Wie man sich (nicht) verliebt - Stephanie Long - E-Book

Wie man sich (nicht) verliebt E-Book

Stephanie Long

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Beschreibung

Für Linda ist eines klar: Von den Jungs hat sie genug. Ganz besonders nach dem Drama im letzten Sommer, mit dem Freund ihrer ehemaligen besten Freundin. Als dann die beiden Jungs Marcel und Valentin in die Wohnung über ihr einziehen, gerät dieser Vorsatz gefährlich ins Wanken. Dabei hat sie dafür wirklich keine Zeit, schließlich gibt es noch ihr eigenes Familiendrama, das sich immer weiter zuspitzt.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Stephanie Long

 

wie man sich (nicht) verliebt

 

1. Auflage, April 2023

 

Copyright © 2023 Stephanie Long

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat und Korrektorat: Rohlmann & Engels

Cover: Bianca Wagner (Cover up – Buchcoverdesign)

Verwendete Fotos im Cover: Shuttetock.com

 

Stephanie Long

c/o AutorenServices.de

König-Konrad-Str. 22

36039 Fulda

 

Taschenbuch ISBN: 978-3-7386-3181-4

 

Facebook: https://www.facebook.com/Stephanie-Long

E-Mail:[email protected]

 

 

INHALT

Titel

Copyright

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Danksagung

Über die Autorin

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1

 

 

Gähnend reibe mir mit den Händen über die Augen, nachdem mich ein lautes Geräusch aus dem Schlaf gerissen hat. Es folgt noch ein Rumsen und ich höre, wie sich Leute unterhalten. Und das nicht unbedingt leise.

„Was soll das, Mann.“ Ich stöhne und drehe mich auf die Seite. Ich stöhne gleich ein weiteres Mal auf, denn die Zahlen auf meinem Wecker zeigen mir, dass es erst kurz vor neun Uhr ist. An einem Samstag sollte man ausschlafen dürfen! Ist das nicht irgendein Gesetz? Wenn nicht, sollte es schleunigst eines werden.

Jammernd drehe ich mich auf den Bauch und vergrabe den Kopf unter meinem Kissen, aber das nützt nichts. Diesen Krach höre ich selbst durch die dicken Daunenfedern hindurch. Und nun, da ich bereits wach bin, werde ich bei diesem Lärm niemals wieder einschlafen können. Mit einem finsteren Blick in Richtung Haustür, von wo die Geräusche kommen, kämpfe ich mich aus dem Bett und schlüpfe in meine graue Trainingshose und ein grünes T-Shirt.

Hundemüde schlurfe ich aus meinem Zimmer. Meine Familie schläft noch, obwohl es mir ein Rätsel ist, wie die das hinbekommen. Müssten die nicht alle in ihren Betten stehen? Schließlich geben sich diese Leute da draußen echt keine Mühe, etwas leiser zu sein. Oder habe ich einfach einen leichten Schlaf?

Wieder ein Rumsen vor der Tür. Ich bleibe ein paar Schritte davor stehen. Es juckt mich in den Fingern, die Tür aufzuschließen und nachzusehen, was da los ist. Aber ich habe noch nicht in den Spiegel geschaut und sehe bestimmt aus wie jemand, auf dessen Kopf ein Vogel genistet hat. Auch kann ich nur erahnen, wie ausgeprägt meine Augenringe sind. Also wende ich mich mit einem letzten bösen Blick auf die Tür der Küche zu.

Ich öffne den Kühlschrank und gähne noch einmal ausgiebig. Blinzelnd starre ich das Innere vom Kühlschrank an. Außer der Butter, der Konfitüre, ein paar Tomaten im Gemüsefach und einer Tube Senf ist er leer. Da müsste man dringend einkaufen gehen. Enttäuscht schließe ich ihn wieder. Nichts, auf das ich gerade Lust habe.

Wann Mama wohl aufsteht? Seit einigen Wochen hat sie fast nur noch Nachtschichten. So wie auch letzte Nacht. Sie meint, sie würde so besser bezahlt werden. Also war ich gestern Abend mit meinen Geschwistern allein zu Hause.

Seit Papa vor zwei Monaten ausgezogen ist, hat sich unser ganzes Leben verändert. In der letzten Zeit habe ich bestimmt drei Mal die Woche auf sie aufgepasst. Ich liebe meine Geschwister, aber dass ich immer wieder ihre Nanny spielen soll, geht mir auf die Nerven. Obwohl meine beste Freundin Nicole mir manchmal hilft – oder mir Gesellschaft leistet, wie sie es nennt –, ist es mühsam. Das liegt allerdings nicht an Sven und Sophie. Gut, Sven kann schon anstrengend sein. Mit seinen neun Jahren ist er in einem Alter, in dem man sich von niemandem etwas sagen lassen will – schon gar nicht von der großen Schwester. Ich hoffe einfach, dass sich bald eine Lösung finden wird. Das kann so schließlich nicht weitergehen. Nicht nur mir wird es langsam zu viel. Ich kann Mama ansehen, dass die neue Situation bei uns zu Hause sie auslaugt.

Vor drei Wochen hat meine Oma angerufen und vorgeschlagen, dass sie uns helfen würde. Sie lebt seit ihrer und Opas Pensionierung mit ihm in Chur. Ich habe mich gefreut, weil es bedeuten würde, dass ich dann mehr Zeit für mich hätte. Einfach in Ruhe ein Buch lesen oder eine Serie anschauen, ohne jede Sekunde von einem meiner Geschwister gestört zu werden. Oma meinte, ich soll Mama ans Telefon holen. Tja, und das war’s dann: Mama hat strikt abgelehnt. Sie hat in diesem Ton gesprochen, bei dem man sich nicht traut, auch nur ein Wort dagegen zu sagen.

Ich verstehe immer noch nicht, warum sie das getan hat. Als ich sie danach gefragt habe, hat sie nur das Gesicht verzogen und gemeint: „Wir kriegen das schon hin.“ Damit war das Thema für sie offenbar beendet. Jedes Mal wenn ich danach versucht habe, nachzuhaken, hat sie dasselbe geantwortet: „Weil ich es sage!“

Das ist doch keine Antwort! Was soll man denn damit anfangen?

Nun stehe ich in der Küche. Die gröbste Müdigkeit ist von mir abgefallen und ich schaue mich um. Mein Blick fällt auf die Kaffeemaschine und ich mache mich daran, Wasser einzufüllen und einen Filter einzulegen. Danach hole ich die Dose mit dem Kaffee aus dem Schrank und beginne, das Pulver in den Filter zu löffeln.

Während der Kaffee in die Kanne rinnt, tappe ich durch den Flur zum Zimmer meiner Schwester. Leise schiebe ich die Tür auf, denn auch wenn mich dieser Lärm im Treppenhaus geweckt hat, Sophie könnte trotzdem noch schlafen. Aber Sophie sitzt putzmunter auf dem Boden und kämmt ihrer Puppe Lily das Haar.

„Guten Morgen, Mäuschen.“ Ich lächle sie an.

Sie hebt ihren Lockenkopf und schenkt mir ein Grinsen, das mich von innen wärmt. Sophie ist ein Sonnenschein.

„Hallo, Lina.“ Nur Sophie nennt mich so. Als sie angefangen hat zu reden, hat sie anstatt Linda immer Lina gesagt. Dabei ist es geblieben.

Ich strecke lächelnd meine Hand nach ihr aus. „Willst du mir helfen, das Frühstück zuzubereiten? Mama und Sven werden sich bestimmt freuen, wenn sie aufstehen und sich nur noch an den Tisch setzen müssen.“

„Oh ja!“, ruft sie, klatscht in ihre Hände, ignoriert dabei meine ausgestreckte und hopst durch den Flur in die Küche. Ihre Haare hüpfen mit jedem Sprung auf und ab. Wir haben alle drei die dunkelbraune Haarfarbe unseres Vaters geerbt. Bei ihm werden sie an den Seiten allerdings schon grau. Anders als meine Geschwister, die die gleichen Locken haben wie Papa, habe ich glatte Haare wie Mama.

Schmunzelnd folge ich meiner Schwester in die Küche und bemerke, dass Sophie schon den Kühlschrank aufgemacht hat und darin herumkramt.

Als ich sehe, was sie in den Händen hält, schüttle ich den Kopf und unterdrücke ein Lachen. „Die nicht.“ Ich nehme ihr das Netz mit den Tomaten ab und lege es in das Gemüsefach zurück. Anschließend gehe ich in die Knie, greife nach der Butter und reiche sie meiner Schwester. „Die kannst du zum Tisch bringen.“

Sophie düst ab und ich richte mich wieder auf, nehme das Servierbrett, das hinter dem Herd an die Wand gelehnt steht, und beginne damit, Konfitüre, Honig, Milch und weitere Dinge daraufzustellen.

„Linda! Hast du das schon gesehen?“

Ich zucke bei der aufgeregten Stimme von Sven zusammen, wirble herum und stoße dabei gegen die Milchpackung, die umfällt. Jemand scheint den Deckel nicht fest darauf geschraubt zu haben, denn der springt ab und die Milch ergießt sich über die Arbeitsplatte.

„Mist“, fauche ich verärgert, mehr über mich selbst als über meinen Bruder, der in der Küchentür steht. „Was denn?“, frage ich ihn genervt. Dabei versuche ich, die Sauerei mit dem Küchenlappen zu beseitigen.

„Da zieht wer ein“, sagt er und deutet auf die Haustür. „Oben in die freie Wohnung, wo dieser dicke Typ gewohnt hat.“

„Okay.“ Ich höre ihm nur mit halbem Ohr zu, da die Milch über den Rand der Ablage zu tropfen droht. Sobald ich das Schlimmste abgewendet und den Lappen in der Spüle ausgewaschen habe, werfe ich einen Blick auf meinen Bruder. Seine dunklen Locken stehen ihm in alle Richtungen vom Kopf ab und er trägt seinen Rentier-Pyjama, den er letztes Weihnachten von Oma bekommen hat.

„Warst du etwa so draußen?“ Ich muss mir ein Grinsen verkneifen. „Geh dich mal besser anziehen.“ Ich drehe den Hahn zu und wringe den Lappen aus.

Svens Augenbrauen ziehen sich zu einem V zusammen und er presst die Lippen aufeinander.

„Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Wir bekommen neue Nachbarn.“ Seine Augen funkeln vor Aufregung.

Ich seufze. „Ja, Sven, ich habe dich gehört, aber ich habe da gerade ein kleines Problem, wie du vielleicht siehst.“ Ich mache mich daran, die restliche Milch aufzuwischen. „Geh und kämm dir deine Haare. Die sehen aus, als wollten sie dir gleich vom Kopf springen.“

„Warum erzähle ich dir eigentlich irgendwas? Es interessiert dich doch eh nie! Und übrigens, deine Haare sehen noch viel schlimmer aus.“ Mit diesen Worten dreht er sich um und stampft zurück in sein Zimmer. Ich glaube, noch ein „Blöde Kuh“zu hören, dann schließt sich seine Tür.

Seufzend reibe ich mir mit beiden Händen über die Augen. Was für ein beschissener Start in den Tag. Erst diese lauten Nachbarn und nun ist Sven sauer. Bestimmt muss ich mich dafür tausendmal bei ihm entschuldigen. Sven ist nachtragend wie niemand sonst, den ich kenne. Wenn er will, könnte er mich die nächsten Tage mühelos ignorieren. Das muss ich bald klären.

Wieder spüle ich den Lappen mit der Milch aus, lege ihn über den Heizkörper und öffne anschließend den Brotkasten, nur um festzustellen, dass er leer ist.

Na toll.Ich will doch bloß Frühstück machen. Was, Universum, habe ich dir getan?

Leise vor mich hin grummelnd stapfe ich durchs Wohnzimmer und dann in mein Zimmer, wo ich mich richtig anziehe. Mit Trainingshose und T-Shirt kann ich nicht auf die Straße gehen. Schon gar nicht im September. Svens Worte über meine Haare schießen mir durch den Kopf, also gehe ich schnell mit der Bürste drüber und binde sie zusammen. Ich will mein Zimmer gerade wieder verlassen, als mein Blick an meiner Armbanduhr auf dem Nachttisch hängen bleibt. Ich habe sie von Papa und Mama zum vierzehnten Geburtstag bekommen und seither jeden Tag getragen. Schnell schnappe ich sie mir und binde sie um mein Handgelenk.

Sophie sitzt mit angewinkelten Beinen im Wohnzimmer auf dem Boden und spielt mit Lily. Papa hat sie ihr im Sommer zum vierten Geburtstag geschenkt. Ob meine Eltern zu diesem Zeitpunkt schon entschieden hatten, sich zu trennen? Oder kam es plötzlich?

Von wem es ausging, ist klar, schließlich hat Papa im Gegensatz zu Mama wieder eine Freundin. Ich habe Kaya schon ein paar Mal gesehen, aber sie hat keine Ahnung von Kindern. Immer wenn Papa uns in den letzten Monaten gesehen hat und sie dabei war – was nicht oft der Fall war, weil Papa kaum Zeit für uns hat –, stand sie da, knetete ihre Hände und schaute verängstigt drein. Aber ich habe kein Mitleid. Warum auch? Wenn sie sich an einen verheirateten Mann mit Kindern ranmacht, muss sie mit den Konsequenzen leben.

Nachdem ich das Geld aus der Haushaltsgelddose in der Küche geholt habe, bleibe ich bei meiner Schwester stehen. „Sophie, ich muss kurz zum Bäcker Brot kaufen gehen.“ Ich strecke ihr meine Hand hin. „Kommst du mit?“

Sophie kann nicht mit Sven allein hier bleiben. Er ist neun und nicht in der Lage, auf sie aufzupassen. Auch wenn Mama zu Hause ist, will ich, dass sie sie schlafen lassen. Sie hat es schon schwer genug.

„Ja! Zum Bäcker!“, ruft meine Schwester aufgeregt. Sofort steht sie auf und läuft, die Puppe im Arm, davon. Ich bin immer wieder erstaunt, welche Energie meine Schwester schon am frühen Morgen besitzt.

Sophie bleibt strahlend vor Sven stehen, der sich eben ein T-Shirt über den Kopf zieht. Er wirft mir einen finsteren Blick zu. Ganz klar hegt er nun Groll gegen mich. Ich unterdrücke ein Seufzen, weil das die Situation nur noch verschlimmern würde. Seine Augen schweifen ins Wohnzimmer, wo der Fernseher steht.

„Sven, wir gehen zum Bäcker!“, ruft Sophie begeistert.

Sven, der nach wie vor seine Rentier-Pyjamahose trägt, zieht die Brauen hoch. Sie nimmt seine Hand und zieht ihn zur Wohnungstür, damit er mit uns kommt, aber sein Gesichtsausdruck spricht Bände. Er hat absolut keine Lust, jetzt nach draußen zu gehen. Er will fernsehen und nichts anderes.

Im Flur hole ich meine und Sophies Schuhe aus dem Schuhschrank, ziehe ihr erst ihre an, bevor ich in meine eigenen schlüpfe. An meinen Schläfen beginnt es zu pochen. Das passiert häufiger, seit ich regelmäßig meine Geschwister betreuen muss. Ich will mir nicht einmal vorstellen, wie sich Mama fühlt, die sich um uns alle kümmern und noch die Arbeit unter einen Hut bringen muss. Kein Wunder, dass sie in letzter Zeit so matt ist.

„Muss ich mitkommen?“, mault Sven wie erwartet. Dabei macht er drei Schritte in Richtung Wohnzimmer. „Ich will nämlich nicht.“

Natürlich willst du das nicht, denke ich und verdrehe innerlich die Augen. Und ich kann mir auch vorstellen, warum, Freundchen. Seit ein paar Wochen will mein Bruder jeden Samstag fernsehen. Dabei gibt es auch andere Dinge, die man machen kann.

Ich nicke. „Ist gut. Bleib du hier.“ Er würde nur die ganze Zeit rumjammern, und das will ich mir definitiv nicht anhören. Mit hochgezogenen Brauen füge ich hinzu: „Aber anstatt fernzusehen wie so oft, könntest du den Tisch fertig decken. Sophie und ich sind gleich wieder da.“

Ich verkneife mir ein Grinsen bei dem ertappten Ausdruck auf seinem Gesicht. Maulend verzieht er sich in sein Zimmer.

Ich lächle meine Schwester an und knie mich vor sie. „Okay, Mäuschen, dann machen wir zwei Hübschen uns mal auf den Weg.“

Sophie nickt heftig und kichert.

„Bis nachher, Sven!“, rufe ich, laut genug, dass er mich hört, aber nicht so laut, dass Mama davon aufwacht. Wahrscheinlich hätte sie dann aber der Lärm draußen bereits geweckt. Mein Bruder antwortet nicht. Er ist wirklich sauer auf mich. Mit einem schlechten Gewissen, weil ich ihm kaum Aufmerksamkeit geschenkt habe, greife ich in die Schale mit den Schlüsseln und schiebe Sophie zur Tür hinaus.

Im Treppenhaus herrscht Chaos. Männer und Frauen tragen Möbel und Umzugskartons die Treppen hoch. Gerade schleppen zwei Männer ein Bettgestell an uns vorbei. Sie lächeln angestrengt in unsere Richtung. Sophie und ich grüßen freundlich, dann nehme ich meine Schwester sicherheitshalber an die Hand, damit sie nicht von jemandem übersehen wird oder ich sie aus den Augen verliere.

Über Umzüge habe ich mir nie viele Gedanken gemacht. Ich wohne schon in dieser Wohnung, seit ich denken kann. In unserem Haus gibt es keinen Lift, was bedeutet, dass diese Leute ihren gesamten Kram vier Stockwerke hochschleppen müssen. Was ich nicht ganz verstehe, ist, warum sie das um neun Uhr morgens machen müssen. Sophie und ich schieben uns an den Leuten vorbei ins Freie und schlendern los.

Beim Bäcker ist nicht viel los. Vor uns ist nur eine Frau, die gerade ihre Einkäufe ein packt. Dann sind wir an der Reihe. Nachdem ich uns einen Laib Brot gekauft habe, streckt Sophie ihre Arme danach aus. „Ich will es tragen.“

Ich gebe das in Papier eingewickelte Brot. „Aber gut festhalten. Es darf nicht auf den Boden fallen“, warne ich sie, doch sie stapft schon auf die Ladentür zu. Ich winke der Frau hinter der Theke zum Abschied zu, wünsche ihr ein schönes Wochenende und eile Sophie hinterher.

Vor unserem Haus steht nach wie vor der Lastwagen, aus dem die Helfer gerade unzählige Kisten ausladen. Die roten Köpfe der Leute verraten, wie schwer sie sein müssen. Welche von denen wohl unsere neuen Nachbarn sind?

Plötzlich zupft Sophie an meinem Pulloverärmel. „Ich will nicht mehr“, meint sie und streckt mir das Brot hin.

Ich nehme es ihr ab und schiebe sie zur Eingangstür, wo sie an zwei Männern vorbeischlüpft, die nach draußen treten. Ich folge ihr und werfe einen Blick auf meine Armbanduhr. Fast Viertel vor zehn.

Auf einmal rempelt mich jemand an und das Brot rutscht mir aus den Händen und fällt zu Boden. Es eiert davon und bleibt vor der ersten Treppenstufe liegen.

„Shit.“ Ich erzähle Sophie, sie soll den Laib gut festhalten, und wer ist die Idiotin, die es fallen lässt? Echt jetzt?

Ich blicke zu dem Rempler auf, der sich als ein Junge in meinem Alter herausstellt. Er sieht aus, als würde er viel Sport treiben, hat kurzes blondes Haar und hellgrüne Augen.

Er guckt mich entschuldigend an. „Das tut mir leid.“ Er macht einige Schritte zurück, hebt den Brotlaib auf und streckt ihn mir entgegen. „Ich habe auf mein Handy geschaut und dich nicht gesehen.“ Er hebt demonstrativ mit der anderen Hand sein Smartphone hoch, schiebt es sich dann in die Gesäßtasche und lächelt mich an. Sein Dialekt klingt speziell, nach einer Mischung aus verschiedenen Dialekten, als könne er sich nicht entscheiden, welchen er nun sprechen will.

Abgelenkt, weil ich immer noch über die Art, wie er spricht, nachdenke, dauert es einen Moment, bis ich nach dem Brot greife. „Danke.“ Ich lächle ihn ebenfalls an.

Er erwidert meinen Blick neugierig und macht keine Anstalten, mir den Weg freizumachen. „Ich bin Valentin. Ich ziehe gerade mit meiner Familie oben ein.“

Aha. Das erste Mitglied der neuen Mieter steht vor mir. Ich lächle ihn an. „Linda.“ Ich deute an die Decke. „Ich wohne im dritten Stock.“

Das Lächeln auf seinen Lippen wird breiter. „Cool.“

Mein Blick zuckt kurz zur Decke. Meine Schwester ist nirgends mehr zu sehen. Aber bevor ich sagen kann, dass ich nun wirklich gehen sollte, räuspert sich hinter uns jemand.

Einer der Männer, denen Sophie und ich vorhin schon begegnet sind, lächelt mich freundlich an, wendet seinen Blick dann aber Valentin zu. „Sohnemann. Die Kisten schleppen sich nicht allein hoch. Würdest du also bitte …“ Er nickt in Richtung Ausgang. „Flirten kannst du später noch.“ Er zwinkert und Valentin verdreht die Augen.

An mich gewandt meint er: „Ich bin Andreas. Ich würde dir ja gern die Hand geben, aber …“ Er deutet auf den Karton in seinen Händen.

Nachdem ich mich noch einmal vorgestellt habe, verabschiede ich mich von den beiden. „Danke noch mal fürs Aufheben“, sage ich, hebe dabei das Brot hoch und eile dann die Treppe nach oben. Hat Valentin unser Gespräch als Flirten wahrgenommen? Das war es nicht. Ganz bestimmt nicht.

„Gern geschehen!“, ruft er mir hinterher.

Ich erreiche die oberste Treppenstufe zum dritten Stock genau in dem Moment, in dem Sophie nach der Klinke greift. Ich schiebe sie zur Seite und schließe die Tür auf. Kaum schwingt sie auf, dringen die Stimmen von Phineas und Ferb durch den Flur. Sophie zieht sich die Schuhe aus, lässt sie achtlos liegen und flitzt ins Wohnzimmer.

Ich streife meine ebenfalls ab, verstaue beide Paare im Schuhschrank. Danach tappe ich zur Küche, wobei ich am Esstisch vorbeikomme. Ich seufze. Sven hat nicht getan, worum ich ihn gebeten habe. Im Esszimmer steht nach wie vor nur die Butter auf dem Tisch, die Sophie hingestellt hat. War nicht meine beste Idee, die als Erstes aus dem Kühlschrank zu nehmen. Bestimmt ist sie nun total weich. Ich stapfe weiter ins Wohnzimmer, um meinen Bruder zur Rede zu stellen.

„Sven, habe ich dir nicht gesagt, dass du den Tisch decken sollst?“ Der Zwerg sitzt vor dem Fernseher und stopft gesalzene Erdnüsse in sich hinein. Ich verdrehe die Augen. Das kann ja wohl nicht sein Ernst sein.

„Nein, du hast gesagt, dass ich den Tisch decken kann. Von sollen war nie die Rede. Und ich habe Mama gefragt, ob ich fernsehen darf“, gibt er zurück. „Sie hat ja gesagt.“ Mit einem streitlustigen Grinsen wirft er sich eine Handvoll Nüsse in den Mund.

Er weiß genau, wie er mich auf die Palme bringt, diese kleine Kröte. Grummelnd verziehe ich mich in die Küche. Warum soll ich mich mit ihm abmühen, wenn er doch immer das Gegenteil von dem macht, was ich sage? In dem Augenblick tappst Sophie auf den Zehenspitzen aus Mamas Zimmer und durch den Flur ins Wohnzimmer zu Sven. Auf dem Weg dahin schenkt sie mir ein Grinsen, das mir ebenfalls eins entlockt.

In der Küche lege ich das Brot auf die Ablage und schalte die Kaffeemaschine aus. Dann nehme ich eine Tasse aus dem Schrank und fülle sie halb mit Kaffee und gieße Kaffeerahm dazu. Nachdem ich einen Schluck davon getrunken habe, setze ich die Tasse auf die Arbeitsplatte, wickle das Brot aus dem Papier und fahre fort, das Frühstück vorzubereiten. Dieses Mal ohne jegliche Hilfe von meinen Geschwistern.

Ich höre die beiden kichern. Meine Brust zieht sich schmerzhaft zusammen. Wie konnte Papa einfach gehen? Wie kann er jeden Tag in den Spiegel sehen und sich nicht schuldig fühlen, seine Familie einfach allein gelassen zu haben? Das will mir einfach nicht in den Kopf. An einem Tag waren wir eine normale Familie und am nächsten nicht mehr. Ja, meine Eltern haben sich öfters gestritten, aber sie haben sich auch immer wieder vertragen.

„Guten Morgen, Liny“, sagt Mama hinter mir.

Erschrocken von ihrem plötzlichen Auftauchen wirble ich herum und presse mir eine Hand auf die Brust. „Boah, Mama. Erschreck mich doch nicht so!“

„Entschuldigung. Ich dachte, du hast mich gehört“, meint sie.

Ich schüttle den Kopf. „Ich war in Gedanken. Warum bist du schon wach?“

Mama wirft mir ein Lächeln zu, aber sie wirkt sehr müde. „Ich habe den Kaffee gerochen und vorhin kam Sophie ins Zimmer und wollte kuscheln, da dachte ich, ich kann auch am Nachmittag noch mal schlafen gehen.“ Sie bindet sich die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen.

Einen Moment sagt keine von uns etwas, dann frage ich: „Hast du Sven gesagt, er kann fernsehen?“, frage ich. Wie mein Bruder mir gegenüber gerade drauf ist, traue ich es ihm zu, dass er es mit der Wahrheit nicht zu genau nimmt. „Er sitzt jetzt mit gesalzenen Erdnüssen auf der Couch.“ Ich deute Richtung Wohnzimmer.

Mama macht ein zerknirschtes Gesicht. „Er hat gesagt, es wäre nur diese eine Folge, und da dachte ich, das wäre schon okay. Zu meiner Verteidigung: Ich war noch im Halbschlaf und von Nüssen habe ich nichts gesagt.“ Sie wirft einen Blick in den Flur, wirkt aber noch nicht wach genug, um sich mit dem kleinen Monster anzulegen. Sie wendet sich wieder mir zu, zieht ihren Morgenmantel enger um sich und lächelt mich sanft an. „Linda, er ist doch erst neun.“ Sie kommt zu mir, gibt mir einen Kuss auf die Wange und nimmt sich eine Tasse aus dem Schrank und gießt sich Kaffee ein. Sie trinkt ihn immer schwarz und ohne Zucker. Mir wird schon übel, wenn ich nur daran denke. Mit der Tasse in beiden Händen lehnt sich an die Theke und nippt an dem Getränk.

Ich stütze mich seitlich mit den Unterarmen auf die Ablage. „Mama, du solltest Oma sagen, dass wir ihre Hilfe doch brauchen. Sie wird sofort kommen, das weißt du. Du bist total ausgelaugt und ich …“ Ich verstumme. Ich weiß nicht recht, wie ich den Satz beenden soll. Ich hätte viel mehr Zeit für mich und mit Nicole, wenn ich das Aufpassen auf meine Geschwister abgeben könnte. Doch wenn ich ihr das sagen würde, dann würde ich ihr noch mehr Druck machen. Und Druck ist das Letzte, was meine Mutter im Moment gebrauchen kann.

Mamas Blick verfinstert sich. „Nein.“

Frust steigt in mir hoch. „Mama. In einem Jahr bin ich fertig mit der Schule. Ich weiß nicht, wie viel Zeit ich dann noch haben werde, um Sophie und Sven zu hüten, wenn du weg bist. Egal, ob ich nun aufs Gymnasium gehe oder eine Ausbildung anfange, so wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben.“

Wenn Oma hier wäre, bis alles so weit geregelt wäre, wäre dass für uns alle eine Entlastung. Mama wäre vielleicht auch etwas weniger müde, wenn sie sich nicht so sehr sorgen müsste. Aber wenn sich Mama weiterhin weigert, Hilfe anzunehmen, kann sich nichts ändern. Keine Ahnung, warum sie das tut, aber sie macht es sich unnötig schwer, was mich einfach bloß wütend macht. Ich zwinge mich, meinen Ärger hinunterzuschlucken. Wenn ich eins gelernt habe in den letzten Wochen, dann dass Wutausbrüche alles nur noch schwieriger machen.

Meine Mutter nimmt einen weiteren Schluck von ihrem Kaffee. „Mach dir keine Sorgen, Liny. Wir schaffen das schon. Wir werden eine Lösung finden.“

Ich wende mich von ihr ab. Sie zu überzeugen, ist genau so hoffnungslos, wie eine Steinmauer mit den Fäusten einreisen zu wollen. Da kann ich es noch so oft versuchen, die Mauer wird nicht in sich zusammenfallen. Also wende mich wieder dem Frühstückmachen zu. „Ich habe Brot gekauft. Das Frühstück ist gleich fertig“, teile ich ihr mit, kann den Ärger aber nicht aus meiner Stimme raushalten.

Ich verstehe nicht, dass sie das alles einfach so abtut. Verärgert schiebe ich mich an ihr vorbei, nehme das gefüllte Tablett und trage es zum Esstisch. Dabei ignoriere ich Mamas irritierten Blick, der auf mir ruht.

 

Kapitel 2

 

 

Nach dem Frühstück verzieht sich Sven wieder ins Wohnzimmer, wo er sich abermals auf die Couch fläzt, diesmal ohne Nüsse. Obwohl ich ihn gebeten habe, uns in der Küche zu helfen, reagiert er nur mit Schweigen und einem düsteren Blick.

„Sven, komm schon.“ Ich bleibe vor ihm stehen. „Ich habe es doch nicht böse gemeint. Ich war einfach mit den Gedanken woanders.“

Aber Sven ignoriert mich, greift nach der Fernbedienung und schaltet den Fernseher ein.

Ich nehme sie ihm ab und schalte den Kasten wieder aus.

„Hey! Was soll das? Gib sie zurück!“ Er versucht, sie mir wieder wegzunehmen, aber ich verstecke die Bedienung hinter meinem Rücken.

„Räum erst deinen Kram in die Küche.“

Mit einem weiteren düsteren Blick rappelt er sich auf, schnappt sich seinen Teller und sein Glas und stellt alles betont laut in der Spüle ab. Danach kommt er wieder zu mir und streckt demonstrativ die Hand aus. Widerwillig gebe ich ihm die Fernbedienung, womit er wieder im Wohnzimmer verschwindet. Ich seufze, weil meine Entschuldigung damit nichts genützt hat. Jetzt hat er nur einen weiteren Grund, um sauer zu sein. Mama, die zu dem ganzen Drama kein Wort sagt, schiebt gerade ihr Handy in die Tasche ihres Bademantels, den sie immer noch trägt. Dann fängt sie an, die Sachen vom Tisch zu räumen.

„Du hättest ruhig auch mal was dazu sagen können“, fahre ich sie an.

Sie sieht mich an, als hätte sie keinen blassen Schimmer, wovon ich rede. „Hm? Sorry, Schatz, ich war gerade mit den Gedanken woanders.“

Sprachlos starre ich sie an, lasse sie dann einfach stehen und beginne ich mit dem Abwasch. Ich kann nicht fassen, dass sie das alles nicht mitbekommen haben soll.

Mama nimmt sich ein Tuch vom Haken und fängt an, das Geschirr abzutrocknen. Nach einiger Zeit, in der wir schweigend nebeneinander gearbeitet haben, durchbricht Mama die Stille: „Hör mal, Liny, da ist etwas, worüber ich mit dir reden muss.“

Ich horche auf. „Was denn?“, frage ich argwöhnisch.

„Euer Vater hat gestern angerufen, als ich bei der Arbeit war.“ Mir wird mulmig zumute. „Er schafft es nicht, euch nächstes Wochenende zu besuchen.“

Mir fällt der Teller in die Spüle zurück, den ich gerade mit dem Schwamm bearbeitet habe. Zum Glück zerbricht er nicht. „Wie bitte?“

Seit unser Vater ausgezogen ist, haben wir ihn dreimal gesehen. Immer wieder ist etwas dazwischengekommen. Auch letztes Wochenende hat er abgesagt und jetzt das nächste. Wie lange wird das noch so weiter gehen?

„Warum?“, frage ich. „Macht er etwa Ferien auf den Malediven mit Kaya?“ Ich spucke ihren Namen aus, als wäre er Gift. Natürlich weiß ich, dass mein Vater nichts dergleichen macht. Er ist zwar unzuverlässig geworden, aber nicht gemein. Außerdem müsste er dafür erst mal aufhören, zu arbeiten. In letzter Zeit arbeitet er so viel wie noch nie zuvor, vermutlich auch am nächsten Wochenende. Ich bin enttäuscht, dass wir ihm nicht so wichtig sind, dass er seine Arbeit auch einmal für uns zurückstellt.

Meine Mutter sieht mich streng an. „Red keinen Unsinn, Linda. Es tut ihm sehr leid, dass er nicht kommen kann, und er möchte euch den Grund selbst sagen.“

Dass es ihm leidtut, glaube ich ihm, was aber nicht erklärt, warum er es trotzdem immer wieder tut. „Ich finde es richtig beschissen, das ist alles. Erst verlässt er uns Knall auf Fall und dann taucht er nicht mal an den verabredeten Tagen auf. Das ist Mist.“ Frustriert lasse ich die Teller in der Spüle liegen und trockne meine Hände am Handtuch daneben ab. „Ich habe die Schnauze voll“, erkläre ich, drehe mich um und rausche aus der Küche.

„Wo willst du hin?“, ruft meine Mutter mir hinterher.

Ich ignoriere sie und bemerke selbst, dass mein Verhalten gerade sehr dem von meinem Bruder gleicht – und der ist sechseinhalb Jahre jünger als ich.

„Linda! Dieses Gespräch ist noch nicht zu Ende. Komm zurück.“

Jetzt drehe ich mich doch zu ihr um. Sie steht mit in die Hüften gestützten Händen in der Küchentür und funkelt mich an. „Ich will dieses Gespräch aber nicht führen! Ich will einfach meine Ruhe haben“, erwidere ich und verziehe gleich darauf mein Gesicht, weil mein Ausbruch schon wieder einer Neunjährigen und nicht einer fast Sechzehnjährigen entspricht.

Mama seufzt und reibt sich die Stirn. Mist. Sie hat schon wieder Kopfschmerzen. Das sehe ich an den zusammengekniffenen Augen. Das schlechte Gewissen überrollt mich mit so einer Wucht, dass ich hart schlucke.

„Dann sag mir wenigstens, wo du hingehst.“ Ihre Stimme hat einen resignierten Ton angenommen. Sie scheint keine Kraft zu haben, sich jetzt mit meinem Verhalten auseinanderzusetzen, wenn sie so schnell aufgibt.

„Ich treffe mich mit Nicole. Wahrscheinlich an der Emme.“

Mama nickt einmal, dann dreht sie sich zur Küche und verschwindet mit den Worten: „Bleib nicht zu lange weg.“

Ich atme tief ein. Das schlechte Gewissen hat mich fest im Griff, aber ich will dieses Gespräch im Moment nicht führen, also drehe ich mich um und gehe in mein Zimmer. Ich nehme mein Handy, das ich gestern Abend ans Ladekabel gehängt habe, und schreibe meiner besten Freundin.

Ich:muss mal raus hier! hast du zeit?

Keine Minute später piept mein Handy und eine Nachricht leuchtet auf meinem Display auf.

Nicole: klar, in zehn minuten an der emme

Ich tippe ein okay bis gleich und werfe das Smartphone auf mein Bett.

Erleichtert atme ich auf. Auf Nicole kann ich mich verlassen. Das gilt umgekehrt genauso. In letzter Zeit bin ich so oft dankbar gewesen, dass sie sich immer Zeit nimmt, wenn ich jemanden zum Reden brauche. Seit Wochen ist sie mein Anker. Es nervt sie auch nicht, wenn ich zum x-ten Mal mit dem demselben Thema ankomme.

Schnell greife ich nach meinem Stoffrucksack, werfe meine Geldbörse hinein und stopfe mein Handy und die Kopfhörer in die Bauchtasche meines Pullis. Dann schlüpfe ich in meine roten Chucks und gehe kurz darauf zur Wohnungstür hinaus und stiefle die Treppen hinunter.

Unten öffne ich die Haustür. Draußen ist es schon etwas kühler geworden. Obwohl der heiße Sommer gar nicht so lange her ist, spürt man, dass der Herbst auf dem Vormarsch ist. Noch ist es warm genug, um bloß einen Hoodie zu tragen und keine Jacke.

Vor dem Hauseingang bleibe ich stehen, stecke mir die Kopfhörer in die Ohren und suche auf meinem Handy nach einer guten Playlist, die ich auf dem Weg hören kann, da spricht mich jemand an.

„Hallo, wie geht’s denn so?“ Den Dialekt kann ich wie diesen Mix, den ich heute schon bei Valentin gehört habe, nicht einordnen.

Ich hebe den Kopf. Ein paar Schritte von mir entfernt steht ein großer Kerl. Ich bin auf der Stelle fasziniert von seiner Augenfarbe: Sie sind total blau wie der Himmel an einem strahlenden Sommertag. Sein Gesicht wird eingerahmt von kinnlangem Haar, das beinahe schwarz wirkt. Eigentlich stehe ich auf blonde Jungs, die diese Good-Guy-Ausstrahlung haben. Deshalb begreife ich auch nicht, warum sich mein Herzschlag beschleunigt. Wahrscheinlich ist es seine Größe. Er ist mindestens einen Kopf größer als ich, obwohl das nicht schwer ist bei meinen 1,55 Metern. Dennoch erscheint er mir größer als alle Jungs an meiner Schule.

Auf seinem Gesicht erscheint ein Lächeln, während er drei Schritte näher kommt, womit nur noch ein halber Meter zwischen uns liegt. Hinter ihm steht ein schwarzes Mofa, das er anscheinend gerade abgestellt hat. Der Lastwagen ist verschwunden und von den Leuten, die zuvor noch überall herumgewuselt sind, ist auch nichts mehr zu sehen. Sind die etwa schon fertig mit ihrem Umzug? Oder holen sie nur die nächste Ladung?

„Ich habe angenommen, dass es hier total öde wird. Ich wusste ja nicht, dass die Mädchen so hübsch sind.“

Seine Worte lenken meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn. Ich hebe die Brauen. Das ist definitiv ein Flirtversuch. Ich mache direkt dicht. Nach der Sache mit Nick ist mir die Lust daran vergangen. Ich mache einen Schritt rückwärts, stoße mit der Ferse an die Stufe vor der Eingangstür und verliere das Gleichgewicht. Sofort schießt er nach vorn und greift nach mir, um mich aufzufangen.

Einen Moment schauen wir uns gegenseitig erschrocken in die Augen. Seine Schuhspitzen berühren fast meine und meine Hand liegt auf seiner Brust. Seine haben sich um meinem Unterarm und auf der anderen Seite dem Handgelenk gelegt. Hitze steigt in meine Wangen und ich beginne, hektisch zu blinzeln. Jetzt merkt er offenbar auch, wie nahe wir uns gerade stehen, und löst langsam seinen Griff um meine Arme, als würde er befürchten, dass ich, sobald er mich loslässt, kraftlos zu Boden sinke.

An den Stellen, an denen er mich festgehalten hat, bleiben schwarze Flecken zurück. Ich glotze unverhohlen auf seine Hände, an denen schwarze Schmiere haftet. Mist. Ob das in der Wäsche rausgeht? Das ist einer meiner liebsten Pullis. Ich lenke meine Aufmerksamkeit wieder auf den Jungen. Er wirkt nun belustigt wie auch neugierig.

„Was ist? Habe ich was im Gesicht? Und wer bist du überhaupt?

---ENDE DER LESEPROBE---