Der Gutshof im Alten Land - Micaela Jary - E-Book

Der Gutshof im Alten Land E-Book

Micaela Jary

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Beschreibung

Die Vorgeschichte zu Micaela Jarys großer Familiensaga „Der Gutshof im Alten Land“.

Frühling 1914: Die Familie von Voss herrscht seit Jahrhunderten über einen großen Gutshof im Alten Land. Als Lennart von Voss, der jüngste Sohn und Erbe, volljährig wird, wird ihm zu Ehren ein glanzvolles Fest ausgerichtet. Während der Feierlichkeiten kommt es jedoch zum Eklat, da Lennart seine Zeit lieber mit der jungen Fabrikarbeiterin Jenny verbringt. Derweil wird von Lennarts älterem Bruder Gerrit eine folgenschwere Entscheidung verlangt. Doch der Sturm, der die Familie von Voss zu zerreißen droht, ist nichts gegen den großen Sturm, der in ganz Europa aufzieht – denn der 1. Weltkrieg wirft seine Schatten voraus.

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Inhalt

Frühling 1914: Die Familie von Voss herrscht seit Jahrhunderten über einen großen Gutshof im Alten Land. Als Lennart von Voss, der jüngste Sohn und Erbe, volljährig wird, wird ihm zu Ehren ein glanzvolles Fest ausgerichtet. Während der Feierlichkeiten kommt es jedoch zum Eklat, da Lennart seine Zeit lieber im Dorf mit der jungen Fabrikarbeiterin Jenny verbringt. Derweil wird von Lennarts älterem Bruder Gerrit eine folgenschwere Entscheidung verlangt. Doch der Sturm, der die Familie von Voss zu zerreißen droht, ist nichts gegen den großen Sturm, der in ganz Europa aufzieht – denn der Erste Weltkrieg wirft seine Schatten voraus.

Micaela Jary stammt aus Hamburg und wuchs im Tessin auf. Sie arbeitete lange als Journalistin, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete. Nach einem langjährigen Aufenthalt in Paris lebt sie heute mit Mann und Hund in Berlin und München. Zum Schreiben begibt sie sich aber auch in ein kleines Landhaus nahe Rostock.

Weitere Informationen unter www.micaelajary.de

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Der Gutshof im Alten Land

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Micaela Jary

Der Gutshof im Alten Land

Die Vorgeschichte

Eine E-Only-Kurzgeschichte

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Erstveröffentlichung verweisen.

1. Auflage

Originalausgabe Juni 2018

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Gestaltung des Umschlags: UNO Werbeagentur München

Umschlagfoto: © FinePic®, München

Redaktion: Marion Voigt

BH • Herstellung: kw

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-22671-8V002

www.goldmann-verlag.de

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Altes Land, April 1914

1

Der Wind fuhr ihr ins Haar und löste es aus Klammern und Nadeln. Ihre Locken flogen ihr ums Gesicht, kitzelten die Wangen. Sie trat kräftig in die Pedale, um auf dem Feldweg flott voranzukommen. Aber ihr machte das Fahrradfahren erst bei hohem Tempo richtig Spaß. Sie sog die Luft ein, die hier so salzig war wie an der Nordsee und gleichzeitig süß nach den Blüten von Äpfeln und Kirschen duftete. Ein Kleid aus leuchtendem Weiß und zartem Rosa, durch das die Frühlingssonne schimmerte, bildete das Dach des Weges. Die Äste am höchsten Punkt der Stämme trafen sich in der Mitte, als wollten sie Hochzeit feiern.

Was für ein schöner Vergleich, dachte Jenny.

Verträumt blickte sie durch Blüten und Blätter in den Himmel. Eine gute Heirat stand ganz oben auf der Liste ihrer Wünsche, und mit jedem Geburtstag, den sie feierte, rückte die Verwirklichung näher. Das Alte Land war dafür jedoch nicht der geeignete Ort, die Söhne aus der Nachbarschaft passten nicht in das Bild, das sie sich von ihrer Zukunft malte. Hier war es zwar üblich, dass Braut und Bräutigam vom selben Stand waren, man heiratete unter sich, aber Jenny hatte andere Pläne: Wenn sie endlich volljährig war, wollte sie der Enge ihrer Heimat entfliehen. In drei Jahren war es so weit, dann würde sie nach Hamburg gehen. In die große Hansestadt auf der anderen Seite der Elbe, die derzeit noch so fern lag wie die silberne Sichel des Mondes in klaren Nächten. In Hamburg wollte sie einen Mann finden, der besser roch als ihr Vater und ihr mehr bieten konnte als Bauer Harms seiner Frau.

Ihre Eltern waren gottesfürchtig und strebsam, arbeiteten sich die Hände wund und das Kreuz kaputt und hatten von der Welt keine größere Stadt als Stade gesehen, nicht einmal nach Harburg waren sie gekommen. Hinrich Harms verkaufte seine Kartoffeln, den Meerrettich und die Eier lieber an einen der vielen Händler, als selbst auf den großen Markt in die Hansestadt zu schippern wie seine Nachbarn. Er sei kein Hamburg-Fahrer, pflegte er zu sagen. Und: »Wenn Gott gewollt hätte, dass ich in Hamburg warken soll, hätt er mich Hamburger werden lassen. Ich bleib da, wo mein Land ist.« Dass sein Stück Land klein und in der wenig fruchtbaren Geest gelegen war, hinderte ihn nicht daran, alles genauso zu machen wie sein Vater oder dessen Vater zuvor. Natürlich war nie genug Geld da, um eine Familie mit vier Kindern satt und warm durch den Winter zu bringen, aber auch das nahm er als gottgegeben hin. Selbst bescheidenen Luxus kannte Hinrich Harms nur vom Hörensagen.

Die beste Quelle für das, was es an Annehmlichkeiten im Leben gab, war seine Schwester Gertrud. Sie kam in der Regel einmal im Monat zum Klönschnack vorbei und brachte als Gastgeschenk einen herrlich duftenden Butterkuchen mit. Seit Jenny denken konnte, arbeitete sie auf dem Gutshof derer von Voss, der größten Domäne im Kreis Jork. Zunächst war die Tante nur ein einfaches Dienstmädchen gewesen, inzwischen war sie als Hauswirtschafterin angestellt. Gertruds Berichte klangen wie Geschichten aus einem Märchenbuch – oder aus den Romanen, die sie in der Gartenlaube las –, aber Jenny wusste, dass das kein dumm Tüüch war, wie ihr Vater behauptete.

Jenny arbeitete als Küchenhilfe im Schützenhaus, und eigentlich hatte sie keinen Zugang zum Schankraum, aber kürzlich hatte sie die Herren von Voss dort leibhaftig gesehen. Die Köchin hatte sich verbrüht, was gottlob selten vorkam, und Jenny war in ihrer ersten Aufregung zum Wirt geeilt, der an der Theke das Bier zapfte. In diesem Moment betraten drei Herren den Gasthof – und Jenny stockte der Atem. Nie hätte sie für möglich gehalten, dass es so schöne Männer gab. Obwohl sie weder dem älteren noch den beiden jungen Herren nahe kam, wusste sie instinktiv, dass diese viel besser rochen als ihresgleichen. Als das Serviermädchen knickste und »Moin, Herr von Voss« sagte, war Jenny klar, dass es sich bei den Gästen um Edzard von Voss und seine Söhne Gerrit und Lennart handelte. Von diesem Moment an beneidete sie die Kellnerin aus ganzem Herzen darum, bei den Treffen des Schützenvereins bedienen zu dürfen.

Vor allem kreisten Jennys Gedanken aber um die Ausflügler, die aus Hamburg, Bremen oder Hannover ins Alte Land kamen und im Schützenhaus einkehrten. Das waren zwar meist nicht so reiche Leute wie Edzard und Caroline von Voss, aber gut angezogene Städter mit feinen Manieren und locker sitzendem Geldbeutel. Jenny bildete sich nicht ein, dass sich Gerrit oder Lennart von Voss für sie interessieren würden, aber auf der anderen Seite der Elbe, dort, wo ihre Herkunft unbekannt war, musste doch ein guter Fang zu machen sein. Dafür wollte sie sich sogar eine dieser Tinkturen kaufen, von denen die Werbeanzeigen der Zeitungen, die der eine oder andere Gast schon mal im Schützenhaus liegen ließ, versprachen, sie würden Sommersprossen nachhaltig entfernen. Wenn Jennys Gesicht erst so weiß und rein wie das einer Dame war, würde sich bestimmt ein feiner Herr in sie vergucken.

Diese Saison noch, dann nächsten Sommer und übernächstes Jahr. Dann war Schluss mit der Genügsamkeit. Neunzehnhundertsiebzehn würde sie die Hauptreisezeit an Pfingsten auf der anderen Seite der Elbe erleben. Dann hätte sie am Nordufer bereits ein neues Leben begonnen. Vielleicht sogar gleich in Blankenese, dem feinen Vorort der Hansestadt, wo die Fähre anlegte. Die weißen Villen leuchteten so schön im Sonnenlicht, wenn Jenny von der Deichkrone hinüber zum Süllberg blickte. Jenny konnte sich durchaus vorstellen, in einem dieser Häuser Hof zu halten. Von Tante Gertrud wusste sie allerlei über das Gebaren und die Haushaltsführung einer Dame, darüber hinaus war sie hübsch und lernwillig. Was sollte sie also daran hindern, einen vornehmen jungen Mann für sich einzunehmen? Ihre Zukunft sah so rosig aus wie die Knospen der Apfelblüten – daran gab es für Jenny keinen Zweifel.

Der Hufschlag eines nahenden Pferdes unterbrach ihre Gedanken. Ein dumpfes Geräusch auf dem Marschboden. Das Getrappel hörte sie wohl, aber sie ordnete es nicht gleich richtig ein, zu sehr war sie in ihre Träume versunken.

Wenn sie sich später an diese Szene erinnerte, kam es ihr vor, als wäre dann alles gleichzeitig geschehen: dass sie erschrocken den Fahrradlenker umklammerte, ein Schimmel in ihr Blickfeld galoppierte, ein versprengtes einzelnes Schaf plötzlich vor ihr auftauchte – und sie zu fliegen begann.

Ohne nachzudenken, hatte sie den Bügel herumgerissen und automatisch mit Rücktritt gebremst. Die Reifen kamen aus der Spur, das Rad kippte. Der Schwung, mit dem sie zuvor in die Pedale getreten war, hob Jenny aus dem Sattel. Sie fiel über den Lenker in das noch taufeuchte Gras.

Das Rauschen des Windes in den Bäumen, das Blöken des Schafs und das Schnaufen des Pferdes verbanden sich mit einem metallischen Krachen zu einer eigentümlichen Melodie, die ihre Ohren verstopfte wie unreife Kirschen. Sterne tanzten vor ihren Augen, ihr schien ein einziger stechender Schmerz durch den Körper zu ziehen. Am liebsten hätte sie den aufsteigenden Tränen freien Lauf gelassen.

Doch dann hörte sie unerwartet die Stimme eines Mannes.

Nordfrankreich, April 1918

2

Vier Tage strömender Regen und Nachtmärsche durch knöcheltiefen Schlamm hatten selbst an den stärksten Soldaten mehr gezehrt als der ewige Hunger, den auch die zusätzliche Ration von einem halben Löffel Marmelade pro Tag nicht lindern konnte. Doch ihr Umfeld übertraf noch die schlimmsten Befürchtungen, und der Anblick lastete schwerer als jede körperliche Bürde.

Niemand hatte damit gerechnet, dass die Picardie nicht mehr die liebliche Landschaft war, die die meisten von der Somme-Schlacht vor eineinhalb Jahren kannten, sondern nach Eroberung und Rückzug beim nunmehrigen Vorstoß nur noch eine von Gestrüpp überzogene Steinwüste darstellte. Es war eine entvölkerte Gegend, deren einst hübsche Dörfer jetzt aus Mauerresten bestanden, die an ihrer höchsten Stelle gerade mal einen Meter maßen. Von Granattrichtern durchlöcherte Felder zogen sich die Hügel hinauf, an die einstigen Buchenhaine erinnerten nur noch zersplitterte Baumstümpfe. Das Schlimmste an diesem Wiedersehen waren für die Männer aber die zahllosen Leiber verendeter Pferde am Straßenrand, die Leichen von jungen Kerlen in deutscher, englischer und französischer Uniform, die zurückgelassenen Gewehre und zerschossenen Kanonen und Tanks. Selbst nach vier Jahren Krieg war diese Szenerie für die meisten Soldaten und Offiziere nicht vollständig zur Normalität verkommen.

Als Clemens Curtius zum ersten Mal nach der langen Etappe seine Hände in eine Schüssel mit lauwarmem Wasser tauchte, kam es ihm vor, als versuchte er, nicht nur den Dreck der vergangenen Tage zu beseitigen, sondern auch die Bilder aus seinem Hirn zu waschen. Immer wieder schüttete er sich das reinigende Nass ins Gesicht und über den Kopf. Doch weder die Bilder noch die Gedanken an Friedenszeiten ließen sich so leicht abspülen. Er dachte selten an zu Hause, um seinen Verstand nicht zu verlieren, denn auf die Erinnerung folgte immer die Erkenntnis, wie sinnlos der Krieg war – auch heute, sogar noch schlimmer als sonst.

Clemens Curtius gehörte nicht zu den Männern, die begeistert und wie im Siegestaumel gen Frankreich gezogen waren. Auch zeichnete er sich nicht unbedingt durch ein blindes Ehrgefühl aus wie viele Kameraden in dem schrecklichen Gemetzel, an dem er seit fast vier Jahren teilnehmen musste. Dass ausgerechnet ein Mann, der Gewalt im Grunde seines Herzens vollkommen ablehnte, inzwischen zum Oberleutnant befördert worden war, hielt er für eine Ironie des Schicksals. Allerdings war er nicht wegen seines Mutes, sondern wegen seiner Umsicht und Tapferkeit befördert worden; ihn befähigten Geduld und Klugheit, nicht Angriffslust. Noch nie war er ein Heißsporn gewesen, hatte sich vielmehr in Bücher und Musik vergraben, statt etwa an Degenkämpfen oder Hindernisrennen teilzunehmen, wie es sein Vater gern gesehen hätte. Da der eine sportliche Betätigung erwartete, spielte Clemens Tennis und wurde Mitglied im Berliner Ruderclub. Der alte Curtius meinte zwar, dies seien Beschäftigungen für Weichlinge, aber immerhin akzeptierte er Clemens’ Wunsch nach einer etwas weniger martialischen Sportart. Obwohl der Junge von so manchem Training mit Blasen an den Händen nach Hause kam, waren Tennisspielen und Rudern doch schonender als Fechten oder Reiten. Die Unversehrtheit seines Körpers, vor allem seiner Hände, war für Clemens von größter Bedeutung, da es sein Lebenstraum war, Musiker zu sein. Er spielte früh Klavier und war entzückt von den Tönen, die ein Organist der Orgel im Berliner Dom entlockte, kaum dass die Mutter mit ihm dort einen Gottesdienst besuchte. Er informierte sich über den Orgelbauer Wilhelm Sauer und wünschte sich eine Lehrstelle in dessen Werkstatt in Frankfurt an der Oder. Doch daraus wurde nichts. Clemens machte Abitur, wie es sein Vater verlangte, begann ein von seinem alten Herrn akzeptiertes Studium an der Technischen Hochschule, brach es jedoch ab, riskierte einen bitterbösen Streit mit dem Vater und schrieb sich schließlich an der Königlich Akademischen Musikhochschule ein. Da war er volljährig. Nach den ersten beiden glücklichen Semestern begann der Krieg – und alles veränderte sich, nur die Unversöhnlichkeit des alten Curtius nicht …

Ein Röcheln ließ ihn aufhorchen.

Er hatte sich allein in dem für die Offiziere bestimmten Waschraum gefühlt, obwohl er natürlich wusste, dass dies kein privates Badezimmer war. Es grenzte schon an ein Wunder, dass sie hier überhaupt ein festes, unbeschädigtes Dach über dem Kopf vorfanden und einen Brunnen, der nicht vergiftet war. Der Quartiermeister war in der ansonsten verwüsteten Stadt Péronne auf ein ehemaliges englisches Lazarett gestoßen, das Annehmlichkeiten bot, von denen Clemens in den Zeltlagern nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Dass er den Komfort teilte, war ihm nicht aufgefallen, als er hereinkam – bewaffnet mit einem kleinen Reisenecessaire, einem sauberen Handtuch und einem Krug mit warmem Wasser, dessen Inhalt er in die Waschschüssel goss.

Dem anderen ging es offenbar nicht gut. Es klang, als müsste er sich übergeben.

Clemens drehte sich kurz um, konnte aber niemanden ausmachen, da sich der Abort hinter einem Wandvorsprung befand. Achselzuckend wandte er sich wieder seiner ursprünglichen Beschäftigung zu. Er verstand es, wenn sich ein anderer die Seele aus dem Leib kotzen musste. Die dazu gehörenden Geräusche, die ihn früher wahrscheinlich abgestoßen hätten, waren nichts im Gegensatz zu dem, was er im Feld täglich hören und mitansehen musste. Ruhig setzte er seine Toilette fort.

Über dem Waschtisch hatte jemand eine Spiegelscherbe an die Wand montiert. Sein braunes Haar hing ihm in feuchten Strähnen in die Stirn, sein Gesicht war noch schmaler als sonst, er war so bleich wie das Handtuch, das er nachlässig um den Hals geschlungen hatte, und seine Wangenknochen stachen hervor. Er benötigte eine Rasur, damit die Schatten unter seinen blauen Augen sich nicht auch noch über Wangen und Kinn zogen. Die vergangenen drei Tage war er nicht dazu gekommen, sich zu rasieren. Er nestelte in dem Täschchen nach der Klinge und dem kläglichen Rest Seife, als er einen Schatten hinter sich wahrnahm.

Unwillkürlich drehte er sich wieder um.

Ein hochgewachsener Mann stand hinter Clemens. Die Uniform hing wie ein schwerer Sack an ihm, schien seine Schultern herabzudrücken. Das braune Haar war strähnig, seine Haut grünlich, der blaue Blick verschwommen. Äußerlich erkennbar war er nicht verwundet. Dennoch wirkte er krank und zutiefst verstört.

Clemens starrte den anderen an.

Der runzelte die Stirn, seine Augen weiteten sich überrascht.

Hektisch flogen Clemens’ Blicke zu der Spiegelscherbe, dann wieder zu dem fremden Offizier.

»Entschuldigung«, murmelte der. »Ich dachte, ich wäre allein. Da draußen …«, er machte eine vage Handbewegung, »… das hat mir wohl den Magen umgedreht.«

Clemens starrte den anderen Mann nur an und schwieg.

»Die Pferde … Ich kann tote Pferde nicht so gut ertragen …«, versuchte der andere eine Erklärung, brach aber hilflos wieder ab.

Eine Weile sahen sie sich stumm an, beider Atem ging schwer.

Von draußen wehten die alltäglichen Geräusche einer Kaserne herein: das Stampfen marschierender Füße in schweren Stiefeln, eine laute, aber dennoch unverständliche Unterhaltung, Klappern und Klirren, Türenschlagen, etwas dumpfer ein Befehl, das ferne Böllern der Artillerie. Gegen die Fenster des Waschraums prasselte der Regen.

Der Fremde schien gesprächiger als Clemens: »Sagen Sie – kennen wir uns?«

Clemens schüttelte den Kopf.

»Komisch, ich hätte schwören können, dass ich Sie schon einmal …«, wieder unterbrach er sich. Dann streckte er seine Hand zum Gruß aus: »Ich bin Leutnant Lennart von Voss.«