Hüter der Grenzen - Luna Cathedras - E-Book

Hüter der Grenzen E-Book

Luna Cathedras

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Beschreibung

Die Zwillinge Meresankh und Seth Wyss wachsen frei von jeglichen Problemen in der schweizerischen Stadt Zürich auf - denken sie zumindest. Bis eines Tages der mysteriöse junge Mann Artys Pan Tera auftaucht, der Meres den Kopf verdreht - und die beiden anschließend in ein sehr spezielles Internat entführt: dem Eiger-Internat für Paranormale. Artys offenbart den Zwillingen, dass sie ihr Schicksal mit seiner Hilfe erfüllen müssen, ansonsten werden sie sterben. Natürlich ist dieses Schicksal nichts Geringeres als die Aufhebung eines Fluchs, den eine längst vergessene Göttin in einem längst vergessenen, verschollenen Land über dessen Bewohner ausgesprochen hat. Dass dabei ihre eigene Vergangenheit und ihre Eltern eine nicht unbedeutende Rolle spielen, hätten die Geschwister allerdings nicht vermutet...

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Seitenzahl: 782

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Über dieses Buch:

Die Zwillinge Meresankh und Seth Wyss wachsen frei von jeglichen Problemen in der schweizerischen Stadt Zürich auf – denken sie zumindest. Bis eines Tages der mysteriöse junge Mann Artys Pan Tera auftaucht, der Meres den Kopf verdreht – und die beiden anschließend in ein sehr spezielles Internat entführt: dem Eiger-Internat für Paranormale.

Artys offenbart den Zwillingen, dass sie ihr Schicksal mit seiner Hilfe erfüllen müssen, ansonsten werden sie sterben. Natürlich ist dieses Schicksal nichts Geringeres als die Aufhebung eines Fluchs, den eine längst vergessene Göttin in einem längst vergessenen, verschollenen Land über dessen Bewohner ausgesprochen hat.

Dass dabei ihre eigene Vergangenheit und ihre Eltern eine nicht unbedeutende Rolle spielen, hätten die Geschwister allerdings nicht vermutet...

Über die Autorin:

Die im Jahrgang 1989 in der Schweiz geborene Luna Cathedras wohnt und arbeitet mit ihrem Partner und zwei Katzen zurzeit in einer Kleinstadt in Brandenburg. Dort schreibt sie ihre Bücher in der Hoffnung, Menschen rund um die Welt mit ihren Geschichten zu begeistern.

An mein jüngeres Ich: Das allererste Manuskript wurde hiermit zum Leben erweckt. Wir haben es geschafft! Und wir sind noch lange nicht fertig mit dieser Welt.

Inhaltshinweis

Solltest du als Leser:in mit den nachfolgenden Schlüsselwörtern aus irgendeinem Grund Probleme haben, steht es dir frei, das Buch zurückzulegen und weiterzugehen. Denn diese Geschichte, auch wenn frei erfunden und zu keinem Zeitpunkt gewollt auf Ereignisse und Personen (lebendig oder tot) in der realen Welt bezogen, wird all diese Schlüsselworte in irgendeiner Weise verarbeiten.

Zudem verwendet dieses Buch, passend zu seinem teils schweizerischen, teils phantastischen Stil, ein Glossar. Du musst selbst entscheiden, wie und ob du dem gewachsen bist.

Meine Altersempfehlung für dieses Buch liegt bei 18+.

Schlüsselworte:

Verschiedene Formen von Entführung

Misshandlung & Gewalteinwirkung bei Experimenten mit Menschen & menschenartigen Wesen

Andeutung von Vergewaltigung

Trauma

Explizite Tötungsszenen & Brutalität (Blut)

Entfernung & Verherrlichung des Verzehrs von Körperteilen

Tod & Verlust

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Teil 1: Sommerzeitwahnsinn

1. Wo ist das Loch, in das ich mich einbuddeln kann, bitte?

2. Wird das hier jetzt schlimm oder schrecklich?

3. Irre Hitze

4. Na aber hallo!

5. Ein wenig rumschnüffeln hat noch keinem geschadet

6. Zur Hölle mit altmodischen Kutschen!

7. Ein Internat im Berg?!

8. Zum Geier mit allem, was ich zu wissen glaube

9. Einmal kalte Dusche, bitte!

10. Also eigentlich wäre ich jetzt wieder bereit fürs Bett

11. Schwindelerregender Unterricht

12. Die Chroniken der Pan Teras

13. Das Ende

14. Mehr Fragen als Antworten

Teil 2: Kristallnächte

15. Die Unwiderstehlichkeit eines Pan Tera

16. Hoffnungen

17. Der magische Garten

18. »Nous va ordohahn«

19. Die Inka-Mystik-Bibliothek

20. Eine unerwartete Einladung

21. Der Vertrauensschüler

22. Flucht aus der Sporthalle

23. Und plötzlich geht alles drunter und drüber

24. Die Wahrheit

25. Ein Deal, sie zu knechten

26. Gestrandet

27. Der Magier vom See

28. Kristallnacht des Tanzes

29. Das ist keine Übung

Teil 3: Unaufhaltsamer Schicksalsweg

30. Ein wackelnder Jeep und Schmerztab Schmerztab letten

31. Lagerfeuer und Geschichten

32. Hetzjagd

33. Zuwachs und Kuscheleinlagen

34. Kann man nicht mal einen Tag seine Ruhe haben?

35. Im fliegenden Wechsel

36. Der Wolf im Manne

37. Zu Ehren der Bastet

38. Der Wächter überdauert alle Zeiten

39. Der Ruf zweier Seelen

40. Eine neue Sichtweise eröffnet sich

41. Schuss – Treffer, versenkt

42. Besser spät als nie

43. Die Loyalität und Freiheit von Hütern

44. Die Brücke

45. Zeitlose Flucht

46. Donnergrollen

47. Ein Tauchgang ins Ungewisse

Teil 4: Das Heilige Land

48. Die Orakelhöhlen

49. Die erste Magierin vom See

50. Unheilvolle Nachrichten

51 Das Heilige Land Ordohahn

52. Remtis

53. Ankhsharas Fluch

54. Vorbereitungen

55. Die Vernetzung des Bewusstseins

56. Hohepriester Mesmokhaï

57. Der neue Gott

58. Ein Fluch ist gebrochen

Nachtrag

Prolog

Amazonas Regenwald, Herbst 1996

»Du musst dich langsam auf den Weg zu ihnen begeben.«

Der Kopf des weißen Tieres zuckt hoch. Mit seinen stechend gelben Augen durchsucht es das Unterholz des Dschungels. Seine Ohren drehen sich in alle Richtungen, um die Stimme zu orten. Nach einigen Momenten der Stille jedoch legt es den Kopf zurück auf die Pfoten und schließt die Augen, um weiterzuschlafen.

»Mein Diener! Ich rufe dich! Deine Zeit ist gekommen. Mache dich auf, die Auserwählten zu finden, bevor es zu spät ist.«

Diesmal lässt das Tier den Kopf auf den Pfoten liegen. Nur die Augen öffnen sich einen Spalt breit. Die Blüte einer wilden Orchidee fängt dessen Blick ein, als sie vom Stiel fällt.

Die Stimme klingt nun durchaus empört. »Hörst du mir überhaupt zu? Oder hat dir die Zeit bei den Magiern vom See die Ohren verstopft?«

Das Tier grunzt, gähnt ausgiebig und verdreht entnervt die Augen. »Ist ja gut, ich habe es gehört! Gönne mir doch eine kurze Verschnaufpause.«

»Beeil dich. Diesmal wird es gelingen, ich fühle es.«

Sichtlich gelangweilt verlagert das Tier sein Gewicht von der rechten auf die linke Seite und lässt die rechte Hinterpfote vom Ast baumeln. Schläfrig antwortet es: »Das sagst du jedes Mal. Der Spruch wird langsam alt.«

Eine kalte Brise weht plötzlich über die Äste hinweg. »Willst du tatsächlich den Erhalt deiner Linie aufs Spiel setzen?«

Der Kopf des Tieres schnellt hoch. Ein wütendes Knurren entwischt seiner Kehle. »Soll ich dir jetzt darauf antworten, oder war das nur rein rhetorisch gemeint?«

Ein leises Lachen raschelt mit dem Wind durch die Blätter des Dschungels, streichelt es beinahe liebevoll. »Keiner deiner Vorfahren hat sich mir jemals so störrisch entgegengestellt. Ich frage mich, ob du dem Auftrag deiner Ahnen – und somit auch mir – noch gewogen bist?«

Mit einem Ruck erhebt sich das weiße Tier und starrt in den Himmel. Es faucht: »Damit hat das nichts zu tun! Die Last des Auserwählten vermag niemand allein zu tragen, das habe ich dir schon mehrfach versucht zu erklären. Du hörst einfach nie zu!«

Wieder streicht ein Lachen durch das Blätterdach der Bäume. Diesmal jedoch ist es ein erbarmungsloses Lachen. »Was bedrückt dich wirklich? Hast du lange nichts zu Fressen gefunden? Wurdest du erneut aus einem Dorf verbannt?«

»Ich bin dich so leid. Du weißt gar nichts über das Leben, Herrin.« Mit diesen Worten springt das Tier vom Baum und schleicht im Unterholz davon. Alles, was zurückbleibt, ist eine seltsame Stille im Dschungel.

- Teil 1 - Sommerzeitwahnsinn

1. Wo ist das Loch, in das ich mich einbuddeln kann, bitte?

Zürich, Sommer 2006

Natürlich kommt er zu spät, was habe ich auch anderes erwartet?

Ich lasse den Blick erneut schweifen und suche nach Seth. Mein Zwillingsbruder hat dieses elendige Talent, sich trotz der Pünktlichkeit der Schweizerischen Bundesbahnen und des Zürcher Verkehrsverbundes immer zu verspäten. Was natürlich nicht an den Öffentlichen liegt, sondern daran, dass Seth unterwegs jedes Mal eine junge Dame findet, der er den Kopf verdrehen kann.

Seit über einer Stunde schon warte ich in meinem Lieblingscafé am Münsterhof darauf, dass er endlich auftaucht. Genervt verdrehe ich die Augen und greife nach dem Glas, das vor mir auf dem runden Tischchen steht. Mit einem Zug leere ich die Hälfte meiner Limo. In dem Moment stößt mich jemand von hinten in die Schulter und ein Teil des Zuckerwassers entleert sich auf mein T-Shirt.

»Shit! Sorry!«, sagt eine raue Stimme hinter mir. Ich schlucke das bisschen Limo, das es in meinen Mund geschafft hat, hinunter und drehe den Kopf, um sehen zu können, wer mich angerempelt hat. Mein Mund klappt auf. Der Typ ist beinahe zwei Meter groß und seine Haare sind das abgefahrenste, was ich in letzter Zeit gesehen habe, denn sie sind sowohl weiß in den Spitzen, als auch schwarz am Ansatz. Drei Metallringe zieren die Spitze seines rechten Ohrs und seine Augenfarbe rangiert irgendwo zwischen eisblau und türkis.

Erst jetzt bemerke ich, dass er mir eine Serviette hinhält und mich fragend ansieht. Ich räuspere mich und murmele ein »Merci«, nehme ihm die Serviette ab und versuche, den Schaden an meinem T-Shirt zu beheben. Zum Glück trage ich meistens Schwarz, weshalb der Fleck einfach nur klebrig, aber nicht sichtbar ist.

»Sorry«, wiederholt der Schönling. »Ich wollte das nicht«, fügt er in gebrochenem Deutsch hinzu. Sofort hebe ich beruhigend die Hände und lächle ihm unverbindlich zu. »Es ist okay«, antworte ich automatisch in Englisch.

Erleichtert lockert er seine angespannten Schultern und lächelt auf mich herab. Er bemerkt mein leeres Glas und deutet darauf. »Ich kaufe dir eine neue Drink«, offeriert er.

Hastig schüttele ich den Kopf. »Ich wollte sowieso gerade gehen.« Wie um meine Worte zu unterstreichen, falte ich die Serviette zusammen und lege sie auf das Tischchen, dann krame ich in meinen Hosentaschen nach ausreichend Münzgeld, um die Limo zu bezahlen.

Im nächsten Moment setzt sich der Schönling neben mich auf den Stuhl, den ich die letzte Stunde über gegen die Touristen verteidigt habe. Irritiert ziehe ich meine Brauen zusammen. Doch er lächelt immer noch, zeigt dabei keine Zähne und streckt mir seine Hand entgegen. »Ich bin Artys«, stellt er sich in Englisch vor. »Das Y wie in Tyrannosaurus.«

Ich kann nicht anders, ich muss lachen. Seiner Verhaltensweise nach ist das eine bereits bekannte Reaktion, denn seine Augen sprühen vor Freude und sein Lächeln wird noch eine Spur breiter. Also nehme ich seine Hand.

»Meres«, stelle ich mich vor. Dass ich eigentlich Meresankh heiße – »die das Leben liebt« –, offenbare ich niemals freiwillig.

Meine Eltern sind Ägyptologen und haben die Namen ihrer Kinder nach altägyptischen Vorbildern gewählt. Dass mein Bruder Seth nach dem Gott des Chaos benannt wurde, lasse ich auch gerne weg – Seth macht seinem Namen alle Ehre, auch ohne, dass die Leute wissen, was dahinter steckt.

»Interessanter Name.«

Okay, das war nicht die Reaktion, die ich gewohnt bin. Normalerweise fragen mich die Leute, ob ich das nochmal wiederholen könne, wie man das genau ausspricht oder schreibt, aber niemand hat meinen Namen bisher mit einem simplen interessant abgekanzelt.

Ich will gerade zu einer entsprechenden Erklärung ansetzen, als sich jemand zu uns stellt. Ich hebe den Blick und erkenne Seth. Er grinst spitzbübisch und fragt an mich gewandt: »Störe ich?«

Oh man. Natürlich würde Seth sofort denken, dass ich den Schönling anbaggere. Ich werde rot, schüttele den Kopf und stelle ihm Artys vor. Doch bevor Seth sich einen weiteren Stuhl heranziehen kann, erhebt sich dieser.

»Ich muss gehen«, sagt er mit dieser unfassbar rauchigen Stimme. Er zwinkert mir zu. »Wir sehen uns.«

Noch so gerne, mein Lieber, noch so gerne, schmachte ich in Gedanken.

Mit leicht verklärtem Blick schaue ich ihm nach, bis er um die Ecke des nächsten Gebäudes verschwunden ist. Sehnsüchtig seufze ich und prüfe die Uhrzeit auf meiner Armbanduhr.

»Glanzleistung, Seth – eine Stunde und fünfzehn Minuten zu spät.«

Seth grinst euphorisch und fährt sich mit seiner Hand durch die Haare. Bei ihm ist der Farbstich eher rot, bei mir eine Mischung aus Braun und Schwarz. Während ich seidig glatte, glänzende Haare habe, sind Seths dick und stehen ihm von Natur aus in alle Richtungen vom Kopf.

»Sorry, ich musste mich noch um etwas kümmern. Bin aus Versehen einige Stationen zurückgefahren«, lautet seine verspätete Entschuldigung.

Ich verziehe angewidert den Mund und kontere: »Keine Details, bitte.«

Immer noch grinsend zuckt er mit den Schultern und nickt in die Richtung, in der Artys verschwunden ist. »Wer war das?«

Nun zucke ich mit den Schultern, lege die Münzen für die Limo passend auf den Tisch und erhebe mich. »Er hat mich angerempelt und wollte sich entschuldigen.«

Seth lacht. »Der sah nicht aus, als würde er sich nur entschuldigen wollen, Schwesterchen.«

Sofort werde ich wieder rot. Erstaunt hält Seth inne und sagt anschließend in ernstem Ton: »Warte mal – er hat dir gefallen!«

Als Antwort schnalze ich genervt mit der Zunge und setze ein flottes Tempo an. Ich will nur noch nach Hause.

»Komm jetzt, Seth. Mama hat Lasagne im Ofen, auf achtzehn Uhr.«

Mein Bruder passt sich meiner Geschwindigkeit an und wir eilen der Promenade des Zürcher Sees entlang, überqueren die Münsterbrücke und machen uns an den leichten Aufstieg in die Altstadt. Ich würde mich gerne unterwegs irgendwo in ein Loch verkriechen, um den hämischen Sprüchen meines Bruders zu entgehen. Leider finde ich den gesamten Weg über keines, das groß genug gewesen wäre.

2. Wird das hier jetzt schlimm oder schrecklich?

Zürich, Sommer 2006

Meine Eltern leben permanent auf dem Sprung. Sie sind ständig über längere Zeit irgendwo in Ägypten unterwegs und Seth und ich werden mit einer sich stetig ändernden Variation an Hausmädchen zurückgelassen.

Momentan jedoch befinden wir uns in einer Periode der Anwesenheit; meine Eltern sind seit drei Tagen zuhause und bemühen sich nach Leibeskräften, das harmonische Bild einer typisch schweizerischen Stadtfamilie aufrecht zu erhalten.

Als wir geboren wurden, wurden wir gleich darauf vom Ausgrabungsteam unserer Eltern aufgenommen und überallhin mitgeschleppt. Bereits mit fünf Jahren durften wir bei den Aufträgen mithelfen und anpacken.

Doch als Seth und ich mit acht Jahren während einer Ausgrabung überraschend mysteriös zusammengebrochen sind, obwohl wir vor Gesundheit nur so strotzten, hat sich alles geändert. Seither werden wir auf die lange Bank geschoben und sind eher eine Last als eine Freude für sämtliche Beteiligten. Wir durften nie wieder mit unseren Eltern mitgehen.

Da wir durch dieses anfänglich abenteuerliche Leben zwei Schuljahre verpasst haben, hinken wir nun hinterher. Zwar konnten wir in der Grundschule eine Klasse überspringen, haben allerdings noch ein Jahr gesetzlicher Schulpflicht vor uns, obwohl wir diesen Sommer achtzehn werden.

»Vergesst nicht, die Bewerbungen für die Uni auszufüllen, für den kommenden Frühling, ja?« Meine Mutter lächelt uns liebevoll von ihrem Platz am Essenstisch aus an, während wir das Geschirr des Abendessens in die Spüle räumen.

Seth verdreht die Augen, seine Mundwinkel sind nach unten verzogen. »Schon mal dran gedacht, dass wir keine Ägyptologen werden wollen?«, fragt er zynisch in ihre Richtung.

Mutter zieht überrascht eine Augenbraue hoch, doch dann schnalzt sie mit der Zunge und meint: »Sei nicht albern, Schatz. Natürlich werdet ihr das, und ihr werdet darin genauso glänzen wie wir.« Sie strahlt schon wieder übers ganze Gesicht.

Bevor Seth einen Streit vom Zaun brechen kann, hören wir unseren Vater im Flur fluchen. Er ist vor einigen Augenblicken ans Telefon gegangen und diskutiert lautstark mit jemandem.

»NEIN, das ist nicht, was ich –!«, ruft er aufgebracht. Dann schimpft er entsetzt: »Bei allen Göttern, das habt ihr nicht getan!«

Mutters Miene wechselt von glücklich strahlend zu besorgt. Sie blickt in Vaters Richtung, ihre Finger trommeln unruhig auf der Tischplatte. Trotzdem erhebt sie sich noch nicht von ihrem Platz – Seth und ich wissen beide, dass das sicherlich gleich der Fall sein wird.

»Er ist entkommen?! Wie konnte das passieren, war er nicht die ganze Zeit über sediert?!« Vaters Stimme klingt panisch.

Mutter erhebt sich hastig und eilt zu ihrem Mann. Seth betrachtet mich unsicher, ich blicke genauso beklommen zurück.

Der Hörer wird aufs Telefon geschmissen und mein Vater flucht weiter vor sich hin. Er senkt die Stimme und murmelt meiner Mutter etwas zu, was wir nicht verstehen.

»Was soll das heißen, er ist hier?«, kann ich Mutter verängstigt flüstern hören.

»Schhh, nicht vor den Kindern«, faucht er zurück. Seth verdreht neben mir die Augen. Vaters Stimme wird leiser, und ich versuche, so flach wie möglich zu atmen, um etwas zu verstehen.

»Er ist aus der Zelle geflohen. Und das Experiment, es – er ist aufgewacht und-! «

»Ruhig, Schatz, beruhige dich.« Einen Moment herrscht Stille, dann erwidert Mutter in hastigem Tonfall: »Wenn er hier ist, sind die Kinder in Gefahr. Wir müssen sofort aufbrechen. Niemand im Labor sollte wissen, dass wir mit ihnen verwandt sind, aber das Risiko besteht trotz allem. Geh und pack unsere Sachen, wir reisen in zwanzig Minuten ab.«

Ein bitterer Kloß bildet sich in meinem Hals und ich versuche, ihn herunterzuschlucken. Seth legt seine Hand auf meine Schulter und ich blicke zu ihm hoch. In seinen Augen steht dieselbe Angst, die mich einnimmt.

»Wir sind in Gefahr?«, sende ich meine Gedanken aus.

Er runzelt missbilligend die Stirn. Ich weiß, dass er es nicht mag, wenn wir in Gedanken miteinander sprechen. Es macht uns zu Freaks und Seth will nichts lieber, als normal sein. Wie weit wir von normal entfernt sind, versuche ich ihm inzwischen gar nicht mehr klar zu machen.

Doch Seth steigt darauf ein, denn er antwortet mir: »Scheinbar. Aber mich interessiert mehr die Erwähnung eines Labors. Hast du etwas darüber gewusst?«

Ich schüttele langsam den Kopf. Bevor ich antworten kann, kommt Mutter zurück ins Esszimmer und sucht allerhand Nippes zusammen, den sie mitnehmen will.

»Ärger bei der Arbeit?«, fragt Seth betont beiläufig. Er bedeutet mir stumm, weiter den Abwasch zu machen, damit wir nicht den Eindruck erwecken, sie belauscht zu haben.

Mutter fährt erschrocken zusammen, dann lächelt sie unverbindlich in unsere Richtung, meidet dabei jedoch den Augenkontakt. Jepp, denke ich, da ist das schlechte Gewissen, weil sie uns gleich wieder einmal zurücklassen.

Den Teller, den ich in meiner Hand halte, ramme ich härter als geplant ins Gitter und es klirrt unangenehm laut durch den still gewordenen Raum. Mutter fährt erneut zusammen, doch sie sieht nicht mehr in unsere Richtung. Auf der Treppe hören wir Vater herunterpoltern und einen Augenblick später steht er mit zwei großen Taschen im Türrahmen.

»Kinder«, nickt er uns zu. »Wir müssen euch aufs Neue verlassen. Dringende Ausgrabung, ihr wisst schon.«

Ich schnaube sarkastisch und Seth schüttelt bloß den Kopf. Mutter streckt die Hand nach ihrer Tasche aus und Vater stellt sie auf den Tisch, damit sie all die eingesammelten Dinge reinwerfen kann.

Sobald die Tasche verschlossen ist, kommt sie zu uns und drückt uns einen Kuss auf die Stirn, gefolgt von einer flüchtigen Umarmung. Vater drückt Seth an sich und schmatzt mir ebenfalls auf dieselbe Stelle, dann hasten sie so schnell aus der Tür, dass wir nicht einmal mehr »Viel Erfolg!« rufen können, wie wir es üblicherweise tun.

Mein Zwilling setzt sich gedankenverloren an den Esstisch und grübelt über das nach, was wir gehört haben. Ich beende den Abwasch und mache mich stumm und immer noch verwirrt auf den Weg die Treppe hinauf ins Bad, um zu duschen.

3. Irre Hitze

Zürich, Sommer 2006

Seth hat sich heute Morgen mit der Aussage verabschiedet, dass ich nicht wie üblich auf ihn warten soll. Ich gehe fest davon aus, dass eine Frau dahinter steckt, aber so genau will ich es dann doch nicht wissen.

Ich wiederum habe mir soeben an einer Eisdiele eine Pfefferminzkugel mit Schokostückchen gekauft und schlendere der Limmat entlang – einem von zwei Flüssen, die in den Zürcher See münden. Die Sonne brennt mir in den Nacken und ich trage ausnahmsweise ein Tanktop zu meinen hellbraunen Shorts, weil die angekündigten sechsunddreißig Grad sich wie vierzig anfühlen.

Vor mir erhebt sich die Rathausbrücke und ich überlege, was ich als Nächstes unternehmen soll, da sehe ich ihn auf der Brücke stehen: den Schönling von gestern.

Er lehnt gegen die Brüstung und hat das Gesicht gen Sonne gerichtet. Eine Piloten-Sonnenbrille verdeckt diese irren türkisenen Augen, die mir seit dem Café nicht mehr aus dem Kopf gehen wollen. Sein weißes Haar, das gekonnt verstrubbelt über seine Stirn fällt, bewegt sich in der Brise des Flusses, sodass die schwarzen Ansätze betont werden. Das Weiß leuchtet beinahe im Sonnenlicht.

Der Puls rast durch meinen Körper und eine Hitze überzieht meine Wangen, die nichts mit der Sonneneinstrahlung zu tun hat.

Kurzerhand überquere ich die Straße und schlendere zu ihm hin, immer darauf bedacht, es nicht so aussehen zu lassen, als hätte ich ihn bemerkt – oder schlimmer, als wäre ich wegen ihm hier.

Lässig lehne ich mich in seiner Nähe über die Brüstung der Brücke und esse mein Eis. Ich achte darauf, nicht in seine Richtung zu sehen, und fokussiere mich auf die kleinen Wellen des Flusses unter mir.

Wenige Minuten später habe ich ihn wahrhaftig vergessen, denn das Rauschen des Wassers und die leichte Brise sind so angenehm, dass ich mental komplett abgeschaltet habe. Mein Eis ist aufgegessen, die Pläne für den Tag sind offen und ich genieße den Sommer in vollen Zügen.

Ein Schatten fällt über mein Gesicht. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich darauf tippen, dass du mich verfolgst.«

Siedend heiß fällt mir wieder ein, weshalb ich ursprünglich auf diese Brücke gekommen bin und ich drehe mich um. »Hey, was für ein Zufall! Artys, nicht wahr?«, überspiele ich meine peinliche Berührtheit.

Er nickt und ein wissendes Lächeln umspielt seinen Mund. »Meres«, begrüßt er mich und steckt seine Hände in die Hosentaschen seiner Cargohose. Das schwarze Hemd ist trotz der Hitze zugeknöpft und seine weißen Haare verstrubbeln zusätzlich in der Brise.

»Ist das nicht ein wenig zu warm für den Sommer?«, frage ich mit hochgezogenen Brauen, sobald ich ihn fertig gemustert habe.

Jetzt erst fällt mir auf, dass wir Hochdeutsch sprechen – das er gestern so gebrochen gesprochen hat. Ich kneife die Augen zusammen. »Warte mal – du sprichst perfekt Hochdeutsch!«

Ein Grinsen huscht über sein Gesicht, das er sich jedoch schnell verkneift. Er zuckt leger mit den Schultern und meint: »Irgendwas musste ich mir ja einfallen lassen, um nicht wie der letzte Volltrottel dazustehen.«

Mein Mund öffnet sich, schließt sich jedoch gleich wieder und ich muss lächeln, denn ich kann nachvollziehen, wie es ist, ein Tollpatsch zu sein.

»Okay, dir sei verziehen«, nicke ich ihm mit gespielt hochmütigem Kopfnicken zu.

»Was hast du für Pläne heute?«, fragt er lächelnd, und schiebt seine Sonnenbrille auf die Stirn. Sofort nehmen mich seine türkisenen Augen gefangen und ich merke, wie sich mein Herzschlag beschleunigt und meine Hände zu zittern beginnen.

Wäre unschön, einen Sommerschwarm auf jemanden zu haben, den ich nachher nicht mehr wiedersehe, ermahne ich mich und schlucke die Schmetterlinge in meinem Hals brutal hinunter.

»Bisher habe ich nichts geplant«, erwidere ich und drehe mich wieder um, um mich auf die Brüstung der Brücke zu stützen. Ich kann hören, wie Artys neben mich tritt und seine Unterarme kommen dicht an den meinen zu liegen. Für einige Sekunden herrscht angenehme Stille zwischen uns und wir schauen beide hinab auf das Wasser der Limmat.

»Hättest du Lust, mit mir eine Schifffahrt über den See zu machen?«, offeriert er.

Ich blicke zu ihm auf und erkenne, dass er mich die ganze Zeit angesehen haben muss. Sofort schießt Hitze in meine Wangen und die Schmetterlinge rühren sich zaghaft in meiner Magengegend.

»Mhh, wohin willst du denn?«, erkundige ich mich, ganz so, als würde meine Zustimmung vom Ziel abhängen. Dabei muss ich mir nichts vormachen, ich würde mit ihm praktisch überall hingehen.

Artys deutet an einen Punkt am Horizont auf der anderen Seite des Sees. »Da drüben ist ein Ort, den ich gerne mal sehen will.«

»Die Saffa-Insel?« Ich neige den Kopf auf eine Seite und wäge dieses Ausflugsziel ab. Die Saffa-Insel ist winzig klein. Sie ist künstlich von Frauen im Rahmen der im Jahr 1958 stattfindenden schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit angelegt worden und frei zugänglich. Und meistens über und über mit Leuten auf Badetüchern befüllt, die von dort aus im Zürcher See baden oder ausgiebig picknicken. Was es da zu sehen geben soll außer der Entstehungsgeschichte, ist mir schleierhaft. Allerdings ist das Dock für das Schiff ist keine zehn Minuten von der Insel entfernt, also kann ich jederzeit das Weite suchen.

Ich treffe meine Entscheidung und nicke, noch bevor Artys mir antworten kann. »Okay, gehen wir.«

Ich breche sofort auf und lasse ihm keine andere Wahl, als mir zu folgen. Er lacht leise in sich hinein und ich runzle die Stirn, obwohl mir der tiefe Ton extrem gefällt.

»Bist du immer so engagiert, wenn du Fremde herumführen willst, oder liegt es an mir?«, fragt er mich.

Diese beschissene Röte breitet sich wieder auf meinen Wangen aus, ich kann es fühlen. So ein Mist, denke ich und schnaube. »Du bist ja wohl kaum ein Fremder.«

»Ach nein?«

»Nein«, antworte ich entschieden. »Schließlich hast du dich mir vorgestellt, dich zu mir gesetzt und wir haben Konversation betrieben. Ergo schwimmst du zwischen flüchtige Bekanntschaft und ein paarmal gesehen.«

Artys antwortet mit diesem typisch englischen »Huh«.

»Bist du Brite oder Deutscher, oder woher kommst du?«, frage ich, während wir den Weg zurückgehen, den ich vorhin gekommen bin. Der nächstgelegene Stopp für die Fähre ist knapp zweihundert Meter entfernt und wenn wir Glück haben, erwischen wir sie sogar noch. Damit können wir bis zu einer anderen Station pendeln und von dort aus quer über den See.

»Oh, ich war schon überall auf der Welt«, weicht er meiner Frage aus. Ich werfe ihm einen Seitenblick zu und er fügt lächelnd hinzu: »Ich bin in England aufgewachsen.«

Hmm, rattert es in meinem Kopf. Schon überall auf der Welt gewesen. Das heißt, er bleibt nie lange und es zieht ihn immer wieder ins Ungewisse. Da er sagt, er ist in England aufgewachsen, muss er älter sein als ich. Wäre ja auch zu schön gewesen. Na ja, Summer Flings sind sowieso out, versuche ich die aufkommende Enttäuschung zu dämpfen.

»Und wieso hat es dich ausgerechnet hierher verschlagen?«, hake ich betont gleichgültig nach.

Artys zuckt mit der Schulter. »Die Schweiz ist schön – und ich habe hier eine wichtige Angelegenheit zu klären.«

Ich bekomme das abstruse Gefühl, dass diese Angelegenheit mit mir zu tun hat. Doch ich schüttele es ab, denn alles in allem kennt er mich hochgerechnet eine Stunde, das hat nichts mit mir zu tun. Nichtsdestotrotz ist mir der distanzierte Ton aufgefallen, in dem er diese Aussage getätigt hat, und mir rieselt es kalt den Rücken hinunter, ohne dass ich erklären kann, wieso.

Wir erreichen das Dock für die Fähre und instinktiv greife ich nach Artys’ Hand, sobald ich sehe, dass sie in diesem Moment anlegt.

»Komm!«, befehle ich und renne auf das Fährschiff zu. Seine langen Finger schließen sich um meine und er sprintet hinter mir her, runter zum Anlegeplatz.

»Einmal Wollishofen via Bürkliplatz, bitte«, verlange ich beim Kapitän. Er druckt ein Ticket aus seiner Maschine und ich reiche ihm das Geld, dann zeige ich ihm mein Monatsabo. Er lässt uns passieren und ich ziehe Artys weiter in Richtung Bug. Erst danach gebe ich seine Hand frei und lasse mich auf einen freien Sitz fallen. Zufrieden strahle ich ihn an und er grinst zurück, jedoch ohne die Zähne zu zeigen.

»Hier, dein Ticket.« Ich reiche ihm den Fahrschein und strecke genießerisch meine Beine aus, um es mir bequem zu machen. Zwar müssen wir gleich wieder aussteigen, doch ich liebe die Schifffahrten über den See und seine Zuflüsse und genieße jede einzelne davon, wann immer es dazu kommt.

Artys lässt sich neben mir nieder und verstaut das Ticket in seiner Hosentasche. Penibel zupft er an den Ärmeln seines Hemdes und ich bin abermals irritiert darüber, dass er bei solchen Temperaturen ein langärmeliges Hemd und lange Hosen trägt. Auch wenn ich weiß, dass ich mich wiederhole, deute ich auf sein Oberteil und frage erneut: »Ist es dafür nicht ein wenig zu warm?«

Er lächelt, aber dieses Lächeln ist betrübt und erreicht nicht seine Augen. »Das wäre äußerst unklug.«

Der See ist herrlich blau, der Wind weht in einer kühlenden Brise und die Gischt lässt ab und an ein wenig kühles Nass auf uns niederrieseln, doch ich schaue ihn ernst an. Aufmerksam richte ich mich auf. Irgendetwas stimmt nicht mit dem Kerl, das spüre ich die ganze Zeit über, seit dem Café. Dass er so kryptisch antwortet, verstärkt dieses Gefühl nur noch mehr.

»Warum?«, ist alles, was ich frage.

Er zuckt wieder beiläufig mit den Schultern, gleichwohl kann ich sehen, dass es ihm unangenehm ist, darüber zu sprechen. Sein Blick wandert über das Wasser. »Ist für viele kein schöner Anblick«, murmelt er.

Automatisch nehme ich an, dass er von Narben oder etwas Vergleichbarem spricht. Mein Instinkt schreit mich innerlich an, weiter zu bohren, es nicht bei schlichten Vermutungen zu belassen, aber ich höre nicht darauf. Schließlich hat jeder seine Lasten und Narben zu tragen – das weiß ich selbst am besten. Also hebe ich die Schultern und lasse sie – gemeinsam mit dem Thema – fallen.

Schweigend lehnen wir uns zurück und genießen die Sonne auf den Gesichtern. Meine Gedanken schweifen heimwärts, zu gestern Abend, als meine Eltern überstürzt aufgebrochen sind, und ich versinke in Spekulationen darüber, was vorgefallen sein könnte.

Ich muss definitiv mit Seth über diese Angelegenheit sprechen. Wenn er wie ich davon ausgeht, dass da etwas Größeres im Busch ist, dann könnten wir versuchen, herauszufinden, was das ist.

Das ist nichts Neues – er und ich schnüffeln unseren Eltern des Öfteren hinterher, seitdem wir von den Expeditionen ausgeschlossen wurden. Auch wenn Seth es nicht gern zugibt, ist uns beiden klar, dass wir nicht mehr teilnehmen dürfen, weil irgendetwas geschehen ist, was seither erforscht werden muss. Ich presse die Zähne zusammen. Wenn wir doch nur mental miteinander sprechen könnten! Dann müsste ich nicht abwarten, bis wir beide zuhause sind, sondern wären dazu in der Lage, jetzt sofort darüber diskutieren. Aber bislang sind Mentalbilder alles, was Seth erlaubt. Ein kurzer Schnappschuss von dem, was einer von uns in diesem Augenblick sieht, gesendet an den anderen per Gedankenübertragung. Und das auch nur, wenn wir seit über zehn Stunden nichts mehr voneinander gehört haben. Reine Sicherheitsmaßnahme.

Es nervt mich, dass mein Zwilling so versessen darauf ist, normal zu sein. Im Gegensatz zu ihm würde ich unser Wesen willkommen heißen, wenn er bloß mitmachen würde. Doch Seth ist stur – und ich weiß, wie er sich fühlt. Er leidet extrem darunter, nach dem Gott des Chaos benannt worden zu sein und diesem Klischee – unbeabsichtigt – vollauf gerecht zu werden. Dabei war der Gott Seth damals nicht ausschließlich schlecht: Er wurde ebenfalls als Schutzgott benannt; sowohl für Oasen als auch den König. Aber mein Zwilling sieht oft lediglich das Schlechte in den Läufen der Welt.

Artys bewegt sich neben mir und ich fokussiere mich wieder auf die Umgebung. Wir sind fast da, der Bürkliplatz erhebt sich vor uns. Die Rückseite der Bronzeskulptur von Ganymed dem Hirten- und späteren Lustknaben glänzt uns entgegen, seine Hand an Allvater Zeus’ Schnabel, der in Adlergestalt neben ihm sitzt, um den Burschen in den Olymp zu bringen.

Ich stehe auf und nicke in Richtung des Docks. »Wir müssen einmal umsteigen. «

Artys nickt und erhebt sich ebenfalls und wir machen uns an den Ausstieg, sobald die Fähre angelegt hat. Gedankenverloren lässt er seinen Blick über den Platz und den See schweifen – als wäre er zum ersten Mal hier. Er hat doch gesagt, dass er schon hier gewesen ist, sinniere ich, während ich ihn verstohlen mustere. Wobei – nicht direkt; er meinte nur, dass die Schweiz schön ist.

Als hätte er meine Grübelei mitangehört, richtet er seine türkisenen Augen auf mich und lächelt. »Es ist wunderbar, wieder hier zu sein. Ich hatte fast vergessen, wie atemberaubend Zürich sein kann.«

»Mhm«, stimme ich zu und belasse es dabei. Sobald die nächste Fähre kommt, die uns zu unserem Ziel bringen wird, gehe ich wortlos an Bord. Artys folgt mir und sieht immer wieder nachdenklich auf mich herab. Nachdem ich mich in einen Stuhl gesetzt habe und wir halbwegs allein sind, fragt er: »Habe ich etwas Falsches gesagt, Meres?«

»Nein, natürlich nicht«, beeile ich mich, zu antworten. Dann entscheide ich spontan, einfach ehrlich zu sein. »Es kam mir gerade eben nur so vor, als hättest du meine Gedanken erraten.«

»Ahh«, seufzt er und entspannt sich sichtlich. Schließlich grinst er wieder dieses verkniffene Grinsen und meint: »Ich versichere dir, ich kann keine Gedanken lesen.«

Ich kann ein erleichtertes Aufatmen nicht unterdrücken und er gluckst vor sich hin, sagt jedoch nichts mehr. Wir wenden den Blick auf den See und schieben unsere Sonnenbrillen auf die Nasen. Das Schweigen, das sich zwischen uns ausbreitet, ist friedlich.

»Nächster Halt Wollishofen!«, dröhnt der Lautsprecher und Artys erhebt sich vor mir, um rechtzeitig auszusteigen. Ergeben seufzend folge ich ihm.

4. Na aber hallo!

Saffa-Insel, Zürich, Sommer 2006

Wir stehen auf dem grasigen Erdboden der Saffa-Insel und ich breite lächelnd die Arme aus. »So, da sind wir. Und was genau wolltest du jetzt hier?«

Er streift mich mit einem Seitenblick, zwinkert und erwidert: »Wer sagt, dass ich hierhin wollte?«

Verdutzt lasse ich die Arme sinken und er lacht leise in sich hinein. »Aber —«, beginne ich, doch er hebt tadelnd seinen rechten Zeigefinger und ermahnt mich lächelnd: »Nein, du hast angenommen, dass ich hierhin kommen möchte. Ich habe das nie bestätigt.«

Er nutzt denselben Finger, um auf einen Punkt weiter im Landesinneren zu zeigen. Ich folge ihm mit meinem Blick und runzle verwirrt die Stirn. »Da willst du hin?«, versichere ich mich, »zu der Kirche?«

Artys nickt und wir brechen auf. Zwar bin ich ein wenig angesäuert, dass er mich nicht korrigiert hat, als ich die Saffa-Insel erwähnt und ihn hierhin geführt habe, doch im Endeffekt hätten wir ohnehin hierherkommen müssen. Ich bin nicht sehr nachtragend – außer bei meinen Eltern und in Liebesangelegenheiten.

Die Kirche, die Artys besuchen möchte, ist die sogenannte »Kirche Auf der Egg«, ein aus meinen Augen grässlich anzusehender Kirchenbau im Stil des Neuen Bauens. Sie wird umgeben von Bäumen und Grünflächen.

»Was gibt es denn dort? Bist du gläubig?«, spreche ich letzten Endes die Fragen aus, die mir durch den Kopf wirbeln.

Wir gehen nebeneinander die Seestraße entlang, Artys hat seine Hände wieder in den Hosentaschen vergraben und trägt seine Sonnenbrille immer noch auf der Nase. Er wirft mir einen kurzen Blick zu. »Ich glaube nicht an das Christentum«, erwidert er.

»An was dann? Islam, Buddhismus, Hinduismus – Judentum?«, liste ich auf, was mir in den Sinn kommt. Dass ich dabei die Hände zu Hilfe nehme, um abzuzählen, fällt mir erst auf, als ich ihn wieder ansehe und er amüsiert meine Finger betrachtet.

Er schüttelt den Kopf und schnaubt lächelnd. »Nein, Meres. Ich glaube an etwas Älteres, Gefährlicheres. Mein Glaube richtet sich unter anderem an die altägyptischen, sowie an die antiken griechischen und die nordischen Götter.«

»Uff.« Tja, das habe ich jetzt nicht erwartet, aber da ich Atheistin bin, zucke ich beiläufig mit der Schulter. »Jedem das seine, was?« Ich grinse zu ihm hinüber. Seine Augenbraue ist erstaunt hochgezogen, doch er lächelt auf mich herab.

Ich beschatte meine Augen mit der Hand, um die Kirche links von uns ausmachen zu können. Trotz der Sonnenbrille ist es unglaublich grell zwischen den weiß und cremefarbenen Einfamilienhäusern, sobald die Sonne scheint.

»Aber ist das nicht ein ziemlicher Aufwand mit so vielen Göttern?«, hake ich nach. Ich bin ehrlich interessiert, denn bei mir zuhause wird niemals über Glaube gesprochen, außer wenn es um bereits lange verstorbene Ägypter und ihre Religion geht. Wir besprechen keine anderen Glaubenslehren; sie existieren ausschließlich im Referatswortschatz meiner Eltern.

Artys zuckt nun seinerseits mit den Schultern. »Nicht unbedingt. Daran zu glauben muss nicht direkt heißen, dass ich irgendwelche Opfergaben bringe oder permanent Statuen anbete.«

Ich nicke bedächtig. »Ich denke, das ist eine passende Einstellung.«

Ein leises Lachen dringt zu mir herüber und ich lächle vor mich hin. Eine Weile gehen wir schweigend nebeneinander her, bis wir an einer Kreuzung auf einen schlichten Weg überwechseln, der direkt zur Kirche führt.

Artys seufzt schwer. »Zu deiner Frage, was es dort zu sehen gibt: Einen alten Freund.«

Verdutzt schaue ich ihn an. Doch sein Gesicht ist verschlossen und ernst geworden. Oh je, das klingt so gar nicht positiv. Ob womöglich ein vergangener Streit die beiden trennte, und nun kommt er, um sich zu versöhnen? Ich bin voller Neugier und hin- und hergerissen, ob ich weiterbohren soll, aber ich lasse es und nicke bloß. Trotzdem habe ich ein schweres Gefühl auf dem Herzen, das sich nicht vertreiben lässt. Ich glaube, es ist Mitgefühl - was seltsam ist, denn ich kenne Artys nicht wirklich und für gewöhnlich gelte ich eher als emotional distanziert Fremden gegenüber.

Sobald die Kirche vor uns auf einer Anhöhe aufragt, tritt Artys auf die penibel gepflegte Rasenfläche und marschiert links an dem unansehnlichen Bau vorbei. Stirnrunzelnd folge ich ihm, unschlüssig, ob wir die Grünfläche einfach so betreten dürfen.

An einem Punkt auf dem Rasen bleibt er stehen und geht in die Knie, legt eine Hand auf die Erde und schließt die Augen. Ich bleibe in einigem Abstand zurück und beobachte schweigend die Szene.

»Hallo, alter Freund«, weht Artys Stimme zu mir herüber. Erst jetzt fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Dieser alte Freund, den er vorhin erwähnte, liegt hier begraben.

Stirnrunzelnd sehe ich mich nochmals um und unterziehe die Umgebung einer genaueren Betrachtung. Das hier ist kein Friedhof, sondern ein Rasen, der mit Sicherheit jede zweite Woche penibel gemäht wird, sobald die Gräser sich weit genug erholt haben, um auf ein Neues zu wachsen. Wie kann hier ein Mensch begraben sein?

Ich senke den Blick auf Artys und studiere seine Haltung. Seine Schultern sind nach vom gesackt und er lächelt traurig auf den Erdboden hinab. Woher weiß er überhaupt, dass er an der richtigen Stelle ist? Verarscht er mich hier gerade?

Mein Stirnrunzeln verstärkt sich. Doch Artys murmelt weiter vor sich hin, vollends in eine Konversation vertieft, die ich nicht hören kann.

Oben an der Kirche tritt eine Person aus dem Haupteingang und bleibt dort stehen, die Silhouette in unsere Richtung gerichtet. Sie ist zu weit entfernt, als dass ich Details ausmachen könnte. Doch nach wenigen Herzschlägen beginnt die Person auf uns zuzugehen, die Hände heben sich in die Höhe und ich kann sie schreien hören – jetzt weiß ich auch, dass da ein Mann auf uns zukommt. »Runter vom Rasen!«

Alarmiert schaue ich abwechselnd zu Artys, dann zu dem heranstürmenden Kerl und denke fieberhaft darüber nach, was ich tun soll: ihn packen und wegrennen oder ruhig hier stehen bleiben. Ich entscheide mich für Ersteres, mache zwei gewaltige Sätze und fasse Artys an der Schulter. Er sieht mich aufgeschreckt an und ich nicke in Richtung des Fremden, der uns immer näher kommt und uns mit der Polizei droht, wenn wir nicht sofort von der Grasfläche verschwinden.

Artys erhebt sich und wir rennen los, quer über den Rasen zwischen die Bäume. Ich drücke mich an die Rinde eines Lindenbaums und versuche, so geräuschlos wie möglich zu atmen. Neben mir tut Artys dasselbe an einem anderen Baumstamm, doch er lugt in kurzen Abständen zurück zum Rasen, um zu sehen, ob wir weiterhin verfolgt werden.

Schließlich lächelt er und schlendert zu mir herüber. »Danke, Meres. Hätte nicht gedacht, dass man heutzutage nicht mal mehr auf eine Wiese treten darf.« Er schüttelt ungläubig den Kopf und macht noch einige Schritte auf mich zu, während er die Sonnenbrille abnimmt und in sein Hemd steckt.

Jetzt steht er so nah bei mir, dass ich nicht mal mehr den Arm komplett ausstrecken müsste, um ihn zu berühren. Ich sehe hinauf in seine türkisenen Augen und er hält meinen Blick fest. Mein Puls rast immer noch von der Flucht. Die Schmetterlinge in meiner Bauchregion jedoch tanzen aus komplett anderen Gründen.

»Wirklich außergewöhnlich«, murmelt er rau.

Ich schlucke und schnaufe. »Was ist außergewöhnlich?«

Ein laszives Lächeln stiehlt sich in seine Mundwinkel, doch er bleibt mir die Antwort schuldig. Stattdessen beugt er seinen Kopf zu mir herunter und drückt seine Lippen auf meinen Mund.

Jedes Jahr besuche ich mit Seth das organisierte Neujahrsfeuerwerk am Zürichsee. Und genauso fühlt es sich an, Artys zu küssen: Nichts als Ahs und Ohs, die durch den Kopf rauschen, während ein Feuerwerk aus Emotionen mir die Synapsen wegballert und ich zu Pudding in seinen Armen werde.

Sobald seine Lippen sich von den meinen lösen, hageln die Selbstvorwürfe auf mich ein. Einen Fremden zu küssen, ist genau genommen nicht mein Ding, sondern eher Seths. Und doch könnte ich stundenlang so weitermachen.

Ich öffne die Augen und blicke zu Artys auf. Er scheint genauso weggetreten zu sein wie ich, sein Lächeln ist gelöst und betörend.

»So gern ich das hier fortführen würde, Meres – unsere Wege trennen sich hier und jetzt«, sagt er zurückhaltend und tritt einen Schritt von mir fort. »Allerdings nicht für lange. Wir werden uns bald wiedersehen.«

Mit diesen Worten sprintet er zurück auf den Rasen, überquert ihn in einem Höllentempo und ist wenige Augenblicke später verschwunden.

Ich stehe derweil bedröppelt unter der Linde und fasse mir ungläubig an die Lippen wie eine jungfräuliche Romantikerin aus dem 16. Jahrhundert, die soeben ihren ersten Kuss bekam. Energisch schüttele ich den Kopf und zwinge mich in die Realität zurück.

»Was war das eben?«, flüstere ich mir selbst zu. Der Schönling von gestern flieht mit mir über einen Rasen, stiehlt mir den ultimativen Kuss und rennt davon? Ich verziehe tadelnd mein Gesicht. Heißt dann wohl, ich habe armselig geküsst. Zu guter Letzt denke ich an seine Abschiedsworte und bin verdutzt darüber, was er gesagt hat – und wie er es gesagt hat: absolut kryptisch.

Mürrisch mache ich mich auf den Weg nach Hause. Die Lust, diesen Nachmittag in der Stadt zu verbringen, ist mir vergangen.

5. Ein wenig rumschnüffeln hat noch keinem geschadet

Zürich, Sommer 2006

Seth stellt den zweiten Teller Restelasagne in die Mikrowelle. Ich nehme den ersten und setze mich damit an den Esstisch.

Der gestrige Abend, der mit der überstürzten Abreise unserer Eltern geendet hat, sitzt uns bis anhin in den Knochen. Dennoch hüten wir uns, über persönliche Gefühle zu reden – das machen wir seit dem Unfall damals nicht mehr. Stattdessen frisst ein jeder von uns Hader und Zweifel in sich hinein. Äußerst erwachsen, ganz toll. Nicht zu empfehlen.

Mein Zwillingsbruder setzt sich mir schweigend gegenüber. Doch nach nur einem Bissen kann er nicht mehr stillsitzen und meint: »Vielleicht sollten wir ins Arbeitszimmer gehen und nachsehen, ob wir irgendetwas herausfinden können.«

Meine Augenbrauen schießen erstaunt in die Höhe, während ich mit der Gabel fein säuberlich ein Stückchen Lasagne abtrenne und aufspieße. »Glaubst du ernsthaft, dass sie Informationen über ein geheimes Labor zu Hause rumliegen lassen würden?«, frage ich skeptisch.

Seth zuckt mit den Schultern und stopft sich ein Drittel der Portion auf einmal in die Backen. Mit vollem Mund schmatzt er: »Man weiß ja nie.«

Hmm, sinniere ich, während ich das Stück Lasagne an meiner Gabel in den Mund schiebe und kaue. Was hat Mutter gestern gesagt? Keiner weiß, dass wir mit ihnen verwandt sind... Dann sollte auch niemand wissen, dass sie hier wohnen – bis auf wenige Auserwählte.

»Na gut, wir gehen nach dem Essen ins Arbeitszimmer«, stimme ich entschieden zu. Mein Bruder schaut verblüfft von der Lasagne auf und grinst nach wenigen Sekunden. »Ich wusste, ich kann mich auf dich verlassen, Schwesterchen. «

Den Rest seiner Portion scheint er auf verstörende Art und Weise zu inhalieren und ich beeile mich, mit ihm mitzuhalten – allerdings scheitere ich kläglich.

Sobald ich den letzten Bissen vom Teller gelupft habe, zieht Seth diesen weg und eilt damit zur Spülmaschine, um das Geschirr dort einzuordnen. Während ich kaue, wirbelt mein Zwilling in der Küche herum und säubert die Flächen, wäscht sich Hände und Mund und lehnt sich daraufhin mit verschränkten Armen an die Kante der Arbeitsplatte, um zu warten.

Ich strecke ihm meine Gabel entgegen und er nimmt sie, steckt sie zu den anderen. Dann sieht er mich prüfend an und zeigt gespielt angewidert auf seinen Mund. »Du solltest das abwaschen, das sieht ekelig aus. «

Ich verziehe das Gesicht, stehe jedoch auf und mache wie geheißen. »So, dann lass uns mal nachsehen«, fordere ich ihn auf.

Nun ist es an Seth, die Augenbrauen hochzuziehen. »Weißt du denn, wo sie diesmal den Schlüssel versteckt haben?«, fragt er. Als Antwort erhält er ein Schulterzucken.

Das Arbeitszimmer meiner Eltern ist ein großflächiger Raum im Erdgeschoss, der ihnen gleichzeitig als Bibliothek dient. Das Zimmer liegt direkt gegenüber der Haustür in der Eingangshalle, doch es wird abgeschlossen, wann immer sie es nicht aktiv nutzen.

Da wir notorische Schnüffler sind, haben wir schon sehr früh damit angefangen, den Schlüssel für das Arbeitszimmer in der Abwesenheit unserer Eltern zu suchen und es nach Informationen über ihre Arbeit zu durchsuchen. Bis sie das erste Mal davon Wind bekamen, sind Jahre vergangen, aber infolgedessen haben sie damit begonnen, den Schlüssel jedes Mal woanders zu verstecken.

Ich tippe mir grübelnd an die Lippen. »Vater war ungewöhnlich lange oben in ihrem Schlafzimmer. Normalerweise haben sie permanent ein Set Taschen gepackt, welches griffbereit unter dem Bett liegt, oder?«

Auf Seths Gesicht breitet sich ein verstehendes Grinsen aus. »Gewieft!«

Ich zwinkere ihm zu und eile vor meinem Bruder die Stufen hinauf in die erste Etage, wo sich die Schlafzimmer und das große Badezimmer befinden. Das Zimmer unserer Eltern liegt direkt an der Treppe und wir drängen ohne zu zögern hinein.

»Okay«, überdenkt Seth laut. »Wenn ich nichts packen müsste, weil die Taschen schon bereitstehen«, er bückt sich und prüft die jetzt freie Fläche unter dem Bett, »jepp – wo würde ich den Schlüssel verstecken?«

Gemeinsam lassen wir unsere Blicke durch den Raum schweifen. »Es muss etwas sein, das nicht allzu lange Zeit beansprucht, aber trotzdem nicht auffällt«, füge ich gedankenverloren hinzu. Seth nickt.

Annähernd gleichzeitig bleiben unsere Blicke am Kleiderschrank hängen. Ich grinse und er zwinkert mir zu. »Drauf oder drin?«, wettet er.

»Drauf«, sage ich überzeugt, stelle mich auf die Matratze und beginne damit, mit den Fingern auf dem Schrank herumzutasten.

Mein Zwilling zieht die Schranktüren auf und durchwühlt die Kleidung, fasst in jede Tasche, öffnet jeden Reißverschluss.

Meine Finger streifen etwas Kühles und ich quietsche eifrig auf. »Hilf mir mal! Ich kann ihn nicht erreichen, aber er liegt hier, direkt über dir.«

Seths Grinsen kehrt zurück und er langt mit seinem langen Arm nach oben. Keine zehn Sekunden später hält er den Schlüssel in der Hand und wir klatschen uns grinsend ab.

»Wie immer exzellente Arbeit, Meres!«, lobt er mich. Ich schubse ihn spielerisch von der Seite in die Hüfte und wir rangeln auf dem Weg die Treppe hinab, bevor er mir den Schlüssel übergibt.

»Du hast ihn gefunden, du darfst aufmachen«, sagt er feierlich und verbeugt sich vor mir.

Unzeremoniell stecke ich den Schlüssel ins Schloss und reiße die beiden Flügeltüren der Bibliothek auf. »Ans Werk, Bruderherz«, ordere ich ausgelassen an und mache den ersten Schritt in den Raum hinein.

In dem Augenblick klingelt es an der Haustür. Seth zieht fragend die Augenbrauen hoch und ich drehe mich um, schaue irritiert erst ihn, dann die Tür hinter ihm an. »Du hast doch nicht irgendeine deiner Liebschaften hierher bestellt?«, frage ich ihn. »Zuhause ist off limits, das weißt du.«

Mein Bruder schnaubt beleidigt. »Das weiß ich sehr wohl. Schon mal dran gedacht, dass es für dich sein könnte?«

Unwillkürlich muss ich lachen. Denn ich habe keine Freunde, ich habe bloß Klassenkameraden. Aber jetzt sind Sommerferien und alle sind irgendwo auf der Welt verstreut und genießen das heiße Wetter auf Ibiza oder wo auch immer.

Es klingelt erneut. Unmutig schließe ich die Flügeltüren und drücke Seth den Schlüssel in die Hand, dann eile ich zur Haustür und reiße sie auf.

»Was?«, herrsche ich, bevor meine Augen sich auf die Person vor mir fixieren können – oder vielmehr Personen. Ein Mann und eine Frau in schwarzen Anzügen, mit schwarzen Sonnenbrillen und breiten Schultern stehen nebeneinander auf unserer Fußmatte.

»Meresankh und Seth Wyss?«, fragt der bärige Typ. Ich nicke irritiert, doch bevor ich reagieren kann, packt mich die Frau am Ellenbogen und zieht mich mit sich hinein in die Eingangshalle.

»Moooooment«, protestiere ich und kann hören, wie Seth hinter mir versucht, den Mann davon abzuhalten, der Frau ins Haus zu folgen.

Meine Instinkte übernehmen die Oberhand. Mit einer geschmeidigen Bewegung reiße ich den Ellenbogen nach hinten, sodass die Fremde zu mir hingezogen wird. Dann ramme ich ihr das Knie in die Brust, so fest ich kann. Sie stößt einen schmerzerfüllten Laut aus, doch im nächsten Moment hat sie sich bereits wieder gefangen. Sie greift nach meiner linken Hand. Geschwind lasse ich mich fallen und reiße ihr die Füße vom Parkett, indem ich mein Bein in einer raschen Drehung in ihre Knöchel ramme.

Meine Gegnerin fällt zu Boden, zückt jedoch während ihres Sturzes einen Schlagstock und rammt ihn mir über den Schädel. Der Hieb hat es in sich. Die Knie sacken mir sofort weg. Einen Augenblick später liege ich neben ihr auf dem Parkettboden. Meine Sicht beginnt zu verschwimmen und ein fieser Schmerz donnert mir durch den Kopf. Ich verliere komplett die Orientierung, sobald ich das Gesicht der Angreiferin nicht mehr klar erkennen kann. Wo ist Seth?

»Seth!«, rufe ich ihm mental zu, aber er antwortet nicht. Panik kribbelt in meinen Venen, mein Herz flattert. Meine Sicht verschwimmt immer mehr. Stöhnend schließe ich die Augen. Schwere Schritte trampeln über das Parkett. Das ist nicht Seths entspannter Tritt. Ich höre die beiden Fremden mit jemandem sprechen.

»-härter zugeschlagen, als ich ihr zugetraut hätte«, drängt die Stimme der Frau durch das schmerzvolle Hämmern in meinem Schädel.

»Wir bringen sie am besten sofort in die Kutsche, dann packen wir ihre Sachen.« Das ist der bärige Typ.

Ich schüttele den Kopf, will meine Sicht klären, aber es dreht sich alles. Ich glaube, Seth am Boden liegen zu sehen, doch ich bin mir nicht sicher.

»Wartet einen Augenblick. Sie ist immer noch wach«, meldet sich eine weitere, absolut vertraute Stimme zu Wort. Aber als ich aufblicke, erkenne ich durch mein vom Schwindel verzerrte Sichtfeld nicht mehr als das Aufblitzen von Metallohrringen und einem Klecks Türkis.

Daraufhin umspült mich Dunkelheit.

6. Zur Hölle mit altmodischen Kutschen!

Unbekannter Ort, Sommer 2006

Ich erwache mit höllischen Kopfschmerzen. Mein Schädel scheint sich in zwei Hälften spalten zu wollen und das Rumpeln, das mich durchschüttelt, macht es nicht besser.

Erst jetzt bekomme ich ein hitziges Gespräch mit, das dicht neben mir geführt wird.

»-war ein wenig zu hart zu ihr, das tut mir leid«, gibt eine bissige Stimme zu.

Ich kenne diese Stimme. Dieser raue Ton darin... ich komme schlicht nicht darauf, wem sie gehört.

»Ein wenig?! Sie hat ihr nahezu den Kopf eingeschlagen!« Das ist Seth.

Die vertraute Stimme schnaubt verächtlich. »Das hätte Selvyra niemals getan. Dafür seid ihr zu wichtig, Seth.« Die Stimme seufzt und schweigt für einen Moment, bevor sie mit widerwilligem Respekt hinzufügt: »Wir konnten allerdings nicht ahnen, dass ihr euch derart zur Wehr zu setzen vermögt.«

Seth lacht gehässig. »Manchmal lohnt es sich, auf seine Zwillingsschwester zu hören.«

Ich entscheide mich dafür, dazwischen zu gehen, und öffne die Augen. Gleichzeitig rühre ich mich, was nicht unbemerkt bleibt. Seth stürzt sofort an meine Seite und legt seine Finger an meine Wange. »Meres«, flüstert er halb erleichtert, halb panisch. »Wie geht es dir?«

Ich lege sanft den Kopf schief und lächle kraftlos. »Kopfschmerzen«, ist alles, was ich herausbringe.

Die Augen meines Zwillings blitzen mörderisch auf und er dreht sich um. »Hast du Kopfschmerztabletten?«, fragt er gepresst.

Und da realisiere ich, wen ich vor mir habe – und wo ich bin. Wir sitzen in einer altmodischen Kutsche, die in höllischem Tempo über die Straße rast, so heftig werden wir durchgeschüttelt.

Seth und ich sitzen auf einer hölzernen Bank mit dicken dunkelvioletten Sitzpolstern. Uns gegenüber fläzt Artys auf seiner Bank, die Beine ausgestreckt und lang, die Arme entspannt vor der Brust verschränkt. Auf seiner Nase prangt eine viereckige Brille, die oben keinen Rand hat und ihm leicht heruntergerutscht ist. Seine unglaublich türkisenen Augen funkeln mich an, und beinahe habe ich den Eindruck, als wäre er besorgt um mich.

Er trägt ein dunkles Sakko, darunter ein dunkelviolettes Jackett mit altmodischem Stickmuster, und eine schwarze Krawatte sticht über dem weißen Hemd hervor. In dieser Erscheinung sieht Artys nicht mehr aus wie ein tollpatschiger junger Mann, sondern wie ein Mafioso mit krassem Stil.

Artys schiebt eine Augenbraue hoch und schweigt. Stattdessen greift er in eine Ablage an der Holztür und nimmt ein winziges Täschchen heraus. Er wirft es Seth zu und langt anschließend unter seinen Sitz, wo er eine Flasche Wasser hervorzaubert. Auch die wirft er uns zu, bevor er seinen Blick wieder auf die Landschaft außerhalb richtet.

»Warum sind wir in einer Kutsche?«, frage ich verhalten in die Runde, während Seth in dem Täschchen gräbt und ein Blister Schmerztabletten herauszieht. Er reicht mir eine Tablette, zusammen mit dem Wasser, und ich schlucke das Teil herunter.

Da Artys nicht reagiert, wende ich mich an meinen Bruder. Er zuckt mit den Schultern und antwortet: »Ich hab keine Ahnung, Schwesterchen. Dein Schönling hier«, er nickt in Artys’ Richtung, »will nichts sagen, bevor wir angekommen sind.«

»Wir sind in einer Kutsche, weil es das einzige Verkehrsmittel ist, das den Ort erreichen kann, zu dem wir unterwegs sind«, meldet sich Artys. Seine türkisenen Augen starren weiterhin aus dem Fenster, doch ein winziges Schmunzeln umspielt seine Mundwinkel.

»Was für ein Schwachsinn«, grummelt Seth und nibbelt an der Wasserflasche, die ich ihm zurückgegeben habe. Ich versuche mein Glück mit einer weiteren Frage: »Und wieso hast du uns entführt?«

Artys’ Blick schnellt zu mir herüber und für einige Herzschläge sehen wir uns einfach nur an. »Sagen wir der Simplizität wegen, es stand mir nicht frei, darüber selbst zu entscheiden«, antwortet er kühl. Sein Blick flackert, etwas Düsteres mischt sich für einen Moment hinein, das beim nächsten Blinzeln verschwunden ist.

Also wurde er gezwungen? Äußerst schwammige Art, sich auszudrücken, mein Lieber.

Erneut mustere ich seine veränderte Erscheinung. Artys scheint komplett entspannt auf seiner Seite der Kutsche zu fläzen. Das Tippen seines rechten Ringfingers auf seinen Oberschenkel verrät mir jedoch, dass er nicht ganz so gelassen ist, wie es den Anschein macht.

»Sind wir wenigstens noch in der Schweiz?«, brummelt Seth.

Artys nickt, hebt seine Hand und macht eine formvollendete Bewegung damit, die indizieren soll, dass das eine unerhebliche Frage ist. »Natürlich sind wir das.«

»Warum habt ihr ausgerechnet uns entführt?«, rutscht es mir heraus.

Sofort verschließt sich sein Gesicht und er starrt wieder aus dem Fenster. »Das kann ich euch erst sagen, wenn wir am Ziel sind.«

Ich seufze entnervt auf, dann versuche ich mich an der nächsten Frage: »Wer bist du wirklich?«

Artys sieht mich wieder an, sein Blick fest und nun einen Tick amüsiert. Er deutet eine Verbeugung an und stellt sich vor. »Mein Name lautet Artys Pan Tera und ich bin euer zukünftiger Vertrauensschüler am Eiger-Internat.«

Seth und ich sehen uns an. Zukünftiger Mitschüler am Eiger-Internat? Die Augenbrauen meines Zwillings schießen in die Höhe und er schüttelt planlos den Kopf, ergo hake ich nach: »Eiger-Internat? Wie der Berg Eiger bei Grindelwald?«

Artys lächelt unverbindlich und nickt. »Ebenjener. Das Internat ist unvergleichlich exklusiv und aus diesem Grund, hm, ein wenig abgeschieden von der Außenwelt.«

»Bockmist«, knurrt Seth entrüstet. »Du willst uns um die Ecke bringen, du Psycho!«

Ehrliche Irritation ziert das Gesicht unseres Entführers. »Nichts läge uns ferner.«

Just in diesem Moment springt die Kutsche in die Höhe und wir werden wortwörtlich von den Sitzen gehoben. Seths Kopf schlägt an die Decke, ich ziehe den meinen zwischen meine Schultern und versuche, einer Kollision auszuweichen. Artys klammert sich an die Tür, aber damit macht er einen schwerwiegenden Fehler, denn er drückt die Klinke herunter und die Tür springt auf. Erschrocken lässt er los, doch die Tür klappert dadurch weit auf.

Augenblicklich können wir sehen, was für ein Höllentempo wir drauf haben: Der Pfad unter uns rast nur so an der Kutsche vorbei.

Artys greift beherzt nach der Tür und will sie wieder zu ziehen, da poltern wir erneut über ein Hindernis und es hebt uns von Neuem von den Sitzen. Seths Körper schlägt gegen mich. Mir entfährt ein qualvoller Laut und ich rutsche komplett von meinem Platz. Die Kutsche kommt ins Schlingern und ich verliere den Halt, strecke meine Hand nach meinem Zwilling aus, doch er kann sie nicht greifen. Rücklings falle ich gegen die Tür, die Artys bis gerade eben noch versucht hat zuzumachen. Diesmal versuche ich, den Aufprall mit einem simplen Stöhnen zu quittieren. Einen Augenblick später stürze ich aus der Kutsche neben den Pfad ins nasse Gras. Das Stöhnen mutiert zu etwas Seltsamem, denn all die restliche Luft wird bei der Kollision aus meinen Lungen gequetscht. Erst jetzt registriere ich, dass es wie aus Eimern schüttet.

»Diese scheiß Kutsche!«, schreit Artys durch den Regen und springt bei voller Fahrt hinaus. Sein Sprung sieht beängstigend gekonnt aus, als ob er solche Stunts jeden Tag machen würde. Als ob es ihn keinerlei Anstrengung kosten würde, bei dem gewaltigen Tempo nach einem derartigen Sprung die Balance zu halten. Er legt einen Spurt hin, um mich zu erreichen, doch Seth ist schneller. Mein Bruder hat die Tür auf der anderen Seite aufgerissen und ist herausgehechtet, um nur wenige Meter von mir entfernt zu landen.

»Hoch, hoch!«, ruft er mir zu, während er sich so rasch wie möglich aus dem Matsch erhebt. Ich verstehe sofort, was er meint: Das ist unsere Chance zur Flucht! Also rapple ich mich mit seiner Hilfe auf und ignoriere die Schmerzen und den wiederkehrenden Schwindel, so gut es geht. Wir rennen und schlittern über Stock und Stein in die Richtung, aus der wir gekommen sind – was sich problematischer herausstellt, als vermutet. Wir befinden uns in einer bergigen Gegend und der Weg, den wir mit der Kutsche genommen haben, ist faktisch ein Pfad, der sich über den Hügelkamm windet. Der Regen ist so dicht, dass ich nicht weit sehe, und ich rutsche des Öfteren auf dem nassen Gras aus und verliere die Balance. Der Schwindel macht aus der Situation zusätzlich eine heikle Angelegenheit, denn mir ist übel davon und meine Sicht wird durch das ständige Drehen grottenschlecht.

»Wo zur Hölle sind wir?«, keucht Seth hinter mir. Ich antworte ihm nicht und spare mir den Atem für die Flucht.

Ich glaube, einige hundert Meter weiter vorne einen Wald zu erkennen, der sich weit hinab ins Tal erstreckt, und ich halte darauf zu. Wenn wir dort hineingelangen, können sie uns mit der Kutsche nicht folgen. Dann können wir sie abhängen, indem wir Haken schlagen und ins Tal fliehen.

Mein Zwilling muss zu derselben Erkenntnis gekommen sein, denn er folgt mir auf dem Fuße. Doch als ich einen Blick über die Schulter werfe, entfährt mir ein Fluch: »Verdammte Scheiße!«

Artys ist uns dicht auf den Fersen und die Distanz zwischen uns hat sich merklich verkleinert, seitdem wir die Kutsche verlassen haben.

»Tu etwas!«, verlangt er in diesem Moment lautstark hinter uns und ich frage mich, mit wem genau er spricht. Allerdings fordert das Gelände meine gesamte Aufmerksamkeit. Ein gewaltiger Felsbrocken erhebt sich rechts vor uns und ich will ihn nutzen, um dahinter in den Wald abzutauchen. Aber nur wenige Schritte, bevor ich ihn erreiche, glüht der Stein taghell auf.

»Meres! Stopp!«, schreien Seth und Artys gleichzeitig. Mein Bruder schickt mir ein Mentalbild, das mir die Szene nochmals aus seinem Blickwinkel zeigt. Aus seiner Sicht sieht es doppelt und dreifach gefährlich aus.

Mit rudernden Armen versuche ich mein Tempo zu drosseln, doch ich weiß, dass ich nicht mehr rechtzeitig anhalten kann. Das Herz hämmert in meiner Brust, mein Kopf dröhnt und ich spüre die elektrische Ladung auf der Haut: Sie lässt alle meine Haare zu Berge stehen.

Der Blitz schlägt exakt in dem Moment ein, in dem vier Arme nach mir greifen und mich zurückziehen wollen. Durch die Wucht des Einschlags werde ich zurückgeworfen und lande unnatürlich weit hinten im Gras.

»Seth!« Meine Stimme zittert, mein Herz schlägt viel zu stürmisch und es wundert mich, dass ich am Leben bin. Rasende Schmerzen durchzucken mich von Kopf bis Fuß, doch alles, woran ich denken kann, ist mein Zwilling, der unter mir liegt.

Artys, der neben uns gelandet ist, rappelt sich stöhnend in eine sitzende Position auf und hält sich den Kopf. »So war das nicht gemeint«, brummt er verhalten.

Ich lasse mich von Seths Oberkörper gleiten und starre ihn an. Seine Augen sind geschlossen, seine Brust hebt und senkt sich nicht mehr. Eine eiskalte Faust schließt sich um mein Herz und ich beginne zu zittern vor Angst um meinen Bruder.

»Seth!«, schreie ich, diesmal in voller Lautstärke und rüttle an seinen Schultern.

Artys öffnet seinen Hemdsärmel und krempelt das Hemd bis zu den Ellenbogen hoch. Goldene Linien sind auf seiner Haut eingezeichnet und verschwinden unter dem Stoff. Er legt die Hand flach auf Seths Brust, schaut in sein Gesicht und atmet tief ein.

Seine türkisenen Iriden werden gelb.