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Jojo Moyes

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Beschreibung

Mit dem weltweiten Bestseller «Ein ganzes halbes Jahr» eroberte Jojo Moyes die Herzen von Millionen Leser:innen. In ihrem neuesten Roman schreibt sie über fünf starke Frauen, die um ihr persönliches Glück kämpfen. Gegen die Widerstände einer Zeit, in der Bildung und Freiheit für Frauen alles andere als selbstverständlich waren.   1937: Hals über Kopf folgt die Engländerin Alice ihrem Verlobten Bennett nach Amerika. Doch anstatt im Land der unbegrenzten Möglichkeiten findet sie sich in Baileyville wieder, einem Nest in den Bergen Kentuckys. Mächtigster Mann ist der tyrannische Minenbesitzer Geoffrey Van Cleve, ihr Schwiegervater, unter dessen Dach sie leben muss. Neuen Lebensmut schöpft Alice erst, als sie sich den Frauen der Packhorse Library anschließt, einer der Bibliotheken auf dem Lande, die auf Initiative von Eleanor Roosevelt gegründet wurden. Wer zu krank oder zu alt ist, dem bringen die Frauen die Bücher nach Hause. Tag für Tag reiten sie auf schwer bepackten Pferden in die Berge. Alice liebt ihre Aufgabe, die wilde Natur und deren Bewohner. Und sie fasst den Mut, ihren eigenen Weg zu gehen. Gegen alle Widerstände. Eine Feier des Lesens und der Freundschaft. Eine große Liebesgeschichte. Ein Buch, das Mut macht.

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Jojo Moyes

Wie ein Leuchten in tiefer Nacht

Roman

Aus dem Englischen von Karolina Fell

Über dieses Buch

1937: Hals über Kopf folgt die Engländerin Alice ihrem Verlobten Bennett nach Amerika. Doch anstatt im Land der unbegrenzten Möglichkeiten findet sie sich in Baileyville wieder, einem Nest in den Bergen Kentuckys. Mächtigster Mann ist der tyrannische Minenbesitzer Geoffrey Van Cleve, ihr Schwiegervater, unter dessen Dach sie leben muss. Neuen Lebensmut schöpft Alice erst, als sie vier Frauen von der Packhorse Library kennenlernt: eine der Bibliotheken auf dem Lande, die auf Initiative der Präsidentengattin Eleanor Roosevelt gegründet wurden. Wer zu krank oder zu alt ist, dem bringen die Frauen die Bücher nach Hause. Tag für Tag reiten sie auf schwer bepackten Pferden zu den abgelegenen Farmen in den Bergen. Alice liebt ihre Aufgabe, die wilde Natur und deren Bewohner. Und sie fasst den Mut, ihren eigenen Weg zu gehen. Auch in der Liebe. Gegen alle Widerstände.

Vita

Jojo Moyes, geboren 1969, hat Journalistik studiert und für die «Sunday Morning Post» in Hongkong und den «Independent» in London gearbeitet. Der Roman «Ein ganzes halbes Jahr» machte sie international zur Bestsellerautorin. Zahlreiche weitere Nr.-1-Bestseller folgten. Jojo Moyes lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern auf dem Land in Essex.

Für Barbara Napier, die mir Sterne geschenkt hat, als ich sie brauchte.

Und für alle Bibliothekarinnen.

Prolog

20. Dezember 1937

Hört zu: Drei Meilen tief im Wald, direkt unterhalb von Arnott’s Ridge, ist die Stille so kompakt, dass man glaubt, hindurchzuwaten. Nach der Morgendämmerung gibt es kein Vogelgezwitscher mehr, nicht einmal im Hochsommer, und ganz besonders nicht jetzt, wenn die eisige Luft so feucht ist, dass die wenigen Blätter, die sich noch an den Ästen festklammern, schlaff herunterhängen. Auch unter den Eichen und Grannenkiefern rührt sich nichts; die Tiere haben sich tief in den Boden gegraben, schmiegen ihre weichen Pelze in engen Höhlen oder hohlen Baumstämmen aneinander. Der Schnee ist so hoch, dass die Beine des Maultiers bis über die Sprunggelenke darin verschwinden und es alle paar Schritte unsicher wird und misstrauisch schnaubt. Nur das kleine Flüsschen weiter unten strömt munter voran, sein klares Wasser rauscht und schäumt über das steinige Flussbett in Richtung einer Mündung, die kein Mensch hier je gesehen hat.

Margery O’Hare bewegt ihre Zehen in den Stiefeln, aber sie hat schon längst jedes Gefühl darin verloren und zuckt bei dem Gedanken an die Schmerzen zusammen, die sie haben wird, wenn ihre Füße endlich wieder warm werden. Drei Paar Wollsocken, aber man fühlt sich bei diesem Wetter trotzdem, als wäre man barfuß unterwegs. Sie streichelt den Hals ihres großen Maultiers, streift mit ihren schweren Männerhandschuhen die Eiskristalle weg, die sich auf seinem dichten Fell bilden. «Heute bekommst du eine Extraration, Charley», sagt sie und sieht die riesigen Ohren zurückzucken. Sie verlagert ihr Gewicht im Sattel, richtet die Satteltaschen aus, damit die Last gleichmäßig auf dem Tier verteilt ist, während sie sich ihren Weg hinunter zum Fluss suchen. «Ich gebe dir heute Abend warmen Zuckerrübensirup ins Futter. Könnte sogar auch was für mich sein.»

Noch vier Meilen, denkt sie und wünscht sich, sie hätte mehr zum Frühstück gegessen. Noch den Steilhang hinauf, über den Goldkieferpfad und durch zwei weitere Geländesenken, dann wird die alte Nancy auftauchen, Kirchenlieder singend, wie sie es immer tut mit ihrer klaren, kräftigen Stimme, die durch den Wald schallt, während sie ihr wie ein Kind die Arme schlenkernd entgegengeht.

«Sie müssen nicht fünf Meilen marschieren, um mich zu treffen», erklärt sie der alten Frau alle vierzehn Tage. «Das ist unsere Aufgabe. Deswegen sitzen wir im Sattel.»

«Oh, ihr Mädchen tut schon genug.»

Sie kennt den wahren Grund. Nancy, ebenso wie ihre ans Bett gefesselte Schwester Phyllis in dem winzigen Blockhaus bei Red Lick, kann nicht einmal den Hauch der Möglichkeit ertragen, dass sie ihren Lesenachschub verpassen könnte. Sie ist vierundsechzig Jahre alt, hat drei gute Zähne und eine Schwäche für gutaussehende Cowboys. «Bei diesem Mack Maguire kriege ich das Flattern wie ein frischgewaschenes Laken auf der Wäscheleine.» Sie faltet die Hände und hebt den Blick zum Himmel. «Wie ihn Archer beschreibt, also, das ist, als würde er geradewegs zwischen den Buchseiten heraussteigen und mich auf seinem Pferd entführen.»

Sie beugt sich verschwörerisch vor. «Es ist nicht nur das Pferd, das ich gern reiten würde. Mein Mann hat immer gesagt, ich hätte richtig gut im Sattel gesessen, als ich jung war!»

«Das kann ich mir sehr gut vorstellen, Nancy», gibt Margery jedes Mal zurück, und die alte Frau lacht schallend auf und klopft sich auf die Schenkel, als hätte sie es zum ersten Mal gesagt.

Ein Zweig knackt, und Charleys Ohren zucken. Mit diesen Riesenohren kann er wahrscheinlich bis halb nach Louisville hören. «Hier lang, Junge», sagt sie und führt ihn von einer Felsnase weg. «In einer Minute hörst du sie.»

«Wo soll’s denn hingehen?»

Margerys Kopf fährt herum.

Er schwankt leicht, aber sein Blick ist fest und direkt. Der Hahn seines Gewehrs ist gespannt, das sieht sie, und er trägt es wie ein Schwachkopf mit dem Finger am Abzug. «Jetzt schaust du mich an, was, Margery?»

Sie beherrscht ihre Stimme, während sie fieberhaft nachdenkt.

«Ich sehe Sie genau, Clem McCullough.»

«Ich sehe Sie genau, Clem McCullough.» Speichel sprüht, während er ihre Worte wiederholt wie ein gehässiges Kind auf dem Schulhof. Sein Haar steht auf der einen Kopfseite ab, als wäre er gerade aufgestanden. «Du siehst auf mich herab. Du siehst mich an wie Dreck an deinem Schuh. Als wärst du was Besonderes.»

Sie war noch nie der ängstliche Typ, aber sie kennt diese Männer aus den Bergen gut genug, um keinen Streit mit einem Betrunkenen anzufangen. Ganz besonders, wenn er ein geladenes Gewehr dabeihat.

Sie geht in Gedanken die Leute durch, die sie verärgert haben könnte – Gott weiß, dass es so einige sind – aber McCullough? Abgesehen vom Offensichtlichen fällt ihr nichts ein.

«Jeder Streit, den Ihre Familie mit meinem Daddy hatte, ist mit ihm begraben worden. Ich bin die Einzige, die noch übrig ist, und ich habe kein Interesse an Blutfehden.»

McCullough hat sich jetzt mitten auf dem Weg aufgebaut, steht breitbeinig im Schnee, den Finger immer noch am Abzug. Seine Haut weist die unregelmäßige, violette Schattierung derjenigen auf, die zu betrunken sind, um mitzubekommen, wie sehr sie frieren. Vermutlich auch zu betrunken, um ordentlich zu zielen, aber darauf will sie es nicht ankommen lassen. Sie verlagert ihr Gewicht, lässt das Muli langsamer gehen, und wirft einen Blick zur Seite. Die Böschung des schmalen Flussbetts ist zu steil und zu dicht mit Bäumen bewachsen, um auszuscheren. Sie würde McCullough entweder dazu bringen müssen, zur Seite zu treten, oder ihn niederreiten, und die Versuchung, Letzteres zu tun, ist sehr verlockend.

Die Ohren des Mulis zucken nach hinten. In der Stille kann sie ihren eigenen Herzschlag als beharrliches Pochen in ihren Ohren wahrnehmen. Ihr geht der Gedanke durch den Kopf, dass sie ihn noch nie so laut gehört hat.

«Ich mache nur meine Arbeit, Mr. McCullough. Ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie mich vorbeilassen würden.»

Er runzelt die Stirn, hört die latente Beleidigung in ihrem allzu höflichen Gebrauch seines Namens, und als er sein Gewehr hebt, erkennt sie ihren Fehler.

«Deine Arbeit … Du hältst dich wirklich für was Besseres, he? Weißt du, was du nötig hast?»

Er spuckt geräuschvoll aus, wartet auf ihre Antwort.

«Ich sagte, weißt du, was du nötig hast, Mädchen?»

«Schätze, unsere Ansichten darüber, was das sein könnte, liegen meilenweit auseinander.»

«Du hast wirklich auf alles eine Antwort parat, was? Denkst du, wir wissen nicht, was ihr macht? Denkst du, wir wissen nicht, was du unter anständigen, gottesfürchtigen Frauen verbreitet hast? Wir wissen, was du im Schilde führst. Du hast den Teufel im Leib, Margery O’Hare, und es gibt nur eine Art, einem Mädchen wie dir den Teufel auszutreiben.»

«Tja, also ich würde wirklich gern herausfinden, was das ist, aber ich muss meine Runde machen, also können wir das vielleicht irgendwann anders –»

«Halt die Klappe!»

McCullough zielt mit dem Gewehr auf sie. «Halt deine verdammte Klappe!»

Sie presst die Lippen zusammen.

Er kommt mit wiegenden, breitbeinigen Schritten näher. «Runter von dem Muli.»

Charley bewegt sich unruhig. Eine Faust scheint ihr Herz zusammenzudrücken. Wenn sie umdreht und flieht, wird er sie erschießen. Der einzige Weg hier führt durch das Flussbett; der karge Waldboden besteht hauptsächlich aus Flintstein, der Baumbestand ist zu dicht, um schnell davonkommen zu können. Im Umkreis mehrerer Meilen befindet sich kein anderer Mensch, wird ihr bewusst, niemand, bis auf die alte Nancy, die langsam die Bergkuppe überquert.

Sie ist auf sich allein gestellt, und sie weiß es.

Er senkt die Stimme. «Ich hab gesagt runter von dem Muli, sofort.» Er kommt näher. Seine Schritte knirschen im Schnee.

Und das ist die bittere Wahrheit, die für sie und alle anderen Frauen in dieser Gegend gilt: Es spielt keine Rolle, wie gescheit du bist, wie klug, wie selbständig – du kannst immer von einem dämlichen Mann mit einem Gewehr fertiggemacht werden. Der Lauf des Gewehrs schwebt jetzt so dicht vor ihr, dass sie unwillkürlich in die zwei schwarzen, endlosen Löcher starrt. Mit einem Knurren lässt er unvermittelt das Gewehr sinken, schwingt es sich an dem Tragegurt auf den Rücken und greift stattdessen nach ihrem Zügel. Charley scheut, sodass sie unbeholfen vorwärts auf seinen Hals geworfen wird. Sie spürt, wie McCullough sie an der Hüfte packt, während er mit der anderen Hand wieder nach seinem Gewehr tastet. Sein Atem riecht sauer vor Alkohol, seine Hand ist dreckverkrustet, und jede ihrer Körperzellen zuckt vor seiner Berührung zurück.

Und dann hört sie es. Nancys Stimme in der Ferne.

Oh, wie verwirken wir oftmals den Frieden!

Oh, wie bringen wir nutzlosen Schmerz hervor …

Er hebt den Kopf. Sie hört ein Nein!, und irgendein entfernter Teil ihres Bewusstseins erkennt überrascht, dass es aus ihrem eigenen Mund gekommen ist. Seine Finger grabschen nach ihr, ziehen an ihr. Er bringt sie aus dem Gleichgewicht, und unter seinem entschlossenen Zupacken, seinem heißen Atem hat sie das Gefühl, als würde sich ihre Zukunft in etwas Schwarzes und Grässliches verwandeln. Doch die Kälte hat ihn schwerfällig werden lassen, er fummelt wieder nach seinem Gewehr, dreht ihr den Rücken zu, und in diesem Moment erkennt sie ihre Gelegenheit. Sie greift mit der linken Hand hinter sich in die Satteltasche, und als er den Kopf umdreht, lässt sie den Zügel los, packt die andere Ecke des schweren Buchs mit der rechten Hand und knallt es ihm mit aller Kraft ins Gesicht. Ein Schuss löst sich aus seinem Gewehr, ein plastisches Krachen, das von den Bäumen widerhallt, und sie registriert, dass der Gesang verstummt ist und Vögel in einer schimmernden schwarzen Wolke aus flatternden Flügeln zum Himmel aufsteigen. Als McCullough hinfällt, bockt das Maultier und galoppiert dann los, sodass sie vor Schreck aufkeucht und sich am Sattelknopf festhalten muss, um nicht herunterzufallen.

Und dann flüchtet sie durch das Flussbett, keuchend und mit jagendem Herzschlag darauf vertrauend, dass das Muli sicheren Tritt in dem spritzenden, eisigen Wasser findet. Sie wagt keinen Blick über die Schulter, um festzustellen, ob McCullough wieder auf die Füße gekommen ist und sie verfolgt.

Kapitel 1

Drei Monate zuvor

Es war, da stimmten alle überein, während sie sich vor den Läden Luft zufächelten oder sich im Schatten der Eukalyptusbäume hielten, ungewöhnlich heiß für September. In der Gemeindehalle von Baileyville hingen die Gerüche von Seifenlauge und schalem Parfüm, dicht gedrängt saßen die Menschen in guten Popelinkleidern und Sommeranzügen. Die Hitze hatte sogar die Wände durchdrungen, sodass das Holz knarrte und seufzte. Alice ging dicht hinter Bennett, der sich zwischen zwei eng besetzten Stuhlreihen durchschob und sich ständig entschuldigte, weil alle mit kaum verhohlenem Stöhnen aufstehen mussten. Sie hätte schwören können, dass die Körperwärme jedes Einzelnen ihre eigene durchdrang, während die Leute sich zurückbeugten, um sie vorbeizulassen.

Entschuldigung. Entschuldigen Sie bitte.

Endlich kam Bennett zu zwei leeren Plätzen, und Alice, deren Wangen vor Verlegenheit brannten, setzte sich und ignorierte die Seitenblicke der Leute. Bennett senkte den Blick auf seinen Jackenaufschlag, strich einen nichtexistenten Fussel weg, und dann fiel ihm auf, welchen Rock sie trug.

«Hast du dich nicht umgezogen?», murmelte er.

«Du hast gesagt, wir sind spät dran.»

«Das bedeutet aber nicht, dass du in deiner Alltagskleidung kommen solltest.»

Sie hatte versucht, einen Cottage Pie zu machen, um Annie zu ermuntern, auch einmal etwas anderes als Südstaatengerichte auf den Tisch zu bringen. Aber es war ihr nicht gelungen, die Hitze der Herdplatte richtig einzuschätzen, sodass sie von oben bis unten Fettspritzer abbekam, als sie das Fleisch in die Pfanne legte. Und als Bennett hereinkam, weil er nach ihr suchte (sie hatte natürlich nicht mitbekommen, wie die Zeit verging), konnte er beim besten Willen nicht verstehen, warum sie das Kochen nicht einfach der Haushälterin überließ, wenn eine wichtige Versammlung bevorstand.

Alice legte ihre Hand über den größten Fettfleck auf ihrem Rock und beschloss, sie während der nächsten Stunde dort zu lassen. Denn natürlich würde es eine Stunde dauern. Oder zwei. Oder, Gott steh ihr bei, drei. Gottesdienste und Gemeindeversammlungen. Gemeindeversammlungen und Gottesdienste. Manchmal fühlte sich Alice Van Cleve, als würde sie einfach einen öden Zeitvertreib durch einen anderen ersetzen. Noch an diesem Vormittag hatte Pastor McIntosh in der Kirche beinahe zwei Stunden damit verbracht, gegen die Sünder zu Felde zu ziehen, die offenbar in eben diesem Moment mit ihrer Gottlosigkeit im Städtchen überhandnahmen, und nun fächelte er sich Luft zu und erweckte den beunruhigenden Eindruck, zur nächsten Predigt bereit zu sein.

«Zieh deine Schuhe wieder an», murmelte Bennett. «Jemand könnte es bemerken.»

«Es ist doch nur wegen der Hitze», sagte sie. «Meine englischen Füße sind diese Temperaturen nicht gewöhnt.»

Mehr als sie es sah, spürte sie die erschöpfte Missbilligung ihres Ehemannes. Aber sie fühlte sich zu verschwitzt und müde, um sich darum zu kümmern, und die Stimme des Redners hatte eine einschläfernde Wirkung, sodass sie nur ungefähr jedes dritte Wort mitbekam – keimen … Hülsen … Spreu … Papiertüten – und es ihr schwerfiel, Aufmerksamkeit für den Rest aufzubringen.

Ihr Eheleben, so hatte man ihr gesagt, würde ein Abenteuer werden. Die Reise in ein neues Land! Sie hatte schließlich einen Amerikaner geheiratet. Neue Gerichte! Eine neue Kultur! Neue Erfahrungen! Sie hatte sich vorgestellt, wie sie in New York leben würde mit seinen quirligen Restaurants und überfüllten Bürgersteigen, gekleidet in elegante, zweiteilige Kostüme. Sie würde nach Hause schreiben und mit ihren neuen Erfahrungen prahlen. Oh, Alice Wright? Hat sie nicht diesen umwerfenden Amerikaner geheiratet? Ja, ich habe eine Postkarte von ihr bekommen – sie war in der Metropolitan Opera oder der Carnegie Hall …

Niemand hatte sie darauf vorbereitet, dass so viel oberflächliches Geplauder mit ältlichen Tanten beim Tee dazugehören würde, so viel sinnloses Flicken und Handarbeiten, und, noch schlimmer, so viele todlangweilige Predigten. Endlose Predigten und Versammlungen. Wahrhaftig, diese Männer liebten den Klang ihrer eigenen Stimmen. Sie fühlte sich, als würde sie über Stunden ausgescholten, und zwar vier Mal wöchentlich.

Die Van Cleves hatten unterwegs bei nicht weniger als dreizehn Kirchen angehalten, und die einzige Predigt, die Alice gefallen hatte, war die in Charleston gewesen, wo der Pastor dermaßen lange gesprochen hatte, dass die Gemeinde beschloss, ihn «niederzusingen» – ihn mit Liedern zu überschwemmen, bis er die Botschaft verstand und reichlich verärgert seinen Religionsladen für diesen Tag geschlossen hatte. Seine vergeblichen Versuche, lauter zu sprechen als die Gemeindemitglieder sangen, deren Stimmen sich entschlossen hoben und anschwollen, hatten sie zum Kichern gebracht.

Die Gemeindemitglieder von Baileyville, Kentucky, hatte sie festgestellt, schienen dagegen enttäuschend hingerissen.

«Zieh sie einfach wieder an, Alice. Bitte.»

Sie fing den Blick von Mrs. Schmidt auf, in deren Empfangszimmer sie vor zwei Wochen zum Tee gewesen war, und sah wieder nach vorn in dem Versuch, nicht allzu freundlich auszusehen, für den Fall, dass sie ein zweites Mal eingeladen werden sollte.

«Nun, danke Hank für diese Ratschläge zur Saatgutaufbewahrung. Ich bin sicher, dass Sie uns eine Menge Stoff zum Nachdenken gegeben haben.»

Als Alice in ihren Schuh schlüpfte, fügte der Pastor hinzu: «Oh nein, noch nicht aufstehen, Ladys und Gentlemen. Mrs. Brady bittet noch um einen Moment Ihrer Zeit.»

Alice, die inzwischen wusste, was dieser Satz zu bedeuten hatte, streifte ihre Schuhe wieder ab. Eine kleine Frau mittleren Alters ging nach vorne – ihr Vater hätte sie vermutlich «gut gepolstert» genannt, mit festen, gediegenen Kurven, bei denen man an ein bequemes Sofa denken musste.

«Es geht um die mobile Bücherei», sagte sie, wedelte sich mit einem weißen Fächer Luft zu und rückte ihren Hut zurecht. «Es hat Entwicklungen gegeben, über die ich Sie in Kenntnis setzen möchte.»

«Wir sind uns alle der … hm … verheerenden Konsequenzen der schweren Wirtschaftskrise für dieses großartige Land bewusst. Es musste so viel Aufwand für das bloße Überleben betrieben werden, dass viele andere Aspekte unseres Lebens in den Hintergrund getreten sind. Einige von Ihnen werden um die überragenden Anstrengungen wissen, mit denen sich Präsident und Mrs. Roosevelt um die Rückbesinnung auf Literatur und Bildung bemühen. Nun, vor einigen Tagen hatte ich das Privileg, an einer Teegesellschaft mit Mrs. Lena Nofcier teilzunehmen, der Vorsitzenden des Bibliotheksdienstes in Kentucky, und sie hat uns berichtet, dass die Works Progress Administration WPA, die Arbeitsbeschaffungsbehörde, ein System mobiler Büchereien in mehreren Staaten begründet hat – ein paar davon sogar hier in Kentucky. Haben einige von Ihnen vielleicht schon von der Bücherei gehört, die drüben im Harlan County eingerichtet wurde? Ja? Nun, sie hat sich als immens erfolgreich erwiesen. Unter der Schirmherrschaft von Mrs. Roosevelt persönlich und der WPA …»

«Sie ist Episkopalistin.»

«Wie bitte?»

«Roosevelt. Sie ist eine Episkopalistin.»

Mrs. Bradys Wange zuckte. «Nun, das wollen wir ihr nicht vorhalten. Sie ist unsere First Lady, und sie hat im Sinn, große Dinge für unser Land zu tun.»

«Sie sollte lieber im Sinn haben, wo ihr Platz ist, und nicht überall Unruhe stiften.» Das war von einem Mann mit Hängebacken und einem hellen Leinenanzug gekommen, der nun auf der Suche nach Zustimmung kopfschüttelnd um sich blickte.

Am anderen Ende der Stuhlreihe beugte sich Peggy Foreman nach vorn, zupfte ihren Rock zurecht und sah in demselben Moment herüber, als Alice sie bemerkte, was es so wirken ließ, als habe Alice sie angestarrt. Peggy runzelte die Stirn und reckte ihre kleine Nase in die Luft, bevor sie ihrer Nachbarin etwas zumurmelte, die Alice daraufhin einen ebenso unfreundlichen Blick zuwarf. Alice lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und versuchte die Röte zu unterdrücken, die ihr in die Wangen zu steigen drohte.

Alice, du wirst dich hier nicht einleben, wenn du keine Freundschaften schließt, sagte ihr Bennett immer wieder, als könne sie Peggy Foreman und ihr sauertöpfisches Damenkränzchen für sich gewinnen.

«Deine Liebste schleudert wieder ihre bösen Blicke auf mich», murmelte sie.

«Sie ist nicht meine Liebste.»

«Ich habe gedacht, sie war es.»

«Ich habe es dir doch erzählt. Wir waren noch Kinder. Dann habe ich dich kennengelernt, und … nun, das ist alles längst vorbei und vergessen.»

«Ich wünschte, du würdest ihr das auch einmal sagen.»

Er beugte sich zu ihr. «Alice, du hältst dich so sehr zurück, dass die Leute anfangen zu denken, du willst … nichts von ihnen wissen.»

«Ich bin Engländerin, Bennett. Es liegt uns nicht … gastlich zu sein.»

«Ich denke einfach, je mehr du dich beteiligst, umso besser ist es für uns beide. Pa glaubt das auch.»

«Oh, was du nicht sagst, tut er das, ja?»

«Sei nicht so.»

Mrs. Brady warf ihnen einen Blick zu. «Wie ich schon sagte, aufgrund des Erfolges derartiger Bestrebungen in den Nachbarstaaten hat die WPA Mittel freigegeben, damit wir auch hier im Lee County eine mobile Bibliothek aufbauen können.»

Alice unterdrückte ein Gähnen.

 

Zu Hause auf dem Büfett stand ein Foto von Bennett in seiner Baseball-Kluft. Er hatte einen Homerun erzielt, und auf seinem Gesicht lag die pure Freude. Sie wünschte, er würde auch sie wieder einmal so anschauen.

Aber wenn sie ehrlich zu sich war, musste sich Alice Van Cleve eingestehen, dass ihre Heirat der Höhepunkt einer Serie von Zufällen gewesen war. Begonnen hatte es mit einem zerbrochenen Porzellanhund, als sie und Jenny Fitzwalter im Haus Badminton gespielt hatten (Es hatte geregnet, was hätten sie sonst tun sollen?), sich steigernd mit dem Verlust ihres Platzes an der Sekretärinnenschule wegen dauernden Zuspätkommens und schließlich – bei einem Weihnachtsumtrunk – ihrem offenbar ungehörigen Ausbruch dem Chef ihres Vaters gegenüber. («Aber er hat meinen Hintern getätschelt, als ich mit den Blätterteig-Pastetchen herumgegangen bin!», hatte Alice protestiert. «Sei nicht vulgär, Alice», hatte ihre Mutter erschauernd gesagt.) Diese drei Ereignisse, zusammen mit einem Vorfall, der mit einigen Freunden ihres Bruders Gideon, zu viel Rum und einem ruinierten Teppich zu tun hatte (sie hatte nicht gewusst, dass Alkohol in dem Punsch war!), hatten ihre Eltern dazu gebracht, ihr eine «Phase der Besinnung» nahezulegen, was im Grunde bedeutete, «Alice im Haus zu behalten». Sie hatte die beiden in der Küche reden hören. «Sie war schon immer so. Sie ist wie deine Tante Harriet», hatte ihr Vater herablassend gesagt, worauf ihre Mutter volle zwei Tage nicht mit ihm gesprochen hatte, als sei die Vorstellung, Alice könnte das Produkt ihres genetischen Erbes sein, unglaublich beleidigend.

Und so wurde Alice über den langen Winter, in dem Gideon ständig zu Bällen oder Cocktailempfängen ging und für lange Wochenenden zu Freunden verschwand, nach und nach immer seltener eingeladen, drehte zu Hause Däumchen, hörte Radio, arbeitete halbherzig an misslungenen Stickereien und durfte nur aus dem Haus, wenn sie ihre Mutter zu älteren Verwandten begleitete oder zu Treffen des Frauenvereins, wo sich die Gespräche um Kuchen und Blumenarrangements und Heiligenlegenden drehten – es war, als würden sie buchstäblich versuchen, Alice zu Tode zu langweilen. Nach einer Weile hörte sie auf, Gideon zu fragen, wie seine Verabredungen gewesen waren, weil sie sich dadurch nur noch schlechter fühlte. Stattdessen spielte sie schlecht gelaunt Canasta, mogelte miesepetrig beim Monopoly und legte den Kopf auf die Unterarme, während sie am Küchentisch im Radio von einer verheißungsvollen Welt jenseits ihres eigenen, bedrückenden Daseins hörte.

Und so kam es, dass Bennett Van Cleve, als er zwei Monate später plötzlich mit seinem amerikanischen Akzent, seinem markanten Kiefer, seinem blonden Haar und seiner Aura von einer Welt, die eine Million Meilen vom verschlafenen Surrey entfernt war, beim Frühlingsfest der Pfarrei auftauchte, ehrlich gesagt genauso gut der Glöckner von Notre-Dame hätte sein können, und Alice hätte trotzdem gefunden, dass ein Umzug in einen scheppernden Glockenturm eine sehr gute Idee wäre, vielen Dank auch.

Bennett war augenblicklich hingerissen von dieser eleganten jungen Engländerin mit ihren großen Augen und dem welligen blonden Bubikopf, deren klare, akzentuierte Stimme keiner einzigen ähnelte, die er jemals in Lexington gehört hatte, und die, wie sein Vater anmerkte, mit ihren vorzüglichen Umgangsformen und ihrer kultivierten Art, eine Teetasse anzuheben, ebenso gut eine britische Prinzessin hätte sein können. Als Alices Mutter fallen ließ, dass sie durch eine Heirat vor zwei Generationen eine echte Herzogin in der Familie hatten, wäre der ältere Van Cleve vor Entzücken beinahe tot umgefallen. «Eine Herzogin? Wie die königliche Herzogin? Oh, Bennett, das hätte deiner lieben Mutter gefallen.»

Vater und Sohn befanden sich mit einer Abordnung der Kirche von Ost-Kentucky auf einer Europareise, bei der die Ausübungsformen des Glaubens außerhalb von Amerika studiert werden sollten. Mr. Geoffrey Van Cleve hatte, wie er in Gesprächspausen gern verkündete, zu Ehren seiner seligen Frau Dolores persönlich die Reisekosten für einige der Teilnehmer übernommen. Er mochte ein Geschäftsmann sein, aber das bedeutete nichts, rein gar nichts, wenn man seine Tätigkeit nicht unter die Schirmherrschaft des Herrn stellte. Alice fand, er wirkte ein wenig entsetzt über die doch recht uneifrigen Bekundungen religiösen Eifers in St. Mary’s on the Common – und tatsächlich hatte es der Gemeinde bei Pastor McIntoshs hemmungslosem Gegeifer über das Fegefeuer geradezu den Atem verschlagen. (Die arme Mrs. Arbuthnot hatte durch die Seitentür an die frische Luft geführt werden müssen.) Doch was den Briten an religiösem Eifer fehlte, so stellte Mr. Van Cleve mehr als einmal fest, machten sie durch ihre Kirchen und Kathedralen und all ihre Geschichte wett. Und war das nicht selbst eine spirituelle Erfahrung?

Alice und Bennett waren in der Zwischenzeit mit ihrer eigenen, etwas weniger heiligen Erfahrung beschäftigt. Als sie sich voneinander verabschieden mussten, taten sie es mit fest ineinander verschlungenen Händen und leidenschaftlichen Beteuerungen ihrer gegenseitigen Zuneigung, die Art von leidenschaftlicher Zuneigung, die durch die Aussicht auf baldige Trennung noch gesteigert wird. Sie schrieben sich Briefe während seines Aufenthalts in Reims, dann wieder, als er in Barcelona war, und in der Hitze von Madrid. Dieser Austausch erreichte einen besonders feurigen Höhepunkt, als er in Rom eintraf, und auf dem Rückweg war es nur für die desinteressiertesten Mitglieder des Hausstandes eine Überraschung, dass Bennett wenige Wochen später um ihre Hand anhielt. Alice zögerte nur eine halbe Sekunde mit der Bereitwilligkeit eines Vogels, der unerwartet die Tür seines Käfigs aufschwingen sieht, bevor sie ja sagte, ja zu ihrem nun liebestollen – und zum Anbeißen gebräunten – Amerikaner. Wer würde zu einem gutaussehenden Mann mit markantem Kiefer nicht ja sagen, der sie ansah, als wäre sie aus Seide gesponnen? Alle anderen hatten sie in den vergangenen Monaten angesehen, als hätte sie eine ansteckende Krankheit.

«Wirklich, du bist einfach perfekt», versicherte ihr Bennett, der mit Daumen und Zeigefinger ihr zartes Handgelenk umschloss, als sie auf der Bank im Garten ihrer Eltern saßen und aus dem Bibliotheksfenster nachsichtig von ihren Vätern beobachtet wurden, die beide im Stillen und aus jeweils anderen Gründen über diese Partie erleichtert waren. «Du bist so grazil und erlesen. Wie ein Vollblut.» Er zog die Worte mit seiner amerikanischen Aussprache in die Länge.

«Und du siehst lächerlich gut aus. Wie ein Filmstar.»

«Mutter hätte dich geliebt.» Er strich ihr mit dem Zeigefinger über die Wange. «Du bist wie ein Porzellanpüppchen.»

Mittlerweile war Alice ziemlich sicher, dass er sie nicht mehr als Porzellanpüppchen betrachtete. Sie hatten schnell geheiratet, die Hast dadurch erklärt, dass sich Mr. Van Cleve wieder um seine Geschäfte kümmern musste. Es kam Alice vor, als hätte sich alles ins Gegenteil verkehrt; sie war so glücklich und aus dem Häuschen, wie sie während des Winters niedergeschlagen gewesen war. Alices Mutter packte ihre Koffer mit derselben unpassenden Begeisterung, mit der sie ihren sämtlichen Bekannten von Alices reizendem amerikanischen Ehemann und seinem reichen Industriellenvater erzählt hatte. Es wäre nett von ihr gewesen, sich wenigstens ein kleines bisschen traurig darüber zu zeigen, dass ihre einzige Tochter in eine Region von Amerika zog, die niemand, den sie kannte, je besucht hatte. Allerdings war Alice vermutlich genauso darauf aus gewesen, wegzukommen. Nur Gideon war sichtlich traurig, aber Alice war ziemlich sicher, dass er sich übers nächste Wochenende davon erholen würde. «Ich komme dich natürlich besuchen», sagte er. Sie wussten beide, dass er es nicht tun würde.

Bennetts und Alices Hochzeitsreise bestand aus einer fünftägigen Schiffspassage zurück in die Vereinigten Staaten und dann weiter über Land von New York nach Kentucky (sie hatte den Eintrag dazu im Lexikon nachgelesen und war sehr angetan von all den Pferderennen. Es klang nach einem immerwährenden Pferdederby). Sie kreischte vor Begeisterung bei jedem Anblick: Bennetts riesiges Auto, die Größe des enormen Ozeandampfers, die Ohrringe mit Diamantanhängern, die ihr Bennett bei einem Juwelier in der Londoner Burlington Arcade kaufte. Falls sie ein wenig enttäuscht war, weil sie während der gesamten Reise von Mr. Van Cleve begleitet wurden, so zeigte sie es nicht. Es wäre schließlich sehr unhöflich gewesen, den älteren Mann allein zu lassen, und sie war zu überwältigt von dem Gedanken, aus Surrey fortzukommen, mit seinen stillen sonntäglichen Salons und dem ständigen Gefühl von Missbilligung.

Auf dem Dampfer von Southampton nach New York konnten sie und Bennett wenigstens in den Stunden nach dem Abendessen auf den Decks umherschlendern, während sein Vater über seinen Geschäftspapieren saß oder mit den Herren am Tisch des Kapitäns plauderte. Dann zog Bennett sie mit seinem starken Arm eng an sich, und sie hob ihre linke Hand mit dem schimmernden neuen Ehering und staunte über die Tatsache, dass sie, Alice, eine verheiratete Frau war. Und wenn sie erst in Kentucky wären, sagte sie sich, wäre sie auch richtig verheiratet, weil sie sich nicht mehr zu dritt eine Schiffskabine teilen mussten, auch wenn es einen Trennvorhang gab.

«Das ist nicht gerade das Brautgewand, das ich mir vorgestellt habe», flüsterte sie in Unterhemd und Pyjamahose. Mit weniger bekleidet fühlte sie sich nicht wohl, nachdem Mr. Van Cleve senior einmal nachts im Halbschlaf den Vorhang ihrer Doppelkoje mit der Badezimmertür verwechselt hatte.

Bennett küsste sie auf die Stirn. «Es wäre ohnehin irgendwie nicht richtig, wenn Vater so dicht daneben ist», flüsterte er. Er legte ein längliches Kissen zwischen sie («Sonst kann ich mich vielleicht nicht beherrschen»), und sie lagen nebeneinander, keusch im Dunkeln Händchen haltend, und atmeten hörbar, als das riesige Schiff unter ihnen vibrierte.

Im Rückblick erschien ihr die lange Reise erfüllt von unterdrücktem Verlangen, verstohlenen Küssen hinter Rettungsbooten und überbordenden Phantasien, während sich unter ihr die See hob und senkte. «Du bist so hübsch. Es wird alles anders, wenn wir erst zu Hause sind», murmelte er ihr ins Ohr, und sie betrachtete seine schönen Gesichtszüge und vergrub ihr Gesicht an seinem wohlriechenden Hals und fragte sich, wie lange sie das noch ertragen konnte.

Und dann, nach der endlosen Reise und den Unterbrechungen mit diesem Kirchenvertreter und diesem Pastor auf dem ganzen Weg von New York nach Kentucky, hatte ihr Bennett verkündet, dass sie nicht etwa in Lexington wohnen würden, wie sie angenommen hatte, sondern in einer Kleinstadt etwas weiter südlich. Sie fuhren an der Stadt vorbei und weiter, bis die Straßen enger und staubiger wurden und die Gebäude weit auseinander in wahllosen Gruppierungen standen, überragt von den gewaltigen, bewaldeten Bergen. Das ist in Ordnung, versicherte sie ihm und verbarg ihre Enttäuschung angesichts von Baileyvilles Hauptstraße mit ihren paar Backsteingebäuden und engen Straßen, die ins Nirgendwo führten. Sie mochte die Natur. Und sie konnten Ausflüge in die Stadt machen, so wie ihre Mutter, wenn sie ins Simpson’s in the Strand essen ging, nicht wahr? Sie kämpfte um die gleiche Beherrschung, als sie erfuhr, dass sie, zumindest für das erste Jahr, mit Mr. Van Cleve zusammenwohnen würden. («Ich kann Vater nicht allein lassen, während er um Mutter trauert. Noch nicht, jedenfalls. Sieh mich nicht so entgeistert an, Liebling. Es ist das zweitgrößte Haus in der Stadt. Und wir werden unser eigenes Zimmer haben.») Und als sie dann endlich in diesem Zimmer ankamen, war, wie man sich hätte denken können, alles auf eine Art verquer gegangen, für die sie kaum Worte hatte.

 

Mit zusammengebissenen Zähnen, genau wie sie das Internat und den Pony Club durchgestanden hatte, versuchte Alice sich auf das Leben in dieser Kleinstadt einzustellen. Es war ein erheblicher Kulturwandel. Sie konnte, wenn sie sich anstrengte, eine gewisse schroffe Schönheit in der Landschaft mit ihrem weiten Himmel, ihren menschenleeren Straßen und dem wandernden Licht erkennen, in diesen Bergen, zwischen deren Abertausenden von Bäumen wilde Bären herumstrichen und über deren Gipfel Adler flogen. Sie war überwältigt von den Ausmaßen, die hier alles hatte, den riesigen Entfernungen, die ihr ständig präsent schienen, so als müsse sie ihre ganze Wahrnehmung neu ausrichten. Aber alles andere, schrieb sie Gideon in ihren wöchentlichen Briefen, war ehrlich gesagt so ziemlich unmöglich.

Das Leben in dem großen, weißen Haus empfand sie als erdrückend, auch wenn ihr die meisten Haushaltspflichten von Annie, der nahezu stummen Haushälterin, abgenommen wurden. Das Haus war vollgestellt mit antiken Möbeln, und überall standen Fotos von der verstorbenen Mrs. Van Cleve oder Nippes oder Puppen, und von jedem Gegenstand merkten beide Männer an, er sei «Mutters Lieblingsstück» gewesen, sobald Alice versuchte, ihn auch nur einen Zentimeter zu verrücken. Mrs. Van Cleves anspruchsvoller, frommer Einfluss hing über dem Haus wie ein Leichentuch.

Mutter hätte die Kissen nicht so angeordnet, nicht wahr, Bennett? Oh nein, Mutter hatte sehr entschiedene Ansichten, was die Polstermöbel angeht.

Mutter liebte ihren bestickten Psaltereinband. Und hat nicht sogar Pastor McIntosh gesagt, dass er in ganz Kentucky keine Frau kennt, die einen säuberlicheren Kantelstich zustande bringt?

Alice fand Mr. Van Cleves ständige Gegenwart anmaßend; er entschied, was sie taten, was sie aßen, sogar, wie sie ihren Tag verbrachten. Er konnte es nicht ertragen, an irgendetwas nicht beteiligt zu sein. Selbst wenn sie nur mit Bennett in ihrem Zimmer Grammophon hörte, platzte er herein, ohne anzuklopfen. «Spielen wir ein bisschen Musik? Oh, du solltest Bill Monroe auflegen. Der alte Bill ist unschlagbar. Los, Junge, nimm dieses Gedudel runter und leg den alten Bill auf.»

Wenn er ein oder zwei Gläser Bourbon getrunken hatte, kamen solche Äußerungen entschlossen, schnell und nachdrücklich, und Annie suchte nach Entschuldigungen, um sich in die Küche zurückzuziehen, bevor er begann, sich aufzuregen und am Abendessen herumzumeckern. «Er trauert einfach», murmelte Bennett in solchen Momenten. «Man kann einem Mann nicht vorwerfen, dass er nicht einsam sein will.»

Bennett vertrat niemals eine andere Meinung als sein Vater, wie Alice schnell feststellte. Bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen sie sich selbst geäußert und in aller Unschuld angemerkt hatte, dass Schweinekotelett eigentlich noch nie ihr Lieblingsgericht gewesen war – oder dass sie Jazzmusik richtig mitreißend fand –, ließen die beiden Männer ihre Gabeln fallen und starrten sie mit einer so entsetzten Missbilligung an, als hätte sie sämtliche Kleider abgeworfen und auf dem Esstisch ein Freudentänzchen aufgeführt. «Warum musst du so eigenwillig sein, Alice?», flüsterte ihr Bennett zu, als sein Vater den Tisch verließ, um Annie mit erhobener Stimme Anweisungen zu geben. Sie verstand bald, dass es besser war, überhaupt keine Meinung zu äußern.

Außer Haus war es ein wenig besser. Die Leute aus Baileyville betrachteten sie mit demselben abschätzenden Blick, mit dem sie alles «Fremde» bedachten. Die meisten Einwohner waren Farmer, sie schienen ihr Leben lang nicht über ein paar Meilen im Umkreis hinauszukommen und wussten alles übereinander. Oben beim Bergbau gab es anscheinend Leute von außerhalb, Hoffman Mining beherbergte etwa fünfhundert Familien von Minenarbeitern aus aller Welt, die von Mr. Van Cleve beaufsichtigt wurden. Doch weil die meisten der Minenarbeiter in den Häusern wohnten, die von der Bergbaugesellschaft zur Verfügung gestellt wurden, ebenso wie sie in den betriebseigenen Laden, die betriebseigene Schule und die betriebseigene Arztpraxis gingen, und weil sie zu arm waren, um Autos oder Pferde zu besitzen, kam nur selten einmal jemand von ihnen nach Baileyville.

Jeden Morgen fuhren Mr. Van Cleve und Bennett in Mr. Van Cleves Auto zu der Mine und kehrten kurz nach sechs Uhr abends wieder zurück. Und dazwischen verbrachte Alice die Zeit in einem Haus, das nicht ihres war. Sie versuchte sich mit Annie anzufreunden, doch die Haushälterin gab ihr durch eine Kombination aus Schweigen und allzu forsch ausgeführter Arbeit zu verstehen, dass sie sich nicht unterhalten wollte. Alice hatte angeboten zu kochen, doch Annie hatte sie wissen lassen, dass Mr. Van Cleve heikel war, was seinen Speiseplan anging, und nur Südstaaten-Küche mochte, von der, wie sie zu Recht vermutete, Alice keine Ahnung hatte.

Die meisten Familien hatten einen Obst- und Gemüsegarten, ebenso wie ein oder zwei Schweine und eine Schar Hühner. Es gab einen einzigen Gemischtwarenladen, neben dessen Tür riesige Säcke mit Mehl und Zucker standen, während sich auf den Regalen Konservendosen drängten. Und es gab ein Restaurant: das Nice ’N’ Quick mit seiner grünen Eingangstür, der strengen Belehrung Gäste müssen Schuhe tragen und Speisen, von denen Alice noch nie gehört hatte, wie gegrillte grüne Tomaten und Blattkohl. Außerdem gab es etwas, das sie Biscuits nannten, was in Wirklichkeit aber eine Kreuzung zwischen einem Dumpling und einem Scone war. Alice versuchte einmal, sie selbst zu machen, aber sie kamen nicht weich und luftig aus dem launischen Ofen wie die von Annie, sondern hart genug, um zu klappern, wenn man sie auf einen Teller fallen ließ (Alice schwor, dass Annie die Biscuits verhext hatte).

Sie war bei mehreren Damen zum Tee eingeladen worden und hatte versucht, Konversation zu betreiben. Doch wie sie feststellte, hatte sie kaum etwas zu sagen, war ein hoffnungsloser Fall bei der Herstellung von Quiltdecken, was die Hauptbeschäftigung der Frauen aus dem Ort zu sein schien, und natürlich kannte sie die Leute nicht, über die geklatscht wurde. Zu guter Letzt schien jede Teegesellschaft mit der Geschichte anfangen zu müssen, wie Alice mit dem Tee «Biscuits» statt «Cookies» angeboten hatte (die anderen Frauen hatten das zum Totlachen gefunden).

Irgendwann kam es ihr einfacher vor, sich nur auf das Bett in ihrem und Bennetts Zimmer zu setzen und die wenigen Zeitschriften noch einmal zu lesen, die sie aus England mitgebracht hatte, oder Gideon den nächsten Brief zu schreiben und sich darin nicht anmerken zu lassen, wie unglücklich sie war.

Sie hatte, wie ihr zunehmend bewusst wurde, nur ein häusliches Gefängnis gegen ein anderes getauscht. An manchen Tagen konnte sie die Aussicht kaum ertragen, abends Bennetts Vater in seinem knarrenden Schaukelstuhl auf der Veranda in der Bibel lesen zu sehen («Gottes Wort sollte alle geistige Anregung sein, die wir brauchen, hat das nicht Mutter immer gesagt?»), während sie danebensaß, den Geruch der ölgetränkten Lappen einatmete, die sie verbrannten, um die Moskitos abzuwehren, und die abgewetzten Stellen in seiner Kleidung flickte («Gott hasst Verschwendung – diese Hose ist erst vier Jahre alt, Alice. Die hält noch lange»).

Alice murmelte tonlos, dass Gott, wenn er in beinahe vollständiger Dunkelheit die Hosen von jemand anderem flicken müsste, sich vermutlich ein neues Paar in Arthur J. Harmon’s Gentleman’s Store in Lexington kaufen würde. Doch dann lächelte sie nur und spähte noch angestrengter auf ihre Stopfarbeit. Bennett dagegen trug mittlerweile häufig die Miene eines Mannes zur Schau, der sich hatte übertölpeln lassen und nicht darauf kam, wie und was da vor sich gegangen war.

 

Bennett riss Alice mit einem Ellbogenstoß aus ihren Gedanken.

«Und was zum Teufel ist überhaupt eine mobile Bibliothek?»

«In Mississippi haben sie eine, für die sie Boote verwenden», rief eine Stimme weiter hinten im Saal.

«Mit Booten kommst du aber nicht unsere Flüsschen rauf. Sind zu seicht.»

«Ich denke, es wird mit Pferden geplant», sagte Mrs. Brady.

«Sie wollen Pferde den Fluss rauf und runter bringen? Das sind doch Spinnereien.»

Die erste Bücherlieferung war aus Chicago angekommen, fuhr Mrs. Brady fort, und weitere waren auf dem Weg. Es würde eine große Auswahl an Erzählungen geben, von Mark Twain bis Shakespeare, dazu Ratgeber mit Rezepten, Tipps zu Haushalt und Kindererziehung. Sogar Comics würde es geben – eine Enthüllung, bei der einige der Kinder begeistert loskreischten. Alice warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und fragte sich, wann sie ihr Wassereis bekommen würde. Das einzig Gute an diesen Versammlungen war, dass sie nicht den ganzen Abend zu Hause hocken musste. Sie fürchtete sich jetzt schon vor dem Winter, wenn es noch schwieriger würde, einen Grund zum Ausgehen zu finden.

«Welcher Mann soll denn Zeit für solche Ritte haben? Wir müssen arbeiten, statt Privatbesuche mit der letzten Ausgabe des Ladies’ Home Journal zu machen.» Gelächter hallte durch den Raum.

«Tom Faraday sieht sich allerdings gern die Damen-Unterwäsche im Sears-Katalog an. Ich hab gehört, dass er damit Stunden im Klohäuschen verbringt!»

«Mr. Porteous!»

«Es sind keine Männer, sondern Frauen», ertönte eine Stimme.

Darauf folgte eine kurze Stille.

Alice drehte sich um. Eine Frau in einer dunkelblauen Baumwolljacke mit aufgerollten Ärmeln lehnte hinten an der Eingangstür. Sie trug lederne Reithosen, und ihre Stiefel waren nicht gewichst. Sie war wohl Ende dreißig oder Anfang vierzig, gutaussehend, und ihr langes dunkles Haar war zu einem unordentlichen Knoten hochgesteckt.

«Die Ritte werden von Frauen übernommen. Sie liefern die Bücher aus.»

«Frauen?»

«Allein?»

«Als ich das letzte Mal hingesehen habe, hatte Gott ihnen zwei Arme und zwei Beine gegeben, genau wie den Männern.»

Einen Moment lang kam Unruhe auf. Gebannt sah Alice die Frau an.

«Danke, Margery. Drüben im Harlan County haben sie mit sechs Frauen ein ganzes Auslieferungssystem auf die Beine gestellt. Und wie ich schon sagte, bekommen wir ebenfalls die Mittel. Wir haben schon zwei Bibliothekarinnen, und Mr. Guisler war so freundlich, uns ein paar Pferde zur Verfügung zu stellen. Ich würde diese Gelegenheit gern nutzen, um ihm für seine Großzügigkeit zu danken.»

Mrs. Brady winkte die Frau in den Reithosen nach vorn.

«Viele von Ihnen werden auch Miss O’Hare kennen …»

«Oh, allerdings, die O’Hares kennen wir.»

«Dann werden Sie auch wissen, dass sie uns in den vergangenen Wochen dabei unterstützt hat, alles zu organisieren. Außerdem haben wir Beth Pinker – stehen Sie auf, Beth …» Eine sommersprossige junge Frau mit einer Stupsnase und dunkelblondem Haar stand verlegen auf und setzte sich gleich wieder. «… die mit Miss O’Hare zusammenarbeitet. Der Grund, einer der vielen Gründe, aus denen ich vor dieser Versammlung spreche, ist, dass wir mehr Damen brauchen, die sich an diesem bürgerschaftlichen Projekt beteiligen wollen.»

Mr. Guisler, der Pferdehändler, hob die Hand und stand auf. Er zögerte einen Moment und begann dann mit ruhiger Bestimmtheit zu sprechen. «Nun, ich halte diese Sache für eine gute Idee. Meine eigene Mutter war eine große Leserin, und ich habe meine alte Melkscheune als Bücherei angeboten. Ich glaube, dass alle vernünftigen Leute hier die Sache unterstützen sollten. Danke.»

Er setzte sich wieder.

Margery O’Hare lehnte sich vorne an den Tisch und blickte gleichmütig auf die vielen Gesichter. Alice bemerkte, dass sich ein gewisser Unmut in der Versammlung breitmachte, der sich gegen Margery O’Hare zu richten schien. Und sie bemerkte, wie wenig sich Miss O’Hare davon stören ließ.

«Wir haben ein großes County zu versorgen», ergänzte Mrs. Brady. «Das können wir mit zwei Leuten nicht schaffen.»

Eine Frau vorn im Saal rief: «Und was würde es genau heißen? Diese Satteltaschen-Bücherei?»

«Also, es würden Ritte zu einigen der abgelegeneren Siedler in unserem County dazugehören, und die Versorgung mit Lesestoff für diejenigen, die keine Möglichkeit haben, selbst zur County-Bibliothek zu kommen, weil sie krank oder gebrechlich sind oder kein Transportmittel haben.»

Sie senkte den Kopf, sodass sie über ihre Halbbrille hinwegsehen konnte. «Ich möchte hinzufügen, dass damit die Verbreitung von Bildung unterstützt und Wissen an Orte gebracht wird, wo es daran möglicherweise gegenwärtig bedauerlich mangelt. Unser Präsident und seine Gemahlin sind davon überzeugt, dass dieses Projekt dem Wissen und dem Lernen wieder einen gewichtigen Platz im ländlichen Leben einräumt.»

«Ich werd meine Frau nicht in die Berge reiten lassen», rief jemand von hinten.

«Du hast doch nur Angst, dass sie nicht zurückkommt, Henry Porteous.»

«Du kannst meine haben. Ich wär mehr als froh, wenn sie wegreiten und nie mehr nach Hause kommen würde!»

Darauf folgte Gelächter.

Mrs. Brady hob die Stimme. «Gentlemen. Bitte. Ich werbe darum, dass einige unserer Damen einen Beitrag zu unserem Gemeinwohl leisten und sich melden. Die WPA wird die Geldmittel und die Bücher bereitstellen, und Sie würden einfach darum gebeten, sich an wenigstens vier Tagen wöchentlich zu ihrer Auslieferung zu verpflichten. Die Arbeit fängt früh an, und es werden lange Tage angesichts des Geländes in unserem schönen County, aber ich bin überzeugt, dass es enorm lohnenswert sein wird.»

«Und warum machen Sie es dann nicht selbst?», fragte jemand von hinten.

«Ich würde mich freiwillig melden, aber wie viele von Ihnen wissen, habe ich ein schweres Hüftleiden. Doktor Garnett hat mich gewarnt, dass so lange Ritte eine zu große körperliche Herausforderung für mich wären. Idealerweise suchen wir unter unseren jüngeren Damen nach Freiwilligen.»

«Frauen sollen sich um den Haushalt kümmern. Was kommt als Nächstes? Frauen runter in die Bergwerksstollen? Oder ans Steuer von Holzlastern?»

«Mr. Simmonds, wenn Sie nicht erkennen, was für ein gewaltiger Unterschied zwischen einem Holzlaster und einer Ausgabe von Romeo und Julia besteht, dann steh Gott der Wirtschaft von Kentucky bei.»

«Frauen sollten die Bibel lesen. Nichts anderes. Wer prüft überhaupt, was sie dort verbreiten? Man weiß doch, wie sie oben im Norden sind. Sie könnten alle möglichen verrückten Ideen in Umlauf setzen.»

«Es sind Bücher, Mr. Simmonds. Die gleichen, mit denen Sie als Junge gelernt haben. Allerdings glaube ich mich zu erinnern, dass Sie mehr darauf aus waren, die Mädchen an den Zöpfen zu ziehen, als zu lesen.»

Erneutes Gelächter.

Niemand stand auf. Eine Frau sah ihren Mann an, doch er schüttelte nur kurz den Kopf.

Mrs. Brady hob die Hand. «Oh, was ich vergessen habe. Es ist eine bezahlte Tätigkeit. Die Vergütung wird etwa achtundzwanzig Dollar monatlich betragen. Also, wer meldet sich?»

Kurzes Gemurmel in der Versammlung.

«Ich kann nicht», sagte eine Frau mit extravagant aufgestecktem rotem Haar. «Nicht mit vier Kindern unter fünf Jahren.»

«Ich verstehe einfach nicht, warum unsere Regierung hart erarbeitetes Steuergeld zur Verteilung von Büchern an Leute verschwendet, die nicht mal lesen können», sagte Hängebacke. «Wirklich, die Hälfte von denen geht nicht mal zur Messe.»

Mrs. Brady klang zunehmend verzweifelt. «Ein Monat Probezeit. Kommen Sie, meine Damen. Ich kann doch nicht zu Mrs. Nofcier zurückgehen und ihr erklären, dass sich in Baileyville keine einzige Freiwillige gemeldet hat. Was soll sie dann bloß von uns denken?»

Niemand sagte etwas. Das Schweigen zog sich in die Länge. Links von Alice flog eine träge Biene ans Fensterglas. Die Leute begannen, auf ihren Plätzen herumzurutschen.

Mrs. Brady ließ unverzagt ihren Blick auf der Versammlung ruhen. «Los, Leute. Nicht, dass es uns noch mal so geht wie bei der Wohltätigkeitsveranstaltung für die Waisenkinder.»

Anscheinend zogen plötzlich sehr viele Schuhpaare höchste Aufmerksamkeit auf sich.

«Keine Einzige? Nun … dann ist Izzy die Erste.»

Eine junge Frau, klein und sehr rundlich, schlug entsetzt die Hand vor den Mund. Alice sah den Protestruf mehr, als dass sie ihn hörte. «Mutter!»

«Da haben wir die erste Freiwillige. Mein Mädchen fürchtet sich nicht davor, seine Pflicht für sein Land zu tun. Noch jemand?»

Schweigen.

«Keine Einzige von euch? Denkt ihr nicht, dass es wichtig ist, etwas zu lernen? Denkt ihr nicht, dass es unbedingt erforderlich ist, unsere weniger vom Glück begünstigten Mitmenschen zur Bildung zu ermutigen?» Wütend funkelte sie die Versammlung an. «Nun, das ist nicht die Reaktion, die ich erhofft habe.»

«Ich mache es», sagte Alice in die Stille.

Mrs. Brady kniff die Augen zusammen und beschirmte die Augen mit der Hand. «Ist das Mrs. Van Cleve?»

«Ja, das bin ich. Alice.»

«Du kannst dich nicht melden», flüsterte Bennett eindringlich.

Alice beugte sich vor. «Mein Mann hat mir oft erklärt, wie wichtig ihm der Einsatz für das Gemeinwohl ist, genauso wie früher seiner lieben Mutter, und daher stelle ich mich sehr gern zur Verfügung.» Ihre Haut prickelte, als sie die Blicke der Versammelten auf sich spürte.

Mrs. Brady fächelte sich ein wenig energischer Luft zu. «Aber … Sie kennen sich in dieser Gegend nicht aus, meine Liebe. Ich glaube, das wäre nicht sehr vernünftig.»

«Ja, du kennst dich nicht aus, Liebling», zischte Bennett. Er wirkte unruhig und warf einen Blick auf seinen Vater.

«Ich zeige ihr alles.» Margery O’Hare nickte Alice zu. «Ich reite die Strecken ein oder zwei Wochen mit ihr zusammen. Wir können sie in der Nähe der Stadt einsetzen, bis sie sich eingefuchst hat.»

«Alice, ich …», flüsterte Bennett.

«Können Sie reiten?»

«Seit ich vier Jahre alt war.»

Mrs. Brady wippte zufrieden auf ihren Füßen zurück. «Na bitte, Miss O’Hare. Jetzt haben Sie schon zwei weitere Bibliothekarinnen.»

«Das ist ein Anfang.»

Margery O’Hare lächelte Alice an, und ganz unwillkürlich erwiderte Alice ihr Lächeln.

«Also, ich glaube nicht, dass das eine kluge Idee ist», sagte George Simmonds. «Und genau das werde ich morgen an Governor Hatch schreiben. Ich glaube, junge Frauen allein loszuschicken, bedeutet, dem Unheil Tür und Tor zu öffnen. Und ich sehe in diesem schlecht durchdachten Einfall nur die Ermunterung zu unchristlichen Gedanken und ungebührlichem Benehmen, First Lady oder nicht. Einen guten Tag, Mrs. Brady.»

«Einen guten Tag, Mr. Simmonds.»

Schleppend begann sich die Versammlung aufzulösen.

«Ich sehe Sie dann am Montagmorgen in der Bibliothek», sagte Margery O’Hare, als sie in die Sonne hinaustraten. Sie schüttelte Alice die Hand. «Sie können mich Marge nennen.»

Sie sah zum Himmel hinauf, drückte sich einen breitkrempigen Lederhut auf den Kopf und ging mit langen Schritten zu einem Reittier, das sie mit derselben freudigen Überraschung begrüßte, als wäre sie auf der Straße einem alten Freund in die Arme gelaufen.

Bennett sah ihr nach. «Mrs. Van Cleve, ich weiß wirklich nicht, was du dir dabei eigentlich denkst.»

Er musste es zwei Mal sagen, bevor ihr wieder einfiel, dass dies nun tatsächlich ihr Name war.

Kapitel 2

Baileyville war eine Stadt wie viele andere in den südlichen Appalachen. Zwischen zwei Höhenzügen gelegen bestand sie aus zwei V-förmig zusammenlaufenden Hauptstraßen mit Backstein- und Holzhäusern, von denen zahlreiche gewundene Wege und Pfade abgingen, die zu entlegenen Niederungen hinabführten, wie die kleinen Täler genannt wurden, und in der anderen Richtung hinauf zu einer lockeren Ansammlung von Berghäusern auf den bewaldeten Höhenrücken. Die Häuser am Oberlauf des Flüsschens wurden traditionell von den wohlhabenderen und angeseheneren Familien bewohnt – denn es war auf dem flacheren Gelände einfacher, ein gediegenes Leben zu führen, und in den wilderen, höheren Regionen war es einfacher, eine Schnapsbrennerei zu verstecken. Doch im Laufe der letzten Jahrzehnte hatte der Zustrom von Minenarbeitern und Aufsehern für eine langsame Veränderung in der Bevölkerungszusammensetzung des Städtchens und seinem Landkreis gesorgt, sodass es nicht mehr möglich war, die Leute einfach danach zu beurteilen, an welchem Abschnitt der Straße sie wohnten.

Die WPA-Satteltaschen-Bibliothek von Baileyville sollte im letzten Blockhaus oben am Split Creek untergebracht werden, wo die Hauptstraße nach rechts verlief und eine Straße einmündete, an der sowohl Angestellte als auch Ladenbesitzer wohnten und Leute, die hauptsächlich vom Verkauf dessen lebten, was sie anbauten. Die Bibliothek war ein schlichtes Gebäude am Hang, das anders als viele der Häuser weiter unten nicht auf Stelzen errichtet worden war, um es vor dem Frühjahrshochwasser zu schützen. Halb im Schatten einer riesigen Eiche gelegen, maß sie etwa fünfzehn mal zwölf Schritt. Zum Vordereingang führte eine kurze, wacklige Holztreppe, während der Hintereingang aus einer Holztür bestand, die so breit war, dass einmal Kühe hindurchgepasst hatten.

«Auf diese Art lerne ich alle im Umkreis der Stadt kennen», hatte Alice den beiden Männern beim Frühstück erklärt, als Bennett erneut den Verstand seiner Frau anzweifelte. «Und genau das wolltet ihr doch, oder? Außerdem bin ich Annie nicht den ganzen Tag im Weg.»

Sie hatte festgestellt, dass es ihnen schwerer fiel, ihr zu widersprechen, wenn sie ihren englischen Akzent übertrieb. Seit ein paar Wochen hörte sie sich geradezu an wie ein Mitglied des britischen Königshauses. «Und natürlich werde ich auch feststellen können, wer eine Versorgung mit religiösen Schriften nötig hat!»

«Da hat sie recht», sagte Mr. Van Cleve, zog ein Stück Speckknorpel aus seinem Mund und legte es sorgfältig an den Rand seines Tellers. «Sie könnte es einfach machen, bis die Kinderchen kommen.»

Alice und ihr Ehemann vermieden es geflissentlich, sich anzusehen.

Nun ging Alice auf das einstöckige Gebäude zu. Ihre Stiefel wirbelten Staub auf. Sie beschirmte die Augen mit der Hand und sah genauer hin. Ein frischgemaltes Schild verkündete: «USA SATTELTASCHEN-BIBLIOTHEK, WPA», und aus dem Inneren erklangen rhythmische Hammerschläge. Mr. Van Cleve hatte am Abend zuvor ein bisschen zu freimütig nachgegeben und war nach dem Aufwachen fest entschlossen, einen Fehler in allem zu finden, was irgendjemand im Haus tat. Einschließlich atmen. Alice war umhergeschlichen, um ihm auszuweichen, hastig in ihre Reithosen geschlüpft, und dann ertappte sie sich dabei, wie sie auf dem Fußweg von einer halben Meile leise vor sich hin sang, einfach aus Freude darüber, woanders sein zu können.

Sie trat ein paar Schritte zurück, versuchte, in das Gebäude zu spähen, und hörte dabei ein lauter werdendes Motorengeräusch und einen ungleichmäßigen Klang, den sie nicht einordnen konnte. Als sie sich umdrehte, sah sie einen Lastwagen und bemerkte den entsetzten Gesichtsausdruck des Fahrers.

«Brr! Achtung!»

Alice wirbelte herum. Ein reiterloses Pferd galoppierte mit tanzenden Steigbügeln und zwischen seinen dürren Beinen hängenden Zügeln über die schmale Straße auf sie zu. Während der Laster auswich, scheute das Pferd, kam aus dem Tritt und streifte Alice an der Schulter, sodass sie im Dreck landete.

Undeutlich nahm sie ein Paar Beine wahr, die an ihr vorbeirannten, eine Hupe und Hufgeklapper. «Brr! … Brr da vorn! Brr, mein Junge …»

«Autsch.» Sie rieb sich den Ellbogen, ihr Kopf dröhnte von dem Zusammenprall. Als sie sich aufsetzte, sah sie, dass ein paar Meter entfernt ein Mann den Zügel des Pferdes hielt und ihm beruhigend über den Hals strich. Das Pferd rollte mit den Augen, dass man das Weiße sah, und seine Venen hoben sich von seinem Hals ab.

«Dieser Schwachkopf!» Eine junge Frau hastete über die Straße auf sie zu. «Der alte Vance hat mit voller Absicht gehupt, und da hat er mich abgeworfen.»

«Sind Sie okay? Sie haben einen ordentlichen Sturz hingelegt.» Eine Hand wurde ausgestreckt und half Alice auf die Füße. Sie stand blinzelnd auf und sah den Mann an, der das Pferd hielt: Er war groß, trug einen Overall und ein kariertes Hemd, und er betrachtete sie mitleidig. Ein Nagel klemmte noch immer in seinem Mundwinkel, und er spuckte ihn in seine Hand und steckte ihn in die Hosentasche, bevor er ihr die Rechte zur Begrüßung reichte. «Frederick Guisler.»

«Alice Van Cleve.»

«Die englische Braut.» Seine Handfläche war rau.

Keuchend tauchte Beth Pinker zwischen ihnen auf und nahm Frederick Guisler knurrend den Zügel aus der Hand.

«Scooter, wo hast du das Gehirn, mit dem du mal geboren wurdest?»

Der Mann sah sie an. «Ich hab’s Ihnen gesagt, Beth. Sie können hier draußen nicht mit einem Vollblut herumgaloppieren. Das zieht ihn auf wie eine Feder. Reiten Sie die ersten zwanzig Minuten im Schritt, und Sie haben den restlichen Tag keine Probleme mit ihm.»

«Wer hat Zeit, im Schritt zu reiten? Ich muss bis heute Mittag in Paint Lick sein. Mist, jetzt hab ich seinetwegen ein Loch in meinen besten Reithosen.» Weiter vor sich hin murmelnd führte Beth das Pferd zum Aufsitzblock, drehte sich aber unvermittelt noch einmal um. «Oh. Sind Sie die Neue? Marge hat gesagt, ich soll Ihnen ausrichten, dass sie gleich kommt.»

«Danke.» Alice hob die Hand zum Abschied, bevor sie ein paar Steinchen aus ihrer Handfläche pickte, die sich bei ihrem Sturz hineingebohrt hatten. Beth überprüfte ihre Satteltaschen, fluchte vernehmlich, ließ das Pferd umdrehen und entfernte sich in leichtem Galopp die Straße hinauf.

Kopfschüttelnd wandte sich Frederick Guisler an Alice. «Sind Sie sicher, dass Sie in Ordnung sind? Ich kann Ihnen ein Glas Wasser bringen.»

Alice versuchte einen würdevollen Gesichtsausdruck aufzusetzen, so als würde kein Schmerz in ihrem Ellbogen pochen und als hätte sie nicht soeben festgestellt, dass ihre Oberlippe von einer feinen Staubschicht geziert wurde.

«Es geht schon. Ich … ich setze mich einfach hier auf die Treppe.»

Frederick Guisler überließ Alice sich selbst. Er war gerade dabei, die Wände der Bibliothek mit Regalen aus rohem Kiefernholz auszustatten, zwischen denen Kisten mit Büchern bereitstanden. An einer Wand waren schon Regale mit säuberlich etikettierten Büchern eingeräumt, und ein Stapel in der Ecke bedeutete wohl, dass einige schon zurückgebracht worden waren. Anders als im Haus der Van Cleves herrschte in dem kleinen Gebäude eine Atmosphäre der Zweckmäßigkeit, und die Ahnung davon, dass sich hier etwas Sinnvolles entwickeln würde.

Während sich Alice den Staub von der Kleidung klopfte, kamen auf der anderen Straßenseite zwei junge Frauen vorbei. Sie trugen lange Seersucker-Röcke und breitkrempige Hüte, um sich vor der Sonne zu schützen, warfen Alice einen Blick zu und steckten dann die Köpfe zusammen. Alice lächelte und hob zaghaft die Hand zum Gruß, doch die beiden sahen sie nur böse an und wandten sich ab. Mit einem Seufzen wurde Alice klar, dass sie wahrscheinlich Freundinnen von Peggy Foreman waren. Manchmal dachte Alice, sie könnte sich auch einfach ein Schild um den Hals hängen: Nein, ich wusste nicht, dass er eine Liebste hat.

«Fred sagt, Sie haben einen Sturz hingelegt, noch bevor Sie in den Sattel gestiegen sind. Das muss man erst mal schaffen.»

Alice hob den Kopf und sah Margery O’Hare auf sich herunterschauen. Sie saß auf einem großen, hässlichen Reittier mit ungewöhnlich langen Ohren und führte ein kleineres braunweiß geschecktes Pony am Zügel.

«Uhm … also, ich …»

«Haben Sie schon mal ein Maultier geritten?»

«Ist das ein Maultier?»

«Allerdings. Aber verraten Sie es ihm nicht. Er hält sich nämlich für einen Araberhengst.» Margery musterte sie unter ihrem breitkrempigen Hut heraus. «Sie können es mit diesem kleinen Schecken versuchen, Spirit. Sie ist temperamentvoll, aber sie hat einen genauso sicheren Tritt wie mein Charley, und sie schreckt vor nichts zurück. Miss Brady kommt nicht.»

Alice stand auf und streichelte der kleinen Stute über die Nase. Das Pferd schloss halb die Augen. Seine Wimpern waren halb weiß und halb braun, und das Tier verströmte einen süßen Geruch nach Weidegras. Alice fühlte sich unvermittelt in die Sommer zurückversetzt, während der sie auf dem Gut ihrer Großmutter in Sussex umhergeritten war. Damals, als sie vierzehn Jahre alt gewesen war und die Freiheit gehabt hatte, für ganze Tage am Stück zu verschwinden, statt ständig erzählt zu bekommen, wie sie sich zu benehmen hatte.

Alice, du bist zu impulsiv.

Sie beugte sich vor und roch an den flaumweichen Haaren an den Ohren der Stute.

«Schlafen Sie jetzt gleich noch mit ihr? Oder steigen Sie auf und reiten?»

«Jetzt?», fragte Alice.

«Warten Sie auf eine Genehmigung von Mrs. Roosevelt? Los, wir haben eine ganz schöne Strecke vor uns.»

Ohne zu warten, ließ sie das Maultier umdrehen, und Alice musste hastig aufsteigen, während die kleine, gescheckte Stute Margery schon nachlaufen wollte.

 

In der ersten halben Stunde sagte Margery O’Hare wenig, und Alice ritt ihr schweigend nach, während sie versuchte, sich an den völlig anderen Reitstil anzupassen. Margery hielt sich nicht mit durchgedrücktem Rücken, abwärts gerichteten Fersen und erhobenem Kinn gerade, wie die Mädchen, mit denen Alice in England geritten war. Stattdessen saß sie entspannt im Sattel und schwankte wie ein Baumschössling, während sie ihr Maultier um Abhänge herum oder hinauf und hinunter steuerte, wobei sie jede Bewegung mit dem Körper abfing. Sie redete mehr mit ihm als mit Alice, schimpfte mit ihm oder sang ihm etwas vor, und gelegentlich drehte sie sich für einen Ruf im Sattel um, als wäre ihr gerade wieder eingefallen, dass sie nicht allein unterwegs war. «Alles okay da hinten?»

«Ausgezeichnet!», rief Alice dann und versuchte, nicht nachzugeben, als die kleine Stute wieder einmal umdrehen und Richtung Stadt durchgehen wollte.

«Oh, sie testet Sie», sagte Margery, nachdem Alice ein Aufschrei entschlüpft war. «Wenn Sie ihr erst einmal klargemacht haben, wer das Sagen hat, wird sie süß wie Zuckerrübensirup.»

Alice, die spürte, wie ruppig und unwillig sich die kleine Stute bewegte, war da nicht so sicher, aber sie wollte sich nicht beschweren, damit Margery nicht auf die Idee kam, sie wäre für diese Arbeit ungeeignet. Sie ritten durch die kleine Stadt, vorbei an üppig bepflanzten, eingezäunten Vorgärten, die beinahe überquollen vor Mais, Tomaten und Blattgemüse, und Margery tippte sich jedes Mal an die Hutkrempe, wenn sie einem der wenigen Fußgänger begegneten. Die Reittiere schnaubten und wichen zurück, als ein großer Lastwagen mit Bauholz vorbeikam, doch dann waren sie plötzlich aus der Stadt heraus und ritten einen steilen, schmalen Weg hinauf. Als sich der Weg verbreiterte, ließ sich Margery ein wenig zurückfallen, damit sie nebeneinanderreiten konnten.

«Sie sind also die Engländerin.» Sie sprach es Eng-er-länderin aus.

«Ja.» Alice duckte sich unter einem niedrigen Ast. «Waren Sie einmal dort?»

Margery hielt den Blick nach vorn gerichtet, sodass Alice die Ohren spitzen musste, um sie zu hören. «War nie weiter östlich als Lewisburg. Dort hat meine Schwester gewohnt.»

«Oh, ist sie weggezogen?»

«Sie ist gestorben.» Margery hob die Hand, um sich einen Zweig als Gerte abzubrechen, und riss die Blätter ab, wobei sie die Zügel lose auf dem Hals des Mulis liegenließ.

«Das tut mir leid. Haben Sie noch mehr Familie?»

«Hatte. Eine Schwester und vier Brüder. Bloß, dass jetzt nur noch ich übrig bin.»

«Wohnen Sie in Baileyville?»

«Nur einen Katzensprung entfernt. In dem Haus, in dem ich geboren wurde.»

«Haben Sie immer an demselben Ort gewohnt?»

«Jup.»

«Sind Sie nicht neugierig?»

«Auf was?»

Alice zuckte mit den Schultern. «Ich weiß nicht. Wie es wäre, woandershin zu gehen, vielleicht.»

«Warum? Ist es besser, dort, wo Sie herkommen?»

Alice dachte an die drückende Stille im Empfangszimmer ihrer Eltern, das leise Quietschen des Eingangstores, ihren Vater, der jeden Samstag unmelodisch vor sich hin pfeifend sein Auto wienerte, an die minuziös angeordneten Fischgabeln und Löffel auf einem sorgfältig gebügelten Sonntagstischtuch. Dann richtete sie ihren Blick auf die endlosen grünen Wiesenflächen und die gewaltigen Berge, die sich rechts und links des Tals erhoben. Über ihr schickte ein Falke seinen Ruf in den wolkenlosen blauen Himmel.

«Möglicherweise nicht.»

Margery wurde langsamer, damit Alice zu ihr aufschließen konnte. «Hab hier alles, was ich brauche. Ich komme alleine zurecht, und die Leute lassen mich gewöhnlich in Frieden.» Sie beugte sich vor und streichelte dem Muli über den Hals. «Und genauso gefällt es mir.»

Alice hörte die leise Abwehr in ihren Worten und sagte nichts weiter. Die nächsten paar Meilen legten sie schweigend zurück, und Alice war bewusst, dass der Sattel schon jetzt an den Innenseiten ihrer Knie scheuerte und ihr die Sonne auf den unbedeckten Kopf brannte. Dann zeigte Margery an, dass sie nach links über eine Lichtung reiten würden.

«Okay, also, jetzt geht es ein bisschen nach oben. Am besten halten Sie die Zügel ordentlich fest, falls Spirit wieder umdrehen will.»