Wie ich mit Gott Karaoke sang - Erwin Grosche - E-Book

Wie ich mit Gott Karaoke sang E-Book

Erwin Grosche

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Beschreibung

Irgendwas läuft immer. Erich arbeitet im Getränkeshop "Blopp". Blopp ist mehr als ein Laden, wo man Bier kaufen kann. Hier treffen sich die einsamen Seelen der Stadt und verbringen ihre Tage mit endlosen Gesprächen über Gott und die Welt. Als Erich sich eines Tages, lebensmüde, auf dem Dach eines Hotels wiederfindet, steht plötzlich Gott neben ihm und fragt: "Was ist der Sinn des Lebens?" Gemeinsam entdecken sie seltsame Wunder, dreibeinige Hunde, die Heldentaten der Musketiere, und auch, dass Karaoke-Abende viel Sinn machen können. Schräg, amüsant und äußerst unterhaltsam – wenn Erwin Grosche sich der auf den ersten Blick kleinen Dinge im Leben annimmt, erleben wir den Erzählkünstler in Höchstform.

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Erwin Grosche

wie ichmit GottKaraokesang

Erzählung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

Klimaneutrale Produktion.

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem Papier.

© 2021 Bonifatius GmbH Druck | Buch | Verlag, PaderbornAlle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigungdes Verlags wiedergegeben werden, denn es ist urheberrechtlich geschützt.

Covergestaltung: Olivier Kleine

Coverfoto: Juliane „Linse“ Befeld

Satz: Melanie Schmidt, Bonifatius GmbH

Bearbeitung und Lektorat: Denise Bretz

Schlusslektorat: Gisela Appelbaum

Druck und Bindung: cpi

Printed in Germany

ISBN 978-3-89710-893-6

eISBN 978-3-89710-961-2

Weitere Informationen zum Verlag:

www.bonifatius-verlag.de

„Ist die Erde das Paradies, aus dem wir wieder vertrieben

werden können?“, fragte sie.

„Ja“, sagte er „Wir sollten aufpassen.“

Inhaltsverzeichnis

KAPITEL 1Immer wieder Sonntags

KAPITEL 2Der Getränkeshop

KAPITEL 3Nervereien

KAPITEL 4Ein dreibeiniger Hund und der Händewaschfilm

KAPITEL 5Rocker im Getränkeparadies

KAPITEL 6Erich erinnert sich

KAPITEL 7Überraschungen

KAPITEL 8Aufräumarbeiten und Einstudierungen

KAPITEL 9Die neue Hose

KAPITEL 10Der große Tag

KAPITEL 11Auf dem Dach

KAPITEL 12Der Ruf

Kapitel 1

„Immer wieder sonntags kommt die Erinnerung:Dibbedibbedibbdibb dib“

Cindy & Bert

Die Dachterrasse vom Arosa Hotel war voller Menschen. Jeder Platz war besetzt. Erich hatte reserviert und hoffte, in der Nähe des Geländers sitzen zu können.

Warf man den Blick über die Dächer der kleinen Stadt, konnte man das Riesenrad bewundern, das die Häuser überragte. Man bat ihn, bei einem Paar Platz zu nehmen, das ihn erwartungsvoll ansah. Die Frau trug einen hellblauen Hosenanzug, wie er ihn auch schon bei der Kanzlerin gesehen hatte, und eine Brille, die zu auffällig war, um das Gesicht noch betonen zu können. Man sah nur auf die Brille. Brillenträger sollten immer bedenken, dass andere ihre Brille anschauen müssen und sie auch denen gefallen muss. Der Mann trug eine braune Jacke im Karo-Design über einem schwarzen Rollkragenpullover und war sehr klein. Seine schlichte Nickelbrille unterstützte diesen Eindruck.

„Wir sind die Hufschmitts“, sagte er. „Wir haben einen Hund.“

Erich wusste, ein Paderborner sitzt nicht gerne bei Menschen, die nicht aus Paderborn kommen. Einen Abend mit Paderbornern zu verbringen, kann so erfüllend sein, weil sich der Ostwestfale nie lange mit den üblichen „Wie geht’s, wie steht’s?“-Spielen aufhält. Wer Paderborner zu seinen Freunden zählt, bekommt eine Ahnung davon, wie wir schon im Paradies gewesen sein müssen. Paderborner haben ein großes Herz und meinen es gut mit den anderen, ja oft geben sie sogar schon bei der Begrüßung Anregungen, über was man sich unterhalten kann: „Das ist ein Wetter, oder?“

Erich hatte kaum Platz genommen, als sein Stuhl unter ihm wegbrach und er stöhnend zur Seite fiel.

Wie in der Zeitlupenaufnahme einer Slapsticknummer nahm das Unglück seinen Lauf. Das Knacken des Stuhlbeins war deutlich zu hören. Er streckte sich dem Sturz entgegen. Seine Fellmütze fiel dabei vom Kopf. Das ging alles sehr schnell. Im Restaurant erstarben die Gespräche und alles drehte sich in seine Richtung.

„Genau“, sagte Herr Hufschmitt, „genau das habe ich gemeint.“

Erich richtete sich auf und rieb sich die Hände, mit denen er den Sturz abgefangen hatte. Er betastete seine linke Kniescheibe, mit der er auf den Boden aufgeschlagen war, als auch schon die Bedienung, Frau Andres, neben ihm auftauchte.

„Ist bei Ihnen alles in Ordnung?“

Herr Hufschmitt war aufgesprungen, um ihm zu helfen, blieb dann aber nur stehen. Helfen sieht immer hilflos aus, wenn man nicht weiß, was man tun soll. Herr Hufschmitt war, als er sich erhoben hatte, auch nicht größer, als er wirkte, wenn er saß. Die Gruppen an den anderen Tischen nahmen die Gespräche wieder auf. „Wo war ich steh‘n geblieben?“

„Mein Frau wollte das nicht glauben“, sagte Herr Hufschmitt.

Erich schaute auf den Stuhl, der von einem Mitarbeiter des Restaurants weggetragen wurde. Ein kleines Kind lief zu ihm, und starrte ihn an, als sei er ein Elefant. Es hatte eine Wischwegtafel in der Hand, die es aus der Spielecke des Restaurants entführt hatte.

„Es ist nichts passiert“, sagte er, obwohl er sich dessen nicht so sicher war.

„Meine Frau wollte nicht glauben, dass der Stuhl kaputt ist“, sagte Herr Hufschmitt, griff nach dem Brot und nahm wieder Platz. „Es ist Schicksal. Ging es Ihnen in letzter Zeit zu gut?“

„Lass es!“, sagte Frau Hufschmitt. „Wir haben es gehört.“

„Der Mensch muss Opfer bringen“, sprach Herr Hufschmitt weiter. „Wenn es Sie nicht erwischt hätte, dann hätte es mich erwischt. Das Paradies ist ein Glashaus. Es ist nur gut, dass ich nicht gestürzt bin.“

„Lass es sein!“, flüsterte Frau Hufschmitt wieder.

Frau Andres schob den freien Stuhl zu ihm. Sie hatte braune Augen und abstehende Ohren, die alle Blicke auf sich zogen.

„Nehmen Sie bitte diesen Stuhl, der müsste in Ordnung sein. Unser Chefkoch saß auf ihm zur Probe. Wollen Sie was trinken?“

Erich war froh, dass wieder das übliche Gespräch zwischen Bedienung und Gast im Mittelpunkt stand.

„Bringen Sie doch bitte ein Mineralwasser“, sagte er. Es war noch so warm, dass man selbst am Abend eine Abkühlung brauchte. Man trug in dem Sommer Fellmützen, konnte sie aber bei den Temperaturen nur abends aufsetzen. Die Mode fragt nicht nach Sinn. Angesagt war, was auffiel. Wie konnte man das besser beweisen als mit einer Fellmütze, die man im Sommer trug?

„Soll es vielleicht gleich eine Flasche sein?“, frage Frau Andres. Sie lächelte ihn an.

„Wir haben auch eine Flasche bestellt“, bemerkte Herr Hufschmitt und zeigte auf sein Carolinen Mineralwasser. Erich nickte und setzte sich vorsichtig hin. Alles war überstanden, aber er würde noch eine Zeit brauchen, bis er auch diesem Stuhl wirklich trauen konnte.

„Es gibt Tage, da sollte man nicht vor die Türe gehen“, sagte Herr Hufschmitt. „Als ich den Stuhl sah, wusste ich gleich, da setzt es was.“

Er nahm seine Nickelbrille ab, lachte über sein Sprachspiel und schob sie wieder auf die Nase.

Erich erinnerte sich, wie er bei EDUSCHO mal einen Kaffee hatte trinken wollen, und der Kaffee beim Einlaufen plötzlich über den Tassenrand geströmt, über den Unterteller gelaufen und auf die Tassenablage getropft war. Der Automat war so eingestellt worden, dass zwei Portionen Kaffee statt einer aus der Düse kamen und eine kleine Tasse die Portionierung nicht überstehen konnte. Alle, die im Cafébereich gestanden hatten, hatten so getan, als bemerkten sie das Missgeschick nicht, aber sie hatten nicht nur gewusst, was passieren würde, sondern auch darauf gewartet, weil sie selbst an diesem Automaten gestanden hatten, wo dann plötzlich der Kaffee über den Tassenrand geströmt und über den Unterteller gelaufen war, um dann schließlich auf die Tassenablage zu tropfen. Sie hatten Erich zugenickt, unschuldig von ihrem Kaffee genippt und hatten ihre Tassen wieder auf die Unterteller gestellt, auf denen die Tassendeckchen noch von ihrem Zwei-Portionen-Malheur berichteten. Erich hatte sich dann zu ihnen begeben und auf den nächsten Pechvogel gewartet und sich getröstet mit dem Gedanken, dass das Unglück so gleichmäßig verteilt war, dass alle mal an die Reihe kamen. Nun waren aber erstmal die anderen dran.

„Entschuldigen Sie die Aufregung!“, begrüßte Erich noch einmal die Hufschmitts. „Ich bin sonst ganz anders. Ich hoffe, ich störe nicht.“

„Auf gar keinen Fall“, sagte Herr Hufschmitt und betonte diesen Satz so, als sollte noch eine Erklärung folgen, entschied sich dann aber zum Schweigen und schüttete sich und Erich Wasser ein.

Im Arosa trank man Carolinen Mineralwasser aus Bielefeld. Die 1997 vom Designer Colani entworfene Flasche stellte das Gefäß in den Vordergrund, während heutzutage das Wasser betont wird. Die Colani-Flasche war größer als die anderen 0,25-l-Flaschen und eine Griffmulde schlängelte sich vom Boden bis zum Hals. Man konnte dieser Einlassung mit dem Daumen nachgehen und war angenehm abgelenkt. Es gab eine Zeit, da galten diese Handhabungen als sinnlich. Natürlich wollte Colanis Griffmulde einen Fluss andeuten, also den Ursprung des Wassers. Inzwischen sah man das Wasser als wertvolles Gut und bevorzugte dessen Auftauchen in einer schlichten Flasche. Man achtete eher auf Herkunft und Geschmack. Wenn man heute Wasser aus einer gestylten 0,25-l-Carolinen-Glasflasche trank, dann wunderte man sich über den altmodischen Verführungsversuch, bis man verträumt der Flusseinlassung mit dem Daumen nachgegangen war.

„Alle fragen sich, ob das Glas halbvoll oder halbleer ist“, sagte Herr Hufschmitt. „Man vergisst nur, dass man dafür so oder so den vollen Preis bezahlen muss.“

„Man sollte bei diesem Wetter viel Wasser trinken“, warf seine Frau ein. „Mein Mann ist hier geboren, der ist trocken genug.“

Sie lachte laut auf und als Erich merkte, dass sie dachte, ihr Lachen sei ansteckend, lachte er, genauso wie Herr Hufschmitt, mit.

„Wenn man hier einen Platz bekommen hat“, sagte Herr Hufschmitt, „kann man von Glück reden.“

„Mein Mann veranstaltet im Arosa eine Tagung, sonst hätte das nie geklappt“, sagte Frau Hufschmitt. „Er glaubt nicht an Gott.“

„Wenn es um Sitzplatzreservierungen geht, sowieso nicht“, sagte Herr Hufschmitt.

Ein Mann und eine Frau gingen an ihnen vorbei, um zur Erhöhung unter einem Sonnenschirm zu gelangen. Die Frau band sich ihre Gitarre um und der Mann benässte das Mundstück seines Saxophons.

„Schau mal, Schatz, die Band hat ihre Pause beendigt.“

Als wäre dies das Stichwort gewesen, fing das Duo, sie nannten sich Sunshine-Duo, an, zu spielen. Erich freute sich auf die Untermalung. Er schaute gerne Musikern zu, die versuchten, ihre Musik auch optisch zu präsentieren. Der Saxophonist blies in sein Saxophon, als wäre er in eine Kampfhandlung verwickelt. Als hätte jemand das Mundstück mit einem Kleber bearbeitet und er versuchte nun, seine Lippen freizubekommen. Die Frau an der Gitarre hielt sich wohltuend im Hintergrund auf und stimmte bekannte Schlager an, die verjazzt worden waren. „Hab ich dir heute schon gesagt, dass ich dich liebe?“ von Chris Roberts klang völlig entschleunigt gespielt, als sei es ein Sinatra-Song: „Hab ich dir heute schon gesagt, wie schön du bist? Jeder Tag wird geprägt durch die Liebe, jeder Tag ist ein Tag erst durch dich.“ Alles klang ehrlich und voller Mitgefühl.

Erich kannte die Musiker, aber in dieser kleinen Stadt kannten sich alle und sei es von irgendwoher. Oft lag „irgendwoher“ dann neben Dörenhagen und gehörte ebenfalls zu Borchen. Manchmal war „irgendwoher“ aber auch das Liborifest, wo sich alle Einwohner der Stadt über den Weg liefen und ihre Gemeinsamkeiten auffrischten.

Erich lauschte der Musik. Das kleine Kind stand nun vor der Bühne und tanzte dazu.

„Meine Frau war mal in Chris Roberts verliebt“, sagte Herr Hufschmitt.

„Alle waren in Chris Roberts verliebt“, sagte Frau Hufschmitt. „Er tat mir später so leid, als er alt geworden war. Wenn man schön ist, leidet man sehr unter diesen Veränderungen.“

Er bestellte als Vorspeise die orientalische Kohlrabisuppe und probierte sie so lange, bis sie ihm schmeckte. Als Hauptspeise hatte er sich einen Schweizer Burger bestellt und aß wenigstens von der Beilage, den Pommes.

„Hat es Ihnen nicht geschmeckt?“, fragte Frau Andres beim Abräumen.

„Es liegt nicht am Burger“, versicherte er schnell. „Ich bin nur von der Suppe so satt geworden.“

„Ich habe auch die orientalische Kohlrabisuppe probiert“, flüsterte Frau Hufschmitt. „Ich dachte, das passt nicht zusammen, ‚orientalisch‘ und ‚Kohlrabisuppe‘, und was soll ich sagen, es passte nicht zusammen.“ Sie trank von ihrem Wein.

„Sollen wir den Burger einpacken?“

„Alles gut“, lehnte Erich ab und ließ sich nochmal die Speisekarte bringen. Wenn er schon keinen Nachtisch essen wollte, interessierten ihn wenigstens die Namen der Köstlichkeiten, doch bei Wörtern wie Pflaumen-Cranberry-Ragout oder Blue-Curaçao-Schaum hatte er keine Vorstellung, wie sie schmecken könnten.

„Es wird Sie nun mein Kollege, Herr Bumelan, bedienen“, sagte Frau Andres. „Wenn Sie Wünsche haben, dann wenden Sie sich bitte an ihn.“ Frau Andres verneigte sich und ging. Ihr lief ein kleiner weißer Hund mit braunen Flecken entgegen, der nur drei Beine hatte.

Erich horchte auf, als er den Namen des Aushilfskellners hörte. „Das wird doch nicht mein Herr Bumelan sein?“, dachte er.

Kurz darauf kam Herr Bumelan und brachte eine neue Flasche Mineralwasser. Sie nickten sich zu. Es war wirklich sein Bekannter, den er aus dem AKKA, einer Kneipe in der Giersstraße, kannte.

„Alles klar?“, flüsterte Erich.

„So sieht man sich wieder“, sagte Herr Bumelan und füllte die Gläser auf.

Es war sonderbar, sich in dieser Umgebung zu treffen. In der Kneipe duzten sie sich, aber hier schien das unpassend zu sein, so vermieden sie direkte Anreden und sprachen nur über Dinge, die andere auch mithören konnten.

Erich hatte noch Zeit. Er konnte von seinem Sitzplatz aus den Dom, die Abdinghofkirche und die Busdorfkirche sehen, die mit ihren Türmen in den andächtigen Abendhimmel zeigten. Erich schaute auf die Uhr. Es war 22:00 Uhr. In zwei Stunden würde er alles hinter sich haben.

„Ihnen alles Gute“, sagte Herr Hufschmitt. „Genießen Sie ihr Leben.“ Sie gaben sich die Hand. Erich nickte, auch wenn es in Paderborn fast unmöglich erschien, sich aus dem Weg zu gehen, hatte er genau dies vor.

„Es war schön, sich kennengelernt zu haben“, sagte Herr Hufschmitt.

„Das fand ich auch.“

„Und glauben Sie mir“, raunte ihm Herr Hufschmitt zu. „Alles wird gut.“

Sie lachten. Erich wusste gar nicht, worüber.

In Deutschland nimmt sich durchschnittlich alle 56 Minuten ein Mensch das Leben. Alle sechs Minuten, glauben Fachleute, versucht es jemand. Bei jungen Menschen unter 25 Jahren wird vermutet, dass die Suizidversuchsrate weitaus höher ist, als könnte man sich den Freitod als älterer Mensch sowieso ersparen.

Das Restaurant schloss. Das Duo spielte als letzte Einlage einen bearbeiteten Schlager von Heintje, „Mama, du darfst doch nicht um deinen Jungen weinen“, der unfreiwillig komisch herüber kam, was aber als „Rausschmeißer“ auch beabsichtigt war. Danach wollte man wirklich gehen.

„Warum haben wir Heintje so gehasst?“, fragte sich Erich. Hatten wir Angst, dass wir auch so werden mussten wie er, damit unsere Mamas uns liebhaben konnten? Hatten wir Angst, dass er die Liebe unserer Mamas so aufsaugte, dass nichts mehr für uns überbliebe? Er fragte sich oft, warum ihn diese alten Schnulzen heute so berührten. Als das Lied 1968 auftauchte, war er drei Jahre alt gewesen. Er kannte Heintje von Aufnahmen im Internet und hatte seine Hoch-Zeit nicht mitbekommen. Erst als er bemerkte, dass diese Lieder von Mutterglück und Familiensinn auf eine völlig verschrobene Weise genau seine Sehnsüchte und Liebeswünsche spiegelten, wurde er Fan. Wie enttäuschend Heintjes Stimme nach dem Stimmbruch klang, dachte er plötzlich, als mutierte ein Schmetterling wieder zur Raupe. Da wollte Gott ein Exempel statuieren und unsere Leidensfähigkeit antesten. Hatte er vorher eine Stimme gehabt, mit der man eine Buttercremetorte in acht Teile schneiden konnte, verlor sie nach dem Erwachsenwerden ihren Zauber. Die heile Welt sollte sich nicht zu sicher fühlen, auch sie ist vom Untergang bedroht, wenn sie nur durch Sonnenaufgangsbilder dargestellt wird. Textlich wurde Heintje, oder Hein Simon, wie er sich ganz volljährig nannte, ebenfalls erwachsen. Er durfte nun im Auto vorne sitzen und ohne Erlaubnis der Eltern Alkohol trinken. So passte es nicht mehr, über Mamas und Omas zu singen, stattdessen erzählte er vom Liebesglück und dem Schmerz einer Trennung. Welcher Mensch will denn mit einem Mann zusammen sein, der als Kind seine größten Erfolge hatte? Es war die Treue der deutschen Mütter, die ihm trotzdem ein Gnadenbrot gewährten. Sie ließen ihrem Liebling alles durchgehen und schmunzelten über seine Versuche, erneut ihre Liebe zu gewinnen. Später hörte man ihm an, dass er Pferde züchtete. Kitsch braucht Patina, damit wir die heile Welt wirklich als heile Welt akzeptieren können. „Mama, du darfst doch nicht um deinen Jungen weinen.“ Warum haben so viele dieses Lied gehasst? Warum hörte niemand die wahre Botschaft des Liedes? Hatten alle ein Herz aus Stein und glaubten, der Kosmos drehe sich nur um sie?

Erich rieb sich die Augen. Er schreckte aus seinen Gedanken. Herr Bumelan kam mit der Rechnung, er zahlte und gab ein so hohes Trinkgeld, dass ihn sein Freund darauf hinwies.

„Das ist doch zu viel! Gib mir mal lieber wieder einen aus“, sagte er. „Wir sehen uns im AKKA.“

Herr Bumelan war schon im Feierabendmodus und trug eine Jeans und ein T-Shirt, auf dem James Dean zu sehen war.

„Ich will, dass du mich gut in Erinnerung behältst“, sagte Erich und bemerkte erst, als er den Satz ausgesprochen hatte, seine Doppeldeutigkeit.

„Mach es gut!“

„Mach es besser!“

Er wartete und war aufgeregt. Gegen 23:00 Uhr würde hier kein Mensch mehr sein. Keiner beachtete ihn, weil alle mit dem Ab- und Aufräumen beschäftigt waren. Schnell verschwand Erich im Flur, der zum Notausgang führte. Sein Herz raste und er brauchte lange, um sich zu beruhigen. Man bringt sich nicht jeden Tag um und verlässt die Erde auf diese Weise. Er kletterte über das Gitter und schaute nicht nach unten. Die Treppe führte auf das Dach des Hotels, wo er mutterseelenallein unter den Sternen stand. Erich schaute in den grenzenlosen Himmel und begann, sie zu zählen, wie er es schon als Kind getan hatte. Bald würde er Frieden finden. Er schaute auf die Lichter der Stadt. Das Riesenrad stand still und tauchte wie ein Baugerüst vor der Himmelswand auf.

„Hoppla!“

Plötzlich bemerkte Erich, dass er nicht schwindelfrei war. Er hatte Höhenangst. Er hatte an alles gedacht, aber vergessen, dass er sich keinem Abhang nähern konnte, aus Sorge, er könnte stürzen.

Auf einmal stand Gott neben ihm. So wie er auch einen Bademeister erkannt hätte, wenn er verbotener Weise vom Beckenrand ins Wasser gesprungen wäre, wusste er sofort, dass es Gott war, der vor ihm stand, obwohl er wesentlich kleiner war, als er ihn sich immer vorgestellt hatte. Gott trug eine graue ¾-Hose und hatte über einem Karohemd eine dunkelgrüne Weste angezogen, die dafür verantwortlich war, dass er schwitzte. Er hatte kaum Haare, und sogar die versteckte er unter einem Fischerhut. Außerdem hatte er sich eine Tasche umgehängt, die einen zu langen Gurt hatte.

„Es kühlt gar nicht mehr ab, oder?“, fragte er.

Er holte aus einer Umhängetasche ein hellblaues Tuch und wischte sich durch das Gesicht.

Erich war plötzlich die Ruhe selbst.

„Ich springe“, sagte er. „Keiner kann mich davon abbringen.“

Gott gähnte. „Ich bin hier im Homeoffice“, sagte er. „Ich muss meinen ganzen Kram vom Hotel aus erledigen. Ich bin total gerädert.“

Erich tastete sich langsam vor zum Rand des Daches.

„Ich habe mir alles genau überlegt.“ Obwohl er seine Fellmütze trug, schwitzte er nicht mehr.

Gott blieb an seiner Seite. „Nichts gegen Homeoffice, aber mir fehlt der Kontakt zu den Menschen. Alles, was ich im Fernsehen sehe, erscheint mir so nachgemacht.“

Erich wollte sich auf kein Gespräch einlassen. Er hatte in diesem Augenblick andere Sorgen.

„Zum Glück wird hier gerade eine Tagung zum Thema ‚Gott und die Welt‘ angeboten, da kann ich als Gasthörer dabei sein. Professor Hufschmitt soll sogar einen Vortrag halten.“

Erich stockte. „Professor Hufschmitt? Trägt er eine Nickelbrille?“

Gott lachte. „Ja, das ist er. Ein sympathischer Mann.“

Erich war überrascht.

„Hufschmitt verleugnet Gott. Er schrieb einige Bestseller zum Thema.“

„Ich saß heute mit ihm am Tisch.“

„Er kann Schicksalsschläge voraussehen, aber nur die kleinen. Er spürt, wenn die Vase gleich vom Tisch fallen wird, aber bemerkt nicht, wenn ein Meteorit sich der Stadt nähert.“

Erich dachte daran, wie er auf dem Stuhl eingebrochen war.

„Manchmal ist man erstaunt, was das Leben im Kleinen zu bieten hat“, sagte Gott. „Oft klappt das aber auch im Kleinen nicht.“

Erich machte einen Schritt nach vorne. „Ich bin es trotzdem leid.“

„Was denn? Was bist du trotzdem leid?“

Erich seufzte und hatte keine Lust, zu antworten. Das war doch keine Talkshow.

„Zum Beispiel unser Gespräch“, sagte er. „Jeder weiß doch, wie schwer alles ist.“

„Ich sag doch gar nichts“, entgegnete Gott. „Ich versuche nur, euer Leben zu begreifen.“

Erich schüttelte den Kopf. „Das macht jetzt wirklich Mut.“

„Was soll denn diese Tagung?“, fragte Gott. „Kann man einen Menschen, der nicht an Gott glaubt, davon überzeugen, dass es mich gibt?“

„Zumal die Kirche derzeit nicht den besten Ruf hat.“

„Wann hatte die Kirche schon mal einen guten Ruf?“

Erich schaute zu den Motten hin, die unermüdlich das Notausgangsschild umkreisten.

„Warum glaubt man nicht an meinen göttlichen Plan?“, fragte Gott.

„Weil man nie im Lotto gewinnt“, flüsterte Erich. „Weil die Liebe deines Lebens sich von dir trennt und weil man jeden Tag darum kämpfen muss, dass man sich nicht selbst enttäuscht.“

„Professor Hufschmitt behauptet, dass sich der Mensch im Alltag keinen Glauben erlauben kann. Er muss sich durchboxen.“

„Professor Hufschmitt hat natürlich auch eine sehr dominante Frau.“

Gott schüttelte den Kopf. „Ich würde an mich glauben, auch wenn es mich nicht gäbe.“

Erich sog die Nachtluft ein. Der Mond schien hell, als wäre er ein Scheinwerfer. Umschwirrten sie ihn, als wären sie Motten? Er schaute auf Gott in seinen ¾-Hosen. Wer hatte ihm zu diesem Outfit geraten? Konnte es sein, dass ihm die ¾-Hosen gefielen? Hatte Gott keinen Geschmack? Das würde auf jeden Fall einiges erklären: Mannheim, Birkenstock, Tennissocken und die Kastelruther Spatzen.

„Kann man nicht von allem, was einen nervt, erlöst werden?“, fragte er.

„Sonst noch was?“, fragte Gott. „Soll es immer nur nachts regnen und zu Weihnachten wird Schnee gewünscht?“ Er zog seine ¾-Hose hoch.

„Ich bin müde“, sagte Erich. „Man kommt doch zu nichts, wenn man nur wach ist.“

Gott schaute ihn an, als könnte er nicht glauben, dass die Menschen so anders geworden waren, als er gedacht hatte. Er schüttelte den Kopf. „Erinnerst du dich an Frau Andres?“, fragte Gott.

„Du meinst unsere Tischbedienung?“

Gott nickte. „Sie kümmert sich gerade um ihre kranke Mutter. Nach der Arbeit verschwindet sie immer zügig, um ihre Mutter nicht zu lang allein zu lassen. Seitdem ihr Mann von einem Jahr bei einem Autounfall gestorben ist, weiß sie kaum, wo ihr der Kopf steht.“

„Das habe ich nicht gewusst.“

„Erinnerst du dich noch an das Kind, das vor dir stand und Bauklötze staunte?“

Erich hatte schon nicht mehr an das Kind gedacht, das vor ihm stehengeblieben war, obwohl es ihm aufgefallen war, weil es nichts auf die Wischwegtafel gemalt hatte, was man wegwischen konnte.

„Das wird mal Leiter vom Ordnungsamt werden und Stadtteile evakuieren, wenn eine Bombe entschärft werden muss.“

Erich schüttelte den Kopf. „Im Ernst?“

„Nein, das mit dem Kind war nur Spaß“, sagte Gott. „Worauf ich hinauswollte …“

Erich schaute Gott an und konnte ihm nicht helfen.

„Jetzt weiß ich auch nicht mehr, worauf ich hinauswollte.“

„Ich würde dir das Leben, das wir führen müssen, gerne mal zeigen“, sagte Erich. „Kann sein, dass du mich dann verstehst.“

Er schaute in die dunkle Stadt. Einige Autolichter waren zu sehen und die bunten Lebenszeichen der Innenstadt, aber sonst war es dunkel, als gäbe es nur ihn und Gott.

„Deswegen bin ich hier“, sagte Gott. „Wird Zeit, dass ich mal mitten im Geschehen stecke.“

„Rechne mit dem Schlimmsten!“, warnte Erich. „Und mit dem Schönsten.“

„Da hab ich was zum Nachdenken“, sagte Gott.

Erich gab für heute sein Vorhaben auf. Er würde Gott das Leben zeigen, der Tod würde ihm schon nicht davonlaufen.

„Du hast Glück. Morgen Nachmittag habe ich frei.“

„Tage mit Gott zu verbringen, ist eine neue Herausforderung“, sagte Erich.

„Ich hole dich ab“, beschloss Gott. „Für heute sollten wir Schluss machen.“

Er dachte nach. Gott hatte recht. Es begann, zu tagen. Der Augenblick war verpasst. Er gähnte enttäuscht und auch erleichtert auf.

„Bis morgen“, sagte Gott.

„Mama, du darfst doch nicht um deinen Jungen weinen“, summte Erich die ganze Zeit und stand plötzlich vor seiner Haustür.

Kapitel 2

„Ich denke, wir sind am menschlichsten, wenn wir scheitern.Schade nur, dass es uns dabei nicht so gut geht.“

„Erich, Erich, was machst du denn hier?“

Das fragte ich mich auch.

Ich arbeitete im Blopp-Shop am Rundweg. Es war kein großer Getränkemarkt, aber durch den häufig genutzten Lieferservice hielt sich Willi, meine Chefin, über Wasser. Sie hieß eigentlich Wilhelmine, aber der Name war allen zu lang und Willi passte auch besser zu ihrem schmucklosen Auftreten. Blopp hatte Fruchtsäfte anzubieten, die in der Region abgefüllt wurden, und förderte besondere Produkte, die durch Witz und Botschaften auffielen. Natürlich verkauften wir Lemonaid, die mit dem Slogan „Trinken hilft“ neue Wege ging. Ein Kräuterlikör hieß „Die Impfung“, und der „Dörenhagener Rachenputzer“ war ein Verkaufsrenner. Es gab sogar eine Streuobst-Community, die einen Apfelsaft anbot, durch deren Verkauf ein Computerraum in der Seniorenresidenz in Schloss Hamborn eingerichtet werden sollte. Der Blopp-Shop hatte einen leicht zu merkenden Namen und im Laden herrschte eine chaotische Atmosphäre, die so etwas wie Gemeinsinn entstehen ließ. Hier durfte jeder anders sein, was viele Vor- und Nachteile mit sich bringen konnte. Wir waren Singles und hatten nur einander. Willi war bereits viermal verheiratet gewesen, das musste man erstmal überstehen, und hatte danach einfach aufgehört, ihr Glück in einer Zweierbeziehung zu suchen. Auch ich war ein gebranntes Kind und glaubte nicht mehr daran, mit 49 Jahren einer Traumfrau zu begegnen. Willis beste Idee war sicherlich das Anschlagbrett gewesen, das sie im hinteren Bereich des Ladens angebracht hatte. Nach Durchforsten des Zettelwaldes konnte man einen Badezimmerschrank kaufen, seinen Papageien loswerden oder ein Blind Date anzetteln. Auch wenn man hier Getränke einkaufte, fühlte man sich nachher besser als vorher, sogar wenn man die Probierstation links liegen gelassen hatte. Es gab Kunden, die das Pilger Bier so ausgiebig probierten, dass sie es nachher nicht mehr kaufen konnten.

Eigentlich waren wir erfolgreich. Selbst im Internet bewerteten uns 497 User als nutzerfreundlich.

„Was sind das für Menschen, die Zeit haben, einen Getränkemarkt zu bewerten?“, fragte Willi.

Sie hatte sich, wie immer, sehr lässig gekleidet und trug einen grauen Overall und orangene Chucks.

„Ich habe auch dreißig Wertungen abgegeben.“

„Gibt es solche Wertungen über jeden?“, fragte Willi.

„Nur TRi TOP steht über allem. Wer sich an TRi TOP vergreift, ist es nicht wert, Granini zu trinken.“

„Ihr und euer TRi TOP“, sagte Willi, die lieber mit einer Flasche „Hohes C“ ihren Vitaminhaushalt ausglich.

Gerade in diesem Sommer boomte das Geschäft. Alle hatten Durst und horteten in Garage und Keller Unmengen von Mineralwasser. Willi ging es gut. Ein Vorteil war es, dass man auf dem Hof einen Parkplatz fand. Alles passte zusammen, sogar die direkte Nachbarschaft zu einem Kinderarzt erinnerte daran, dass man nicht übermäßig zuckerhaltige Limonaden einkaufen sollte. Man fand schnell, was man brauchte, und alles war so platziert, dass man leicht mit dem Einkaufswagen daran vorbeikam. Im Sommer wurde eine Eistruhe vor die Kasse geschoben und im Winter verschwand sie wieder im Depot. In einer Ecke lagerte Knabberzeug und am Empfang standen Eier von Wernys Hühnerhof. Natürlich liefen die Hühner von Werny frei herum, obgleich sie nie wussten, wohin sie wollten.

„Genau wie ich“, sagte Willi.

Hier gab es Bier, Wasser, Limonaden und andere Familiengetränke. Es stand sogar ein Gummibaum im Gang, der nie gegossen wurde, als wäre er aus Plastik. Vielleicht war er das auch.

Ansonsten verzichtete Willi auf die Gestaltung der Räumlichkeiten und ließ als Auflockerung nur Getränkereklamen zu. Ausnahmen waren ein Indianer-Poster mit Uschi Glas und das Schild über die Regel, dass laut Paragraph 1 der Chef immer recht hat, und dass, wenn er laut Paragraph 2, nicht recht hat, automatisch wieder Paragraph 1 in Kraft tritt. Willi war zwar meine Chefin, aber solche Haarspaltereien hinderten sie nicht daran, so ein Schild hängen zu lassen. Dieses Schild schien in jedem Getränkemarkt einen Platz gefunden zu haben und war auch schon im Blopp, als der Laden noch „Durstlöscher“ hieß und seinen Besitzer, Gott hab ihn selig, als besten Kunden verlor.

Ich gähnte. Ich war früh aufgestanden, weil man bei der Hitze nicht schlafen konnte. Immer und immer wieder war ich den gestrigen Abend durchgegangen und hatte überlegt, ob ich einen Fehler begangen hatte. Sterben war schwer genug, aber leben? Alles war geplant und überlegt gewesen. Vielleicht hatte ich schon als Kind, dem der blaue Ballon in den Himmel entglitt, entschieden, dass das Leben unaushaltbar war. Vielleicht hatte sich schon in der Schule, als allen Wundern durch jede Erklärung die Geheimnisse ausgetrieben wurden, dieser Ausweg in seinem Kopf festgesetzt. Vielleicht hatte ich aber auch schon als Erwachsener, der hilflos von einer Beziehung in die andere gestolpert war, das Warten auf die Liebe aufgegeben und war so auf Gott getroffen.

„Wo ist Gott eigentlich?“, fragte ich mich und schaute auf die Uhr.