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Micaela Jary

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Beschreibung

Inmitten der Revolution 1918 bedroht die Hamburger Reederfamilie Dornhain ein Skandal. Klara, das Hausmädchen, soll die illegitime Tochter des kürzlich verstorbenen Familienoberhaupts sein. Eine schnelle Heirat wäre die Lösung, doch Klaras Verlobter ist in der Kriegsgefangenschaft in Sibirien verschollen. Die Furcht, von der alten Patriarchin ausgerechnet zu Weihnachten vor die Tür gesetzt zu werden, ist groß. Klara hofft auf die Hilfe von Ellinor Dornhain, der ältesten Tochter. Doch die muss um das wirtschaftliche Überleben der Reederei kämpfen, deren Zukunft in den Sternen über der Alster geschrieben steht ...

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www.piper.de

ISBN 978-3-492-30697-3

November 2015 © Piper Verlag GmbH, München/Berlin

 

2015 Covergestaltung: Mediabureau Di Stefano, Berlin Covermotiv: Ullstein/adoc-photos (Stadt); Lee Avison/Arcangel Images (Frau) Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Es ruht auf dir der Väter Segen;

Den heil’gen Hort, o woll’ ihn hegen,

Dass stets in Freud’ und in Gedeih’n

Sich Hamburg’ spätste Enkel freu’n.

Hamburg-Hymne, 5.Strophe der Urform von Georg Nikolaus Bärmann

ERSTER TEIL

1918–1919

Die Zeit steht uns nur in Raten zur Verfügung.

Albert Ballin, Reeder

(1857–

HAMBURG

1

Die Villa besaß definitiv zu viele Türen.

Jedes Mal, wenn sie durch das Haus ging, um die Schlösser zu überprüfen, dachte Klara Tießen, dass ihre Tätigkeit angesichts der vielen Ein- und Ausgänge völlig sinnlos war.

Neben dem Hauptportal gab es die Dienstboteneingänge auf der Vorder- und der Rückseite, die Terrassentüren im Hochparterre und in der ersten Etage sowie die Luke zum Kohlenkeller und eine weitere Kellerpforte. Darüber hinaus boten auch die hohen Fenster des mehrstöckigen hochherrschaftlichen Gebäudes am Harvestehuder Weg recht bequeme Einstiegsmöglichkeiten für jedermann, der sich unerlaubt Zutritt verschaffen wollte. Einen wirksamen Schutz vor Raubüberfällen konnte Klara daher selbst bei verschlossenen Türen nicht erkennen. Und seit drei Tagen lauerte die Gefahr praktisch überall. Zum ersten Mal in den sieben Jahren, die sie nun bei dem Reeder Victor Dornhain in Stellung war, fühlte sie sich in seinem Haushalt nicht mehr sicher.

Gesetz und öffentliche Ordnung schienen außer Kraft, seit der in Wilhelmshaven und Kiel begonnene Aufstand meuternder Matrosen nach Hamburg gespült worden war. Kriegsmüde Soldaten schlossen sich der Revolution der Seeleute ebenso an wie hungernde Arbeiter, die Krieg und Blockade zu Bettlern gemacht hatten. Die im Hafen liegenden Kriegsschiffe und die Kaserne des Infanterieregiments sechsundsiebzig an der Bundesstraße sowie das Arsenal des Großkommandos in Altona waren erstürmt worden und Gewehre praktisch für jeden greifbar. Unterschiede zwischen einem ehrenwerten Mann und einem Kriminellen wurden keine mehr gemacht und nach der Erlaubnis zum Waffenbesitz fragte heutzutage auch niemand.

Es herrschte Chaos in der einst so wohlhabenden, von ihrem stolzen Bürgertum regierten Hansestadt, die nach vier Jahren wirtschaftlichen Stillstands praktisch ausgeblutet war. Aufwiegler hatten inmitten dieser katastrophalen Verhältnisse leichtes Spiel. Die einfachen Menschen forderten Frieden, ausreichend Nahrung, Arbeit und Mitspracherecht in der Bürgerschaft. Eigentlich verstand Klara diese Wünsche. Doch die Idee, sich den radikalen Spartakisten oder wenigstens den gemäßigteren Sozialisten anzuschließen, kam ihr nicht in den Sinn. Politik war ihre Sache nicht. Nichts zog sie zu den Kundgebungen am Heiligengeistfeld, wohin derzeit die Massen strömten. Als bekannt wurde, wie gut die Marodeure ausgerüstet waren, fühlte sich Klara von den Rebellen schließlich sogar eher bedroht als vertreten.

Leider war die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, dass irgendein Aufrührer sein gerade erbeutetes Schießeisen benutzte und die Falschen traf. Zwar versuchte der herrschende Arbeiter- und Soldatenrat mittels fast stündlich veröffentlichter Bekanntmachungen, Befehle und Erlasse, gewisse Direktiven aufrechtzuerhalten, doch Klara glaubte nicht so recht an deren Wirksamkeit. Plünderungen etwa waren verboten, Plünderern drohte die standrechtliche Erschießung. Aber das Dienstmädchen der mit den Dornhains befreundeten Bankiersfamilie Schulte-Stollberg hatte gestern geläutet und berichtet, dass es bereits Raubzüge durch andere Häuser und deren Vorratskammern am Mittelweg gegeben hatte und niemand eingeschritten war. Vielleicht wurden die Überfälle ja auch nur geahndet, wenn es sich um Raubzüge in den Armenvierteln handelte. Für die weißen Landhäuser in Harvestehude galten andere Regeln. Schon immer. Und jetzt wieder.

Klara fand es angesichts der politischen Lage nicht nur sinnlos, die Türschlösser zu überprüfen. Sie mochte es auch nicht, am frühen Abend allein durch das dann meist stille Erdgeschoss zu streifen. Es war Anfang November und um diese Uhrzeit natürlich bereits dunkel. Klara hasste es, als Erste in das finstere Esszimmer zu gehen, um die Lichter anzuschalten. Ihre Fantasie spielte ihr dann stets einen Streich, weil die aufgebauschten Portieren wirkten, als verstecke sich dahinter ein Einbrecher.

Doch statt wegzulaufen, wie es ihr Instinkt immer wieder gebot, begann sie auftragsgemäß einzuheizen. Die gnädige Frau legte größten Wert darauf, keine Kohlen zu verschwenden, das hieß, manche Räume gar nicht zu beheizen oder eben erst unmittelbar vor und während ihrer Benutzung. Statt sich räumlich einzuschränken und in wenigstens einem ständig warm gehaltenen Salon zu leben, zelebrierte Charlotte Dornhain, die Mutter des verwitweten Reeders, unverdrossen einen von Traditionen geprägten Alltag. Geradeso, als gäbe es keine neuen Verhältnisse– und als frören die Hausbewohner nicht andauernd, weil es selbst in diesem milden Winter überall stets zu kalt blieb.

Eine Tür schlug. Glas klirrte.

Klara zuckte zusammen.

Der Eimer, randvoll mit Briketts, die sie gerade aus dem Keller geholt hatte, wäre ihr vor Schreck beinahe aus der Hand geglitten. Sie blieb mitten in dem kleinen, nur für das Personal zum Anrichten vorgesehenen Verbindungsraum neben dem Speisezimmer stehen, hielt den Griff fest umklammert und horchte atemlos, um die Herkunft des Geräuschs zu orten.

Doch auf dem Haus lastete die um diese Uhrzeit gewohnte Stille. Klara meinte zwar, über sich Schritte zu hören, die darauf hinwiesen, dass Frieda zwischen den Schlafzimmern der Herrschaften hin und her lief, doch diese vertraute, beruhigende Wahrnehmung konnte sie sich auch einbilden. Das erste Hausmädchen, das in der Dienstbotenhierarchie über Klara stand, war am frühen Abend für gewöhnlich in den Schlafgemächern in der ersten Etage unterwegs, schüttelte Bettwaren auf und richtete alles für die Nachtruhe von Victor Dornhain, seiner Mutter und seiner ältesten Tochter Ellinor, die als einzige der drei Töchter noch zu Hause wohnte.

Wieder klapperte es.

Es klang, als hätte jemand vergessen, eine der Terrassentüren zu schließen.

Die gnädige Frau würde schimpfen, wenn sie wüsste, dass kalte Zugluft in den Salon drang. An die Sicherheit der Hausbewohner, den Wert der Einrichtungsgegenstände und vor allem den Inhalt der Speisekammer gar nicht zu denken.

Einen Atemzug später wurde Klara bewusst, dass niemand im Haus ein Fenster oder eine Tür unkontrolliert offen stehen lassen würde. Und sie hatte sich selbst vor kaum einer halben Stunde vergewissert, dass im Salon alles in Ordnung war.

Waren Fremde durch die Parkanlagen geschlichen und unbemerkt eingedrungen?

Klaras Herz klopfte noch stärker als zuvor, das Pochen schien sich in ihrem Hals zu fangen.

In diesem Moment schallte ein kurzer spitzer Schrei durch den Schacht des Speiselifts, der das Vestibül mit der Küche im Souterrain verband.

Der Schrei kam von unten und nicht aus dem Empfangsraum, auch nicht von der Terrasse. Unverkennbar handelte es sich um die Stimme der Köchin.

Klara brauchte nicht lange, um sich vorzustellen, wie Banditen in die Wirtschaftsräume eindrangen und den weiblichen Majordomus der Dienerschaft bedrohten.

Ida benötigte Hilfe.

Was immer im Salon geschah, es musste warten.

Nach der ersten Schrecksekunde handelte Klara erstaunlicherweise nicht überstürzt, sondern besonnen und zielorientiert. Sorgsam stellte sie den Eimer ab, dann schlich sie auf Zehenspitzen die Personaltreppe hinunter. Je weniger Lärm sie verursachte, desto größer der Überraschungsmoment. Vielleicht konnte sie den oder die Täter überrumpeln und Ida sowie deren Vorräte retten. Dass sie nur eine zarte, viel zu dünne junge Frau von dreiundzwanzig Jahren war, deren Körperkraft nichts gegen die Muskeln der Marodeure ausrichten könnte, kam ihr nicht in den Sinn. Mit jedem Schritt festigte sich Klaras Mut.

SPA, BELGIEN

2

»Ich stelle die Verbindung her, bitte warten Sie«, flötete Lavinia in den Lautsprecher. Sie stöpselte den Leitungsstecker in die zu dem gewünschten Anschluss gehörende Buchse. »Hier kommt ein Gespräch für Sie«, teilte sie dem Empfänger des Anrufs mit.

Einen Moment später leuchtete die Glühbirne über einem anderen Klappschalter auf, eine neue Vermittlung wurde gewünscht. Es schien Lavinia, als liefen die Drähte im wahrsten Sinne des Wortes heiß. Sie war als Telefonistin des Nachrichtenkorps heute dermaßen beschäftigt, dass sie kaum die Zeit fand, einmal in Ruhe durchzuatmen. Und bei all der Hektik legte sich langsam ein sich mit jeder Stunde verschlimmernder Kopfschmerz um ihren Schädel.

Es waren pure Verzweiflung und wohl vor allem verletzter Stolz, die Lavinia Dornhain an die Westfront geführt hatten. Sie wollte weg aus Hamburg, sich darüber hinaus irgendwie nützlich machen, um ihrem verkorksten Leben einen Sinn zu geben. Zunächst war sie von ihrer Freundin verlassen worden, kurz darauf hatte sie erfahren, dass ihr Ehemann ihre Schwester liebte. Selbst nach der langen Zeit konnte Lavinia nicht sagen, welcher Umstand bei ihrer Entscheidung schwerer wog: die Trennung von Alice von Finkenstein oder Konrad Michaelis’ Betrug. Jedenfalls war es richtig gewesen fortzugehen, davon war sie auch zwei Jahre nach diesen Ereignissen noch restlos überzeugt.

Mit ihrem Wunsch, in den Krieg zu ziehen, war sie anfangs auf Widerstand in ihrer Familie gestoßen. Selbst ihre Schwester Nele, die ihr versprochen hatte, sich für sie einzusetzen, konnte ihr kaum helfen. Denn Lavinia war nicht geeignet, den Weg der meisten vornehmen jungen Damen zu gehen und eine Ausbildung zur Krankenschwester zu absolvieren. Schon beim Gedanken an blutige Verbände und volle Bettpfannen drehte sich Victor Dornhains behütetster Tochter der Magen um. Zwar nahmen Lazarettschwestern in der Gesellschaft inzwischen die Stellung von Engeln auf Erden ein, aber selbst dieses hohe Ansehen brachte Lavinia nicht dazu, sich zu überwinden. Alle wussten das– und deshalb förderte niemand ihre Ambitionen.

Die zweite Möglichkeit, dem Vaterland zu dienen, war im Etappendienst. In der Regel wurden diese Tätigkeiten von Frauen ausgeübt, für die es bei Dornhains Personal gab. Schlimmer noch: Frauen, die ihren Dienst als Erdarbeiterinnen oder Pferdemusterer, in Munitionsdepots und Feldküchen leisteten, standen sogar meist auf einer – äußerst niedrigen– Stufe mit den Lohndienern zu Hause. Glücklicherweise wurden an der Front jedoch auch Sekretärinnen und Telefonistinnen benötigt, die aufgrund der erwarteten Vorkenntnisse bessergestellt sein mussten. Schreibarbeiten lagen Lavinia nicht, aber sie hatte immer schon gern telefoniert; ihre gebildete Sprache und ihre angenehme Stimme schienen sie für diese Aufgabe zu qualifizieren. Einzig ihre Ehe bedeutete anfangs ein Hemmnis, denn nur unverheiratete Frauen durften den Postdienst aufnehmen. Victor Dornhain erreichte jedoch schließlich eine Sondererlaubnis für seine jüngste Tochter, zumal Lavinia keine Beamtenlaufbahn anstrebte und ihren Lohn von knapp tausend Mark im Jahr der Kriegskasse spenden würde.

Also wurde sie im Fernmeldeamt an der Schlüterstraße ausgebildet, wo sie sich ausgesprochen gut machte, und anschließend dem weiblichen Nachrichtenkorps an der Westfront zugeteilt. Dass sie ihren Dienst inzwischen im Großen Hauptquartier Seiner Majestät des Kaisers und Königs bei der Obersten Heeresleitung versah, lag allerdings weniger an ihrem Fleiß oder einer besonderen Geschicklichkeit an der Schalttafel, sondern vor allem wieder einmal an ihrer Herkunft. Sie war zwar nicht adelig, wie dies im Bürgertum der Hansestadt trotz tief verwurzelter Kaisertreue traditionell selbst für die ältesten und reichsten Familien üblich war, aber ihr Stand kam dem eines preußischen Junkers sehr nahe. Der Tochter eines Hamburger Reeders trauten die Offiziere anscheinend mehr zu als vielen anderen jungen Frauen mit gleicher Qualifikation.

Lavinia sollte dies nur allzu recht sein. Da fast alle ihre Kolleginnen zwar auch aus gutem Hause, jedoch aus eher bescheidenen Verhältnissen stammten, befand sie sich in ihrem neuen Kreis in einer gehobenen Stellung. Das war etwas, das sie aus vollem Herzen genoss. Dafür nahm sie militärische Disziplin, strenge Regeln und die Unbeugsamkeit der Aufseherinnen in Kauf, selbst die Kleidervorschriften machten ihr kaum zu schaffen. Sie war grundsätzlich gern mit Frauen zusammen, hatte aber bislang nie das passende Podium gefunden. Ihre einstigen Schulkameradinnen waren längst anderer Wege gegangen, und damals, als sie zu den Damen des wohltätigen Freundinnenkreises um die Fürstin Marie Karoline zu Erbach-Schönberg stieß, war sie zu jung und unerfahren, um die erhoffte Beachtung zu finden. An der Westfront indes galt sie unter den Etappenhelferinnen als etwas Besonderes.

Normalerweise machte ihr die zehnstündige Arbeitszeit nichts aus. Sie litt auch nicht so oft wie ihre Kolleginnen unter elektrischen Stromschlägen, Kopfschmerzen, Ohrensausen und ähnlichen bei der Telefonvermittlung üblichen Krankheitserscheinungen. Heute allerdings fühlte sich Lavinia lange vor Ende ihres Dienstes wie gerädert. Das allerdings war kein Wunder nach der Hektik, die bereits seit gestern im Großen Hauptquartier herrschte.

Fast ununterbrochen gingen in der Telefonzentrale des von der Armee besetzten Hotels Britannique Gespräche ein, mussten neue Vermittlungen über das in der benachbarten Villa Buenos-Ayres untergebrachte Telegrafenamt hergestellt werden. Nach Berlin, was zunehmend schwieriger wurde, weil die Leitungen überlastet waren, zu den Feldtelefonen der Truppenkommandeure, zur Station für drahtloses Telefonieren auf einem Anwesen am Stadtrand, auch zur Villa La Fraineuse, wo sich der Kaiser derzeit aufhielt. Lavinia vermied es, in die Telefonate hineinzuhören. Nicht nur weil es verboten war, sondern weil es sie schlichtweg nicht interessierte, was Politiker und Militärs zu besprechen hatten. Dennoch schnappte sie vor allem die Namen des Reichstagsabgeordneten Matthias Erzberger, des Reichskanzlers Max von Baden und des französischen Marschalls Ferdinand Foch auf. Über diese Männer wurde anscheinend in den Verbindungen gesprochen, die Lavinia unter anderem an die Adjutanten von Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg vermittelte. Warum diese Herren über einen in einem Waldstück nördlich von Paris abgestellten Zug debattierten, versuchte sie gar nicht erst zu verstehen. Sie hatte sich noch nie für Politik interessiert und die Anspannung und zunehmende Arbeitsbelastung raubte ihrem Hirn überdies jedes Urteilsvermögen.

Nach einer kurzen Nacht, in der sie traumlos und tief geschlafen, sich aber irrwitzigerweise ständig wach gefühlt hatte, ging es heute nicht besser. Weder Lavinias Gesundheit kam ins Lot– noch der Ansturm auf die Telefonvermittlung ließ nach. Tapfer nahm sie fast ununterbrochen Anrufe entgegen oder schaffte Verbindungen zu den diensttuenden Generaladjutanten, den Militärbevollmächtigten des Königs von Bayern und Sachsen oder den in Spa anwesenden Staatssekretären. Einen speziellen Kopfhörer übergestülpt, hörte sie am späten Nachmittag kaum noch, wer am anderen Ende der Leitung gewünscht wurde. Das unangenehme Rauschen in ihren Ohren, das sie schon den ganzen Tag begleitete, wurde heftiger. Gleichzeitig traten Schweißperlen auf ihre Stirn, kräuselten die Haarsträhnen, die sich aus dem Knoten in ihrem Nacken lösten, die Feuchtigkeit sammelte sich unter ihren Achseln und rann in ihr Korsett, während Schüttelfrost über ihre Arme kroch.

Die junge Frau im Dienst neben Lavinia neigte sich zu ihr. »Du bist ganz rot im Gesicht. Regt es dich so auf, was in Berlin los ist?« Friederike warf einen verstohlenen Blick zur Aufsicht, doch die Frau, die jedem Feldwebel zur Ehre gereichte, schien von irgendetwas am eigenen Schreibtisch abgelenkt zu sein.

Lavinia schüttelte unwillig den Kopf und legte den Finger an ihre Lippen. »Psst!«

»Also, wenn die Abdankung des Kaisers mal kein Grund ist, sich aufzuregen…«

»Bitte?« Lavinia konnte nicht verhindern, dass ihr der Mund offen stehen blieb. Die Hand, die gerade zu einem der Schalthebel greifen wollte, verharrte in der Luft.

»Uns sagt man wieder einmal nichts!«, stieß Friederike hervor. Eiligst fuhr sie fort: »In Berlin hat der Reichskanzler die Thronentsagung bekannt gemacht und der Staatssekretär Philipp Scheidemann hat von einem Fenster im Reichstag herunter die deutsche Republik ausgerufen und zwei Stunden später hat der Abgeordnete Karl Liebknecht vor dem Schloss die Gründung der sozialistischen Republik verkündet. Stell dir vor, alle Truppen in Berlin sind übergelaufen. Sogar das Garderegiment. Wir leben hier wie hinter dem Mond und wissen nicht einmal, dass daheim der Krieg aus ist. Ich sage dir, Weihnachten sind wir demobilisiert!«

»Ich glaube dir kein Wort!«

Ein Deutschland ohne WilhelmII. war für Lavinia unvorstellbar. Sie war kaisertreu erzogen worden, ihr Vater glaubte an die traditionellen Werte Preußens wie die meisten Mitglieder der Hamburger Bürgerschaft. Die Gerüchte über Aufstände und Streiks in deutschen Großstädten hatten zwar auch die Westfront erreicht, aber Proteste gab es immer mal wieder. Sogar hier in den besetzten Gebieten. Lavinia machte sich deswegen keine großen Sorgen. Vor ein paar Jahren war sie beinahe selbst einmal in eine der Hungerrevolten in Hamburg geraten, aber diese Demonstrationen waren schließlich auch niedergeschlagen worden. Es war an dem Tag gewesen, an dem Alice ihre Freundschaft aufkündigte…

Die Birne an der Schalttafel, die Lavinia seit Minuten ignorierte, flackerte nervös. Irgendjemand wartete auf eine Verbindung, aber sie wusste nicht mehr, welche Leitung betroffen war. Ihre Gedanken waren abgeschweift– in eine andere Zeit, fern von ihrer nun gar nicht mehr so neuen Welt im Nachrichtenkorps. Allein der Gedanke an ein sorgloses Weihnachtsfest im Kreis ihrer Familie berührte sie mehr als ihr lieb war. Es kam selten vor, dass Wehmut, Heimweh oder der tiefe Schmerz von damals nach ihr griffen…

Sie versuchte, sich wieder auf ihre Arbeit zu konzentrieren, da wisperte Friederike noch einmal: »Ich wette, dass wir Weihnachten zu Hause sind.« Und einen Atemzug später rief die Kollegin ins Mikrophon: »Hier Zentrale, was belieben?«

Aus den Augenwinkeln nahm Lavinia wahr, dass sie von der Aufseherin beobachtet wurde. Die Lampe vor ihr flackerte noch immer. Um endlich etwas zu tun, stöpselte Lavinia an dem Schaltbrett herum.

Sie wollte sich gerade mit der vorgegebenen kurzen Redewendung aller Fräuleins vom Amt melden, als eine Männerstimme unerwartet in ihr Ohr drang: »…von den Verhandlungen ist nichts Gutes zu erwarten. Dennoch muss der Ruf der Heeresleitung so unbelastet wie möglich bleiben. Das versteht sich natürlich von selbst.«

Die Stimme klang sehr tief, sonor und so angenehm, dass Lavinia den Wunsch verspürte, dem Sprechenden noch einen Moment länger zu lauschen als erlaubt. Es war ebenso verrückt wie verboten, aber Lavinia schien es, als könne sie nicht anders. Deshalb schaltete sie nicht um, sondern verweilte als heimliche Zuhörerin in der Leitung.

»Selbstverständlich«, erwiderte der Gesprächspartner. »Die Verantwortung für einen möglichen Waffenstillstand und alle weiteren Schritte wird auf die Zivilisten geschoben. Es ist von Vorteil, wenn die Heeresleitung bei diesen unsäglichen Verhandlungen in Compiègne außen vor bleibt.«

Lavinia war egal, was geredet wurde, sie wollte nur zuhören und sich an dem volltönenden Bariton erfreuen. Die Sprache des ersten Mannes erschien ihr so wohltuend wie ein Aspirin, selbst als dieser sagte: »Es wird diskutiert, Seine Majestät den Heldentod an der Front sterben zu lassen. Notfalls könnte man dem ein wenig nachhelfen. Die amerikanischen Angriffe östlich der Maas wurden zwar von dem Brandenburgischen Reserve-Infanterie-Regiment erfolgreich abgewehrt, aber Verluste gibt es immer zu beklagen, nicht wahr?«

»Die Notwendigkeit einer solchen Überlegung ist nicht von der Hand zu weisen. Gestern Abend drohte Seine Majestät, mit den Truppen nach Berlin zurückzukehren und die Stadt zusammenzuschießen, wenn es sein müsste. Überdies machte er heute Morgen noch einmal klar, dass er keinesfalls abdanken werde.«

Mit einiger Verspätung begriff Lavinia, worum es ging. Es war schockierend und klang nach Hochverrat. Selbst einer unpolitischen Frau wie ihr war die Dimension der Äußerungen bewusst. Sie hielt erschrocken die Luft an, verschluckte sich jedoch an ihrem eigenen Atem. Der aufkommende Hustenreiz ließ sie würgen. Sie konnte nicht verhindern, dass sie sich laut räusperte.

Die Antwort war ein rhythmisches Schlagen, das in ihrem Trommelfell dröhnte, als würde jemand mit den Fingern auf den Telefonhörer trommeln.

»Hallo? Hallo! Hören Sie mich noch?« Der Mann mit der schönen Stimme schien aufgebracht. »Da ist irgendetwas in der Leitung. Ich hoffe, wir werden nicht abgehört. Wir sprechen uns später. In der Sache ist ohnehin bereits alles entschieden.« Ohne ein weiteres Wort beendete er das Gespräch.

Von Panik erfasst zog Lavinia den Stecker des Anschlusses aus dem Schaltkasten. Der Hustenanfall raubte ihr den Atem, das eben Gehörte wirbelte ihren Verstand durcheinander wie eine Fahrt im Kettenkarussell– nur dass das Gefühl dabei nicht so angenehm prickelnd war.

Es passte nichts zusammen. Friederikes Bericht über die Ausrufung einer deutschen Republik in Berlin ebenso wenig wie die Behauptungen des unbekannten Mannes am Telefon zur Weigerung des Kaisers abzudanken. Sicher war nur, dass sie eben mit angehört hatte, wie zwei Männer einen Mord an Seiner Majestät planten. Heldentod– was für ein harmloser Begriff für eine so schändliche Tat. Es war wie in einer der antiken Tragödien, die ein hilfloser Lehrer Lavinia einst in der Milberg’schen Privatschule für höhere Töchter nahezubringen versuchte und von denen sie wenig mehr behielt als die dramatischen Todesumstände der jeweiligen Hauptfiguren. Nun war sie offenbar Zeugin eines vergleichbaren Komplotts geworden. Wie sollte sie damit umgehen? War es nur dummes Gerede gewesen, das sie zufällig belauscht hatte? Oder drohte dem Kaiserreich tatsächlich eine Gefahr unvorstellbarer Dimension?

Schon allein wegen ihres Vaters musste sie etwas unternehmen, entschied Lavinia. Victor Dornhain verehrte WilhelmII. so sehr, dass er für ihn zu sterben bereit wäre. Sie starrte auf die Schalttafel, konnte aber nicht mehr nachvollziehen, in welche Verbindung sie unbeabsichtigt geraten war. Auch konnte sie sich nicht entsinnen, den überaus melodischen Klang der ersten Männerstimme zuvor einmal gehört zu haben. Wahrscheinlich wäre er ihr aufgefallen. Vielleicht aber auch nicht. Genau genommen befand sie sich in einer Zwickmühle. Sie hatte jemanden belauscht, wusste aber nicht, wen. Sie hatte Schreckliches erfahren, konnte das aber eigentlich nicht zugeben, weil sie einem Verbot getrotzt hatte.

»Nun lassen Sie doch endlich diese Husterei«, unterbrach die Aufseherin Lavinias Gedanken. »Man hört Sie bestimmt schon bis ins Arbeitszimmer von Generalfeldmarschall von Hindenburg persönlich.«

»Ich kann nicht«, japste Lavinia.

»Bitte melden!«, sprach Friederike neben ihr ins Mikrophon, die Augen neugierig auf Lavinia und die Aufseherin gerichtet. »Hier kommt ein Gespräch für Sie.« Friederikes Blicke flogen zwischen den beiden anderen Frauen und der Schalttafel hin und her, als sie die Verbindung herstellte.

»Gehen Sie besser an die frische Luft und beruhigen Sie sich, bevor Sie Ihre Kollegin von der Arbeit abhalten«, forderte die Aufseherin prompt vorwurfsvoll. »Ich übernehme solange Ihren Platz.«

Lavinia blieb nichts anderes übrig als zu weichen. Mit wackeligen Knien erhob sie sich. Als sie sich die Hände an der dunklen Kittelschürze abwischte, die alle Telefonistinnen im Deutschen Reich über eine vorgeschriebene Garderobe ziehen mussten, spürte sie, dass sie schweißgebadet war. Ihre Finger klebten an dem Baumwollstoff. Während sie zu dem kleinen Schrank taumelte, in dem sich ihre Uniformjacke befand, fuhr plötzlich mit der Helligkeit einer leuchtenden Erscheinung eine Idee durch ihr Gehirn.

Mit einem Mal wusste sie, was sie zu tun hatte.

Es war eigentlich ganz einfach: Sie musste in die Villa La Fraineuse und den Kaiser warnen. Natürlich würde sie Seine Majestät nicht selbst sprechen dürfen, aber sie konnte den Wachdienst seiner Leibgarde informieren. Sie würde zu ihrer Reputation angeben, dass sie dem Kaiser in der Vergangenheit mehrfach persönlich begegnet war. Sie war Wilhelm zwar niemals vorgestellt worden, sie hatte ihn nur aus relativer Nähe sehen dürfen, aber ihr Vater genoss das Privileg der Vorstellung. Der Kaiser war früher oft zu Besuch nach Hamburg gekommen, manches Jahr bis zu drei Mal. Er war regelmäßig Gast des Galopp-Derbys gewesen und hatte in der Hansestadt Station auf der Durchreise zur Kieler Woche gemacht, er war auch zum Durchstoß des Elbtunnels und zu anderen Großereignissen angereist. Genau genommen gab es also eine Verbindung zwischen ihr und dem Monarchen. Wenn sie diese glaubhaft vortrug, würde gewiss niemand an ihren Worten zweifeln.

Gedankenverloren streifte Lavinia die Kittelschürze ab und zog die graue Uniformjacke über ihre Bluse. Während sie die Knöpfe schloss, überlegte sie, dass sie sich Ärger mit der Aufseherin einhandeln würde, wenn sie ihr Vorhaben in die Tat umsetzte. Sie würde länger als erlaubt ihrem Platz fernbleiben müssen. Vom Hotel Britannique zur Residenz des Kaisers war es eine halbe Stunde Fußmarsch, vielleicht auch etwas weniger, wenn sie quer durch die Parkanlagen auf der Rückseite des Hotels lief. Aber was bedeutete schon ein Verweis, wenn es um das Leben Seiner Majestät ging? Nachdem bekannt würde, was sie alles auf sich genommen hatte, um die Ermordung des Herrschers zu verhindern, würde man ihr bestimmt gratulieren. Dann wären ihr Vater und ihre Großmutter mächtig stolz auf sie. Wahrscheinlich würde man ihr sogar einen Orden verleihen, frohlockte Lavinia still.

Dieser Voraussicht folgend, verließ sie den fensterlosen Bereich der Telefonistinnen. Sie war so übereifrig in der Umsetzung ihres Vorhabens, dass sie beinahe ihre Kopfbedeckung vergaß. Zwei Schritte zurück, dann griff sie nach ihrer Kappe und stülpte diese im Weiterlaufen über. Zum ersten Mal ärgerte sie sich nicht über den Mangel an Spiegeln in den Hinterzimmern des ehemaligen Luxushotels, das erst im vergangenen Frühjahr zum Hauptquartier umfunktioniert worden war. Ihr Aussehen spielte nun eine untergeordnete Rolle. Auch das war eine neue Erfahrung.

Ein paar Schritte weiter und sie betrat das mit klassizistischen Rundbögen und Stuckornamenten verzierte Foyer. Hinter den hohen Fenstern senkte sich die Dämmerung über das uralte wallonische Kurstädtchen. Im Licht der Kronleuchter glänzten die Abzeichen, Knöpfe und Eisernen Kreuze an den Uniformen der Offiziere, denen Lavinia auf ihrem Weg zum Parkeingang begegnete. Sie achtete auf niemanden, folgte forsch ihrem Plan. Sie blieb nicht einmal stehen, um die aufkommende Kurzatmigkeit zu bekämpfen, die ihr vor lauter Aufregung zu schaffen machte.

Erst eine lebende Mauer beendete diese Zielstrebigkeit. Eine nach einem Holz und schwach nach Nikotin duftende Mauer aus demselben grauen Tuch, aus dem ihre eigene Uniformjacke geschneidert war. Lavinia konnte dem Rücken, der plötzlich vor ihr stand, gerade noch ausweichen, aber im Vorbeigehen verlor sie das Gleichgewicht und stieß gegen den Offizier.

»Was erlauben Sie sich…?«, hob dieser empört an, drehte sich zu ihr um, wirkte kurz verwirrt und fügte dann deutlich galanter hinzu: »Bei anderer Gelegenheit wäre mir diese Annäherung höchst willkommen. Unter den gegebenen Umständen muss ich aber leider auf ein Kennenlernen verzichten.«

Die Stimme!

Unwillkürlich wich Lavinia einen Schritt zurück. Bevor sie den Mann richtig ansah, erkannte sie seine Stimme. Blankes Entsetzen bemächtigte sich ihrer. Sie blickte zu ihm auf, erwartete, dass sich hinter dem melodischen Tonfall ein Monstrum verbarg. Doch sie erkannte ein gut geschnittenes, ungewöhnlich glatt rasiertes Gesicht mit feinen Linien an den Mundwinkeln und um bernsteinbraune, goldgesprenkelte Augen. Er schob seine Mütze über aschblondem, früh ergrautem Haar zurecht, als wollte er einen Hut lüften und es dann doch nicht tun.

Sie öffnete den Mund, traute sich aber nicht, etwas zu sagen. Angst griff mit eiserner Umklammerung nach ihrem Herzen. Diesmal war es nicht die Furcht vor einem Anschlag auf Seine Majestät, sondern um das eigene Leben. Was tat ein Mörder, der einer unfreiwilligen Mitwisserin begegnete?

»Geht es Ihnen nicht gut, mein Fräulein? Sie wirken, als hätten Sie Feindberührung gehabt.«

So ist es, fuhr es Lavinia durch den Kopf.

Langsam begann ihr Verstand wieder zu arbeiten. Wie ein Rad, das sich ruhig zu drehen begann. Ihr fiel ein, dass er nichts von ihrer kleinen Spionage wusste. Sie hatte am Telefon nicht gesprochen und er konnte nicht ahnen, dass er und sein Gesprächspartner ausgerechnet von ihr belauscht worden waren. Erleichtert holte sie Luft. Zudem sagte sie sich, dass ein Mann, der den Heldentod des Kaisers forcieren wollte, in ihrer Gesellschaft nicht zur Tat schreiten konnte. Sie brauchte ihn bloß aufzuhalten…

»Ich bin auf dem Weg zu einem Spaziergang«, erwiderte sie in dem neckischen Tonfall, mit dem sie als junges Mädchen ihre Verehrer zur Begleitung aufzufordern gelernt hatte. Auf dem hohen Niveau des albernen Small Talks wohlerzogener junger Damen war Lavinia eine Meisterin.

Der Offizier reagierte prompt: »Ich würde Sie gerne begleiten, aber leider ruft die Pflicht.«

Seine Antwort alarmierte Lavinia. Als er ansetzte, sich langsam zu entfernen, raffte sie ihren Mut zusammen und benahm sich absolut undamenhaft, um ihn zurückzuhalten: »Wie heißen Sie?«

Es war auf jeden Fall natürlich sinnvoll, dass sie seinen Namen kannte, wenn sie sein Vorhaben zur Anzeige bringen wollte. Um ihn herauszufinden, nahm sie auch unkonventionelle Wege in Kauf. Trotz des guten Vorsatzes zog jedoch glühende Röte über ihre Wangen. Ihr Herz begann zu rasen, als hätte sie diese Ungeheuerlichkeit in Gegenwart ihrer Großmutter begangen.

Verblüfft hielt er inne. »Hauptmann Freiherr von Amann«, erwiderte er nach einer kleinen peinlichen Pause. »Gernot von Amann. Und mit wem habe ich das Vergnügen?«

»Lavinia Dornhain.«

Sie nannte ihm automatisch ihren Mädchennamen, wie sie es meistens tat, obwohl sie in den Verzeichnissen des Nachrichtenkorps natürlich unter dem Namen ihres Mannes aufgeführt war. Als Lavinia Michaelis hatte sie an der Westfront jedoch eigentlich nirgendwo Vorteile. Überdies war ihr recht, wenn Gernot von Amann sie später nicht über die Listen ausfindig machen konnte. Vielleicht schwor er ja Rache, wenn sie seinen Plan vereitelte.

Für einen Moment flackerte in ihr der Gedanke auf, dass es schmeichelhaft wäre, wenn er nach ihr suchte. Ein attraktiver Mann mit angenehmer Stimme und einem Adelsprädikat wäre früher ein ernst zu nehmender Kandidat für einen Flirt gewesen. Damals, bevor sie sich eigensinnig in eine Mesalliance stürzte. Glücklicherweise erinnerte sie sich gerade noch vor dem Einsatz eines tiefen Blicks und entsprechenden Augenaufschlags daran, dass ihr Gegenüber anscheinend ein Teufel in der Verkleidung eines Galans war.

»Achtung!«, brüllte in diesem Moment eine Wache von der Tür, die zum Park hinausging. »Seine Majestät…!«

»Großer Gott«, entfuhr es Gernot von Amann. »Damit hat niemand gerechnet.«

HAMBURG

3

Ebenso leise wie langsam schlich sie die Stiege hinunter. Am Fuß der Treppe beschleunigte Klara ihren Schritt. Im Vorbeilaufen griff sie nach einem Schirm, der sich in der dafür geeigneten Metallvase an der Dienstbotengarderobe befand. Besser dies als nichts zur Verteidigung gegen die Einbrecher. Der Überraschungsmoment allein würde sicher weder Ida beschützen noch den Inhalt der Speisekammer retten.

Sie holte tief Luft, schloss für eine Sekunde die Augen und stieß dann die Küchentür auf. Den Schirm wie einen Degen schwenkend, stürzte sie tapfer vorwärts.

Ein Messer flog unmittelbar an ihrem Gesicht vorbei.

Klaras Herz machte einen Salto. Es pochte plötzlich nicht mehr nur an Ort und Stelle, sondern überall in ihrem Körper.

Für einen Atemzug fassungslos, wich sie zurück, um im nächsten Moment mit dem Schirm auf den Fremden zu zielen, den sie vage aus den Augenwinkeln ausmachte. Er war viel größer als sie und wirkte sehr kräftig, aber das spielte keine Rolle. Sie stach blind zu, von ihrer Furcht und Wut angetrieben. Dabei brüllte sie aus Leibeskräften, ähnlich einem wilden Stier beim Angriff. In ihren Ohren hallte ihre eigene, plötzlich so fremde Stimme.

Den Tumult um sich herum nahm sie kaum wahr. Sie hörte weder Idas neuerlichen Aufschrei noch die von dem Mann ausgestoßenen Worte, als sich Klara auf ihn stürzte.

»Hör auf damit!« Ida packte Klaras Oberkörper. »Was is’n mit dir los, Deern? Was machst du mit dem Henning? Der hat doch nichts getan!«

Holz barst. Der Stock brach in Klaras Hand. Fast zeitgleich schoss ein stechender Schmerz durch ihren rechten Arm zur Schulter. Erschrocken jaulte Klara auf. Ihr wurde schwindelig. Hätte Ida sie nicht festgehalten, wäre sie womöglich in die Knie gegangen. Der Schirm fiel aus ihrer Hand.

Langsam kam sie zur Besinnung. Henning? Wer war Henning? Sie kannte keinen Mann dieses Namens. Warum sprach Ida so milde von dem Kerl, der sie überfallen und mit einer spitzen Klinge bedroht hatte?

»Das Messer…«, keuchte Klara. Es klang wie ein Stöhnen.

Ein Stuhl wurde unter ihre Knie geschoben. »Hinsetzen!«, befahl Ida.

Widerwillig sank Klara nieder. Sie hielt den rechten Arm mit der linken Hand umschlossen. Ihr Denkvermögen war eingeschränkt. Deshalb dauerte es eine Weile, bis sie den Fehler in ihrer Wahrnehmung begriff: Die Köchin war offenbar bei bester Gesundheit und bedurfte ihrer Hilfe nicht. Aber Ida hatte geschrien! Klara hatte das aufgeregte Kreischen genau gehört. Warum wirkte die ältere Frau dann so fidel und gar nicht, als wäre sie um ihre Vorräte besorgt?

»Na, hier geht ja ganz schön die Post ab«, meinte eine raue Männerstimme amüsiert. »Hätt ich nicht gedacht.«

»Das Mädchen hat sich erschreckt. Kein Wunder bei alldem, was auf den Straßen passiert.«

Klara fühlte sich wie im Spiegelkabinett auf dem Hamburger Dom. Alles wirkte auf sie wie verzerrt. Bevor sie sich jedoch Klarheit verschaffen konnte, donnerte eine dritte Stimme von der Tür her: »Was ist hier los?«

Sie wischte sich über die feuchten Augen, ohne die Tränen aufhalten zu können, die ihr über die Wangen strömten. Angst und Erschöpfung lösten sich in Erleichterung auf. In der Gewissheit, dass nun alles gut würde, blickte sie zur Tür.

Herr Richter stand da, ein Gewehr im Anschlag. Der Vorname des langjährigen Kontorboten, Morgenmanns und Chauffeurs von Victor Dornhain war Klara nicht bekannt; sie brauchte ihn auch nicht zu wissen, da er eine Respektsperson war, die man nicht anders ansprach als mit der Höflichkeitsform.

»Ach Gott! Ach Gott!« Ida schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Sind denn nun alle hier im Haus von den guten Geistern verlassen? Nehmen Sie bloß die Waffe runter, bevor Sie jemanden verletzen!«

Richter kam der Aufforderung unverzüglich nach. »Ich hörte fürchterliches Geschrei«, rechtfertigte er sich.

»Nicht der Rede wert«, mischte sich der Mann ein, den Ida Henning genannt hatte. Er trat vor und zog das Messer aus der großen Kartoffel, die auf dem Gewürzschrank neben der Tür lag. »Ich habe Frau Ida nur gezeigt, dass man Dinge, die man als Kind lernt, nicht vergisst. Mit dem Messerwerfen klappt es seit meiner Zeit beim Zirkus ziemlich gut.« In einer Mischung aus Stolz, Bewunderung und Zuneigung wog er das Wurfgerät in seiner Hand. »Meine Franziska hier hat mich noch nie enttäuscht.«

»Maat, Sie sind angestellt, die Speisekammer zu bewachen. Nicht, um das Personal mit irgendwelchen Spielereien zu erschrecken!«, polterte Richter.

»Aye, aye!«

»Lassen Sie man, lieber Richter«, schritt Ida besänftigend ein. »Gönnen Sie einer alten Frau in diesen schweren Zeiten doch ein kleines Vergnügen.«

Sie maß den hochgewachsenen, mageren Mann, dessen Haar unter der Mütze im Lauf der Jahre fast vollständig ergraut war, mit einem skeptischen Blick. Richter hatte die Uniform seit Kriegsbeginn nicht abgelegt, obwohl er seit einer Verwundung nur noch Reservist war. In fast vorwurfsvollem Ton fragte sie: »Was machen Sie eigentlich hier? Ich habe das Automobil gar nicht vorfahren hören.«

Richters bleiche Wangen färbten sich rot vor Zorn. »Herr Dornhain musste sich beeilen, nach Hause zu kommen, weil die Ausgangssperre auf sechs Uhr vorverlegt wurde. Beinahe hätten wir den Alsterdampfer verpasst. Der Wagen ist nämlich vom Arbeiterrat beschlagnahmt worden! Sie werden nicht glauben, wer aus dem Gefängnis befreit wurde und jetzt damit durch die Gegend fährt…«

»Wo sind sie?«

Klara erhob sich automatisch. Ihre Knie fühlten sich an wie Butter, die zu lange in der Sonne gelegen hatte, sodass sie auf wackeligen Beinen stand, als Ellinor Dornhain in die Küche stürmte, einen Brieföffner in der Hand. Es stand außer Frage, dass das gnädige Fräulein diesen benutzen würde, wenn es sein musste. Das energische Auftreten der ältesten Reederstochter verlangte Respekt und wirkte irgendwie despotisch. Ihr Körper in der stets schlichten Garderobe wirkte angespannt, in den attraktiven Gesichtszügen der Neunundzwanzigjährigen stand jener Mut, für den Klara sie schon immer zutiefst bewundert hatte.

Verwirrt sahen alle zur Tür.

Richter fand als Erster die Sprache wieder: »Es ist nichts passiert, gnädiges Fräulein, nur ein Missverständnis. Klara hat sich über die Anwesenheit von Maat Claassen erschrocken und…«

»Maat Claassen?!«, wiederholte Ellinor ungehalten.

»Zur Stelle, gnädiges Fräulein!« Henning tippte mit der Hand an seine Matrosenmütze. Klara fiel auf, dass an seiner Kopfbedeckung in goldfarbenen Metalllettern nur »S.M.S.« für »Seiner Majestät Schiff« prangte und nicht, wie es meist üblich war, der Name des Schiffs, auf dem er gedient hatte.

Die Spitze des Dolchs in Ellinors Hand richtete sich auf den Fremden. »Was tun Sie hier, Maat Claassen?«

»Ihr Herr Vater hat mich vom Heuerbüro direkt hierhergeschickt, gnädiges Fräulein. Ich soll Wache schieben.«

»Warum sieht es dann nicht danach aus?« Ellinor klang, als würde sie keine Stellungnahme erwarten, und tatsächlich antwortete ihr betretenes Schweigen. Langsam senkte sie den Brieföffner. Sie kniff die Lider zusammen, ihre blauen Augen wanderten von einem zum anderen, verweilten einen Moment länger auf Klara. »Was ist mit deiner Schulter passiert?«

Sowohl Ida als auch Richter und Henning hoben gleichzeitig zu einer Erklärung an.

Nur Klara blieb still. Es war ihr peinlich, plötzlich im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses zu stehen. Ihr Kopf dröhnte von dem Stimmengewirr, das über sie hereinbrach. Nach einer kleinen unbedachten körperlichen Regung raste wieder der stechende Schmerz durch ihre Glieder. Am liebsten hätte sie aufgeschrien. Doch statt einen Laut von sich zu geben, presste sie die Lippen aufeinander. Sie setzte sich wieder hin, obwohl sie in Anwesenheit des gnädigen Fräuleins hätte stehen bleiben müssen. Aber auf Formalitäten konnte Klara keine Rücksicht nehmen, wenn sie nicht in Ohnmacht fallen und möglicherweise mit dem Kopf auf den Fliesen aufschlagen wollte. War ihr so schummerig von den Schmerzen? Oder war der Schwindel eine Folge der Mangelernährung, die längst auch das Personal in den Villen an der Alster erreicht hatte?

Nachdem sie eine Weile lang abgewartet hatte, übertönte Ellinors autoritäre Stimme das Durcheinander: »Bitte der Reihe nach!«

Unverzüglich kehrte Ruhe ein.

Bevor jedoch Ellinor oder jemand anderer wieder das Wort ergriff, durchschnitt ein Knall das kurze Schweigen. Der Laut klang wie die Feuerwerkskörper, die an den fast vergessenen friedlichen Sommerabenden der Vorkriegszeit von der Terrasse des Uhlenhorster Fährhauses abgeschossen wurden. Dem einen Böller folgte allerdings kein zweiter– so wie damals, als Sterne in die Alster regneten. Die plötzlich eintretende seltsame Stille schien kein noch so leises Geräusch zu stören. Der Begriff Totenstille fuhr durch Klaras Gedanken. Ein Frösteln kräuselte die rotblonden Haare in ihrem Nacken.

Mit einem ungewöhnlich lauten Zischen stieß Ida die angehaltene Luft aus. »Da bringt wohl einer das Automobil des gnädigen Herrn zurück«, meinte sie, »und kündigt sich mit einer Fehlzündung an.«

»Nein!«, widersprach Henning Claassen. »Das war ein Schuss! Und der ist nicht auf der Straße abgefeuert worden.«

4

Ellinor Dornhain kam es vor, als hätte die Explosion direkt neben ihr stattgefunden. Das schreckliche Geräusch hallte in ihr nach wie ein Echo. Nicht, dass der Schuss besonders laut gewesen wäre. Sie hatten ihn zwar deutlich gehört, aber ohrenbetäubend war er nicht. Doch Ellinor fühlte sich wie selbst getroffen.

Unfähig, sich zu rühren, sah sie zu, wie Richter gefolgt von Maat Claassen an ihr vorbei zum anderen Ende des Souterrains in Richtung Gartentür stürmte. Sie wollte den Männern nacheilen, doch ihre Beine versagten ihr den Dienst. Das Rauschen und Sausen in ihren Ohren wurde fast unerträglich, brachte sie aber wenigstens wieder zur Besinnung.

Sie fürchtete nichts so sehr wie den Verlust ihrer Contenance. Ein hysterischer Anfall erschien Ellinor schlimmer noch als ein Überfall durch hungrige Aufrührer. Die Leute wollten ja eigentlich vor allem Brot, was sie ihnen nicht verdenken konnte. Sie, die seit Jahren ehrenamtlich in Armenküchen arbeitete, sich für eine Verbesserung der Situation vor allem von minderjährigen Prostituierten einsetzte und für das Frauenwahlrecht kämpfte, hatte viel Verständnis für die Arbeiterbewegung. Dennoch legte sie in ihrem Zuhause größten Wert auf die Einhaltung gewisser Standesregeln.

Dieser Sinn für Haltung gewann endlich wieder die Oberhand. Mit einer Geste, die einer Königin zur Ehre gereicht hätte und das Ergebnis der traditionsbewussten Erziehung ihrer Großmutter war, bedeutete Ellinor den in der Küche verbliebenen Dienstboten, auf ihren Plätzen zu bleiben.

»Wir brauchen uns keine Sorgen zu machen«, versicherte sie Ida und Klara, wobei der Klang ihrer Stimme sie irgendwie sogar selbst beruhigte. »Richter und Maat Claassen werden sich davon überzeugen, dass alles in Ordnung ist. Hauptsache, alle Hauseingänge sind gut verschlossen.«

»Die Tür … die Terrassentür zum Salon stand offen, als ich eben oben war …«, haspelte Klara. Sie richtete sich etwas auf, um halb stehend, halb sitzend zu Ellinor zu sprechen.

»Hast du sie nicht verschlossen?«

»Nein, gnädiges Fräulein. Es tut mir leid. Ida schrie und … und … da bin ich gleich nach unten gelaufen …«

Zum zweiten Mal binnen weniger Minuten fürchtete Ellinor, die Nerven zu verlieren. Sie zwang sich zu einer Art Galgenhumor, mit dem sie ihren Ärger herunterzuspielen versuchte: »Nun ja, dann haben die Banditen eben freien Eintritt ins Haus.« Sie atmete tief durch und wandte sich zum Gehen. »Ida, Klara, sorgt dafür, dass wenigstens die Speisekammer und die Seitentür gesichert sind. Ich sehe oben nach dem Rechten.«

Während Ellinor die Treppe hinauflief, betete sie, dass ihnen ein Vorfall wie den Schulte-Stollbergs erspart bliebe. Glücklicherweise waren die Freunde nicht zugegen gewesen, als ihre Villa ausgeraubt wurde. Ellinor befürchtete, dass Schulte-Stollbergs unter anderen Umständen weit mehr als den Verlust irgendwelcher Silberwaren oder Flaschen vorzüglichen Rotweins, einiger Räucherwürste und Dosen mit Kaffeebohnen beklagen müssten. Das Herz der alten Lucia Schulte-Stollberg hätte die Aufregung womöglich noch schlechter verkraftet als Charlotte Dornhains Gesundheit jeglichen Skandal in der Familie. Doch die Freundin ihrer Großmutter befand sich seit Längerem in ihrem Landhaus in Blankenese und damit wohl in Sicherheit, Gegenteiliges war nicht bekannt. Und Christian Schulte-Stollberg, Ellinors alter Verehrer, weilte noch immer in Berlin, wobei sie nicht wusste, wie es ihm in den Wirren, von denen man hörte, als Mitarbeiter im Reichsschatzamt erging.

Von ferne vernahm Ellinor Rufen. Sie verstand zwar kein Wort, aber der Tonfall beruhigte sie. Offenbar streiften Richter und Maat Claassen durch die zur Außenalster hin abfallenden Anlagen auf der Suche nach dem Schützen. Der bis zum Wasser reichende Privatpark wurde – wie die Gärten der Nachbarn – von dem mit Kastanien gesäumten Harvestehuder Weg durchschnitten, der einst zu Ausritten und Spaziergängen eingeladen hatte, als man sich noch zu Ausflügen vor die Tür wagte. Bei den gegenwärtigen Verhältnissen war die Straße ein idealer Fluchtweg.

Ellinor blieb mitten in der Eingangshalle stehen. Als sie sah, dass die Tür zum Salon nur angelehnt war, hörte sie auch schon das Klappern der Terrassentür, die wahrscheinlich in der Zugluft hin- und herschwang. Wie dumm von Klara, zu Ida in die Küche zu rennen, statt sich um die Sicherheit im Parterre zu kümmern!

Sie wollte gerade in den Salon treten, als sie von einem ungewohnten Geräusch aufgehalten wurde, das aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters nach draußen drang. Seltsamerweise hatte sie nicht daran gedacht, dass ihr Vater bereits im Haus sein musste.

Wahrscheinlich brachte Victor gerade irgendwelche Papiere oder Wertgegenstände in Sicherheit vor einem möglichen Einbrecher. Dennoch irritierte Ellinor diese logische Erklärung. Eigentlich hätte sie ihren Vater eher an der Terrassentür vermutet, wo er aus der Sicherheit des Salons die Vorgänge in seinem Garten beobachtete, als in seinem Arbeitszimmer. Immerhin war am Alsterufer geschossen worden!

Oder befand sich ein Räuber bereits vor dem in die Bücherwand eingelassenen Tresor?

Ellinor zögerte. Wie gehetzt blickte sie sich um. Unbestimmte Gedanken schlugen über ihr zusammen wie Meereswellen über einer Schwimmerin.

Schließlich folgte sie ihrem Instinkt. Sie packte den Brieföffner fester und trat in das Arbeitszimmer ihres Vaters.

Im nächsten Moment wich sie zurück. Der ungewöhnliche Anblick ließ sie die Bedrohung vergessen.

Am Schreibtisch des Hausherrn saß Charlotte Dornhain. Die alte Dame wirkte in dem Lederstuhl ein wenig versunken und trotz ihrer stets aufrechten Haltung klein und zerbrechlich.

Ellinor hatte ihre Großmutter nie zuvor auf diesem Platz gesehen. Unwillkürlich flogen ihre Blicke zu dem tiefen Sessel, in den sich die alte Dame für gewöhnlich setzte. Er war leer.

Die Schreibtischlampe warf ihren gelben Lichtkegel auf die blau geäderten, mit braunen Altersflecken übersäten Hände der alten Dame. In ihren zitternden Fingern hielt Charlotte offensichtlich eng beschriebene Briefbögen. Ellinor konnte sich nicht erinnern, dass die Hände ihrer Großmutter jemals gezittert hatten. Schwäche passte nicht zu Charlottes Charakter. Aber offenbar fürchtete sie sich vor den Aufrührern.

»Uns droht keine Gefahr. Richter und dieser Maat, den Vater engagiert hat, sehen im Garten nach dem Rechten«, erklärte Ellinor hastig.

»Mein Sohn ist desertiert!«

»Wie bitte?« Ellinor hatte nicht die geringste Ahnung, was ihre Großmutter meinte. Sie trat näher. Das kalte Metall des Brieföffners brannte auf ihrer Haut. Sie legte den Dolch vorsichtig auf den Schreibtisch, vor dem sie stehen blieb.

Charlotte hob ihren Blick und Ellinor stellte bestürzt fest, dass die Augen der Alten in Tränen schwammen. »Setz dich hin«, Charlottes Stimme klang jedoch fest wie immer. Die leichte Heiserkeit begleitete ihren rauen Ton, seit Ellinor denken konnte. Dennoch schwang eine seltsame Leere in ihren Worten, als Charlotte ungeduldig wiederholte: »Setz dich endlich hin, Ellinor. Glaube mir, das ist besser für dich.«

Wie hypnotisiert folgte sie der Aufforderung.

»Hier ist ein Brief für dich. Lies ihn!«

Sie wollte ablehnen, aber natürlich widersetzte sie sich nach einem kurzen Aufflackern von Trotz nicht dem Wunsch der alten Dame. Schweigend nahm sie die Bögen zur Hand, welche die Großmutter ihr reichte. Ellinor erkannte die Schrift ihres Vaters. Das Bild verschwamm kurz vor ihren Augen, gewann jedoch rasch an Konturen, etwa so wie eine Landschaft hinter sich lichtendem Nebel. Überrascht las sie die erste Zeile mit dem heutigen Datum – Hamburg, den 9. November 1918 – und dann die Anrede: »Liebe Ellinor …«

Sie sah ihre Großmutter über den Rand des ersten Blattes an. »Das Schreiben ist für mich bestimmt.«

»Ja«, lautete die knappe Antwort.

»Wieso hast du einen Brief von meinem Vater an mich gelesen?«

»Warum nicht? Anscheinend bin ich die einzige vernunftbegabte Person in diesem Haushalt.« Charlotte machte eine wegwerfende Handbewegung. »Lies das und dann kannst du dich immer noch aufregen, wobei sich der Grund ändern dürfte.«

Der potenzielle Einbrecher geriet in den Hintergrund. Ellinor wagte nicht, ihre Großmutter an den Schuss zu erinnern. Ergeben begann sie, die Worte ihres Vaters zu entziffern.

Er erklärte ihr, wie sehr er ihre Zuverlässigkeit schätzte und dass er sie deshalb zu seiner Nachfolgerin erzogen hatte. Das wusste sie alles. Deshalb hatte sie ihm sogar heute Morgen noch gezürnt. Sie hatte ihn gebeten, sie zu der eiligst einberufenen Sitzung des Vereins Hamburger Rheder mitzunehmen. Doch ihr alter Herr hatte ihr – ebenso wie allen anderen weiblichen Mitgliedern des Haushalts, gleichgültig ob Herrschaft oder Personal – eine Art Stubenarrest auferlegt. Die Lage in der Stadt sei zu unübersichtlich und gefährlich, Frauen hätten dort nichts verloren. Das mochte stimmen, aber Ellinor wollte sich unbedingt selbst ein Bild von den Geschehnissen machen. Es hieß, dass Barrikaden errichtet worden seien, Schüsse knallten am Hafen, rund um Rathaus und Stadthaus, beim Polizeipräsidium sowie beim Gewerkschaftshaus am Besenbinderhof. Und nun auch in ihrem eigenen Garten! Es gab also hier wie dort keinen Schutz vor dem Chaos. Sein Befehl erwies sich sogar rückwirkend als blanker Unsinn.

Wieder drangen aufgeregte Männerstimmen in Ellinors Bewusstsein. Die Doppelfenster waren nicht dicht genug, um den Schall abzufangen. Sie vernahm ein Rufen, das wie »hier« und »schnell, schnell« klang. Aber sie verstand nicht wirklich, was in den Anlagen jenseits der hohen Fenster vor sich ging. Wieder war sie ausgeschlossen.

Ellinor richtete sich kerzengerade auf. »Wo ist Vater?«

»Lies weiter!«

Etwas am Verhalten ihrer Großmutter riet ihr, nicht zu insistieren. Mit gerunzelter Stirn ließ sich Ellinor über die zweite Sache in dem Brief informieren, die ihr bereits bestens bekannt war: dass nämlich Nele, ihre jüngere Schwester, den Mann von Lavinia, dem Nesthäkchen der Familie, liebte. Konrad Michaelis musste Livi vor sechs Jahren auf Druck des Vaters heiraten, nachdem die kleine Närrin einen Skandal provoziert hatte, der dem aufstrebenden Architekten keine Wahl ließ. Es hing alles irgendwie mit dem damaligen zweiten Hausmädchen zusammen, das seine Stellung überschätzte, eine Indiskretion beging und die Privatpost der Herrschaft las. Meta war die Freundin des Gesindemaklers gewesen und ihre Entlassung brachte schließlich auch Bruno Sievers in Verruf. Dem Schreiben ihres Vaters entnahm Ellinor, dass dieser Sievers im zweiten Kriegsjahr ins Gefängnis kam. Meta war tot, das hatte Ellinor schon vor Längerem gehört, aber der frühere Liebhaber trumpfte offenbar wieder auf. Er war zu Beginn der Unruhen vor drei Tagen befreit worden und hatte sich heute erdreistet, Victor Dornhain in dessen Kontor aufzusuchen, zu bedrohen und anscheinend auch zu erpressen …

Ellinor starrte auf den Brief. Wieder und wieder las sie die dem Bericht über Sievers folgenden Zeilen. Die Worte ergaben für sie keinen Sinn. Es war das Geständnis eines Mannes, der offensichtlich nicht ganz bei Trost war. Unmöglich, dass diese Sätze von ihrem Vater stammten.

Das ist eine Fälschung, fuhr es Ellinor durch den Kopf. Böswillig und vernichtend. Sie warf die Schriftstücke auf den Tisch, wobei die einzelnen Blätter durcheinandergerieten.

»Warum hast du diese Ungeheuerlichkeit nicht vernichtet?«, fuhr sie ihre Großmutter in ungewohnt harschem Ton an. »Ich weigere mich, auch nur ein Wort mehr von diesem diffamierenden Dreck zu lesen.«

»Es ist die Wahrheit«, presste Charlotte hervor. »Ich weiß, dass es die Wahrheit ist!«

»Du willst sagen …« Ellinor unterbrach sich, benetzte die Lippen mit der Zungenspitze, schluckte. Dann: »Großmutter, ich verstehe dich nicht. Du meinst, dass dieses Gewäsch wirklich von Vater geschrieben wurde und dass sich alles so zugetragen hat, wie es hier«, sie tippte mit dem Zeigefinger auf den Brief, »dargestellt wird? Entschuldige, das kann ich nicht glauben!«

»Lies weiter«, wiederholte Charlotte tonlos.

Ellinor schüttelte den Kopf. Sie konnte jedoch eine gewisse Neugier nicht unterdrücken. Ihre Augen flogen erneut zu den Papieren, blieben zufällig irgendwo zu Beginn des vorletzten Absatzes hängen: »Ich fühle mich dem Leben nicht mehr gewachsen. Meine Welt ist zerbrochen. Ich werde gehen …«

»Gnädiges Fräulein! Fräulein Ellinor!« Das aufgeregte Rufen kam näher. Es gehörte zu Richter.

Ellinor sprang auf. Sie wusste plötzlich nicht, wohin mit ihren angstgelähmten Gedanken. Sie konnte nicht mehr sortieren, was ihr durch den Kopf ging. Fast verzweifelt versuchte sie, auf das vertraute Pochen des Gehstocks zu lauschen, das Victors Schritte ankündigte.

Die Frage sprudelte über ihre Lippen, bevor sie die Worte bewusst gewählt hatte: »Wo ist Vater?«

Ihre Großmutter schloss die Augen – und das war eine eindeutige Antwort.

»Fräulein Ellinor!« Plötzlich stand Richter schwer atmend im Raum. Er ließ die Schultern hängen und drehte seine Mütze in den Händen. Sein Gesicht war kalkweiß, der Blick wässrig und seltsam unstet. »Gnädige Frau«, brachte er zwischen zwei schweren Luftstößen respektvoll hervor. Er wirkte, als sei er zu schnell gelaufen. Oder als stehe er unter Schock.

»Ist er …?«, murmelte Charlotte. Sie sprach das schreckliche Wort nicht aus, aber Ellinor hatte das Gefühl, es so deutlich gehört zu haben wie die Glocke von St. Johannis, wenn sie als kleines Mädchen an der Hand ihres Vaters zum Gottesdienst gegangen war.

Tot.

»Es ist furchtbar!« Die Antwort des langjährigen Dienstboten von Victor Dornhain klang wie ein Schluchzen. »Wir haben ihn unter der Weide am Alsterufer gefunden.«

»Bewahren Sie Haltung, Richter«, erwiderte Charlotte ruhig. »Mein Sohn würde das von Ihnen erwarten.«

Ellinor weigerte sich zu begreifen, was ihr Verstand ihr zuflüsterte. »Könnte ich bitte erfahren, was los ist?«

Obwohl sie zu Richter gewandt stand, registrierte sie, wie ihre Großmutter mit einer raschen Bewegung die Briefbögen zusammenraffte und in einer Schreibtischschublade verschwinden ließ.

»Der Schuss, Fräulein Ellinor«, hob Richter mit zitternder Stimme an. »Ihr Herr Vater … er hat … er hat sich erschossen …« Während er sprach, war sein Ton immer leiser geworden, bis er ganz erstarb.

»Was?«

Hilflos blickte Ellinor von dem Dienstboten zu ihrer Großmutter und wieder zurück.

Erst mit einiger Verzögerung wurde sie sich der Tragweite dessen bewusst, was Richter gesagt hatte.

Vater ist tot.

In Gedanken wiederholte sie die Worte in der Hoffnung, etwas missverstanden zu haben. Wie eine Schallplatte, die unaufhörlich dieselbe Tonsequenz auf dem Grammophon abspielte, drehte sich dieser eine Satz in ihrem Gehirn: Vater ist tot.