Wie Spuren im Schnee - Luna Cathedras - E-Book
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Wie Spuren im Schnee E-Book

Luna Cathedras

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Beschreibung

»Das, was wir getan haben... Nein, was wir erschaffen haben, war nichts als ein Fake. Es war ein einziges Lügengerüst mit dem größten Schwindel an der Spitze. Und anstatt uns daran zu erinnern, dass jede Wahrheit mal ans Licht kommt und diese nach und nach einzuschleusen, haben wir immer weiter und weiter Unwahrheiten draufgepackt. Bis alles eingestürzt ist.« Kathrine Solomon hat ihre College-Liebe Constantine Rush hinter sich gelassen und ist ans andere Ende des Landes gezogen, um nicht länger von Dauerwerbeschleifen mit dem Gesicht ihres Exfreundes beschallt zu werden. Sie braucht diesen klaren Bruch zu ihrer Vergangenheit, sehnt sich nach der grünen Wiese eines Neuanfangs, um sich selbst zu finden. Doch sie unterschätzt, dass selbst in einer Kleinstadt wie Snow Falls Gefahren lauern... Constantine Rush, Star-Eishockeyspieler der Ice Jedis, verliert sich mehr und mehr in seiner eigenen Welt, verfällt der Sucht nach dem nebligen Vergessen - und nach einem Hinweis, einer Spur, wohin seine Exfreundin und Managerin Kathrine Solomon verschwunden ist. Er sehnt sich nach Antworten, die nur sie ihm geben kann... Wie Spuren im Schnee ist ein cozy, angsty Liebesroman, der für Lesende potenziell problematische Themen verarbeitet. Bitte den Inhaltshinweis in der Front des Buches beachten. Aufgrund expliziter open door Szenen sowie Gewalt wird dieser Roman nur an Erwachsene empfohlen.

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Seitenzahl: 436

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Bücher von Luna Cathedras

Romance

Mit Augen wie Silber

Erotischer New Adult Liebesroman

HOME – The Place Where I Belong

Erotischer OwnVoice Liebesroman

Wie Spuren im Schnee

Erotischer Cozy Liebesroman

Fantasy

Colour & Bones

Erotische New Adult Romantasy

Band 1: Erwachen

Band 2: Zwiespalt

Band 3: Einklang

Hüter der Grenzen – Ankhsharas Fluch

Young Adult Urban Fantasy mit romantischem Sub-Plot

Wir sind diejenigen, die tausend andere Leben erleben, Hunderte Welten erkunden, Dutzende von Menschen ins Herz schließen und wieder gehen lassen.

Wir lieben, hassen, weinen…

Nur eben nicht in dieser Realität.

Inhaltshinweis

Diese Geschichte greift ernste Themen auf, die für Lesende potenziell abschreckend oder sich gar negativ (triggernd) auswirken können. Nachfolgend wird nach bestem Wissen und Gewissen aufgelistet, was Lesende erwartet.

Die Altersempfehlung für dieses Buch liegt aufgrund der expliziten Szenen bei 18+.

Schlüsselworte:

Andeutung des Einsatzes von K.O.-Tropfen & Chloroform

Explizite Szenen (einvernehmlicher Sex)

Trauma (Erinnerungslücke, gebrochenes Herz)

Aggressionsprobleme

Formen der Obsession

Entführung

Derbe Sprache (exzessive Anwendung von Schimpfworten)

Anglizismen & „Neudeutsch“

(Andeutung von) Drogenkonsum

Rufmord

Verlust & Tod

Familiengründung (Adoption, Kinderheim)

Inhaltsverzeichnis

1. KATHRINE

2. CONSTANTINE

3. KATHRINE

4. CONSTANTINE

5. KATHRINE

6. CONSTANTINE

7. KATHRINE

8. CONSTANTINE

9. KATHRINE

10. CONSTANTINE

11. KATHRINE

12. CONSTANTINE

13. KATHRINE

14. CONSTANTINE

15. KATHRINE

16. CONSTANTINE

17. KATHRINE

18. CONSTANTINE

19. KATHRINE

20. CONSTANTINE

21. KATHRINE

22. CONSTANTINE

23. KATHRINE

24. CONSTANTINE

25. KATHRINE

26. CONSTANTINE

27. KATHRINE

28. CONSTANTINE

29. KATHRINE

30. CONSTANTINE

31. KATHRINE

32. CONSTANTINE

33. CONSTANTINE

34. KATHRINE

35. CONSTANTINE

36. KATHRINE

37. CONSTANTINE

38. KATHRINE

39. CONSTANTINE

40. CONSTANTINE

1

Vor über sechs Jahren …

Die Eishalle explodiert in Jubelgeschrei und euphorischen Durchsagen. Gefühlt jeder Mensch, der dazu in der Lage ist, erhebt sich aus dem eigenen Sitz, schreit sich die Seele aus dem Leib und wedelt währenddessen mit einem Schal, einem Shirt, einer Fahne oder etwas anderem im Eisblau-Schwarz der Ice Jedis.

Mit einem zufriedenen Nicken in Richtung meiner Kollegen wende ich mich ab. Das Klemmbrett in meinen Händen verstaue ich unter dem linken Arm, indes ich im Stechschritt durch die noch leere Vorhalle marschiere. Das Klicken meiner Absätze hallt von den Wänden wider, und es hat etwas Beruhigendes an sich – etwas vertrautes, das einen Teil von mir ausmacht.

Vor den Aufzügen werfe ich einen prüfenden Blick auf die verschwommene Spiegelung meines Gesichts – Haare und Make-up sitzen wie immer perfekt. Mein Pokerface verrät nichts über die wahren Emotionen, die dahinter stecken – genau so, wie es sein soll.

Die Schiebetüren öffnen sich rasselnd. Ich trete mit einem Fuß hindurch und drehe mich seitwärts. Und dann warte ich mit vor dem Bauch verschränkten Händen, wie ich es die meiste Zeit in so einer Situation tue.

Ich höre ihn schon, bevor er aus der Arena kommt. Und wie jedes Mal, wenn ich ihn sehe, beschleunigt sich mein Herzschlag. Mein Atem stockt auf die gleiche Weise wie an jenem bedeutungsvollen Tag im College.

Constantine Rush, umschwärmt von unzähligen Fangirls und -boys, die sich darum reißen, irgendetwas von ihm zu kriegen; sei es ein Autogramm, einen Luftkuss oder bloß eine beiläufige Berührung. Einige brechen bereits in Tränen aus, wenn sein Blick auch nur über sie hinweg huscht.

Die himmelblauen Augen des Stars wandern über die Massen hinweg, bis sie meine Wenigkeit am Aufzug warten sehen. Und wie auf Knopfdruck fährt seine rechte Hand – zu diesem Zeitpunkt noch in seinen Eishockey-Handschuhen – in seine verwuschelten, blonden Haare, um aus ihnen ein noch größeres Chaos zu machen. Das Grinsen in seinem Gesicht strahlt regelrecht vor Zufriedenheit und Selbstbewusstsein.

Er lässt sich Zeit, kümmert sich um seine Fans, während ich geduldig und steif wie eine Eisskulptur am Lift verharre und auf ihn warte.

Constantine Rush, Starspieler der Ice Jedis: Mein fester Freund seit dem College … und für mich inzwischen so unerreichbar wie für die Fans, die ihn stets umringen. Der Status ist ihm zu Kopf gestiegen: Er lebt ausschließlich für seine Berühmtheit und die Fangemeinschaft.

»Okay, Leute!«, ruft Constantine euphorisch und arbeitet sich in quälend langsamem Tempo zu mir vor. »Danke für eure Unterstützung, echt! Aber ich kann mich selbst riechen und brauche jetzt wirklich eine Dusche, okay?«

Die Meute lacht, eine Stimme schreit: »Du stinkst nie, Const!«

Ich verdrehe entnervt die Augen.

»Mein Zeitplan ist eng«, gibt Constantine zum Besten. »Feiert schön und wenn ihr nachher im Hounds seid: Die erste Runde geht auf mich!«

Jubel und Geschrei verfolgt ihn bis zum Aufzug. Ein paar Leute rufen: »Lass die eisige Lady links liegen, Const! Feier mit uns!«

Er winkt niemand Speziellem zu, schreitet in den Lift und ich folge ihm auf dem Fuße, um ihn von der Masse abzuschirmen. Zeitgleich drücke ich den Knopf für die VIP-Lounge und bedenke die Leute mit unnahbarem Blick, bis die Türen geschlossen sind.

Die eisige Lady: Das bin ich. Ich bin stahlharte Managerin, persönliche Assistenz, Pressefrau und Mädchen für alles, wenn es um den Star der Ice Jedis geht. Und das seit geschlagenen sieben Jahren.

»Gratulation zum Sieg«, sage ich, drehte mich um meine eigene Achse und schaue meinen Freund mit einem liebevollen Lächeln an. Mein Herz allerdings schmerzt bei seinem Anblick. Das tut es schon seit Langem. Und ich ignoriere es, wie jeden Tag.

Constantine ist damit beschäftigt, sich die Handschuhe auszuziehen. »Danke«, erwiderte er im verbissenen Kampf.

Um ihm zu helfen, zerre ich an den Dingern, lege sie mir auf den Unterarm und nehme ihm den Eishockeyschläger ab, so gut es mir mit dem Klemmbrett unterm Arm möglich ist.

»Deine Bestellung liegt in der Lounge bereit«, nehme ich die Konversation wieder auf. Mein Herz macht einen aufgeregten Hüpfer, als ich an die schicke schwarze Tüte denke, in der sich ein unfassbar anmutiges Kleid und eine violette Schmuckschatulle befinden. Ich kenne den Inhalt so genau, da ich beides vor wenigen Stunden höchstpersönlich in einer der teuersten Boutiquen der Stadt ausgesucht habe.

Sein Gesicht wird von einem neuerlichen, strahlenden Lächeln erhellt und er presst für einen Augenblick seine Lippen auf meine. »Danke, Babe.«

Salziger Schweißgeschmack findet den Weg in meinen Mund, doch ich verziehe die Lippen wegen des Spitznamens. Ich hasse es, wenn er mich so nennt. In meinen Augen steht der Ausdruck für eine Verallgemeinerung – nichts Persönliches haftet daran. Er ist seit Kurzem dazu übergangen, Babe anstatt Cat zu mir zu sagen – was den inneren Konflikt weiter befeuert, der mich seit geschätzt drei Monaten auf Schritt und Tritt begleitet.

»Kannst du es Rebecca bringen, während ich dusche?«, fragt er abgelenkt.

Ich erstarre. Ein eisiger Schauer rieselt meine Wirbelsäule entlang den Rücken hinab.

»Rebecca?«, wiederhole ich mit spitzer Stimme. »Rebecca Kayn?«

Seine himmelblauen Augen sehen mich reinen Gewissens an.

»Ja«, entgegnet er langsam. »Für das Event heute Abend.« Als ich immer noch nicht reagiere, fügt er hinzu: »Die Filmgala? Heute? Du warst doch diejenige, die meinte, sie könne nicht mitkommen, Babe. Aber wenn ich schon dort aufkreuzen muss, brauche ich ein Date …«

Das Eis in meinem Bauch verwandelt sich innerhalb eines Herzschlages in brodelnde Hitze.

Ja, er und ich dürfen einander nicht öffentlich daten, weil Constantine Rush der ewige Bachelor des Teams darstellen soll, um die Fans anzulocken.

Ja, selbst ich unterstehe den Regeln des Team-Managements, die besagen, dass die Ice Jedis sich an gewissen öffentlichen Events zeigen müssen. Es gibt wenig Spielraum, um diese Regel herumzuarbeiten, und es braucht permanentes Fingerspitzengefühl, Constantine unbeschadet durch Auftritte zu schiffen, ohne dass er aus seiner Rolle fällt. Jede Einzelheit, jede Nuance muss perfekt abgestimmt sein, um die Maskerade aufrechtzuerhalten. Denn dieser Starspieler ist keineswegs der strahlende Charakter, für den ihn alle halten. Jeder Mensch hat Dreck am Stecken, wenn man tief genug in dessen Vergangenheit gräbt. Constantine Rush allerdings schwimmt förmlich in Vorgeschichten.

Es hat uns beide unendlich viel gekostet, ihn auf dieses Podest zu hieven, auf dem er sich in der Zwischenzeit sonnt. Es hat mich mein gefühltes Leben gekostet.

Diesen Erfolg werde ich mir nicht durch ein Fangirl zunichtemachen lassen, das im heutigen Abend definitiv nicht eingeplant war. Wer weiß, was Constantine ihr im Suff alles erzählt – er hat die schlechte Angewohnheit, aus Nervosität zu schnell zu viel zu trinken und dann verrät er einem alles, was man wissen will. Einmal Prahlhans, immer Prahlhans.

Mit zorniger Stimme und einem unguten Gefühl im Bauch kontere ich: »Und dafür wählst du ausgerechnet sie?«

Constantine verdreht die Augen und lehnt sich zurück, um die Finger beider Hände in hilflos aufgebrachter Geste durch die Haare gleiten zu lassen. »Cat…«, seufzt er.

Das Blut rauscht durch meine Ohren, ich sehe rot. »Nein, nicht Cat«, zische ich. »Hast du sie gefickt?«

Fassungslos starrt er mich an. Seine Augen verengen sich zu Schlitzen und er faucht: »Was?«

Ich atme durch die Nase aus und trete einen Schritt vor, hebe anklagend den Zeigefinger vor seine Brust. »Du hast mich schon verstanden«, flüstere ich mit ebenso verengten Augen, »hast du sie gefickt?«

»What the fuck, Cat!«, bricht es entrüstet aus ihm heraus. »Warum sollte ich irgendeine andere ficken?!«

Ich versuche, ruhig durchzuatmen, doch es gelingt mir nicht, meine Zunge schnell genug zu zügeln, und die Worte rutschen mir heraus, bevor ich sie aufhalten kann. »Oh, keine Ahnung, vielleicht verfällst du in alte Muster?«

In seinen Augen kann ich lesen, dass ich ihn mit meinen Worten ernsthaft verletzt habe. Die Anspielung auf seine Schulzeit war unter der Gürtellinie, und ich weiß das.

Jetzt ist es an mir, die Hände verzweifelt in die Haare zu vergraben. Aber ich habe vergessen, dass ich den strengen Dutt trage, den ich als festen Bestandteil meiner Arbeitskleidung ansehe. Prompt verheddern sich meine Finger darin und ich stöhne entnervt auf.

Constantine beobachtet einen Wimpernschlag lang, wie ich mich mit meinen Haaren abmühe, dann seufzt er und hilft mir vorsichtig dabei, das Chaos zu entwirren. Sobald meine Finger frei sind, nimmt er mein Gesicht in beide Hände und legt seine Stirn an meine. Das Himmelblau seiner Augen glänzt mir entgegen.

»Cat«, murmelt er, »ich würde dich niemals betrügen, und das weißt du ganz genau. Ich liebe dich – nur dich. Seit dem ersten Augenblick. Du bist die Luft, die ich atme, Babe.«

Mein hämmernder Puls beruhigt sich ein Stück weit und ich argumentiere, ruhiger diesmal: »Ich verstehe ja, dass du jemanden mitnehmen musst. Aber wieso sie? Wieso ausgerechnet die eine Frau, die sich seit zwei Jahren an dein Bein klettet wie ein übereifriges Hündchen, das unbedingt flachgelegt werden will?«

»Ganz ehrlich«, erwidert er mit einem resignierten Seufzen, »sie war die Einzige, die zur Verfügung stand.«

Irritiert ziehe ich die Brauen zusammen. »Aber Christine–«

»Hat sich gemeldet und abgesagt«, unterbricht er mich. Sein Daumen zeichnet ein beruhigendes Muster über meine Wange. »Es tut mir leid, Babe.«

Unwillentlich feixe ich und er gluckst. »Du hasst es immer noch, wenn ich dich so nenne.«

»Aus tiefster Seele.«

»Cat«, raunt er heiser. Seine Lippen streichen über meine und ich sauge die Luft ein, weil mir die Berührung winzige elektrische Schläge versetzt, die direkt in meine Magengegend wandern.

»Ich wäre so viel lieber heute Abend mit dir im Bett anstatt auf diesem scheiß Event«, flüstert er.

Der Aufzug gibt ein lautes »Ding!« von sich und wir stieben auseinander, bevor die Türen vollständig aufgleiten.

»Const!«, begrüßen ihn die anderen Teammitglieder. Sie zerren ihn an mir vorbei in die Lounge. Niemand schenkt mir großartig Beachtung – ich gehöre seit Jahren zum Inventar.

Constantine wirft mir einen entschuldigenden Blick zu und lässt sich von seinen Kumpels mitschleifen, während ich zurückbleibe und ihnen hinterherblicke.

»Das ist alles, was du seit dem Abschluss tust, Kathrine!«, dröhnt plötzlich die Stimme meines Vaters durch meinen Kopf. »All die Arbeit, die Überstunden – du opferst dem Jungen deine besten Jahre! Und womit dankt er es dir? Indem er in der Öffentlichkeit nicht einmal zu dir steht und sich stattdessen mit x-beliebigen anderen Frauenzimmern blicken lässt! Woher nimmst du das Vertrauen, dass er nicht mit ihnen ins Bett geht, während du seinen nächsten Auftritt planst und seine Hockeyshirts faltest, hm?«

Das erste Mal, als er mir ähnliche Worte an den Kopf geworfen hat, habe ich noch abfällig gelacht und geantwortet, dass wir uns das beide gewünscht haben. Nun sind wir da: im Spotlight, mit Geld wie Heu und einer riesigen Fangemeinde, die ihn bei jedem Spiel, jedem Auftritt, in den Himmel lobt.

Aber nach dem dritten Mal ist mir klar geworden, was mein Vater eigentlich sagen will: Wo bin eigentlich ich in dieser glänzenden, funkelnden Starspieler-Vision?

Je mehr Jahre vergingen, desto weniger konnte ich mich für Constantines Fame begeistern. Er schwört zwar Stein und Bein, dass er alles für mich aufgeben würde, wenn ich es wollte, aber ich sehe jeden Tag, wie er in seiner Rolle aufgeht, wie sehr er es liebt, im Rampenlicht zu stehen und – gänzlich wohlverdient wohlbemerkt – der Kapitän der Ice Jedis zu sein. Für mich jedoch verblasst der auf ewig vorgesehene Platz der Managerin mit jedem Jahr weiter zu einer grauen Masse aus Planlosigkeit.

Jedes Mal, wenn ich an meine Zukunft – an unsere Zukunft – denke, sehe ich nichts. Die Villa, die er für uns gekauft hat, löst nicht länger ein Gefühl der Sicherheit und Wärme in mir aus. Die Abende, die wir gemeinsam verbringen können, sind zwar unbestreitbar schön, aber es sind bloß ein paar geraubte Stunden, in denen wir uns vor der Außenwelt verstecken müssen. All diese nervtötenden Kleinigkeiten addieren sich auf, lasten auf mir und ziehen mich in ein Loch, das mit jedem Tag größer wird, und ich fürchte mich davor, niemals wieder daraus hervorzukommen. Ich fühle mich … unerfüllt, wie eine leere Hülle. Nichts weiter als die unbedeutende, ausgehöhlte eisige Lady, die dem eigenen Freund dabei zusehen muss, wie er seinen eigenen Traum lebt, während sie zu einer simplen Marionette verkommt.

Das Leben muss doch mehr zu bieten haben! Es muss mehr für mich geben, als einem anderen Menschen zu dienen und mich selbst dabei völlig zu verlieren …

Mit schwerem Herzen seufze ich und widme mich dem Verstauen der Eishockey-Ausrüstung. Ich habe die Schritte, die ich unternehmen sollte, unendlich oft in meinen Gedanken durchgespielt. Aber so kurz vor dem endgültigen Entschluss tut es unfassbar weh.

2

Heute …

Das Leben ist eine immerwährende verschwommene Masse aus Scheiße. Kein Witz, noch vor sechs Jahren hätte ich dich schräg angesehen, hättest du mir diese Worte zugerufen. Aber jetzt …

Ich lasse meine Augen über die kahlen Wände meines Wohnzimmers gleiten und stelle mir vor, wie sie damals ausgesehen haben – bevor meine Welt abgesoffen ist. Und ich mit ihr.

Ich, Constantine Rush, der Star des Eishockeyteams Ice Jedis, beliebtester, bestaussehendster, korrektester Spieler… Und was habe ich jetzt davon? Gar nichts. Verdammt nochmal zero.

Ein jähzorniger Wahn erfasst von mir Besitz und ich sehe rot. Mit einem animalischen Schrei schmettere ich das leere Whiskeyglas in meiner Hand gegen die blanke Stelle, die ich eben noch angestarrt habe. Es zerschellt in tausend Stücke, die Scherben rieseln ungehindert zu Boden.

Genau wie mein verficktes Leben.

Mein Smartphone gibt einen Ton von sich und ich greife schwer atmend danach, froh um eine Ablenkung.

»Ja?« Meine Stimme ist mehr ein Knurren als eine Frage.

»Mister Rush, Aaron hier von Desmond and Partners. Sie verlangten eine Benachrichtigung, sobald wir ein Update zu Ihrem Anliegen haben …«

Der Zorn verflüchtigt sich und macht verhaltener Neugier Platz.

»Gnade dir welcher Gott auch immer, wenn du aus irgendeinem anderen Grund anrufst, Aaron«, drohe ich. »Heute ist ein miserabler Tag, um mich zu reizen.«

»Schon klar, Boss«, versichert Aaron selbstsicher. »Ich habe eine Spur.«

Mein Atem stockt, mein Herzschlag beschleunigt sich vor Aufregung.

»Wo?«, ist alles, was ich wissen will.

»In einer Kleinstadt namens Snow Falls, am äußersten Zipfel im Westen des Landes. Ich schicke Ihnen die Adresse.« Aaron fummelt geräuschvoll mit irgendwelchen Unterlagen herum, dann folgt die übliche Belehrung: »Bis wir absolut sicher sind, dass sie es ist, sollten Sie abwar–«

»Spar dir die Spucke, Aaron«, unterbreche ich ihn und lege auf.

Snow Falls also. Ich schüttle irritiert den Kopf und öffne die Karten-App, um den Ort zu lokalisieren. Nachdem ich mir ein Bild davon gemacht habe, kann ich nicht anders: Ich lache lauthals.

»Oh, Kathrine…«, sage ich in leisem, beinahe liebevollem Ton zu niemand bestimmten. »Du hättest wesentlich mehr Distanz zwischen uns legen müssen, um mir zu entkommen.«

Na ja, nicht ganz… Selbst wenn sie in den tiefsten Dschungel geflohen wäre … sie entkommt mir nicht.

3

»Denkst du an deine Luftballons?«, plärrt Fiona aus den hinteren Ecken des Ladens in meine Richtung.

»Jahaaa«, rufe ich zurück, verdrehe entnervt die Augen – und drehe nochmals auf dem Absatz um, um die Luftballons einzusammeln, die ich ansonsten am Spind vergessen hätte.

Ächzend kommt Fiona aus dem Lager, die Arme voll beladen mit verstaubten Kisten, die braunen Locken in einem wilden Mix aus Schmutz und Kopftuch zurückgebunden. Die goldenen Kreolen an ihren Ohren klirren, als sie den Kopf zurückwirft und ein lautstarkes Niesen ausstößt.

»Sorry«, näselt sie. »Irgendwann müssen wir einen Tag dichtmachen, um das Lager zu entrümpeln und zu putzen.«

»Oh, du meinst den Tag, an dem ich zufällig krank sein werde?«, spotte ich, nehme ihr den oberen Karton ab und platziere ihn auf dem mittlerweile leer geräumten Verkaufstresen.

Fiona wirft mir einen vernichtenden Blick zu. »Exakt den.«

Sie baut sich hinter den Kartons auf, greift in ihre Schürze und zückt ein Cuttermesser, mit dem sie flink das Klebeband durchschneidet, das den Deckel der obersten Kiste geschlossen hält.

»Wenn du meine Dekosachen ausleihen willst, empfehle ich dir, mir die Treue zu halten, Cathy. In guten wie in schlechten Zeiten, du weißt schon.« Sie deutet drohend mit dem Werkzeug in meine Richtung. Ich ziehe einen Flunsch, doch als ich ihr Schmunzeln entdecke, muss auch ich grinsen.

»Also«, sagt sie mit energischem Gesichtsausdruck und klappt den Deckel um. »Hier ist alles an süßen Feenfiguren, was ich zu bieten habe.« Um ihre Worte zu untermauern, zieht sie ein paar in Luftpolsterfolie eingewickelte Porzellanfiguren heraus und beginnt, sie zu entrollen.

»Aber du brauchst sie doch nicht alle auszupacken, das mache ich schon«, widerspreche ich in alarmiertem Ton. »Widme du dich lieber wieder deiner wohlverdienten Mittagspause.«

Fiona winkt ab. »Ach was, der Kaffee von heute Morgen schmeckt grässlich und mein Sandwich ist längst aufgegessen. Da kann ich dir doch wenigstens ein bisschen zur Hand gehen.«

Nach und nach kommen unter den Hüllen aus Plastik filigrane Schöpfungen zum Vorschein, jede exotischer als die andere. Zart glitzernde Flügelchen zieren die Rücken der wohlgestalteten Kleidchen, freundliche Gesichtchen starren mir entgegen. Und ich hasse jede Einzelne davon aus tiefstem Herzen. Feenfiguren sind, nett ausgedrückt, einfach nicht meins. Ich finde das Dauerlächeln in ihren Gesichtchen gruselig.

Als wäre der Zweitjob als Sekretärin in der Polizeiwache nicht schon seltsam genug, nein: Mein Chef, Captain Brandon Solverson, wollte Feenfiguren auf den Regalbrettern seines Büros an seinem Geburtstag. Also besorge ich ihm welche – wenn auch nur auf Zeit.

Rasch widme ich mich wieder den Feen und wähle anspruchslos zwei davon aus. »Die und die nehme ich. Ich bringe sie dir bis Ende dieser Woche wieder zurück, okay?« Dann werfe ich einen schnellen Blick auf die Wanduhr hinterm Tresen. »Shit. Ich muss los, sonst komme ich zu spät zu meinem Dienst.«

Fiona spitzt die Lippen und macht einen missbilligenden Laut, enthält sich ansonsten jedoch jeglichen Kommentars – was ich ihr hoch anrechne. Sie weiß, dass ich für mein Masterstudium spare, und dafür brauche ich nun mal so viel Einkommen wie möglich.

Mit flinken Fingern packt sie die beiden Figuren, die ich ausgewählt habe, in die Folie zurück und reicht sie mir.

»Wie lange noch?«, will sie wissen.

Ich sehe ihr ins Gesicht und erkenne eine Spur Mitgefühl in ihren Augen. Mit einem extra seligen Lächeln antworte ich: »Wenn alles klappt: Vier Monate.«

»Gut«, gibt sie knapp zurück und macht sich ans Wiedereinpacken. »Während des Studiums bezahle ich dir, soviel ich kann, damit du deine Kosten decken kannst.«

»Fiona…«, beginne ich, doch sie schüttelt bloß den Kopf.

»Keine Diskussion. Du bleibst hier bei mir. Hier bist du sicher und hast ausreichend Abwechslung im Alltag. Und du bist nicht die einzige, die Geld zurückgelegt hat, weißt du.«

Wie ich diese immer wiederkehrende Debatte verabscheue. Nur weil ich seit ein paar Jahren ein Manko habe, heißt das nicht, dass ich in Watte gepackt und vor dem Rest der Welt versteckt werden muss. Heute allerdings hält mich der Gedanke an meine Verspätung davon ab, entsprechend aus der Haut zu fahren. Wortlos stopfe ich die beiden Feenfiguren in meine Handtasche und wirble herum.

»Die Ballons, Cathy«, erinnert mich Fionas geseufzter Ausruf daran, dass ich schon wieder beinahe diese verdammten Dinger vergessen hätte.

Es ist doch echt zum Mäusemelken!, echauffiere ich mich innerlich, indes ich die Bänder der Luftballons mit einem locker sitzenden Knoten um mein Handgelenk festmache. Und das alles nur, weil ich heute Morgen in die Zeitung geschaut – und gleich darauf meinen Kaffee darüber ausgespuckt habe.

Wie die Snow Falls Courier zu berichten wusste, hatte ein ehemals berühmter Eishockeyspieler eine Immobilie im winzigen Städtchen Snow Falls erworben, um in seiner nun übermäßig vorherrschenden Freizeit den Vorzügen eines der längsten Winter im Lande zu frönen.

Ich hoffe, dass mit dem ehemals berühmten Eishockeyspieler jemand anderes als mein Ex gemeint ist. Mein Geld würde ich allerdings nicht darauf verwetten. Als ich das letzte Mal mit Matthew Daveys – Gründungsmitglied und Torwart der Ice Jedis sowie besten Freund meines Ex’– gesprochen habe, behauptete er steif und fest, dass dieser sich verändert hat – dass er geradezu abgestürzt ist in den vergangenen Jahren.

Fahrig schüttele ich den Kopf. Ich will nicht in diese Art von Gedanken abdriften. Constantine Rush hat nichts mehr in meinem Bewusstsein verloren – mein Leben besteht seit sechs Jahren aus einem neuen Zentrum: mir selbst. Diesen Fokus werde ich nicht verlieren, nur weil irgendein gelangweilter Starspieler sich hier ein Haus kauft.

In entrüstetem Stechschritt marschiere ich über das aufgebrochene Pflaster des Bürgersteigs. Meine Stilettos klackern auf dem Untergrund, und mir wird wieder einmal bewusst, dass Snow Falls sich bereits dem Ende des Sommers nähert, obwohl es erst Mitte Juli ist. In zwei Monaten wird der erste Schnee über die Straßen wehen und meine Sommerschuhe in meiner Zweizimmerwohnung vereinsamen. Denn in Snow Falls komprimieren sich drei ganze Jahreszeiten auf vier bis fünf Monate – der Rest der Zeit wird vom Winter beherrscht. Ich muss zugeben, im Internet hat sich das ganz romantisch gelesen… In der Realität friere ich mir knapp sechs Monate die Kehrseite ab und sehne wärmere Tage herbei. Aber keine zehn Pferde könnten mich auch nur eine Stadt weiter gen Südosten bringen. Ich bleibe genau hier, in diesem Ort, bis ich mich stark genug fühle, um mich dem Rest der Welt als die neue Kathrine Solomon zu präsentieren.

Ich passiere einige Geschäfte und überquere zwei Einlenker, bevor das Polizeirevier links von mir aufragt. Der triste Betonbau mit simplem Schriftzug sieht wenig willkommen heißend aus – und das sind die Menschen darin auch nicht gerade. In den drei Jahren, die ich als Sekretärin bereits hier arbeite, ist noch nie auch nur ein Angestellter mit einem Lächeln ins Revier gekommen …

»Cathy«, begrüßt mich Security-Elijah mit einem ruckartigen Kopfnicken an der äußeren Schwingtür.

Ich nicke ebenso ernst zurück. »Elijah.«

Im Inneren des Gebäudes steht die Welt heute kopf. Das merke ich daran, wie Susan an der Rezeption bei jedem Klingeln des Telefons die Augen verdreht, und wie Borris – der Security für die Eingangshalle – fahrig sein Gewicht von einem Bein aufs andere verlegt und dabei seinen Gürtel umklammert, allzeit bereit, entweder Pfefferspray, Schlagstock, Taser oder gar die Schusswaffe zu ziehen.

Oh man, wenn die beiden hier draußen schon so geladen sind, wie sieht es dann wohl drinnen aus?, frage ich mich. Ich haste an Borris und Susan vorüber, stoße die Doppeltür zum Büro auf –

»Cathy, wo haben Sie gesteckt?«, bellt Brandons Stimme durch den Raum.

Ich eile an meinen Kolleginnen und Kollegen vorbei, rucke hier und da mit dem Kopf als stumme Begrüßung. Sobald ich Brandon erreicht habe, tritt er beiseite und lässt mich durch die schmale Tür treten, die hinter seinem massigen Rücken regelrecht verschwunden ist. Captain Brandon Solverson, Snow Falls P.D., steht in schwarzen Lettern auf dem Wellenglas geschrieben. Mein Arbeitsplatz.

Mit einem inneren Seufzer lasse ich die Tasche auf den Schreibtisch fallen, der parallel zum Gang steht, und wische mir ein paar Strähnen aus dem Gesicht, die sich in der Hektik selbstständig gemacht haben. Dann schaue ich Brandon dabei zu, wie er seinen Bauchumfang mit äußerster Vorsicht zurück ins Vorzimmer seines Büros manövriert und vor mir zum Stehen kommt. Die grünen Knopfaugen in seinem breiten Gesicht funkeln vor Zorn, doch er weiß, dass er sich den bei mir woanders hinschieben kann – weshalb er nur brummelt: »In fünf Minuten will ich Sie arbeiten sehen, Cathy.«

»Sehr wohl, Captain«, entgegne ich zuckersüß. Während ich mich daran mache, den Rechner aus dem Schlummermodus zu wecken, und mir einen Kaffee aus der Büro-eigenen Maschine einlasse, die praktischerweise hinter meinem Schreibtisch aufgebaut wurde, erklärt Brandon mir das heutige Chaos.

»Gab einen Vorfall im Dr. Jekyll«, beginnt er mit seinem bärigen Bariton. Unwillentlich rinnt mir ein Schauer den Rücken hinab, den ich geflissentlich ignoriere. Doch er muss irgendetwas in meinem Gesicht gesehen haben, denn sein Zorn verraucht und er fährt gutmütiger fort: »Zwei Mädchen wurden ins St. Judith’s eingeliefert; beide mit K.O.-Tropfen gefügig gemacht. Multipler sexueller Missbrauch. Keine Spur von einem Täter, weder DNA noch sonst irgendwas.«

Diesmal ist die Reaktion meines Körpers eindeutig: Meine Knie sacken weg und ich lande hart auf dem Polster meines Drehstuhls. Kalter Angstschweiß zieht sich über meine Haut und meine Brust zieht sich so eng zusammen, dass ich keine Luft mehr bekomme.

Brandon macht einen Schritt auf mich zu, hält jedoch inne, die Augen voller Anteilnahme.

»Ich setze alles daran, diesen Scheißkerl zu fassen, Cathy«, versichert er mir leise.

Ich höre seine Worte kaum, denn meine Ohren klingeln ununterbrochen und meine Sicht bekommt schwarze Ränder, die rasch breiter werden.

»Ich … lasse Sie jetzt kurz allein. Fassen Sie sich, dann kommen Sie zu mir und ich erteile Ihnen die heutigen Aufgaben.« Er wirbelt herum und watschelt zur einzigen anderen Tür in diesem Raum: seinem Büro.

Ich bin froh, dass er mir einen Moment gewährt. So kann ich ungeniert nach dem Stressball greifen, den mir Fiona vor drei Jahren geschenkt hat und ihn zu Sülze zerquetschen, während ich mir vorstelle, dass es jemand anders ist.

Drei Jahre, vier Monate und sieben Tage… So lange ist es bereits her. Und immer noch erschaudere ich bei der Erwähnung des Barnamens Dr. Jekyll, verfalle in Schockstarre, wenn jemand das Wort K.O.-Tropfen ausspricht.

Ob es wohl jemals anders wird? Werde ich irgendwann nicht mehr permanent auf der Hut sein, sobald ich nach Einbruch der Nacht aus dem Haus gehe? Werden die Träume an Grauen verlieren und verschwinden? Ich bezweifle es stark. Und genau das macht mich fuchsteufelswild – weswegen ich mein Bestes gebe, diesen vermaledeiten Stressball zu Mus zu verarbeiten, wann immer mich das vertraute, ohnmächtige Gefühl über meine Situation überkommt.

Mit dem letzten Rest Wut pfeffere ich das Ding zurück in die oberste Schublade meines Rollcontainers und lasse diese zuschlagen. Dabei fällt mein Blick auf die Feenfiguren, deren Umverpackung aus meiner Tasche quillt. Ein Seufzer entschlüpft mir und ich schnelle schwungvoll aus dem Stuhl hoch, schnappe mir Feen und Luftballons und gehe hinüber zu Brandons Bürotür. Einmal Anklopfen, Antwort abwarten.

»Herein!«, befiehlt der Captain.

Ich tue wie geheißen. Brandon studiert schweigend jede meiner Bewegungen, observiert mich geradezu, während ich schnurstraks auf das zimmerbreite, mit Ordnern und Akten vollgestopfte Regal zuhalte, die zierlichen Porzellanmädchen auspacke und drapiere. Hinterher binde ich die Ballons an einer uralt aussehenden Tischleuchte fest.

»So«, verkünde ich. Mit einem gekünstelten Lächeln im Gesicht drehe ich mich zu ihm um und deute auf die Dekoartikel. »Wunsch erfolgreich erfüllt. Alles Gute zum Geburtstag, Captain.« Da er nichts darauf erwidert, füge ich hinzu: »Die Figuren sind geliehen, also bitte nicht kaputtmachen.«

Sein Blick ist und bleibt unergründlich, und ich hasse diese Eigenschaft an ihm. Er ist und bleibt eben in erster Linie ein Detective des Snow Falls P.D..

»Wollen Sie sich für einige Tage freinehmen, Miss Solomon?«, fragt er mit unbewegter Miene.

Irritiert schüttele ich den Kopf. »Ich wüsste nicht, weshalb«, antworte ich.

»Weil Sie zu nah dran sind«, gibt er zurück. »Wenn Polizisten einem Fall zugeteilt sind, bei dem sich herausstellt, dass er Bekannte oder Verwandte involviert, werden sie davon abgezogen. Ich könnte Ihnen eine Beurlaubung aussprechen. Auch wenn Sie anderweitig angestellt sind, Sie sind immerhin meine Sekretärin …«

Oh, Himmel nein… Alles, nur das nicht. Ja, ich werde die Tage damit verbringen, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, wie der Fall voranschreitet. Aber – und das macht mir weitaus mehr zu schaffen – ich werde dieser Tage übermäßig oft darüber nachdenken, wer dieser Star ist, der nach Snow Falls ziehen wird. Mein Bauchgefühl schreit mir förmlich zu, dass meine ruhigen Zeiten hinter mir liegen. Ablenkung in Form von Arbeit ist genau die Art von Zerstreuung, die ich brauche.

Deswegen wiederhole ich das Kopfschütteln und insistiere: »Nein, danke, Captain. Aber danke für die Anteilnahme.«

»Wenn Sie meinen«, sagt Brandon abschätzend und mustert mich erneut mit seinem Polizeiblick.

Innerlich stöhnend versuche ich, mich nicht unter diesem Blick zu winden. Das wird ein toller Tag … nicht.

4

Mein Eishockeyherz hüpft vor Freude über die Aussicht, bald in einem Ort zu wohnen, in dem mehr als sechs Monate im Jahr Schnee liegt. Aber der Rest meines Wesens empfindet es je länger je mehr als eine Schnapsidee, mich im Städtchen Snow Falls angekündigt zu haben wie ein verfickter Snob.

Was habe ich mir nur dabei gedacht, am Folgetag jener Nacht wie ein aufgescheuchtes Huhn Immobilien zu shoppen als wären es Lebensmittel? Habe ich den verkackten Rest meiner Hirnzellen verloren?

Ach, ich kenne die Antwort bereits, warum also denke ich überhaupt darüber nach …

Und es macht keinen Unterschied, ob ich hierbleibe oder nicht – meine Karriere ist gelinde gesagt am Arsch. Keine Sau interessiert sich heutzutage noch dafür, was Constantine Rush mit seinem verschissenen Leben anstellt. Was gut ist – so kleben die Paparazzi nicht dauernd in meinem Nacken.

Matthew fläzt neben mir auf meiner Sofalandschaft und sieht mich an, als hätte ich etwas verpasst. Mist, ich bin wohl mental etwas zu stark abgedriftet.

»Was?«, grummle ich.

»Ob sie diesen Aufwand wirklich wert ist, will ich wissen«, wiederholt er die Frage.

Unwillkürlich balle ich meine bierfreie Hand zur Faust und presse die Zähne aufeinander. »Ja«, grolle ich, »meine Abrechnung ist all diesen Scheiß wert.«

»Abrechnung?«, fragt Matthew, seine Augenbrauen vor Überraschung nach oben geschoben.

Schnell winke ich ab. »Vergiss es.«

Ein paar Minuten lang schauen wir schweigend in die überdimensional große Glotze, die an der Wand verankert ist. Es läuft gerade die Liveübertragung eines Eishockeyspiels.

Matt spielt – wie ich früher – für die Ice Jedis als Torwart. Er ist mit mir im Heim aufgewachsen, zur Schule gegangen, hat mit mir Eishockey gespielt; während jedem Schritt meiner beschissenen Karriere war Matthew Daveys an meiner Seite.

Irgendwann meint mein bester Freund: »Sie hat bestimmt ihre Gründe gehabt, wieso sie so weit weggezogen ist, Mann. Vielleicht solltest du eure Beziehung endlich hinter dir lassen und dieses spezifische Kapitel deines Lebens abschließen.«

Zur Antwort schenke ich ihm einen Todesblick, der sich gewaschen hat. Sofort hebt er abwehrend die freie Hand. »Okay, okay. Vergiss, was ich gesagt habe.«

Als könnte ich das. Als wüsste ich nicht, dass das, was ich tue, ernsthaft krank ist. Aber ich bin nun mal nicht dazu in der Lage, Kathrine Solomon hinter mir zu lassen. Kann sein, dass ich das nie sein werde, wer weiß das schon. Eines ist jedenfalls sicher: Ich will Antworten. Diese Scheiße, die sie mir vor all den Jahren geboten hat, hat bei Weitem nicht ausgereicht, um mich davon zu überzeugen, dass wir nicht länger hätten zusammenbleiben können. Dass wir nicht an uns hätten arbeiten können, um es wieder hinzukriegen.

Aber nein… Kathrine hat verfickt nochmal mitten in unserem Streit das Handtuch geworfen und den einfachsten Exit genommen: Sie ist davongelaufen. Und ich stehe nach sechs Jahren immer noch da und habe keine Ahnung, wann und wo es bei uns schiefgelaufen ist.

Diese ganze Beziehungsdrama-Scheiße hat dazu geführt, dass ich komplett den Halt verloren habe. Ich ließ erst die Trainings, dann die Spiele schleifen, erschien nicht länger zu den Interviews und sperrte mich gegen meinen Coach. Der Rauswurf war unvermeidlich, kam aber erst drei Jahre später.

Matthew war der Einzige, der mich in all den Jahren nicht hängen ließ. Er hat mich nie aufgegeben, selbst als ich ihn mit aller Macht von mir gestoßen habe. Dieser Penner ist wie eine Klette, die ich seit dem Kindergarten nicht mehr loswerde. Und ich bin ihm verdammt dankbar dafür – auch wenn ich es ihm nicht gebührend zeigen kann.

»Kaum zu glauben, dass ihr beide das Paar auf dem College gewesen seid«, murmelt Matthew und nimmt einen Schluck von seinem Bier. Sein Blick ist auf den Fernseher geheftet, er verfolgt aufmerksam das Spiel.

Die Aussage lässt mich aus einem mir unerfindlichen Grund unzufrieden zurück. »Was meinst du damit?«, will ich deshalb wissen.

Seine Augen verlassen keine Sekunde lang den Bildschirm, als er erläutert: »Na, ihr wart dieses Klischee, weißt du? Der Starspieler des College und das mörderheiße Superbrain.« Er benutzt die Hände, um für den letzten Satz Gänsefüßchen zu formen.

Missmutig runzle ich die Stirn, doch er fährt bereits fort: »Jeder in unser Klasse und im Team dachte, dass ihr irgendwann heiraten und ein halbes Dutzend Kinder kriegen werdet, die alle genauso supererfolgreich werden wie ihr– eben das totale Klischee.« Er zuckt mit der Schulter.

Fuck.

Diese paar Sätze rammen sich in mein Herz wie ein glühender Schürhaken. Exakt dieselben Zukunftspläne hatte ich damals im Kopf, als Kathrine und ich noch zusammen gewesen sind. Nie im Leben wäre mir in den Sinn gekommen, dass sie das anders sehen könnte …

Matthew schnaubt abfällig in die Stille zwischen uns. »Und dann macht sie eiskalt mit dir Schluss. An einem fucking Siegestag.«

Ja, Mann, ich weiß das, wettere ich innerlich. Kein Grund, mir die Fakten wieder und wieder unter die Nase zu reiben.

Das Spiel wird mir mit einem Mal zu viel. Ich lasse den Hinterkopf auf die Rückenlehne sinken, starre an die Decke und grüble nach.

Kathrine fucking Solomon… Die eisige Lady, so haben die Journalisten sie gerne genannt. Weil niemand außerhalb meines engsten Freundeskreises jemals erfahren hat, dass Kathrine und ich über das College hinaus zusammengeblieben sind. Für die Außenwelt war ich stets der begehrenswerte, aber unerreichbare Bachelor des Teams. Der korrekte Gentleman, der gut aussehende Star in weiter Ferne, der von seiner knallharten Managerin von all den ungebetenen Zuwendungen der Fans abgeschirmt wurde. Kathrine ist durch ein College-Projekt in die Rolle geschlüpft – und perfekt hineingewachsen. Niemand war in der Lage, mein Leben so makellos zu organisieren, wie sie es tat.

Weil sie mich verfickt nochmal in- und auswendig gekannt hat, denke ich verbittert.

»Glaubst du wirklich, dass das eine gute Idee ist?«, fragt Matt leise in die Werbepause des Fernsehers hinein.

Ich seufze laut und lang. »Mir ist alles scheißegal, Matt. Ich will sie sehen. Ich will wissen, ob sie gelitten hat, wie ich es getan habe.«

Ich kann sein Kopfschütteln regelrecht spüren, obwohl ich immer noch an die Decke starre und unsichtbare Muster darin forciere.

»Das klingt nicht gesund, Mann«, gibt er zu bedenken.

Wenn er nur wüsste …

Ein höhnisches Schnauben entfährt mir. »Habe ich in den letzten drei Jahren auch nur einmal behauptet, ich sei noch ganz dicht?«

»Punkt für dich«, nuschelt Matt.

Ich schließe die Augen, damit ich mich besser auf das konzentrieren kann, an was ich die ganze Zeit über denke: jenen Tag vor sechs Jahren. Sofort schießt blinder Zorn in meine Adern und ich heiße ihn willkommen, versinke in seinem lodernden Feuer.

»Scheiße«, stößt Matt erschrocken aus.

Das Polster neben mir raschelt und er schnellt in die Höhe. Meine Augen öffnen sich träge. »Was?«

»Ich muss los«, erklärt er mit einem zweiten Blick auf sein Smartphone. »King will uns alle sehen. ASAP.«

King …! Meine Zähne pressen sich hart aufeinander beim Gedanken an diesen Mistkerl. Lance King – der tatsächlich Lancelot King heißt – ist der neue Starkapitän im Team der Ice Jedis. Und für meinen Geschmack kratzt er viel zu nahe an meinem damaligen Fame. Dieser unfähige Wichtigtuer lebt von der Tatsache, dass er in meine Fußstapfen getreten ist, und lässt es sich nicht nehmen, in jedem beschissenen Interview davon zu sabbeln, wie schwierig es doch ist, mein Protegé zu sein. Dass er dabei auch jedes Mal meinen Absturz erwähnt, ist natürlich logisch. Noch dazu gießt er Benzin in jedes noch so winzige Gerücht über mich, was mich über die Jahre hinweg wie der komplette Lackaffe hat dastehen lassen.

»Holst du auch Stöckchen, wenn er dir eins wirft?«, grolle ich in Richtung meines Kumpels.

Dessen Brauen schieben sich ablehnend zusammen und er stemmt die Hände in die Hüften. »Du weißt, dass wir unserem Kapitän folgen müssen, Const. War bei dir doch nicht anders.«

»Und wie es anders war«, zische ich und verziehe abfällig das Gesicht. »Vor mir musstet ihr nie kuschen wie Hunde vor ihrem Herrchen.«

Mit einem Zug leere ich mein Bier und erhebe mich ebenfalls. Ohne ihn zu fragen, ob er austrinken will, packe ich seine Flasche und reiße sie ihm aus der Hand. Noch auf dem Weg zur Küche sage ich: »Dann geh jetzt. Renn verfickt nochmal zu deinem Herrchen, Daveys.«

»Du bist so ein Arschloch!«

Ich weiß …

»Noch ein Grund weniger, mir hinterherzutrauern«, murmele ich und verschwinde um die Ecke.

Ich kann hören, wie er davon stapft, seine schweren Schritte hallen im Flur wider. Dann kracht die Haustür ins Schloss und die einzigen Geräusche kommen vom Livespiel im Fernseher.

Seufzend lehne ich mich mit dem Rücken an den Kühlschrank, sinke daran entlang zu Boden und lasse den Kopf hängen.

Es ist besser so, mein Freund… Es ist besser, du erfährst niemals, was für ein Abfuck aus Constantine Rush geworden ist. Ich meine: Ich suche nach Kathrine Solomon. Und wenn ich sie erst einmal gefunden habe und endlich vor ihr stehe, dann werde ich derjenige sein, der sie gebrochen zurücklässt.

5

Frustgeladen schmeiße ich meine Handtasche auf die Anrichte und zerre mir meine Pumps von den Füßen.

So langsam macht mir die Außenwelt wieder viel zu sehr zu schaffen – und das bereitet mir Sorgen. Das letzte Mal, als ich in diesen Status verfiel, habe ich über ein halbes Jahr lang das Haus bloß unter größten Angstzuständen verlassen. Das soll sich ich auf keinen Fall wiederholen; ich bin zum Kuckuck nochmal zu weit gekommen, als dass ich bei jedem Geräusch zusammenzucke, in jedem Schatten eine Person vermute und mir Blicke einbilde, die schlicht nicht da sind.

Vor ungefähr zwei Wochen ist im Snow Falls Courier ein winziger Artikel abgedruckt worden, in dem stand, dass der berühmte Eishockeystar sich nun doch gegen die Stadt entschieden hätte. Und obwohl mit keiner Silbe der Name meines Ex’ erwähnt wurde, hatte mein Bauchgefühl sich in Wohlgefallen aufgelöst… Nur um sich eine Woche später in Angst zu verknoten, wann immer ich das Haus verließ.

Es ist höchste Zeit, dass ich die Nachhilfestunden für Gunny und Sandrine wiederaufnehme. Die beiden Kinder wohnen ein Stück weiter unten über der Straße. Sie leben bei einer wortkargen Frau, die sich bereit erklärt hat, sie bis zum Schulabschluss zu beherbergen. Die Anwesenheit der beiden wird mich in die Realität zurückholen, die ich jetzt so dringend brauche.

Meine Wohnung liegt so weit vom Dr. Jekyll entfernt, wie es nur geht. Der Pub ist nahe der Hauptstraße angesiedelt, sodass die Besucher des einzigen Hotels der Stadt nicht weit gehen müssen. Ich dagegen pendle lieber jeden Tag mit dem Bus zwanzig Minuten durch die Slums der Arbeiterklasse, an den Vorgärten der Bessersituierten vorbei, um zu meiner Schicht bei Fiona zu kommen. Ja, meine Wohnung mag klein sein und der Standort fragwürdig, aber in die Nähe des Dr. Jekyll können mich keine zehn Pferde mehr treiben. Nicht seit jenem Vorfall …

Mit eiserner Hartnäckigkeit schiebe ich den aufkommenden Erinnerungen einen mentalen Riegel vor. Ich habe diese Zeit hinter mir gelassen. Inzwischen bin ich ein neuer Mensch. Eine ganz und gar andere Kathrine Solomon. Mein Leben ist selbstbestimmt und ich fühle mich so frei wie noch nie zuvor. Das darf ich nicht verlieren, bloß weil irgendwelche Neuigkeiten in der Zeitung stehen und auf dem Revier Fälle besprochen werden, die mein Aggressionsproblem triggern.

Gedankenverloren schlurfe ich ins Bad und ziehe mich schon auf dem Weg dorthin aus, um mir eine Dusche zu gönnen. Warmwasser ist in dieser Gegend ein kostenintensives Luxusgut, und entsprechend eilig habe ich es, mich zu waschen.

Als ich in dickem Pulli und Thermoleggins, die ich schon am Morgen dort zurückgelassen habe, aus dem Bad komme, meine Haare in ein Handtuch gewickelt, gleitet mein Blick zerstreut umher. Während ich die Spur aus Arbeitsklamotten einsammele, überlege ich fieberhaft: Wo habe ich mein Smartphone liegen gelassen? Unten an der Haustür hatte ich es doch noch in der Hand, also wo …

Mein Körper erstarrt. Die Kleidungsstücke auf meinem Arm gleiten unbeachtet neben meinen Füßen zu Boden. Meine Augen sind auf ein abgerissenes Stück Papier geheftet, das auf der Anrichte liegt.

Das hat beim Reinkommen noch nicht da gelegen. Tausend Prozent nicht.

Das Herz droht mir aus der Brust zu springen, so hart schlägt es gegen meine Rippen. Meine Ohren prickeln, weil ich angestrengt horche, um sicherzugehen, dass ich allein bin. Ich halte sogar den Atem an.

Nichts. Kein Geräusch außer dem üblichen Mehrfamilienhauskrach in den benachbarten Wohnungen.

Zögerlich fasse ich mir ein Herz und mache einen einzigen, verzweifelten Hechtsprung nach vorn. Ich schnappe mir den Papierfetzen – und das Smartphone, das daneben liegt – und spurte ins Schlafzimmer, wo ich die Tür hinter mir donnernd ins Schloss fallen lasse. Fix drehe ich den Schlüssel bis zum Anschlag um.

Sowie ich den Blick von der Holztür auf das Schriftstück senke, wird mir bewusst, dass meine Hände vor Furcht zittern. Dann erst fokussiere ich mich auf die Notiz selbst.

Alles, was mir im ersten Moment dazu einfällt, ist: hä?! Wer schreibt denn bitte so einen Blödsinn?

Augenblicklich löst sich die Anspannung in mir in Luft auf und mein Puls reguliert sich. Mit einem zynischen »Pfff« knülle ich das Papier zusammen und werfe es in den Mülleimer neben der Tür. Sicher ein bescheuerter Kinderstreich von hier im Haus. Die jungen Leute heutzutage haben einfach viel zu merkwürdige Vorstellungen, was ihre Pranks angeht.

Mit den Gedanken bereits wieder anderswo, lasse ich mich auf die Matratze fallen und entsperre das Smartphone. Ich habe Fiona versprochen, am Wochenende mit ihr trinken zu gehen, weswegen ich nach lokalen Alternativen zum Dr. Jekyll suche. Auch wenn ich nicht daran glaube, etwas zu finden – seitdem ich in Snow Falls lebe, hat mich noch niemand woandershin eingeladen. Schon allein deshalb wird es wohl bei meinem Lieblingsrestaurant bleiben.

Mein Blick wandert wie von selbst zum Mülleimer zurück und meine Stirn runzelt sich, noch bevor sich der erste Gedanke formt. Ein Schauder rieselt meinen Rücken hinab und mir wir jählings klar: Egal, wer diese Notiz geschrieben hat, diese Person hat ungebeten meine Wohnung betreten. Aber meine Wohnungstür verfügt über eine abschließbare Türkette, die ich jeweils direkt nach dem Türschloss einhake und verriegle. Ich bin mir zu hundert Prozent sicher, dass ich sie auch vorhin habe einschnappen lassen.

Jetzt nur nicht in Panik verfallen, rede ich mir verzweifelt zu. Aber ich weiß, dass es nichts bringt, denn das Adrenalin schießt bereits in meine Adern und lässt mein Herz einen Marathon rennen. Die Szene erscheint mir seltsam distanziert, und ich realisiere, dass ich in den mir vertrauten Schockzustand übergehe. Mechanisch wähle ich eine Direktnummer auf meinem Smartphone und höre es klingeln, während ich immer noch wie gebannt auf den Mülleimer stiere.

»Cathy?«, meldet sich der bärige Bariton des Captains.

Ich schlucke mehrfach, bevor ich herausbringe: »Jemand war in meiner Wohnung. Da lag ein Zettel, ich–«

»Bleiben Sie, wo Sie sind! Sperren Sie das Zimmer ab, in dem Sie sich befinden«, befiehlt Brandon und ich höre, wie er aus seinem Büro hastet und die Tür aufreißt.

»Gordon, Sam!«, bellt er keine Minute später. »Schnappt euch Claudette aus der Spurensicherung und fahrt zur Charring Street Ecke Nord – sofort!«

Wenn es eines gibt, was ich an meiner Arbeit liebe, dann ist es, dass mein Chef mich stets für voll nimmt. Es würde ihm nie im Traum einfallen, meine Angst kleinzureden – dafür haben wir in den letzten dreieinhalb Jahren zu viel zusammen erlebt.

»Gordon ruft Sie gleich zurück, Cathy. Legen Sie nicht auf, bis das Team in Ihrer Wohnung steht, verstanden?«, ordert er in diesem Moment.

In nicke und füge für ihn hörbar hinzu: »Alles klar.«

Er beendet das Gespräch. Es klingelt und ich nehme den Anruf entgegen.

»Hallo?«, piepse ich in ungewöhnlich heller Stimme.

Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich langsam aber sicher die Nerven verliere. Das Telefonat mit dem Snow Falls P.D. hat die Situation irgendwie realer werden lassen. Es ist, als ob die Tatsache, dass das hier wirklich passiert, in diesem Augenblick ins Zentrum meines Bewusstseins rückt und die bizarre Distanziertheit komplett verdrängt wird.

»Cathy? Gordon hier vom Revier.«

Zerstreut lege ich mir eine Hand auf die Stirn. »Ja … klar, ich bin dran.«

»Es gab einen Einbruch?«, informiert er sich in routiniertem Ton.

»Na ja«, weiche ich aus, »nicht wirklich …«

Ich kann die Irritation in seiner Stimme hören, als er wiederholt: »Nicht wirklich?«

»Ich war duschen und als ich wieder in den Flur kam, lag ein Zettel mit einer Nachricht an mich auf meiner Anrichte«, berichte ich. »Der hat da vorher nicht gelegen.«

»Alles klar«, antwortet Gordon und das Rascheln von Papier erklingt. Er scheint sich Notizen zumachen.

»Sonst irgendetwas, was Ihnen in den Sinn kommt?«, hakt er gleich darauf nach. »Irgendetwas Ungewöhnliches beim Nachhausekommen? Anders als sonst?«

»Nein, nein«, gebe ich zurück. »Doch! Ich habe eine Türkette mit Schloss, und ich bin absolut sicher, sie abgeschlossen zu haben.«

»Hmm«, macht er und wieder kritzelt es im Hintergrund. »Okay, wo sind Sie jetzt?«

Mit zittriger Stimme flüstere ich: »In meinem Schlafzimmer. Schlüssel ist am Anschlag und steckt.«

»Bleiben Sie da, bis ich Ihnen sage, dass wir da sind. Machen Sie niemandem auf. Wir sind in …«

Die eine lose Fußbodendiele draußen im Flur knarzt unüberhörbar.

Mein Herz setzt einen Schlag aus. Heillose Panik macht sich in mir breit. Meine Kehle schnürt sich zu und ich schnappe nach Luft.

»Da … ist jemand – im Flur!«, japse ich mühsam.

Meine Augen huschen zur Tür. Die Fußbodendiele knarzt erneut, diesmal direkt vor meiner Schlafzimmertür. Das Herz droht mir in die Hose zu rutschen.

»Scheiße!«, schreit Gordon so laut, dass meine Ohren klingeln. »Sam, drück auf die Pedale!«

Im Türspalt ist klar und deutlich ein Schatten zu erkennen.

Ich will eigentlich einatmen und die Luft anhalten, doch meine Panik spielt nicht mit und ich breche in ein Schluchzen aus. Ich lasse das Smartphone auf die Matratze fallen und schlage mir die Hände vor Mund und Nase, um keinen weiteren Mucks mehr von mir zu geben.

Der Schatten verharrt vor der Tür. Die Klinke dreht sich und dann beginnt jemand auf der anderen Seite, daran zu rütteln.

»Cathy«, erklingt das raue Flüstern einer Stimme. »Cathy, lass mich rein.«

Die Gänsehaut, die sich überall auf meinem Körper bildet, kombiniert mit dem Grauen, das mich beim Klang dieser Stimme überkommt, lässt mich vor Schock erstarren. Irgendwo tief in mir legt sich ein Schalter um und eine Erinnerung schießt aus den Tiefen meines Bewusstseins nach oben: Verschwommene Lichter tanzen in der Dunkelheit. Der Geruch von Espenholz mischt sich mit dem von etwas Metallischem. Von meiner Nase geht ein stechender Schmerz aus, der sich unangenehm in mein Gehirn bohrt und mir die Sicht verklärt. Mein Mund ist unfassbar trocken und etwas verhindert, dass ich richtig schlucken kann. Es schmeckt bitter, kupfrig, aber auch ein bisschen wie Chlor. Jemand spricht mit mir, aber ich verstehe es nicht. Die Stimme gelangt wie durch unzählige Filter zu mir. »Cathy? Versprich es mir, Cathy.«

Ich wimmere erneut, wiege mich vor und zurück. Die Finger beider Hände krallen sich über meinen Ohren in meine Haut, aber es nützt nichts: Das Flüstern dringt direkt zu meinem Bewusstsein durch.

»Cathy!«, ruft Gordon alarmiert aus dem Smartphone.

Seine Stimme reißt mich aus den verwirrenden Bildern in meinem Kopf.

Das Rütteln aus Richtung der Schlafzimmertür hört schlagartig auf.

Ich forme meinen Körper zu einem Ball, indem ich mich vornüber fallen lasse und das Gesicht ins Kissen versenke, um aus vollem Halse zu schreien.

6

Mit einem selbstzufriedenen Grinsen reibe ich mir die Hände. Ich schließe die Doppeltüren des Transporters und klopfe zweimal gegen die Seitenwand, um dem Fahrer zu symbolisieren, dass er losfahren kann.

Matt lehnt gegen eine der protzigen Verandasäulen, die Hände in den Taschen seiner alten Collegejacke vergraben. Sein Gesichtsausdruck legt offen, dass er meinem Vorhaben weiterhin skeptisch gegenübersteht. Trotz allem waren meine verletzenden Worte nicht genug, um ihn davon abzuhalten, heute hier zu stehen und mir dabei zuzuschauen, wie ich meine sieben Sachen in einen Laster hieve. Ich ziehe tatsächlich nach Snow Falls.

»Bist du sicher, dass dir das helfen wird, Mann?«, fragt mein bester Freund, sowie ich ihn erreicht habe. Er streckt mir eine Flasche Wasser entgegen, die ich dankbar annehme.

»Ich weiß es nicht«, antworte ich wahrheitsgemäß. Dann grinse ich und witzle: »Ich schicke dir eine Postkarte.«

Er erwidert mein Grinsen und boxt mich in den Arm. »Werd’ dich vermissen, Const«, sagt er.

Erstaunt starre ich ihn an. Er lacht auf bei meinem Anblick und fügt hinzu: »Auch wenn du ein mieses Arschloch geworden bist, du bist immer noch mein bester Freund.«

»Den Beziehungsstatus solltest du dir ernsthaft nochmal überlegen. Ich bin nicht interessiert«, kontere ich sarkastisch und widme mich meinem Wasser. In meinem Hals bildet sich ein fetter Kloß und ich schlucke krampfhaft, um ihn loszuwerden. Ich werde ihm auf keinen Fall zeigen, wie viel mir seine Worte bedeuten.

»Ha ha«, macht Matt und zeigt mir den Finger. Wir schweigen eine Weile, dann meint er leise: »Hey, kannst du mir eine Sache versprechen?«

»Kommt drauf an.«

»Wenn du Kathrine triffst: Tu ihr nichts, ja?«, bittet er.

Perplex sehe ich ihn an und meine Stirn legt sich in Falten.

»Wieso sollte ich ihr etwas antun, Matt?«, gebe ich zurück.

Er zuckt mit den Schultern und stiert auf seine Sneakers. Ein ungutes Gefühl breitet sich in mir aus – als hätte ich etwas Wichtiges verpasst. Die Frage lautet: Von was genau sprechen wir hier und wieso weiß dieser Penner überhaupt etwas, das ich nicht über Kathrine weiß?

Die Finger meiner rechten Hand krallen sich um die Plastikflasche und sie knackt lautstark. Diese innere Unsicherheit macht mich rasend. Steht mein bester Freund etwa insgeheim in Kontakt zu meiner Ex?

»Es ist nur…«, stammelt Matt gerade, »sie hatte es bestimmt auch nicht leicht seit eurer Trennung, da bin ich mir sicher.«

Nein. Nein das ist nicht alles, was du sagen willst, antworte ich in Gedanken. Ich lege die ganze Wut, die in diesem Moment meinem Inneren brodelt in meinen Blick und taxiere ihn damit.

Mein Kumpel wird plötzlich ganz klein und weicht meinen Augen aus, als er murmelt: »Du bist echt asi geworden, Const. Lass das einfach nicht an Kathrine aus. Das ist alles, worum ich dich bitte.«

»Wie bitte?«, frage ich lauernd. »Warum zum Henker bin ich plötzlich zum Buhmann in der Fallakte Solomon-Rush mutiert?« Als er schweigt, echauffiere ich mich weiter. »Und wie kommst du darauf, dich einzumischen wäre dein verdammtes Recht, verfickte Scheiße?«

Matt hält weiterhin die Lippen fest aufeinandergepresst, obwohl seine Miene sich verfinstert.

»Was ich mit Kathrine anstelle und was nicht, ist absolut null von Belang für dich«, stelle ich eisig fest.

Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, marschiere ich ins Haus und knalle die Haustür hinter mir zu.

Verdammter Pisser! Warum muss er mir derart den Spaß verderben? Ich will meinen kleinen Rachefeldzug in vollen Zügen genießen – und er stellt sich mir in den Weg, wo er nur kann!

Aber was meinte er damit, dass ich Kathrine nicht wehtun soll?