tür, wo sie sich anmelden mussten. Die Frau am Tresen war sehr freundlich, was Paula sichtlich entspannte. »Was führt Sie zu uns?«

Paula druckste herum, sah sich suchend nach Piet um, der sich aber schon wieder auf den Flur verkrümelt hatte. Mühsam brachte sie ihr Anliegen vor.

»Sie vermissen also eine Frau?« Paula nickte.

»Nehmen Sie einfach draußen in der Sitzecke Platz. Sie werden dann aufgerufen. Kann aber etwas dauern. Heute steppt hier der Bär!«

Paula ging hinaus und betrachtete die bunten Türen, die vermutlich Vertrauen signalisieren sollten. Sie stand unschlüssig vor den Stühlen, war nicht sicher, ob sie sich setzen sollte oder nicht.

Piet wies auf einen der Stühle. »Wie beim Doc«, grinste er.

»Jetzt heißt es abwarten und keinen Tee trinken.« Er sah sich nach einem Kaffeeautomaten um, doch Fehlanzeige. Eine Blume befand sich zur Zierde in der Ecke, an der Wand hing ein Stadtplan von Oldenburg. Lediglich die vielen Flyer mit Hilfsangeboten, die auf einem Regal gegenüber ausgelegt waren, lockerten den tristen Warteraum auf. Immer wieder eilten Polizisten an ihnen vorbei, nickten mechanisch zum Gruß, ohne jedoch die Menschen auf den Fluren zu beachten. Ein schwacher Duft von frisch gebrühtem Kaffee waberte durch die lichtarmen Gänge, wenn sich eine der Türen öffnete. Die anderen, größtenteils armseligen Gestalten, die geduckt auf den Stühlen kauerten, schienen keinerlei Veränderung ihrer Umgebung zu registrieren. Kaum einer hob neugierig den Blick, als Paula und Piet sich dann doch dazusetzten.

»Paula, ich streiche die Segel«, flüsterte Piet, als sie eine Weile herumsaßen und Löcher in die Luft stierten. »Das hier ist nichts für mich.« Bei seinen Worten drehte er sich immer wieder unruhig um und taxierte die Umsitzenden.

»Was heißt das? Haust du ab?«

»Nein«, beruhigte Piet sie. »Ich gehe aber nicht mit rein. Besser, ich warte auf diesem mit Bohnerwachs getränkten Flur.« Er warf sich rücklings gegen die Stuhllehne und erhob beide Hände.

Paula konnte ihm nicht böse sein. Die Polizei war nicht jedermanns Sache. »Kein Ding, du Feigling, dann mache ich das eben allein«, beruhigte sie ihn. Der Raum leerte sich, bis nur noch Paula und Piet dort saßen. »Sag ich doch: wie beim Doc«, flüsterte Piet. Er stand auf und holte sich einen der Flyer und blätterte lustlos in ihm herum.

Nach etwa einer halben Stunde wurde Paula von einem großen bärtigen Mann abgeholt, der sie erst über den Flur, dann links in einen schmalen Raum führte. Anzeigenaufnahme 1, sagte das Schild an der grün-gelben Tür. Der Polizist wies sie mit einer einladenden Handbewegung in das Zimmer und schloss die Tür. Paula stand etwas hilflos herum, betrachtete das im unteren Teil mit Milchglasfolie abgeklebte Fenster. Ein bisschen hatte dieser Raum etwas von einem zu klein geratenen Klassenzimmer, allein schon wegen der Fenster mit der darunterliegenden Steckdosenleiste.

»Bitte setzen Sie sich doch!«, forderte der Polizist sie auf. Sein Lächeln war freundlich und wirkte nicht aufgesetzt, sodass Paula etwas Mut für ihr ungewöhnliches Anliegen fasste.

Sie atmete tief ein. Der Raum war stickig, ein offenes Fenster wäre eine Wohltat gewesen. Doch sie wollte niemanden verärgern und beschloss, sich auf ihre Fragen zu konzentrieren.