Wie ein fernes Lied - Micaela Jary - E-Book
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Wie ein fernes Lied E-Book

Micaela Jary

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Beschreibung

Hamburg,1939: Verzweifelt sieht Marga dem Zug hinterher, mit dem ihr Jugendfreund Michael in die Ferne reist. Seit sie denken kann, ist sie in den jüdischen Klarinettisten verliebt, zahllose Stunden verbrachte sie mit ihm in den Tanzlokalen der Hamburger Swingjugend. Obwohl seine Herkunft ihn zur Emigration nach Paris zwingt, ist Marga fest entschlossen, ihn wiederzusehen. Denn ihre Liebe ist wie ein Lied, das niemals verklingt. Doch in dessen süße Melodie mischen sich schon bald die kalten Klänge des Krieges ...

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Hören Sie hier in die schönsten Swingsongs des »Kammertanzorchesters Michael Jary« hinein:http://www.piper.de/buecher/wie-ein-fernes-lied-isbn-978-3-492-30613-3

 

ISBN 978-3-492-96965-9

August 2015

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015

Covergestaltung: Mediabureau Di Stefano, Berlin

Covermotiv: Peter Ogilvie

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Ganz still, zuweilen wie ein Traum Klingt in dir auf ein fernes Lied. Du weißt nicht, wie es plötzlich kam, du weißt nicht, was es von dir will. Und wie ein Traum ganz leis und still,

Hamburg Juni 1939

1

Die Menschen starrten sie an, als wäre sie nicht ganz bei Trost. Doch Marga tat nichts Unrechtes. Sie liebte nur den Jazz. Musik, die in die Beine ging und den Kopf zudröhnte, bis jeder Gedanke erfüllt war von den Tönen, und den Alltag ausschloss wie hinter einer schalldichten Tür.

Eine Konsequenz daraus war, dass sie sich bei besonderen Gelegenheiten wie Eleanor Powell in den Broadway-Melodie-Filmen kleidete. In dem für sie umgearbeiteten Frack ihres Vaters wirkte Margas schlanke Statur schmaler, fast jungenhaft. Das Schwarz des Anzugs bildete jedoch einen mondänen Kontrast zu dem blonden Haar, das ihr in weichen Wellen auf die Schultern fiel und wiederum ihre Weiblichkeit unterstrich. Darin unterschied sie sich von dem brünetten Hollywoodstar. Mit dem Stepptanz klappte es leider auch noch nicht so gut, dafür machte Marga großartige Fortschritte im Gesangsunterricht. Eines Tages, das hatte sich die fast Achtzehnjährige fest vorgenommen, würde sie auf einer Bühne stehen und zu den Schlagern ihres Idols swingen. Vielleicht sogar mit gefärbten Haaren.

An diesem Abend tanzte sie nicht auf einer Party oder in einem der einschlägigen Lokale. Zwischen den vielen Menschen am Hauptbahnhof kam sie sich vor wie ein Pfau. Dabei war sie nicht einmal allein in ihrer ausgefallenen Garderobe. Ringsum scharten sich Fans von Bobby Schwan und den Original Bobbys.

Die Swingheinis hatten sich dem Anlass entsprechend ebenfalls in Schale geworfen: weite Hosen mit Bügelfalte, lange, dandyhafte Jacketts, gelbe Krawatten, mit dem sogenannten kleinen Schellackknoten gebunden, dazu weiße Schals, auf dem Kopf einen Scötch und – obligatorisch bei jedem Wetter – einen Regenschirm über dem Arm. Die anderen Girls trugen weit schwingende Tanzkleider oder Hosen und waren stark geschminkt. Alle pilgerten zum Gleis des Nachtzugs nach Basel, um das berühmte Orchester auf dem Weg zu einem neuen Engagement zu geleiten.

Bobby Schwan und die Original Bobbys waren jedoch nicht Margas einziges Ziel. Sie marschierte mit weit ausholenden Schritten an der Spitze der etwa zwei Dutzend Jugendlichen und suchte nach einem ganz bestimmten, unendlich wichtigen jungen Mann. Am Nachmittag hatten sie sich bereits verabschiedet, aber Marga wollte ihm unbedingt noch einmal Adieu sagen, ihn noch einmal sehen. Das letzte Mal – vielleicht für immer. Obwohl er nur von einem Gastspiel in der Schweiz gesprochen hatte, ahnte sie, er würde die Gelegenheit nutzen und nicht ins Deutsche Reich zurückkehren.

Es war nicht so einfach, die Übersicht auf dem Bahnsteig zu behalten, denn trotz der Abendstunde herrschte ziemlich viel Betrieb. Zahllose Reisende drängten zu den Waggons, dazwischen hielten Leute den Strom auf, die sich zum Abschied umarmten. Schaffner kontrollierten seelenruhig Fahrkarten, als gäbe es kein Gedränge, Polizisten behielten all jene Fahrgäste im Auge, die mit kleinem Gepäck und auffällig bescheiden einzusteigen versuchten. Neben einem Wagen der zweiten Klasse stand eine Sackkarre im Weg, ein Dienstmann hob Taschen und Koffer von dort nach oben zum Abteilfenster, wo Hände sie ergriffen und hineinzogen.

Am Fuß eines Treppenaufgangs lungerten ein paar uniformierte Hitlerjungen, die sich den Anschein gaben, nicht grenzenlos neugierig zu sein.

Als die Swingfans betont lässig an den Gleichaltrigen vorbeischlenderten, skandierten die strammen HJler: »Wahnsinn in Noten, Tanz der Idioten!« Der Reim endete in albernem Gelächter.

Marga stockte der Atem.

Nicht auszudenken, wenn sich die anderen provozieren ließen und es mitten auf dem Bahnsteig zu einem Gerangel oder gar einer Prügelei kam. Natürlich lauerten die Knaben in den khakifarbenen Blousons, mit ihren schwarzen Halstüchern und den Kniebundhosen den Boys gelegentlich auf. Im Schatten von Hauseingängen, Kanalbrücken oder Parkanlagen bezog mal die eine, mal die andere Gruppe Dresche. Aber an einem Ort wie diesem, umgeben von unbeteiligten Frauen und Männern, womöglich vielen Ausländern, deren Gesinnung sich auf den ersten Blick nicht feststellen ließ – hier war eine schlagkräftige Auseinandersetzung unwahrscheinlich. Dennoch fürchtete Marga sich für einen Moment. Wie leicht könnten während eines Tumults die Musiker abreisen, bevor sie Michael gefunden hatte.

Sie entdeckte ihn und die anderen Original Bobbys an einer Waggontür. Die Musiker gruppierten sich mit ihrem Orchesterleiter zu einem Abschiedsfoto, einige schon im Zug, manche auf den Trittstufen oder noch auf dem Bahnsteig. Blitzlichtapparate wurden über Kopf gehalten, zischten und flammten kurz auf. Ein Reporter gestikulierte wild, woraufhin die Mitglieder des Tanzorchesters ihre Positionen oder Haltung etwas änderten. Dann grinsten alle synchron in die Kameras. Abschiedsfreude für die Nachtausgabe oder die Morgenzeitungen.

Michael Friedländer stand ganz links, jünger als seine Gefährten, mittelgroß, ein wenig schmächtig wirkend in dem für ihn viel zu weiten hellen Sommeranzug. Jeder der Original Bobbys trug diese Art Garderobe, als stünden sie bereits auf der Bühne. Marga wusste um das kurzfristige Engagement und dass in der Eile keine passende Kleidung für Michael herangeschafft werden konnte, er musste sich mit eigentlich ausrangiertem Ersatz begnügen. Dennoch fand sie ihn attraktiv wie nie. Seine braunen Locken fielen auf den Hemdkragen, den weißen Panamahut hatte er verwegen in den Nacken geschoben.

Aber vor allem war es seine Ausstrahlung. Er wirkte unendlich zufrieden, ein Lächeln auf den weichen, für einen Mann überraschend vollen Lippen. Wann hatte sie ihn jemals so glücklich gesehen? Unwillkürlich verlangsamte sie den Schritt, um jedes Detail seines Anblicks in sich aufzusaugen wie eine Biene den Nektar.

»Was für ein Wirbel um diese Ausländer«, schimpfte jemand irgendwo in der Menge.

»Spielen Neger- und Judenmusik und werden behandelt wie Hans Albers oder Johannes Heesters«, pöbelte eine andere Stimme.

Marga würdigte diese Leute keines Blickes. Langsam drängte sie sich vorwärts.

Mit den Reisenden, Pressevertretern und Bahnangestellten hatten sich inzwischen auch die Swingheinis und ihre Girls um Bobby Schwan und die Original Bobbys versammelt. Es schien, als bildeten die Fans einen Ring um die Bandmitglieder. Ein Durchkommen war fast unmöglich. Hände wurden ausgestreckt, letzte Autogrammwünsche hastig hervorgestoßen.

Marga fühlte sich wie eingekesselt. Sie benutzte ihre Ellenbogen, stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte hochzuspringen, um über die Köpfe ihrer Freunde zu spähen. Sie rief nach Michael, doch bei dem herrschenden Geräuschpegel hörte er sie offenbar nicht. Ratlos und verzweifelt ließ sie schließlich die Schultern hängen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Sie war so mit sich selbst beschäftigt, dass sie im ersten Moment nicht wahrnahm, wie die Menge in Bewegung geriet. Unvermittelt stand Michael vor ihr und sie versuchte erst gar nicht herauszufinden, wie er sich zu ihr durchgekämpft hatte. Alles einerlei.

»Was machst du hier?«, fragte er. Seine Stimme klang weniger erfreut, als sie erhofft hatte.

»Ich wollte … ähmmm … ich wollte sehen, wie du abreist.« Sie schluckte, weil sie spürte, wie sich eine Träne aus ihren Augen stahl.

Marga wollte sich abwenden, da wischte Michaels Daumenballen bereits zärtlich über ihre Wange.

»Nicht weinen. Bitte nicht weinen. Du solltest dich mit mir freuen. Ein Engagement wie mit den Bobbys werde ich so schnell nicht wieder bekommen.«

»Ich weiß.« Sie nestelte an dem schmalen Revers ihrer taillenkurzen Jacke. Dann verschränkte sie die Hände hinter dem Rücken und zerrte an den Schwalbenschwänzen. Der Wunsch, sich Michael an den Hals zu werfen, wurde fast übermächtig. »Ich weiß«, wiederholte sie. »Das weiß ich ja alles, aber … aber …« Die Worte blieben in dem Kloß in ihrer Kehle stecken.

Sie konnte sich ein Leben ohne Michael Friedländer nicht vorstellen. Er war der Begleiter ihrer Kindertage, ihr Beschützer. Sie himmelte den drei Jahre älteren Sohn ihrer Nachbarn an, seit sie denken konnte. Mit seiner besonnenen Art hatte er sie erobert, als sie noch ein ganz kleines Mädchen war. Er ersetzte ihren älteren Bruder, der an Kinderlähmung gestorben war und an den sie sich kaum erinnerte. Michael stützte sie beim Eislaufen, gab ihr Tennisunterricht, half ihr geduldig bei den Mathematikhausaufgaben, hörte ihren ersten Versuchen am Klavier zu, tanzte mit ihr auf dem Abschlussball der Tanzstunde. Es gab ziemlich wenig, das er ihr nicht beigebracht hatte. Sie waren wie eine Einheit. Und dabei spielte es keine Rolle, dass sein Vater ein Kaufmann jüdischer Herkunft war.

Nachdem Michael beschlossen hatte, seine musikalische Begabung zu nutzen und Klarinettist zu werden, nahm sie Gesangs- und Tanzunterricht. Eines Tages, so hoffte Marga, würden sie und Michael gemeinsam auftreten. Und was bei dieser Gelegenheit noch mit ihnen geschehen könnte, wagte sie nur in stillen Nächten zu planen und bei Licht nicht einmal zu denken. Nicht nur, weil sie noch so jung war, sondern auch, weil sie nicht die geringste Ahnung von seinen Gefühlen besaß. Sie waren Nachbarn, Freunde, verbunden in der Begeisterung für den Jazz, über so Persönliches wie Liebe hatten sie nie gesprochen. Und wahrscheinlich würden sie dies auch nie mehr tun. Denn nun ging Michael fort. Aus der Traum.

»Außerdem ist es ein großes Glück, dass man mir einen Pass und das Visum für die Schweiz gegeben hat«, hörte sie ihn vernünftig argumentieren.

Auf dem Weg zum Bahnhof hatte sich Marga eine Rede ausgedacht. Sie wollte sich verführerisch geben wie eine Filmdiva und gleichzeitig zurückhaltend sein. Doch nichts von dem fiel ihr in diesem Moment mehr ein.

»Ich wünschte, du könntest mich mitnehmen«, platzte sie heraus. Dabei sah sie ihn mit dem flehenden Blick eines kleinen Hundes an, der um die Aufmerksamkeit seines Herrchens bettelte.

»Mach mir den Abschied doch bitte nicht so schwer!« Er nahm den Hut ab, starrte mit gequälter Miene auf seine Hände, in denen er die Kopfbedeckung nervös drehte. »Ich vermisse dich ja jetzt schon.«

»Du wirst mich vergessen. Wenn du erst mit den Bobbys in den großen Tanzpalästen spielst, denkst du bestimmt nicht mehr an mich. Dann lernst du andere Mädchen kennen und …«

Weiter kam sie nicht, denn die Stimme des Schaffners dröhnte aus einem Megafon: »Alles einsteigen! Der Zug fährt in wenigen Minuten ab.«

Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie sich die Gepäckwagen in plötzlich überraschender Eile leerten und das Gedränge abebbte. Die ersten Zugtüren wurden geschlossen. Marga hörte die dumpfen Geräusche, als wären es Geschosse, die ihre Seele trafen. Die Zeit lief ihr davon.

»Michael, wenn du noch mit uns reisen willst, musst du dich beeilen, oder!«, rief eine Männerstimme mit einem deutlichen deutschschweizerischen Akzent aus einem nahen Abteilfenster. »Sag dem Meitli Adieu und chum.«

Sie sah Michael in die Augen, hielt seinen Blick fest. »Versprichst du mir, dass wir uns wiedersehen?«

Michael zögerte.

Warum sagte er nichts?

Einen oder zwei Atemzüge lang fürchtete Marga, er werde sich umdrehen und weglaufen. Vielleicht war sie zu weit gegangen, hatte die Grenze ihrer Kameradschaft überschritten. Womöglich hatte sie ihn falsch verstanden. Es konnte ja sein, dass er froh war, endlich nur noch für seine Musik leben zu können und nicht mehr das Mädchen am Halse zu haben, das sich als Klette entpuppte. Er hatte ihr schließlich niemals Hoffnungen gemacht. Sie war jung und dumm und ohne Erfahrung, da kam ein Irrtum vor.

Michael nahm ihr Gesicht in seine Hände, den Hut noch zwischen den Fingern.

»Wir werden uns wiedersehen«, murmelte er leise, sodass sie Mühe hatte, ihn zu verstehen. »Das verspreche ich dir.«

Dann fügte er in einem Ton hinzu, als sei er selbst erstaunt über die Worte, die ihm offenbar überraschend leicht über die Lippen flossen: »Marga, ich liebe dich.«

Glückseligkeit ergriff sie. Staunen wechselte sich mit Wonne ab. Marga meinte, ein überströmender Brunnen aus Gefühlen zu sein.

Sie spürte mehr, als dass sie sah, wie sich sein Gesicht zu ihr senkte und sein Mund zart den ihren berührte. Ihr Körper drängte sich wie selbstverständlich an ihn. Sie verlangte nach mehr, wünschte, er möge sie verschlingen. Für einen kurzen Moment vergaß sie, wo sie sich befanden. Sie schwamm auf einer Woge der Leidenschaft, die Wellen der Erfüllung schwappten über ihr zusammen.

»Michael! Chum!«

Abrupt löste er sich von ihr, trat einen Schritt zurück, setzte den Hut auf.

»Ich habe dich schon so lange lieb, das wird sich nie ändern, meine Marga«, rief er ihr atemlos zu, während er sich rückwärts in Bewegung setzte.

Zuerst schien es Marga, als verhülle dichter Nebel ihre Sicht. Doch dann klarte sich die Szene auf. Michael rannte jetzt zu der einzigen noch offenen Zugtür, die ein anderer Musiker für ihn aufhielt. Aus dem Abteilfenster daneben steckten die Bobbys ihre Köpfe heraus, winkten und warfen neugierige Blicke zu dem Mädchen, das ihr neues Bandmitglied zurückließ.

Die Swingheinis hatten eine Gruppe vor dem Waggon gebildet, von den Hitlerjungen aus einiger Entfernung argwöhnisch beobachtet. Ein paar Fremde standen verstreut auf dem Bahnsteig, hoben ihr Taschentuch zum Abschiednehmen, manche den Arm zum Hitlergruß. Die Schutzmänner fahndeten offenbar anderswo nach Reisenden ohne gültige Papiere oder mit unerlaubtem Gepäck, ein Kofferträger lehnte an seiner Sackkarre und zündete sich eine Feierabendzigarette an, die Reporter waren in ihre Redaktionen geeilt.

Der Schaffner hielt die Kelle hoch. Kurz darauf schrillte ein Pfiff. Langsam zog die Lokomotive an.

»Swing heil!«, riefen die Fans von Bobby Schwan und den Original Bobbys im Chor.

Ohne darüber nachzudenken, lief Marga neben dem Zug her. Eingehüllt in eine Wolke aus Dampf und das Wummern der Maschinen, versuchte sie, mit der Eisenbahn Schritt zu halten. Der Fahrtwind fuhr in ihre Haare und schlug die Frackschöße hoch.

Michael verharrte auf der Trittstufe in der offenen Zugtür.

»Ich werde auf dich warten!«, rief sie ihm zu.

Die Bahn nahm Fahrt auf.

Seine Stimme wehte verzerrt zu ihr her: »Ich schreibe dir.« Dann trat er zurück auf die Plattform, die Tür wurde von innen zugezogen.

Keuchend blieb sie stehen, beugte sich vor, um ihre Atmung zu beruhigen.

Es war nicht allein der Spurt. Die Aufregung tat ein Übriges. Die anfängliche Unsicherheit, der erste Kuss, das Wissen um seine Liebe. Marga hatte das Gefühl, endlich angekommen zu sein. Gleichzeitig fühlte sie sich verloren wie nie zuvor.

Marga konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten.

Ich werde es schaffen!, dachte sie trotzig. Ich werde einen Weg finden, ihn wiederzusehen. Irgendwann sind wir wieder zusammen – und dann sind wir ein richtiges Liebespaar!

Als sie langsam an den Hitlerjungen vorbei zum Treppenaufgang trottete, feixten die Gleichaltrigen in ihren Uniformen: »Man möchte weinen, sie liebt nur einen mit Gummibeinen.«

Marga schenkte ihnen keine Beachtung.

Paris Frühling 1999

2

Die Musik plätscherte dahin wie ein unscheinbar im Schatten von Bäumen gelegener Bach. Seicht, leise, unaufdringlich. Easy Listening. Hintergrundmusik, wie sie in Supermärkten vom Band lief. Meistens nahmen die Kunden nur eine Geräuschkulisse wahr, mehr nicht. Im Hotel Concorde La Fayette war dies nicht anders. Die Gäste schwirrten durch das Foyer, ohne auf die gefälligen Melodien zu achten. Im Unterschied zu den Casino- oder Franprix-Läden wurde hier jedoch live gespielt. Andrea Cramer saß am Flügel in der Lobby und fand ihre von der Hoteldirektion gewünschte Darbietung selbst dermaßen langweilig, dass sie nur mühsam ein Gähnen unterdrückte.

Dennoch ärgerte es die junge Pianistin, wie sie hier praktisch nicht einmal zur Dekoration diente. Meist wurde Zierrat wenigstens flüchtig beachtet. Sie schien jedoch unsichtbar zu sein. Die Leute, die an ihr vorbeiströmten, warfen ihr kaum einen Blick zu. In einem der Konferenzräume des Hotels fand ein internationaler Kongress statt und die Teilnehmer interessierten sich offensichtlich keine Spur für wohlklingende Schlager und deren Interpretin.

Nur ein einziger Gast hob sich deutlich ab. Der alte Herr hatte es sich in einem der modernen neonfarbenen Sessel nahe ihrem Instrument bequem gemacht. Bereits gestern war er hier gewesen. Aufrecht sitzend, die Hände auf dem Knauf des Spazierstocks zwischen seinen Knien gefaltet, hatte er eine Weile zugehört, bevor er sich erhob und seines Wegs ging. Heute war er zur selben Zeit gekommen, saß genauso da und lauschte ihrem Klavierspiel mit einer Hingabe, die Andrea gänzlich unangemessen und verwirrend fand.

Das Concorde La Fayette war ein vierunddreißig Stockwerke hoher moderner Hotelkomplex an der Porte Maillot. Französischen Charme suchte man hier vergebens. Ebenso Gemütlichkeit. Dafür gab es viel Funktionalität, erstklassige Drinks und einen atemberaubenden Panoramablick über Paris für die Besucher der Bar. Bei Geschäftsreisenden ein beliebtes Ziel, Touristen im Seniorenalter fanden sich hier jedoch eher selten ein. Allein deshalb fiel Andreas einsamer Zuhörer auf. Ansonsten wirkte er mit seinem dunklen Anzug und ebensolchen Mantel sowie dem weißen Schal um den Hals durchaus wie ein Vertreter der üblichen Businessklientel, wäre er nicht jenseits der achtzig.

Während sie einen amerikanischen Evergreen spielte, überlegte sie, ob sie den alten Herrn ansprechen sollte. Vielleicht hatte er ja einen bestimmten Musikwunsch, den sie ihm gern erfüllen wollte. Eine Erinnerung an seine Jugend, womöglich an eine bestimmte Frau, eine unerfüllte Liebe. Er strahlte Würde aus, sogar eine unbezähmbare Energie. Diese wurde nicht einmal von der Zartheit überdeckt, die Menschen seines Alters häufig innewohnte. Sicher war er ein interessanter Mann, der viel zu erzählen hatte, wenn man ihn ließ. War er der Ödnis eines Seniorenheims in das Vier-Sterne-Hotel entflohen? Langweilige Musik gegen einen trostlosen Alltag und beides verbunden mit endlosem Schweigen?

Obwohl selbst erst siebenundzwanzig Jahre alt, kannte sich Andrea mit den Neigungen alter Leute aus. Sie war bei ihren Großeltern in Baden-Baden aufgewachsen, einer Stadt mit einem höheren Altersdurchschnitt als anderswo. Ihre unstete, flatterhafte Mutter hatte sich frühzeitig aus dem Staub gemacht, zu Barbara hatte sie auch als Erwachsene nur ein loses Verhältnis; von ihrem Vater wusste Andrea nicht einmal den Namen.

Im Grunde wollte sie auch nichts über ihren Erzeuger erfahren, da die Wahrheit möglicherweise die Illusion zerstörte, die sie sich um seine Person aufgebaut hatte. Andrea ging davon aus, dass er einer jener Rockmusiker war, denen Barbara einst als Groupie nachreiste, um der Enge ihres Elternhauses zu entkommen. Von ihrem Vater hatte Andrea das musikalische Talent geerbt. Davon war sie überzeugt. Ihre bürgerlichen Großeltern kamen dafür nicht infrage, und die künstlerische Begabung ihrer Mutter beschränkte sich auf Ölbilder und Töpferwaren von zweifelhafter Qualität.

Es wäre ernüchternd, wenn Andrea herausfinden müsste, dass diese Version ihrer Geschichte nicht der Wahrheit entsprach und die damalige Affäre ihrer Mutter ein harmloser Durchschnittstyp war. Ein berühmter Rockstar, ständig abwesend, weil er sich auf Welttournee befand, das hatte schon in der Schule funktioniert, wenn ihre Klassenkameraden nach Andreas Vater fragten – und es ergab für sie nach wie vor Sinn. Es erklärte ihre ungewöhnliche Musikalität, ihren Berufswunsch Pianistin, der ein Herzensanliegen und nicht mehr und nicht weniger als ein Lebensziel war.

Letztlich erklärte sich daraus auch ihr Musikstudium zunächst in Frankfurt am Main und nun in Paris. Die Idee, Carlos Santana oder ein Mitglied seiner großartigen Band könnte ihr Erzeuger sein, gefiel ihr am besten. Die Musikrichtung stimmte in etwa, auch wenn Andrea nicht Gitarre spielte. Sie wollte ihren Weg nicht im Bereich der Klassik machen, sondern als Jazzpianistin, am liebsten mit einem präparierten Klavier gemeinsam mit Perkussionskünstlern. Doch damit erreichte sie weder ein großes Publikum noch die Zustimmung ihrer Professoren, solange sie nicht mindestens zum Jazz Festival nach Montreux eingeladen wurde, wovon leider noch keine Rede sein konnte. Da die eigene steile Karriere also noch auf sich warten ließ, musste sie sich ihren Lebensunterhalt auch in der Lobby des Hotels Concorde La Fayette erspielen – vor einem alten Mann als einzigem Zuhörer.

Sie nahm sich vor, nach dem nächsten Lied eine kurze Pause einzulegen und den Herrn anzusprechen.

Doch während sie etwas mehr Enthusiasmus in die letzten Takte legte, erhob er sich. Er stützte sich mit der einen Hand auf seinen Stock, die andere zog den Schal fest. Nach einem langen Innehalten wandte er sich um.

Er verschwand aus ihrem Blickfeld, ohne dass sie etwas dagegen unternehmen konnte. Ihr Spiel abzubrechen und ihm nachzulaufen war unmöglich. Wie sollte sie sich erklären? Dem alten Mann gegenüber und – viel schlimmer – dem Chefportier, der von der Rezeption aus ständig ein wachsames Auge auf sie hatte.

Ein Hauch von Enttäuschung legte sich über Andrea.

Morgen, dachte sie. Wenn er morgen wieder hier ist, rede ich mit ihm.

Dann fiel ihr ein, dass morgen Sonntag war und sie nicht in diesem Hotel, sondern zum Brunch im Le Fumoir spielte, einem Lokal im 1. Arrondissement. Seit Wochen freute sie sich auf dieses Engagement, weil sie dort mit ein paar Kommilitoninnen ein jazziges Repertoire bringen durfte.

Andrea fühlte ein gewisses Bedauern beim Gedanken daran, dass der alte Mann vielleicht morgen vergeblich hier auf sie wartete. Danach würde er sicher nicht mehr auftauchen. Die Vorstellung, ihn nicht wiederzusehen und nichts über ihn zu erfahren, hinterließ eine eigentümliche Leere.

Hamburg Februar 1940

3

Sängerin für Tanzkapelle gesucht!

Wegen eines Krankheitsfalls braucht

der bekannte Orchesterchef Harry

Alsen kurzfristig Ersatz. Gesucht

wird eine Solistin mit fundierter

musikalischer Ausbildung und

Erfahrung in der Interpretation

von Schlagern. Bewerberinnen mögen

sich am Dienstag um 13 Uhr im Café

Heinze am Millerntorplatz melden.

Marga hatte noch nichts von dem angeblich bekannten Orchesterchef Harry Alsen gehört, auch nicht von seiner Tanzkapelle. Aber das Café Heinze kannte sie als erstklassige Adresse. Dort war Teddy Stauffer aufgetreten, spielten die Bands von Heinz Wehner und Arne Hülphers.

Die Anzeige in der Hamburger Neuesten Zeitung hätte sie allerdings auch dann elektrisiert, wenn das Vorsingen in einem weniger renommierten Lokal angesetzt worden wäre. Sängerinnen wurden nicht oft per Inserat gesucht. Das war ein Wink des Schicksals. Der Anfang auf ihrem Weg zu Michael.

Selbstbewusst beschloss Marga, den Termin wahrzunehmen. Sie würde alle anderen Bewerberinnen ausstechen. Ihre Stimme verbesserte sich immer mehr und sie war auf dem Laufenden in Sachen Unterhaltungsmusik, da sie regelmäßig das Wunschkonzert im Reichsrundfunk anhörte und heimlich Radio Beromünster einschaltete, wo es die neuesten Hits aus England und Amerika gab. Das war zwar seit Beginn des Krieges untersagt, aber keiner ihrer Freunde hielt sich an das Verbot. Außerdem ließ es sich zu den Liedern von Cole Porter, George Gershwin oder Glenn Miller besser steppen. Ja, auch als Tänzerin hatte sie Fortschritte gemacht, seit Michael nicht mehr da war. Damit war sie gewiss im Vorteil gegenüber anderen jungen Frauen, selbst wenn die ganz gut singen konnten.

Das erhoffte Wiedersehen mit Michael Friedländer beherrschte unverändert ihre Gedanken. Dabei hatte er ihr nur zu Beginn seines Aufenthalts in der Schweiz geschrieben. Einige Ansichtskarten zeigten zufriedene Kühe vor einer malerischen Alpenkulisse und Ausflugsboote auf dem Zürich- und dem Vierwaldstättersee, die sich nur unwesentlich von den Alsterdampfern unterschieden. In den wenigen Briefen berichtete er von seinen Auftritten mit den Bobbys, begeisterten Zuhörern und weiblichen Fans, die sich plötzlich um ihn scharten.

Keine drei Monate nach Michaels Abreise fegte der Polenfeldzug mit der Wucht eines plötzlich einsetzenden Sturms nicht nur den Frieden hinweg, sondern auch Margas Korrespondenz mit dem fernen Geliebten. Der Kontakt brach ab, ihre Briefe blieben unbeantwortet. Sie erhielt keine Nachrichten mehr von ihm, schließlich kamen die von ihr sorgfältig beschrifteten Kuverts mit diversen amtlichen Stempeln zurück. Anscheinend blieb ihr nichts anderes übrig, als persönlich nach dem Rechten zu sehen. Über kurz oder lang würde es wieder möglich sein zu reisen. Davon war Marga überzeugt. Alle Welt redete von einem raschen Ende der Kampfhandlungen, das Wort »Blitzkrieg« gehörte zu den beliebtesten Vokabeln. Bis sich die Lage stabilisiert hatte, würde sie einen Weg zu Michael finden. Und wenn sie erst einmal irgendwo öffentlich mit einer Band auftreten durfte, war eine Tournee nur eine Frage der Zeit. Ein Gastspiel in der Schweiz stand dann sicher auch bald auf dem Terminplan. Dafür musste sie jedoch überhaupt erst einmal Sängerin werden.

Ihre Vorsätze wurden von Alltagsproblemen überschattet. Sie schwänzte die letzte Unterrichtsstunde am Gymnasium, damit sie sich bei Harry Alsen bewerben konnte. Das bedeutete, dass sie in Faltenrock und Bluse unterwegs war, denn in Hosen durfte sie selbst bei den derzeit herrschenden Minusgraden nicht vor ihren Lehrern erscheinen. Sie hatte ja wenigstens den Frack, für ihre Freundinnen war die Kleiderfrage bei anderer Gelegenheit inzwischen nicht ganz unproblematisch, da seit Kriegsbeginn Bezugsscheine vergeben wurden, die den Einkauf regelten. Aber den Anzug konnte sie unmöglich in ihre Schultasche stopfen, um sich irgendwo umzuziehen. Schon die Steppschuhe passten kaum hinein.

Und als Abiturientin war sie natürlich ungeschminkt!

Auch hätten ihre Haare mal wieder in Form geschnitten werden müssen. Aber seit Kriegsbeginn waren viele kleine Handwerksbetriebe geschlossen, weil die Männer bei der Wehrmacht dienten. Auch ihr Friseur hatte Kamm und Schere gegen Feldspaten und Sturmgewehr eingetauscht und seinen Salon »für den Sieg« zugesperrt, wie ein Schild an der Ladentür verkündete.

Als Marga am Dienstagmittag mit der U-Bahn nach St. Pauli fuhr und die anderen Fahrgäste beobachtete, ging ihr durch den Kopf, dass die Schließung der kleinen Geschäfte für sie eigentlich das berührendste Zeichen für den Kriegszustand war. Es sorgte für eine gewisse Leere in dem ansonsten unverändert betriebsamen Einerlei. Das Fehlen junger Männer im Stadtbild fiel natürlich auch auf, sie wusste von den älteren Brüdern ihrer gleichaltrigen Freunde und Klassenkameradinnen, die im Feld waren. Trotzdem griff der Krieg nicht stark in ihren Alltag ein. Selbst die Lebensmittelrationierungen machten sich nicht sonderlich bemerkbar, denn zu essen gab es genug. Jedenfalls in einem wohlhabenden, großbürgerlichen Haushalt wie dem des Germanistikprofessors Maibach. Für Margas Vater, einen anerkannten Goethe-Forscher, bedeuteten ein schmackhaftes Dinner und ein gutes Buch die größten Annehmlichkeiten. An beidem litt er keine Not, zumal in diesem Jahr eine Neuausgabe des Werks von Johann Wolfgang von Goethe angekündigt war.

Leider war es seit Kriegsbeginn einfacher, Bücher mit unterschiedlichstem literarischem Anspruch zu kaufen als Schallplatten. Das traf Marga hart. Seit vorigem September gab es keine Schallplatten aus dem Feindesland Großbritannien mehr im Handel, und wer in Hamburgs größtem Musikhaus – bei Detmering – eine in den USA produzierte Schellack kaufen wollte, musste dafür zwei alte Aufnahmen zum Einschmelzen mitbringen. Solche Vorkehrungen sollten dem Reich einen Rohstoffengpass ersparen, betrafen allerdings auch einheimische Walzerklänge und Marschmusik. Für Marga bedeutete dies, sich von Platten trennen zu müssen, an denen sie mit ganzem Herzen hing, denn in fast jeder Rille verbarg sich eine Erinnerung an Michael.

Das Café Heinze, ein modernes, niedriges Gebäude vor der alten, kuppelartigen Volksoper, bildete das Tor zur Reeperbahn. Im Gegensatz zu seinem Namen war es kein Kaffeehaus, sondern ein Tanzpalast. Eine kirchturmhohe Lichtsäule, die wie ein riesiger Schornstein mit greller Beleuchtung aus dem Dach ragte, machte in der Vorkriegszeit beeindruckend Werbung für das Etablissement. An einem kalten Mittag wie diesem waren die Lampen jedoch abgeschaltet, ein eisiger Wind fegte um das rund gebaute Eckhaus. Um diese Uhrzeit waren in der Gegend der Nachtschwärmer kaum Passanten unterwegs, ein Schutzmann stand neben einer Straßenlaterne und überblickte die erstaunlich stille Kreuzung, der Verkehr war mehr als übersichtlich.

Leichter Schneefall setzte ein, Flocken fingen sich unter der Überdachung zum Eingang des Lokals. Obwohl es bitterkalt und ziemlich zugig war, blieb Marga vor der Doppeltür stehen. Von dem Portier, der hier jeden Abend seinen Dienst verrichtete, war noch nichts zu sehen. Deshalb wandte sie sich zu einem der Schaukästen, in dem ein Plakat das Konzert von Tangokönig Juan Llossas und seiner Solisten ankündigte.

Im Glas spiegelte sich ihr Gesicht, hübsch umrahmt von einer dunkelblauen Mütze, unter der ihre Zöpfe hervorlugten. Sie sah aus wie ein braves deutsches Schulmädel. Nicht wie ein Revuestar unmittelbar vor Beginn seiner internationalen Karriere. Eleanor Powell war weit weg. Unglücklich streckte sie sich die Zunge heraus.

Es war zwar schon reichlich spät, aber Marga nahm sich trotzdem die Zeit, in ihrer Tasche nach dem Lippenstift zu suchen, den sie heute Morgen hastig zwischen Füllfederhalter und Bleistifte geschoben hatte. Ein bisschen Schminke musste sein.

Sorgfältig malte sie ihren Mund knallrot aus, den Michael so zärtlich geküsst hatte …

Ein Stoß in ihren Rücken, ein Schubs. Der Lippenstift flog ihr in hohem Bogen aus der Hand und landete auf dem vereisten Straßenmatsch, auf den eine feine Schicht Neuschnee gepudert war. Zuvor hatte die Farbe einen breiten Streifen in Richtung Nase hinterlassen. In einer Mischung aus Erschrecken und Empörung kreischte Marga auf.

»Können Sie Ihrem Gewerbe nicht vor einem einschlägigen Etablissement nachgehen?«, herrschte sie eine Männerstimme an.

Jemand drängte sich an ihr vorbei zum Eingang. Unter einem langen dunklen Mantel mit hochgestelltem Kragen, einem wollweißen Schal und einem tief ins Gesicht gezogenen grauen Hut verbarg sich ein hochgewachsener Mann.

Die Beleidigung, die er ausgestoßen hatte, war ungeheuerlich! Der Kerl hielt sie für eine Bordsteinschwalbe!

Marga schnappte nach Luft. »Können Sie nicht aufpassen?« Ihr wütender Kommentar kam nur erstickt heraus, weil es ihr den Atem verschlug. Sie war nicht nur über seine Anmaßung erbost, sondern auch über den ruinierten Lippenstift. Leider klang sie nicht im Entferntesten so, wie sie sich fühlte.

»Tun Sie mir einen Gefallen und verschwinden Sie!« Die Hand in einem schwarzen Lederhandschuh lag bereits auf der Türklinke, da drehte er sich noch einmal um. »Manche Männer mögen ja auf dieses Schulmädchen-Getue stehen, aber vor diesem Lokal hat das nichts zu suchen.«

Sprachlos vor Entrüstung starrte Marga auf den Rücken, der im Türspalt verschwand.

Er hielt sie wirklich für eine Hure!

Was bildete sich dieser Kerl ein? War das etwa der Direktor des Café Heinze? Ein solches Benehmen brauchte sie sich nicht bieten zu lassen!

Einen Moment lang war sie versucht, nach Hause zu gehen. Doch dann wurde ihr wieder bewusst, warum sie überhaupt hierhergekommen war. Es ging um ihre Zukunft als Sängerin und um ein Wiedersehen mit Michael. Das genügte, um über den üblen Vorfall hinwegzusehen.

Marga bückte sich nach ihrem abgebrochenen Lippenstift, an dessen Fett der Straßenschmutz klebte. Seufzend schob sie die Hülle darüber und steckte ihn ein. Dann musste sie eben ohne Make-up brillieren.

Abends gehörte das Café Heinze zu den exklusivsten und bestbesuchten Tanzlokalen Hamburgs. Zur Mittagszeit war es die Domäne der Putzfrauen und Handwerker. Als Marga durch das Foyer marschierte, mischte sich das Dröhnen eines Bohrgeräts irgendwo im Gebäude mit schmissiger Klaviermusik und einer herrischen Frauenstimme, die einen Schlager vortrug, als befände sie sich ohne Mikrofon in einer Arena. Hinter der Tür zum Tanzsaal wechselte ein vierschrötiger Mann in blauer Arbeitermontur unbeeindruckt eine Glühbirne an der Beleuchtung der Treppe aus, die zum Barbereich hinaufführte und von signierten Fotografien verschiedener Starmusiker geschmückt wurde. Marga musste über den Wassereimer der Reinigungskraft steigen, die den Boden wischte. Die Frau stützte sich mit beiden Händen auf ihren Besen und beobachtete interessiert das Geschehen im Saal.

An einem der mit Telefonen für abendliche Verabredungen ausgestatteten Tische hatte ein junger Mann eine Art Büro aufgebaut und notierte sich gerade etwas in eine Kladde. In seiner Nähe standen etwa eine Handvoll junger Frauen, die sich ihrer Aufmachung nach als Sängerin bewarben: Perfekt onduliertes Haar gehörte ebenso dazu wie modische Kleidung, keine Bühnengarderobe, aber auch nichts, was eine Dame zum Einkaufen oder im Büro trug – oder in der Schule.

Marga sah an sich hinunter, von der weißen Bluse unter der dunkelblauen Strickjacke zu dem dunkelblauen Faltenrock und den dicken Wollstrümpfen bis zu den praktischen Winterschuhen mit dicker Kreppsohle. Zumindest optisch würde sie wenig Eindruck machen.

Die Sängerin auf der Bühne warf ihr kupferrotes Haar in den Nacken und schmetterte: »Kann denn Liebe Sünde sein?«

Unwillkürlich fuhren Margas Hände nach oben, um ihre Zöpfe zu lösen. Dabei fiel ihr die Mütze zu Boden, die sie beim Betreten des Tanzcafés abgenommen hatte. Sie bückte sich rasch danach und klemmte sie sich unter den Arm.

»Aus. Aus. Aus.« Eine Männerstimme drang aus dem dämmrigen Schatten des Raumes, den die Probenbeleuchtung nicht erfasste. »Vielen Dank für Ihren Vortrag. Aber wenn wir Zarah Leander wollten, würden wir uns um das Original bemühen.«

Marga stockte der Atem. Nicht nur, weil sie den Kommentar für ausgesprochen angeberisch hielt. Der größte Star der Ufa trat gewiss nicht mit dem berühmten Orchesterleiter Harry Alsen auf, den keiner – zumindest Marga nicht – kannte. Die Band besaß nicht die Popularität, die in diesem Zusammenhang angemessen schien. Offenbar neigten die Herren dazu, sich zu überschätzen. Bei derartiger Überheblichkeit würde ein Vorsingen bestimmt kein Vergnügen werden. Viel schlimmer war allerdings, dass die Stimme eindeutig zu dem Mann gehörte, der sie vorhin auf der Straße angepöbelt hatte. Sollte sie sich unter diesen Bedingungen überhaupt bewerben?

»Name?«

Marga zuckte zusammen. Sie sah den jungen Mann mit der Kladde verwundert an. Wie mechanisch war sie an seinen Tisch getreten. »Margarete Maibach«, sagte sie.

Hinter ihr klackten energische Schritte über das Parkett. Die abgefertigte Zarah-Leander-Kopie stakte wutentbrannt auf hohen Absätzen aus dem Tanzsaal.

»Was wollen Sie singen?«

Sie hatte sich sicherheitshalber für den neuesten Schlager von Marika Rökk entschieden. Der war fast so schmissig wie ein Swingsong und sie konnte gut dazu tanzen. »›Ich brauche keine Millionen‹«, erwiderte sie. Dabei sah sie sich nach einer Möglichkeit um, um schnell die Schuhe zu wechseln. Die Steppschuhe warteten auf ihren Einsatz.

Ihr Blick streifte im Halbdunkel die Silhouette des Menschen, der hier das Sagen hatte. Was für ein Flegel! Er hatte nicht einmal seinen Hut abgenommen.

Nachdem der junge Mann am Tisch ein Zeichen gegeben hatte, das dem Pianisten auf der Bühne galt, setzten die nächsten Töne ein. Eine elegante Frau in einem schwarzen Kostüm, das aussah, als käme es aus dem besten Salon in Berlin, trat an die Rampe. Auf den Takt genau setzte sie mit dem Vers ein: »Ein kleines Liedchen geht von Mund zu Mund …«

Der junge Mann sah wieder zu Marga. »Was wollen Sie noch mal singen?«

»›Ich brauche keine Millionen‹. Kennen Sie das nicht?«

Zum besseren Verständnis stimmte sie das Lied einfach a cappella an.

Unbewusst wurde sie lauter, damit sie auch zu hören war, während die Sängerin einige Meter entfernt den Refrain von »Du hast Glück bei den Frau’n, Bel Ami« intonierte. Offenbar nahm auch die Elegante auf der Bühne die Konkurrenz wahr, denn über kurz oder lang klang es, als müssten sie einen Wettstreit austragen. Die Sängerin sang mit Klavierbegleitung den Schlager von Theo Mackeben, Marga auf sich allein gestellt den neuen Hit von Peter Kreuder – und jede der beiden versuchte, gegen die andere anzukämpfen.

»Aus. Aus. Aus.« Wieder brüllte die Stimme aus dem Hintergrund. »Wenn hier alle durcheinandersingen, versteht man sein eigenes Wort nicht mehr. Walter, was ist bei dir los? Die Musik gehört auf die Bühne und nicht in den Saal. Sag der …« Der Rüpel verstummte.

Einen Atemzug später polterte er: »Was soll das? Walter, schick sofort das Schulmädchen weg. Wir wollen hier keine vom BDM. Oder woher auch immer die Kleine kommt.«

Die anderen Bewerberinnen lachten, die Sängerin auf der Bühne stieß einen uneleganten Pfiff aus.

Der junge Mann, der Walter hieß, zuckte ergeben mit den Achseln. Marga sah, wie er ihren Namen auf der Kladde durchstrich. »Tut mir leid, mein Fräulein. Das war’s dann mit dem Vorsingen. Auf Wiedersehen.«

»Aber … ich … ich wollte nicht … ich bin nicht beim … ich …« Marga suchte fassungslos nach Worten.

»Kann ich weitermachen?«, rief die junge Frau von der Bühne.

Bevor die andere zu einem neuen Einsatz kam, protestierte Marga lauthals: »Ich bin nicht beim Bund Deutscher Mädel. Und ich gehe auch nicht anschaffen. Ich bin Sängerin!«

Der Pianist, der die ersten Töne angeschlagen hatte, hielt inne. Das flüchtige Kichern einer weiteren Bewerberin erstarb. Für einen Moment war es im Lokal so still, dass man die sprichwörtliche Nadel hätte fallen hören. Marga meinte, ihr eigener Herzschlag hallte als Echo von den Wänden wider.

Wie mitten in einem Gewitter setzte nun der Donner ein. Zunächst war die Stimme im Hintergrund nur ein leises Grollen, dann dröhnte sie los: »Haben Sie mich nicht verstanden? Fräulein, Sie sind hier nicht erwünscht. Ich verlange, dass Sie nicht länger die Probe stören.«

»Ich kann auch tanzen«, gab Marga trotzig zurück.

»Bitte, mein Fräulein, gehen Sie«, mischte sich Walter ein. »Sie haben doch gehört, was Herr Alsen gesagt hat.«

Marga starrte irritiert ins Halbdunkel. Die Gestalt erhob sich zu bedrohlicher Größe. Der Mann sah zu ihr her, aber sie konnte sein Gesicht nicht erkennen. Das brauchte sie allerdings auch nicht, denn den Ausdruck darin konnte sie sich sehr gut vorstellen. Freundlich war er nicht.

»Das ist Harry Alsen?«, fragte sie.

»Ja. Natürlich. Unser Orchesterleiter. Er entscheidet, wer engagiert wird und wer nicht. Also machen Sie sich keine Hoffnung auf einen anderen Fürsprecher. Leben Sie wohl.«

Margas Augen glitten noch einmal durch den Saal, doch richtig anschauen konnte sie Harry Alsen nicht. Sie sah nur, wie er die Hand zur Bühne hob. Im nächsten Moment setzte das Klavierspiel wieder ein und die junge Frau in dem eleganten Kostüm trällerte: »Ein kleines Liedchen geht von Mund zu Mund. Es ist beliebt und das hat seinen Grund …« Der Kapellmeister nahm ruhig wieder Platz.

»Sie haben da übrigens etwas an Ihrer Oberlippe«, stellte Walter grinsend fest. »Das sollten Sie vielleicht wegwischen, Fräulein Maibach. Ein verschmierter Lippenstift macht nicht so viel her, wenn Sie nicht zum Zirkus wollen.«

Sie biss die Zähne zusammen und begab sich auf den Rückweg. Als Marga an dem Putzeimer vorbeiging, hinderte sie nur ihre Rücksicht auf die Reinigungsfrau daran, dagegenzutreten.

4

Auf dem Teller des Hotkoffers drehte sich eine Schellack. Marga lauschte dem aus dem Lautsprecher klingenden Song, summte die Melodie mit und sang leise den Refrain: »Thanks for everything. Every word, every sigh, every kiss …« Als das Klarinettensolo von Artie Shaw einsetzte, kullerte eine stumme Träne über ihre Wange.

Michael hatte dieses Lied am Ende seines letzten Konzerts im Hamburger Ruderclub gespielt. Als Halbjude war er nicht im Besitz der sogenannten »braunen Karte« der Reichsmusikkammer, ohne die kein Berufsmusiker öffentlich auftreten durfte. Deshalb wurde er nur von Amateurorchestern und zu privaten Feiern und Vereinsfesten engagiert, wo es niemanden interessierte, wer oder was er war. Hauptsache, er swingte, wie es die Leute verlangten. Und genauso scherte sich niemand bei diesen Veranstaltungen um das Verbot, Jitterbug zu tanzen. Vor allem die jungen Leute aus der Mittel- und der Oberschicht taten, was ihnen gefiel – und nicht, was ihnen vorgeschrieben wurde.

Auch heute Abend stand wieder ein privates Tanzfest auf dem Programm der Swingjugend. Michaels alte Band spielte im Curio-Haus. Eigentlich hatte Marga ihren gemeinsamen Freunden versprochen, wenigstens kurz vorbeizukommen, aber sie verspürte nicht die geringste Lust dazu.

Das Fiasko im Café Heinze lähmte sie wie eine schleichende Krankheit. Sie fühlte sich matt, niedergeschlagen und hatte seit ihrem Abgang Kopfschmerzen. Genau genommen rollte sie sich seit vorgestern in ihrem Bett zusammen, konnte sich nicht zur Schule aufraffen, aß kaum etwas und machte ihrer Mutter weis, sie habe sich erkältet. Dabei fehlte ihr nichts anderes als Zuversicht.

Dummerweise waren ausgerechnet die Freunde, die sie zu versetzen beabsichtigte, die einzigen Menschen, mit denen sie über das Erlebnis sprechen konnte. Zu Hause war das Thema tabu.

Ihre Eltern wussten natürlich von ihrer fast lebenslangen Kameradschaft mit Michael, er war ja der Sohn ihrer Nachbarn in dem großbürgerlichen Mietshaus an der Rothenbaumchaussee. Sie hatten der Beziehung unvoreingenommen zugeschaut, selbst dann noch, als der alte Friedländer von einer Reise nach Ostafrika nicht zurückgekehrt und jedem klar war, dass dies keine Folge seines florierenden Kaffeehandels war. Der offensichtliche Grund, die Tatsache, dass Michaels alter Herr Jude war, wurde totgeschwiegen.

Margas Vater lebte ausschließlich für die klassische Literatur, er interessierte sich nur wenig für andere Menschen und gar nicht für Politik. Margas Mutter hatte Pianistin werden wollen und mit dem Tod von Margas älterem Bruder jede Ambition verloren. Fortan kümmerte sie sich nur noch um ihren Haushalt und den nachbarschaftlichen Klatsch. Dieser traf Michaels Familie, weil Margas Mutter nicht verstand, dass sein Vater die kränkelnde Ehefrau und den einzigen Sohn zugunsten der eigenen Sicherheit verließ. Beschwichtigungen wollte sie nicht gelten lassen, auch nicht den Hinweis, dass sich Herr Friedländer aus der Ferne besser um ein Visum und das Reisegeld für die anderen bemühen konnte, nachdem man seine Konten in Deutschland überwachte. Dann war Michaels Talent zufällig von Bobby Schwan entdeckt worden – und auch er hatte Deutschland verlassen. Vor Kurzem war seine Mutter zu einer Kusine ins weit entfernte Schlesien gezogen. Die Riesengebirgsluft sei besser für ihre Lungen, behauptete sie. Damit brach jede Verbindung zu Michael und seiner Familie ab. Nebenan wohnten jetzt fremde Leute, die gern die kostbare Einrichtung der Friedländers übernommen hatten. Michaels Schallplattensammlung allerdings befand sich in Margas Besitz, die hatte sie in einer heimlichen Rettungsaktion mit ihrer Freundin Helga rechtzeitig in ihr Kinderzimmer geschafft.

Von ihrer Freundschaft zu Michael wussten ihre Eltern, Margas Musikgeschmack ignorierten sie jedoch. Solange Marga einmal im Monat mit ihrer Mutter ein klassisches Konzert besuchte, konnte sie tun und lassen, was ihr gefiel. Schlager wurden von ihrem Vater generell als Ausdruck jugendlicher Narretei abgetan, mit der sich Erwachsene nicht zu beschäftigen brauchten. Deshalb behauptete Marga zu Hause, sie wolle nach ihrem Abitur im Frühjahr und den sich daran automatisch anschließenden sechs Monaten beim Reichsarbeitsdienst zum Musikstudium nach Berlin gehen und Opernsängerin werden. Dass der Jazz in ihren Adern pulsierte, behielt sie in diesem Haushalt des hanseatischen Bildungsbürgertums für sich. Über ihre gescheiterte Bewerbung im Café Heinze verlor sie ebenfalls kein Wort.

Wie sollte es nun aber weitergehen?

Ihr erster Versuch, Sängerin zu werden, war nicht nur als erfolglos zu bezeichnen. Er hatte in einer Katastrophe geendet. Vor allem in Beleidigungen.

Natürlich war es um ihre Aufmachung gegangen, vielleicht auch um ihr jugendliches Alter. Doch beides konnte nicht ausschlaggebend sein. Das war ungerecht. Sie hatte die Chansonette auf der Bühne mit einem musikalisch perfekten Vortrag übertönt. Nicht übertönt. Vielmehr übertrumpft. Aber anscheinend hatte ihr niemand zugehört.

Marga vergrub das Gesicht in ihrem Kissen und weinte wegen der vergebenen Chance – und weil sie nicht brünett war wie Eleanor Powell. Oder wie La Jana. Oder Zarah Leander. Die Haarfarbe spielte gewiss eine Rolle bei der Aufmerksamkeit, die man bei anderen Menschen erregte. Als Blondine verkörperte eine Frau heutzutage einen bestimmten Typ, dem Marga nicht entsprach und der offensichtlich einer wirklich großen Karriere auf der Bühne und im Film entgegenstand. Aber der Wunsch nach dieser optischen Veränderung würde vorerst ebenso unerfüllt bleiben wie der Traum vom Auftritt mit einem Tanzorchester. Margas Tränenstrom verstärkte sich zu einem erstickten Schluchzen.

Ein vorsichtiges Klopfen an der Tür, dann die leise Stimme ihrer Mutter: »Marga, schläfst du?«

Sie wischte sich rasch über die Augen und richtete sich auf. Sie schniefte, was entsetzlich laut klang, weil die Platte gerade zu Ende gespielt war.

»Ach, mein armes Kind!« Ihre Mutter stürzte auf sie zu, um in unerwartetem Aktionismus die Bettdecke aufzuschütteln und ihr die Kissen in den Rücken zu drücken. Sie strich Marga das Haar aus der Stirn und prüfte die Temperatur. »Kein Fieber«, stellte sie mit einem kleinen Lächeln fest. »Dann kann dein Besuch ja reinkommen.«

Hinter ihr erschien Helga. Die Freundin blickte sich mit entgeistertem Gesichtsausdruck schweigend um. Sie sagte nichts, bis Frau Maibach mit einem kurzen Nicken, das wie die Genehmigung zum Gespräch mit Marga wirkte, aus dem Raum schwebte: »Wieso bist du krank? Wir wollten doch zusammen zum Tanzen ins Curio-Haus gehen!« Helgas Stimme klang eher nach Protest als nach Sorge.

»Ich hab keine Lust.«

Die Freundin baute sich vor Margas Bett auf, die Hände in die Taille gestemmt. »Du kannst mich nicht im Stich lassen! Nobsi spielt heute Abend mit den anderen, und wenn ich allein hingehe, denkt er, ich komme nur seinetwegen. Dann sieht das so aus, als liefe ich ihm nach. Und außerdem hast du mir versprochen, dass ich mir ein Kleid von dir ausleihen darf.«

Marga streckte den Arm aus. »Da ist der Schrank. Such dir aus, was du haben möchtest. Ich leih dir jedes Kleid, das dir passt.«

»Das genügt aber nicht«, insistierte Helga. »Steh auf, mach dich fertig und komm mit! Bitte!«

»Ich war seit zwei Tagen nicht in der Schule. Meine Mutter wird verrückt, wenn ich heute tanzen gehe. Ich kann nicht, selbst wenn ich wollte.« Marga zog die Decke bis zu ihrer Nasenspitze und murmelte: »Und ich will nicht. Ganz bestimmt nicht.«

Helga zuckte mit den Achseln. Als wäre sie hier zu Hause, trat sie an das Sideboard, auf dem der Schallplattenspieler stand. Kopfschüttelnd nahm sie die Schellack vom Teller. »Bei diesem Lied würde ich auch lieber im Bett bleiben, das ist viel zu traurig.« Sie zog eine der Kommodentüren auf und bückte sich zu dem Inhalt. Kurz darauf legte sie ihr Fundstück auf das Grammofon. Durch den Lautsprecher dröhnte das Saxofon von Teddy Stauffer zu »Goody Goody«. Im Takt der Musik tänzelte Helga zu Margas Kleiderschrank.

Unwillkürlich zuckten Margas Füße. Die Musik ging in die Beine, selbst wenn diese ausgestreckt unter einem Federbett lagen. Sie zwang sich jedoch zur Ruhe. Schließlich wollte sie nicht mit Helga ins Curio-Haus gehen. Heute nicht. Und wahrscheinlich niemals wieder. Je länger sie darüber nachdachte, desto kleiner und erbärmlicher fühlte sie sich nach dem Erlebnis im Café Heinze. In Selbstmitleid versinkend, dachte sie, dass sie ihrer Mutter wahrscheinlich die Freude machen und tatsächlich Opernsängerin werden würde. Nie wieder Schlager. Schon gar kein Swing.

Aber das erschwerte ihre Pläne von einem Wiedersehen mit Michael. Neue Tränen tropften auf die Bettdecke.

Schließlich kapitulierte Marga vor den Überredungskünsten der Freundin. Sie gestand es zwar nicht offen ein, aber verantwortlich war vor allem die Kostümprobe. Als Helga ihre Kleider durchsah, Haarbänder verknotete, neue Kombinationen mit Boleros und Jacken kreierte und durchs Zimmer tanzte, wurde Marga neidisch auf die Vorfreude der anderen. Am Ende siegte auch ihr Trotz, der Gedanke, sich nicht unterkriegen zu lassen. Sie würde schon einen Weg zur großen Gesangskarriere und zu Michael finden, redete Marga sich ein. Die Frage nach dem Wie verschob sie erst einmal.

Als sie Helga Bruchstücke von dem Vorfall im Café Heinze berichtete, meinte diese prompt pragmatisch: »Vergiss das Orchester Harry Alsen. Es spielen so viele Tanzkapellen in allen möglichen Lokalen. Du findest schon eine professionelle Band, die begeistert davon ist, mit dir auftreten zu dürfen. Warte nur ein bisschen ab. Es war wohl einfach nicht der richtige Zeitpunkt – und es waren die falschen Musiker.«

Marga fand diesen Kommentar nicht unbedingt tröstlich. Wie sollte sie sich bei einem anderen Kapellmeister Gehör verschaffen, wenn es nicht einmal bei einem offiziellen Vorsingen geklappt hatte? Aber Helgas Zuversicht war immerhin etwas.

»Dafür, dass du so viel geheult hast, siehst du ausgesprochen gut aus«, lobte Helga später, obwohl sie nicht Marga, sondern sich selbst im Spiegel an der Garderobe des Festsaals im Curio-Haus betrachtete. Zufrieden lächelnd fügte sie hinzu: »Ich hatte also recht. Wenn du weiter im Bett Trübsal geblasen hättest, wärst du von einer Genesung noch weit entfernt. Jetzt bist du wieder gesund!«

»Wenn meine Eltern erfahren, dass wir nicht nur einen Kaffee trinken, sondern tanzen gegangen sind, bleibt mir nichts anderes als eine schwere Krankheit, um das Donnerwetter zu überstehen.«

»Oh, come on, my dear.« Helga wandte sich zu ihr um. Sie wechselte mühelos ins Englische, die von den Swingkids untereinander mit Vorliebe benutzte Sprache, und zurück ins Deutsche: »Vergiss dein schlechtes Gewissen. Your parents werden es schon nicht erfahren.«

Marga nickte ergeben.

Ihr Blick streifte ihr Spiegelbild. Sie sah in dem Frack und mit den offen über ihre Schultern fallenden blonden Wellen wirklich hübsch aus, Lippenstift und Wimperntusche waren auch hilfreich. Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte sie sich sorgfältig zurechtgemacht. Im nächsten Moment fragte sie sich aber, wofür eigentlich. Michael war nicht da und niemandem sonst wollte sie gefallen.

Sie seufzte. Zugegebenermaßen war es netter, sich wohl in der eigenen Haut zu fühlen. Vorgestern war ja genau das Gegenteil geschehen. Ergeben folgte sie ihrer Freundin ins Getümmel.

Die Gesellschaftsräume des Curio-Hauses, eines vor dem Großen Krieg errichteten, riesigen Geschäfts-, Wohn- und Verwaltungsgebäudes, waren seit jeher ein beliebter Ort für Vereinstreffen, Bälle oder andere Tanzvergnügen der Hamburger Jugend. Hier hatte Marga ebenso den traditionellen Abschlussball ihrer Tanzstunde gefeiert wie zahllose ausgelassene Swingpartys, fast immer an der Seite von Michael. Als sie den leicht verräucherten Saal betrat, fühlte sie wieder Wehmut in sich aufsteigen – und eine unbändige Sehnsucht nach seiner Hand. Die Hand, die sie hielt und führte, ihr Sicherheit gab.

Es war bereits sehr voll. Marga hatte Mühe, Helga nicht aus den Augen zu verlieren. Etwa fünfhundert Jugendliche flanierten, tanzten, redeten, lachten, rauchten und tranken. Marga fiel auf, dass der Altersdurchschnitt der Jungs niedriger war als früher. Älter als neunzehn Jahre schien kaum einer zu sein. Als müsste es noch einen deutlicheren Hinweis auf den Kriegszustand geben, sah Marga, dass die Mitglieder der Kapelle, die auf der Bühne amerikanische und englische Hits der letzten Jahre spielten, feldgraue Uniformen trugen. Warum hatte sie daran nicht gedacht? Michael wurde demnächst zweiundzwanzig, seine Freunde waren im selben Alter, natürlich waren sie eingezogen worden, auch Helgas Schwarm Norbert, genannt Nobsi. Über ihrem Kummer hatte Marga das ganz vergessen. Jetzt fiel ihr auch wieder ein, dass die Musiker hier ihr Abschiedskonzert gaben, bevor sie einrückten.

Helga tauchte ins Gewühl auf der Tanzfläche ein. Dort war Lindy Hop angesagt. Es tanzten nicht immer nur Paare im klassischen Stil, auch zwei oder mehr Boys hakten sich zuweilen unter, klatschten Mädchen ab, drehten sich, schwangen die Beine, als befänden sie sich im Savoy Ballrom in Harlem. Marga schloss sich der Gruppe an, die sich um zwei Backfische bildete. Ein Girl und sein Boy tanzten in Paarhaltung den East-Coast-Swing, als kämen sie nicht aus Hamburg, sondern aus New York. Die schnelle, rhythmische Fußarbeit der beiden auf engstem Raum war atemberaubend.

Die Band spielte »In the Mood« von Glenn Miller und gleich danach »I Got Rhythm« von George Gershwin. Der Saal schien zu kochen. Die Melodien brachten auch Margas Blut zum Rauschen, stiegen ihr zu Kopf wie Aufputschmittel. Sie tanzte ausgelassen mit den anderen jungen Leuten, warf die Haare zurück, schwang die Beine. Als alle im Chor den Refrain anstimmten, sang sie aus vollem Hals mit: »I got rhythm, I got music …«

Durch die wilden, ausladenden Figuren des Swing kam es fast zwangsläufig zu einer kleinen Rempelei. Marga wurde zur Seite geschubst und fand sich plötzlich einem unbekannten jungen Mann gegenüber. Groß und schlank, mit elegantem dunkelgrauem Anzug, dazu den obligatorischen weißen Schal. Sein Gesicht war schmal, umrahmt von leicht welligem dunkelblondem Haar. In den runden Gläsern seiner Hornbrille tanzten die Sterne der sich spiegelnden Saalbeleuchtung. Er grinste Marga an und nahm mit der größten Selbstverständlichkeit ihre Hand.

Anfangs leicht widerstrebend folgte sie seinen Schritten. Doch der Fremde bewegte sich perfekt, er hatte den Rhythmus. Marga ließ sich führen und wunderte sich nur kurz darüber, was ein Mann von Mitte oder Ende zwanzig bei dieser Veranstaltung machte. Dann dachte sie gar nichts mehr, gab sich den schnellen Schritten hin und freute sich des Lebens. Was für ein Spaß!

Der Tusch kam viel zu früh. Die Kapelle legte eine Pause ein. Ein mürrisches Raunen ging durch das Publikum. Dann hob sich der Geräuschpegel und der ganze Saal schien in Bewegung zu geraten, als sich Paare zum Ausgang schoben, andere an die Bar oder zu den Tischen strebten.

Ihr Tanzpartner blickte Marga zögernd an.

Lächelnd entzog sie ihm die Hand. »Sie brauchen sich nicht wie in der Tanzstunde zu benehmen und mich an meinen Platz zurückzubringen, den ich übrigens noch gar nicht habe. Gehen Sie nur zu Ihren Freunden, wir sind ja eher zufällig aufeinandergeprallt. Und ich bin auch nicht alleine hier.«

Er schmunzelte. »Wie schade. Ein Mädchen wie Sie sollte man nicht aus den Augen lassen. Wenn ich Ihr Verehrer wäre, würde ich an Ihren Sohlen kleben wie ein nasses Herbstblatt.«

Marga starrte den fremden Mann an wie einen Geist. Sprachlos vor Staunen öffnete sie mehrmals den Mund und schloss ihn wieder, weil kein Wort über ihre Lippen drang.

Seine Stimme war ihr unvergessen. Allerdings in einer völlig anderen Tonlage. Gewinnend und gut gelaunt hatte sie vorgestern nicht geklungen.

Da sie nichts sagte, verabschiedete er sich mit einer leichten Verbeugung. Er wirkte durchaus ein wenig geknickt, als wäre er lieber an ihrer Seite geblieben. »Man sieht sich«, meinte er leichthin, aber es klang, als bedeute es das Gegenteil.

Im nächsten Moment war er in der Menge verschwunden. Eine Fata Morgana.

Vielleicht bildete Marga es sich wirklich nur ein, dass sie in ihrem zufälligen Tanzpartner den Orchesterleiter Harry Alsen wiederzuerkennen glaubte.

Wegen des heruntergezogenen Huts und der Probenbeleuchtung hatte sie sein Gesicht nicht gesehen. Ein Irrtum war daher möglich. Dennoch rührte sie sich nicht vom Fleck, starrte auf den Platz, wo er eben noch gestanden hatte, und hoffte auf eine Erkenntnis.

Plötzlich stand Helga neben ihr und drückte ihr ein Glas in die Hand. »What’s on, baby? Du siehst aus, als würdest du Trübsal blasen!«

»Tu ich gar nicht. Ich habe …« Marga unterbrach sich, schüttelte den Kopf, als könnte sie damit die verworrenen Eindrücke vertreiben. Ein Irrtum, dachte sie. Es war ein Irrtum, und sie machte sich wahrscheinlich lächerlich, wenn sie Helga davon erzählte.

»Ich war außer Atem vom Tanzen«, behauptete sie und trank einen Schluck von der Limonade, die Helga ihr gebracht hatte. Das Getränk war eisgekühlt und half gegen die Hitze, die unerwartet in ihr aufstieg.

»Swing heil, Girls!«, rief der junge Soldat, der eben noch als Bassist auf der Bühne gestanden hatte. Er gestikulierte wild mit den Armen, um im Gedränge auf sich aufmerksam zu machen.

»Da kommt Nobsi«, wisperte Helga aufgeregt und stellte sich seitlich hinter Marga, als brauchte sie ein Schutzschild für die Begegnung mit ihrem Schwarm.

»Hallo, Nobsi.« Marga strahlte Michaels Freund an.

Norbert hatte kaum Augen für sie, seine Blicke wanderten sofort zu Helga und blieben an ihr haften. Obwohl er offensichtlich am liebsten mit Helga allein gewesen wäre, sprach er beide Mädchen an: »How are you? Es ist schön, euch zu treffen. Nächste Woche geht es für mich an die Westfront.«

»Ist das gefährlich?«, entfuhr es Helga.

Er schüttelte den Kopf. »Überhaupt nicht. Im Westen fällt kein Schuss. Den Sitzkrieg gewinnen wir sowieso.«

»Na, dann …«, murmelte Helga. Sie lächelte, errötete, senkte die Lider und scharrte nervös mit ihren Füßen wie ein junger Vollblüter am Start eines Rennens.

»Vielleicht habt ihr beide bis zu meiner Abreise noch einmal Zeit, um ein bisschen loszubutschern«, schlug Norbert vor und sah dabei wieder nur Helga und nicht Marga an.

»Ich weiß nicht, ob ich noch einen Termin frei habe …« Helga wand sich kokett, unterbrach sich und knabberte nachdenklich an ihrer Unterlippe.

Marga stöhnte auf. »Ich habe gar keine Zeit. Aber, Helga, bei dir ist das anders. Das weiß ich genau.«

Eine Fanfare unterbrach den hilflosen Versuch, sich zu verabreden. Die meisten Musiker hatten sich wieder auf der Bühne versammelt, der Trompeter spielte die ersten Takte des Liedes von »Lili Marleen«. Die Pause war vorüber. Applaus brandete auf.

»Ich muss los«, verkündete Norbert unnötigerweise, rührte sich aber nicht, sondern sah Helga weiter mit treuherzigen, bittenden Augen an.

Marga stieß ihre Freundin mit dem Ellenbogen in die Seite.

»Also, morgen. Ja, ich glaube, morgen Nachmittag habe ich ein Stündchen Zeit«, behauptete Helga.

Norbert strahlte. »Dann um drei Uhr im Alsterpavillon. Was meinst du?«

»Mhm«, machte Helga.

»Endlich«, seufzte Marga leise.

Norbert vollführte eine Cabriole wie ein Balletttänzer. Grinsend machte er sich auf den Weg zu seinen Kollegen. Als sei ihm plötzlich etwas eingefallen, drehte er sich noch einmal um und kam zu den Mädchen zurück.

Er neigte den Kopf, sodass sein Mund ganz nah war, und warnte mit gesenkter Stimme: »Passt auf euch auf. Bei der Party im Hotel Kaiserhof neulich waren Spitzel unterwegs. Es heißt, Gestapoleute seien eingeschleust worden und hätten sich Notizen gemacht. Keine Ahnung, was das soll. Aber wenn ihr jemanden seht, der nicht hierhergehört, gebt mir oder einem der Jungs von der Band Bescheid.«

Dann zwinkerte er gut gelaunt, machte kehrt und lief durch eine Gasse, welche die Gäste für ihn bildeten, zur Bühne.

Während ihm Helga verträumt nachsah, blickte Marga sich suchend um. Als Norbert von den Schnüfflern im Kaiserhof gesprochen hatte, war ihr sofort der Fremde eingefallen, der so gar nicht zum sonstigen Publikum des Festes passte. Harry Alsen.

In diesem Moment begann die Soldatenband wieder zu spielen.

Ein Klarinettist, der nach Michaels Abreise engagiert worden war und den Marga nicht kannte, spielte Cole Porters »Begin the Beguine« in der Art von Artie Shaw. Unwillkürlich wanderten Margas Gedanken von ihren seltsamen Begegnungen mit Harry Alsen wieder zu Michael, dem liebsten, angebeteten Freund. Die Unsicherheit und die Angst, die nach ihr gegriffen hatten, verflüchtigten sich wie ein schlechter Geruch. Es blieb ein Nachgeschmack, doch sowohl Norberts Warnung als auch ihre Vorbehalte gegen Harry Alsen – so er es denn tatsächlich vorhin auf der Tanzfläche war – verloren vor dem Gedanken an Michael an Bedeutung.

Marga schloss die Augen und meinte, irgendwo in ihrer Erinnerung die spezielle Art zu hören, wie Michael Klarinette spielte. Sie tanzte allein vor sich hin, als wäre sie zum Tanzen geboren und nur auf der Welt, um mit ihrem Körper Michaels Musikalität auszudrücken. Der Rauschzustand, in dem sie sich vorhin bewegt hatte, stellte sich wieder ein. Gegenwart und Vergangenheit verschmolzen. Ihr Bewusstsein unterschied kaum mehr zwischen Realität und Traum. Spielte da der unbekannte Klarinettist oder war es doch Michael? Der Jazz brachte sie in eine Art Ekstase.

Die Unruhe, die sich im Saal ausbreitete, nahm sie im ersten Moment kaum wahr. Sie spürte, dass sich etwas veränderte, aber ihr Kopf war noch erfüllt von der Erinnerung.

Die Dissonanzen drangen verspätet an ihre Ohren und zu ihrem Gehirn vor. Erst als sie ein Mädchen entsetzt kreischen hörte, Füßescharren und Gleichschritt die Musik übertönten und die Band aus dem Takt kam, erwachte Marga aus ihrer Trance. Erschrocken sah sie auf.

Im selben Moment hob ein Chor junger Stimmen zu einem Marschlied an und die Instrumente verstummten mit deutlichem Missklang. »Vorwärts! Vorwärts! schmettern die hellen Fanfaren«, hallte es durch den Saal, begleitet von Schreien, Rufen, Poltern.

Jemand brüllte mehr, als dass er den Refrain sang: »I got rhythm, I got music«, andere Stimmen folgten, doch der Protest brach rasch ab.

Marga wurde hin und her gestoßen. Obwohl sie taumelte, blieb sie wie festgewurzelt auf dem Platz stehen, auf dem sie getanzt hatte. Die Menge umringte sie, schien in Richtung Bühne zu streben, dann wieder zu den Eingangstüren, schließlich liefen alle kopflos durcheinander. Panik brach aus.

Sie fühlte sich wie die Hauptperson in einem Kinofilm und gleichzeitig wie deren Zuschauerin. Seltsamerweise schien die Szene in Zeitlupe gedreht. Langsam und überdeutlich nahm sie das Geschehen wahr.

Ihr fiel auf, dass sich vor den Eingangstüren und Fenstern Männer in schwarzen Ledermänteln und schwarzen Uniformen phalanxartig postierten. Buddjes in HJ-Uniform stürmten auf gleichaltrige Mädchen zu und drehten ihnen die Arme auf den Rücken, Jungs wurden in den Schwitzkasten genommen, während ihre Freunde vergeblich versuchten, sich zu wehren. Auf der Bühne legten die Musiker die metallenen Notenpulte zusammen und hantierten damit, als nähmen sie Aufstellung für einen Fechtkampf.

Marga spürte die Tritte und Knuffe nicht, stand da und hielt nach Helga Ausschau. Doch die Freundin war nirgends zu sehen. Sie suchte, bis die Szenerie vor ihren Blicken zu einer wogenden, gesichtslosen Masse verschwamm. Ihr Herz wummerte gegen die Brust, raubte ihr den Atem und lähmte ihre Gliedmaßen. Angst legte sich auf sie wie eine bleierne Last.

»Komm mit!« Die Worte gingen in dem Chaos fast unter.

Marga begriff erst, dass sie gemeint war, als sie die Hände spürte, die sie unter den Frackschößen um die Taille packten.

Der Schrei in ihrer Kehle erstarb vor dem Gesicht, das dem ihren ganz nah war. Ohne darüber nachzudenken, trat sie nach dem Mann, den sie als Harry Alsen zu erkennen glaubte. Sie wehrte sich mit aller Kraft dagegen, dass er sie vorwärtsschob. »Lass mich los, du Spitzel!«

Tatsächlich ließ er kurz von ihr ab, zerrte im nächsten Atemzug aber an ihrem Arm.

»Ich bin kein Spitzel«, stieß er hervor. »Ich will dich hier rausbringen. Die Gestapo hat alle Ausgänge abgeriegelt, nur den Speiselift haben sie übersehen. Komm schnell, Mädchen, sonst landest du wie die anderen auf einem Opel Blitz. Es stehen genug Lastwagen vor der Tür, um alle Swingkids einzusammeln.«

Orientierungslos folgte sie ihm durch das Gedränge, gegen den Strom, dann wieder getragen und geschoben wie von einer Welle. Trillerpfeifen schrillten, wieder Schreie, dann donnernde Befehle. Sie spürte die Hände des fremden Mannes, denen sie sich ergab, weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte.

Der Speiseaufzug befand sich in einer verlassenen Nische. Harry Alsen hantierte an der Bedienung, drückte hektisch auf Knöpfe. Schließlich öffnete sich eine Tür.

Innen war es eng und dunkel, aber groß genug für eine Person. Ohne Widerspruch setzte sich Marga hinein.

Ihr Retter verzog das Gesicht, drückte wieder auf einen Knopf. Dann zwängte er sich ebenfalls in das Loch. »’tschuldigung«, murmelte er, als er seine langen Beine einzog. Er lag mehr oder weniger auf ihr.

Aneinandergedrängt kauerten sie in dem kleinen Fahrzeug. Sekunden wurden zu Minuten, als sie darauf warteten, dass sich die Tür schloss.

Margas Herz klopfte ihr bis zum Hals, sie rang nach Atem. Unwillkürlich biss sie die Zähne zusammen, schlug sie jedoch in ihre Unterlippe. Sie schmeckte Blut. An ihrem Gaumen stieg Übelkeit hoch.