Wie Sterben geht - Andreas Pflüger - E-Book

Wie Sterben geht E-Book

Andreas Pflüger

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Beschreibung

»Kaum ein Autor kennt die Gesetze und inneren Strukturen der internationalen Geheimdienste so gut wie Andreas Pflüger – und kann so brillant darüber schreiben.« Hans-Ludwig Zachert, Ehemaliger Chef der Spionageabwehr des BKA

Winter 1983. Auf der Glienicker Brücke ist alles bereit für den spektakulärsten Agentenaustausch der Geschichte. KGB-Offizier Rem Kukura – Deckname Pilger – soll gegen den Sohn eines Politbüromitglieds ausgetauscht werden. Mittendrin: Nina Winter, die Kukura als Einzige identifizieren kann. Doch auf der Brücke wird Nina in ein Inferno gerissen, und das Schicksal von ihr und Rem wird zu einer Frage von Krieg und Frieden zwischen den Supermächten.

Drei Jahre zuvor: Nina ist Analystin beim BND und wertet Spionage-Informationen aus. Eine Schreibtischagentin. Bis man ihr mitteilt, dass Pilger, der geheimnisvolle Moskauer Top-Agent des BND, seine weitere Zusammenarbeit von ihr abhängig macht: Er will, dass Nina als seine Führungsoffizierin nach Russland kommt. Sie weiß, dass es die Chance ihres Lebens ist. Doch Nina ahnt nicht, dass sie beim KGB einen Todfeind haben wird. Um zu überleben, muss sie zu einer anderen werden, zu einer Frau, die mit dem Tod tanzt.

Wortgewaltig und mit Lust an virtuoser Action nimmt uns Andreas Pflüger mit in die Welt der Spionage und Gegenspionage auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs. Auf jeder Seite zittert man um seine Protagonistin Nina Winter, folgt ihrer Verwandlung zur Top-Agentin und kämpft mit ihr ums Überleben.

Mit tollem Farbschnitt in der ersten Auflage

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Seitenzahl: 598

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Cover

Titel

Andreas Pflüger

Wie Sterben geht

Roman

Suhrkamp

Impressum

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Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der 3. Auflage der Erstausgabe, 2023.

OriginalausgabeErste Auflage 2023© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagabbildungen: ullstein bild – Süddeutsche Zeitung Photo/Scherl (Glienicker Brücke), FinePic© (Wasser)

eISBN 978-3-518-77755-8

www.suhrkamp.de

Widmung

Für mein Patenkind Luise

Motto

Über die Dinge

Vergiss die Dinge, die aus Sehnsucht sind

Du weißt, du wirst sie nie mehr haben

Das buchstabieren sie mir Tag und Nacht

So halten sie’s mit solchen Leuten

Sieh, wo du bist, such nicht nach Land

auf diesem Meer, auf dem du hüpfst

ein Korken, dabei tonnenschwer

Das buchstabieren sie mit Fäusten

Erst kommt das Sterben, dann der Tod

Doch manchmal ist es umgekehrt

So glauben sie und ahnen nicht

Ich bin schon lang in diesem Haus

gebaut aus dem, was Tote träumen

Mit ihrem letzten Herzschlag Tür an Tür

Ein Postamt gar nicht weit von hier

für Briefe, die nie geschrieben werden.

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Motto

Stop Making Sense

Ninotschka

Die stille Pforte

.

Fast vier Jahre zuvor

Pink Star

Ingenieur der Seele

Anna

Shake, Rattle and Roll

The Smartest Girl of All

Motte

Stukatsch

Mit Wölfen speisen

Meister und Margarita

Tanzen auf dem Mars

Weisses Rauschen

Pythagowitsch

39,7 Grad

.

Ein Jahr später

Scharik

.

August 1980

Fratze

Beten

Jeg the Ripper

In der Tiefe

.

Jetzt

Müll

.

Ende September 1980

Der Zorn Gottes

Somebody Is Loving You

Die Boehnke-Doktrin

Always on Your Mind

Schwarze Schuhe

.

Jetzt

Rama

.

Januar 1981

Der Imker

Der Graue

Totengöttin

Hausbesuche

Sina Denissowa

Hyäne im Streichelzoo

Abels Grab

Kussmund

Wie Sterben geht

Eine Tonne voll

Unglück

Zwei Jahre, ein Blinzeln

Monomach

.

Jetzt

Am liebsten Orangen

Eins, aber zwei

Schreie, dann Stille

Was Tote Träumen

Beste einzige Freunde

Nostalgija

Freunde zum Essen

Einige Bemerkungen

Informationen zum Buch

Wie Sterben geht

Stop Making Sense

Sie wollte immer ewig leben, aber nie unsterblich sein. Bis zu jener Nacht, in der sie geglaubt hatte, sie sei die Frau, um die sich die Erde drehte. Die über kochende Meere tanzte und sie zu Eis erstarren ließ. Weil ihr danach war. Die jedem Wind befehlen konnte, zum Hurrikan zu werden. Oder sich zu legen. All das war ihr wie nichts erschienen, kinderleicht.

Für die Herrin über den Atem der Welt.

Doch jetzt kam die Angst.

Sie stießen durch dichte Wolken. Es wurde dunkel, mitten im Sonnenaufgang, und sie sah Berlin. Gegen sieben waren sie in München-Riem gestartet, wo sie von den Panzerlimousinen direkt vor der Falcon Mystère abgesetzt wurden, laut Kennung Eigentum eines internationalen Logistikunternehmens, einer Tarnfirma. Zum Schutz vor einem möglichen Terrorangriff der RAF hatten Polizeifahrzeuge ihre Maschine auf beiden Seiten mit Blaulicht eskortiert, bis sie in der Luft gewesen waren. Für die drei anderen Passagiere bloß Routine, keinen Blick wert.

Nina saß hinten in einem der dicken Ledersessel, vorne der Präsident, Akten lesend. Neben ihm Julius Boehnke, Chef der Aufklärung, in die FAZ vertieft.

Sie sanken rasch. Unter Nebelfetzen ein amorpher Klumpen Häuser. Schwarze Gewässer, kackbraun hingeschmierte Parks. Schon glaubte Nina, den fauligen Braunkohlemief in der Nase zu haben, den die Stadt ausdünstete. Nichts war trostloser als Berlin im November. Und doch hatte sie sich hier frei gefühlt, ihre Träume ein Sack Flöhe.

Sie war von einer Landung in Tempelhof ausgegangen, aber statt nach Westen abzudrehen, blieben sie beständig auf Kurs, jetzt in allenfalls zweihundert Metern Höhe. Da war die Mauer, dieser offene Cut in der Fresse eines Boxers, der zigmal auf die Bretter gegangen war und doch noch stand. Ihr Pilot gewährte ihnen eine tadellose Aussicht auf den Todesstreifen. Grenzer rissen die Ferngläser hoch, Hunde zerrten an Leinen. Jetzt die Spree, die Oberbaumbrücke, der Landwehrkanal. Kreuzberg, ihr alter Kiez. Panoramablick übers Ost-Berliner Zentrum mit Gendarmenmarkt und Linden. Preußen gähnte grau.

Boehnke wandte kurz den Kopf und schaute zu Nina nach hinten. Sie sah die Schatten über seinem Gesicht, Augen wie Scheinwerfer, nach einer schlaflosen Nacht. Heute war der Tag.

Boehnke hatte nicht daran geglaubt.

Aber Nina.

»Etwas Sightseeing«, sagte Simone Weller, die links von ihr saß. »Der Präsident liebt den antifaschistischen Schutzwall, er motiviert ihn.« Das süffisant, jedoch leiser. Ihre Haare hatten die Farbe von Teakholz nach Sommern in der Sonne. Sie war ungeschminkt, abgesehen von einem Hauch Bienenwachs auf den Lippen, und dünner, als eine Frau ihres Alters sein sollte. Aber sie zählte zu den Menschen, die nicht älter werden, weil sie schon mit dreißig fünfzig gewesen waren.

Weller richtete erst zum zweiten Mal das Wort an Nina. Und die Premiere war hässlich gewesen. Sie leitete die Abteilung SI, der die Sicherheit des Dienstes oblag. Ihren wirklichen Namen kannte Nina nicht, lediglich dieses Pseudonym. So wie sie für Weller Elsa Opel war. Bei der Aufnahme in den Dienst erhielten sie alle eine neue Identität. Niemand wusste, wie der andere in Wahrheit hieß. Bis auf den Präsidenten und Boehnke natürlich. Ninas Pseudonym war vor fünfeinhalb Jahren offenkundig von einem Filmfan ausgesucht worden. Elsa Opel hatte ihr jedoch gefallen. Sie war in Marathon Man so, wie Nina damals gerne gewesen wäre: undurchsichtig und gefährlich. Sie besaß einen kompletten Satz Papiere mit diesem Alias, vom Führerschein bis zum Pass. Elsa Opel war etwas jünger, da Ende Mai auf die Welt gekommen, nicht im Februar.

Nina Winter war sie bloß noch in Gedanken.

Das Brandenburger Tor flutschte unter ihnen weg. Auf der Westseite Ramschbuden, die Mauerplattform leer, der Pariser Platz ein Aufmarschgelände. Die Falcon kippte scharf über die linke Tragfläche, ging auf Westkurs.

»Wir landen in Gatow, auf dem Flugplatz der Briten. Als ob KGB und Stasi nicht wüssten, dass wir da sind«, sagte Weller.

Sie nickte bloß. Die Frau war ein Miststück. Das hatte Nina auf die harte Tour gelernt.

Weller senkte ihre Stimme noch einmal. »Noch nie war das Geschlechterverhältnis in diesem Jet ausgeglichener als heute. Natürlich ist das ein Skandal, immerhin haben wir 1983. Haben Sie je darüber nachgedacht, wie viele Frauen beim Dienst sind, die nicht tippen, übersetzen oder Schnittchen servieren? Die können Sie an einer Hand abzählen. Und dann so jung wie Sie, so schnell. Na, wir zwei wissen ja, was es kostet.«

»Sie müssen keine Schnittchen servieren?« fragte Nina.

Weller lachte leise. »Sie gefallen mir.«

»Sonst bin ich lustiger.«

»Dass Sie nervös sind, verstehe ich, Frau Opel. Ich stelle mir vor, wie es für Sie sein wird, wenn Kukura heute diesen Strich überquert. Sicher sind Sie wahnsinnig stolz.«

»Später vielleicht. Falls alles gutgeht.«

»Sie trauen den Russen nicht?«

»So fragt jemand, der nie dort war.«

Weller zündete sich eine Lord an. »Unsere erste Begegnung verlief leider unerfreulich. Sie werden das professionell sehen, hoffe ich.« Sie rauchte wie eine, die es hasste.

Der Gestank der Rieselfelder war ihre Begrüßung. Die Berliner Knochenbrecherkälte schlug zu. Als sie in der ersten der drei Panzerlimousinen saß, war sie bereits durchgefroren. Boehnke und der BND-Präsident stiegen in die zweite; die Sherpas des Personenschutzkommandos bildeten die Nachhut. Sie fuhren durch Spandau, dann über den fast leeren Kaiserdamm. Nina bekam Kopfschmerzen; sie war die Lichtbrechung des dicken Sicherheitsglases nicht gewohnt. Neben ihr tat Simone Weller, als würde sie dösen. Doch ihr rechter Zeigefinger hatte einen nervösen Tick, tippte Morsezeichen aufs Sitzpolster.

K. U. K. U. R. A.

Das Hotel war in der Budapester, beim Tiergarten. In Ninas Zimmer hätte ihre ganze Münchner Wohnung Platz gefunden. Die anderen hatten Besprechungen beim Innensenat und mit der Berliner Polizei. Nina würde erst abends gebraucht werden. Und nur für eine einzige Sache. Sie zog die Sportklamotten an, lief zweimal die große Parkschleife, ohne sich zu verausgaben. Hinterm Sowjetischen Ehrenmal hängte ein Kilometerfresser sich an sie ran, stieg aus, pumpte. Auf den letzten fünfhundert sprintete sie, duschte im Hotel.

Nina nahm am Zoo die U-Bahn Richtung Schlesisches Tor. Im Abteil der Ausschuss der Nacht. Pennende Punker, Frauen mit Glitzerwimpern und Schmierschminke. In den Gesichtern die Leere danach. Wieder alles gewollt und nichts gekriegt.

In der Wiener war die Gärtnerei schon auf oder immer noch, ihre alte Schorletankstelle nach dem Training auf der Görlitzer Brache. Hard Rock, ein Dutzend Besetzer hingen ab. Sie waren drauf. Jedoch nicht, weil Sonntag war. Die waren immer drauf. Die blaupinkorangehaarige Bedienung tänzelte an Ninas Tisch. Sie studierte vermutlich Soziologie im neunzehnten Semester und träumte von einer Dissertation über Cindy Lauper und das amerikanische Trauma. Nina nahm das Hausfrühstück. Kaffee, Schrippe, steinhart gekochtes Ei.

Sie sah sich in dem großen, halb blinden Wandspiegel. Ihre braunen Locken waren von der Wollmütze plattgedrückt, das Gesicht mit diesem leidigen Ernst, den sie nicht loswurde. Die Wangen zu hoch, der Mund zu klein. Sie mochte ihre Augen, aber hübsch war sie nicht. Interessant vielleicht, das redete sie sich manchmal ein. An einem der Tische wurden Heldenverse deklamiert: der schwarze Block gegen eine Armee von Bullen, vorher im Cheetah guten Stoff eingeschmissen, der Ku’damm ein geiler Steinbruch.

Sie fragte sich, warum sie hergekommen war. Um Abschied zu nehmen? Von welchem Leben? Das hier war lange vorbei. Eine Zukunft hatte sie nicht in der Tasche.

»Willste noch’n Kaffee?«

Sie schrak so zusammen, dass sie den Salzstreuer umwarf.

»Nein, zahlen.« Durch manche Türen ging man zum letzten Mal, ohne es zu wissen. Aber bei dieser war sie sicher.

Draußen lungerten blaulippige Dealer rum. Raben glotzten von den Dächern, der Himmel war wie ausgekotzt. Nina kroch tief in ihren Dufflecoat und malte sich aus, wie es wäre, Berlin abzureißen und an der Côte d’Azur wieder aufzubauen. Beim Kotti winkte sie einem Taxi, fuhr durch die Stadt, zu der ihr als Erstes immer das Wort nie einfiel. Nie satt. Nie großzügig. Nie schwerelos. Nie mehr das, was es einmal war.

Der Kutscher nahm die Ku’damm-Route. Auf den Trottoirs keine Pflastersteine mehr. Die Ladenbesitzer standen draußen und betrauerten leere Schaufensterhöhlen. Wieder ein Festtag für die Frontstadt-Glaserinnung. An der Clayallee protzte das US-Hauptquartier. Um die Ecke war die alte Wehrmachtsvilla, in der B.O.B. untergebracht war, die Berlin Operations Base der CIA. Nach der letzten Nacht hätte Nina vor Müdigkeit speiübel sein müssen, doch sie war wie auf Koks. Ohne nachzudenken, hatte sie sich hinten so hingesetzt, dass sie den gesprungenen Rückspiegel einsehen konnte.

Auf der Argentinischen Allee bemerkte sie den BMW.

Er hielt hundert Meter Abstand, aber sonntagmorgens war das bei dem dünnen Verkehr so unauffällig wie eine Nonne an einem Nacktbadestrand.

»Fahren Sie links in die Onkel-Tom-Straße«, sagte Nina.

»Und dann?«

»Über die Sven Hedin zum Mexikoplatz.«

»Ist ja Ihre Kohle.«

Der BMW folgte ihnen nicht.

HVA? Unsinn, die Hauptverwaltung A der Stasi fuhr keine BMWs, genau wie der KGB.

Auf der Potsdamer Chaussee war er wieder da.

CIA? Unwahrscheinlich. Die hatten in Berlin so viele Leute, dass sie mehr als ein Auto eingesetzt hätten.

BND.

Der hochtourige Wagen musste zu einem der QBs gehören, den Observationseinheiten, die Simone Weller unterstanden.

Und ohne deren Befehl keine Beschattung.

Wussten sie von Zarizyno?

Unmöglich. Dann wäre ich schon weg.

Im Radio liefen die Talking Heads, Stop Making Sense.

»Machen Sie’s ruhig lauter«, sagte sie zum Kutscher.

Am Großen Wannsee bog der BMW zum S-Bahnhof ab und verschwand. Auf der Chaussee, im Sommer eine Staufalle für Touristenbusse, kam ihnen kein Wagen mehr entgegen. Dann sah Nina nur noch kahlen Wald. Im Abzweig nach Nikolskoe und in der Zufahrt zum Jagdschloss Glienicke standen, halbgar versteckt, Polizeifahrzeuge. Etwas weiter hielt der Taxifahrer an der Rotunde.

»Endstation. Soll ich warten?«

»Es kann dauern.«

»Is eh tote Hose.«

Beim Aussteigen suchte sie die Chaussee nach dem BMW ab. Nichts. Sie wandte sich um und stand vor der bestgesicherten Brücke der Welt.

You are leaving the American Sector.

Auf der Seite zum Jungfernsee war eine Wachbaracke. Zwei blutjunge West-Berliner Grenzpolizisten beäugten Nina. Der Schlagbaum war zu. An der Mittelstrebe zwischen den beiden hinteren Stahlschwingen prangte ein protziges DDR-Emblem. Darunter ging ein Eisengatter quer über die gesamte Fahrbahn. Wegen der Wölbung konnte man nicht ganz bis zum anderen Ende blicken. Beidseits die Flachdächer von Grenzhäusern. Es war so still, dass Nina die rote Fahne an der Potsdamer Arkade knattern hörte. Sie ging die Stufen zum Uferweg hinunter und setzte sich frierend auf eine einsame Bank. Der Wind wirbelte Eiskristalle in ihr Gesicht und riss ihren Atem so schnell weg, dass er keine Wolke bilden konnte. Es roch nach Schnee, aber noch war keine Flocke gefallen. Auf der gegenüberliegenden Seite Männer mit Ferngläsern. Keine Grenzer. HVA oder KGB. In ihrer Berliner Zeit war sie öfters hier gewesen, im Sommer, wenn sie mit ihrer Mutter spazieren ging. Oder etwas anderes atmen wollte als Beton. Jetzt fiel ihr zum ersten Mal auf, dass die Brücke im Ost- und im Westteil verschieden angestrichen war, dunkelgrün hier, lindgrün dort. Auf dem See schaukelten Schollen, so früh im Jahr, von der gleichen Nicht-Farbe wie die Grenzschutzboote, der Himmel. Dazwischen Schwäne, Köpfe im Gefieder, wie ausgestopft.

In der Regel tauschte man Agenten auf der Transitautobahn aus, im Niemandsland zwischen Hessen und Thüringen. Aber die CIA hatte auf die Glienicker Brücke gedrängt, weil sich das Gelände gut sichern ließ und die Alliierten über ihre Potsdamer Militärmissionen ungehindert das östliche Vorfeld ausspähen konnten. Nina hörte Bellen, Zweige brechen. Männer kamen mit Hunden aus dem Gehölz.

Ohne ihre Funkgeräte hätten es Zivilisten sein können. Sie patrouillierten am Ufer. Entfernten sich.

Heute würde die Brücke zum zweiten Mal die Bühne für ein Agentenspektakel sein. Rudolf Iwanowitsch Abel und der über Russland abgeschossene U2-Pilot Francis Gary Powers waren die Ersten gewesen, am 10. Februar 1962, um 08:50 Uhr. Nina hatte alles gelesen, was sich im BND darüber finden ließ. Sogar die Witterung war in dem Dossier vermerkt: zwei Grad, stark bewölkt, Niesel mit Schneegraupel.

Es war ein höchst ungleicher Handel gewesen. Einer war ein Meisterspion, aber der andere bloß ein Facharbeiter, hatte Rudolf Abels Verteidiger Donovan später gesagt. In gut zehn Stunden würden hier erneut zwei Männer aneinander vorbeigehen, die nicht die geringste Gemeinsamkeit besaßen. Außer dass beide Russen waren.

Der eine ein Held, der andere eine Bestie.

Nina studierte die Grenzbefestigungen auf der Landzunge am Glienicker See. Hinter der Uferböschung der engmaschige, elektrisch geladene Zaun, gute drei Meter, dann der verminte Todesstreifen, schließlich die »Hinterlandmauer«. Sie sah die Stasischule. Beim Austausch von Abel gegen Powers hatte der KGB die Villa als Beobachtungsposten genutzt. Sicher würden heute Abend Scharfschützen dort in Stellung liegen.

Ein Mann setzte sich zu ihr. Unter der russischen Fellmütze Pausbacken, schneeweiß, faltenlos. Sein Augenblau war blass und ging schon ins Grau, die fröhliche Knollennase triefte. Mit angeklebtem Bart und ein bisschen Rouge hätte er im KaDeWe als Santa Claus anheuern können.

»Sind Sie aus Berlin?« fragte er. Sein Deutsch war exzellent, abgesehen von dem amerikanischen Akzent.

»Nein, Touristin.«

Nina wollte, Santa hätte sich eine andere Bank ausgesucht. Immerhin ließ er einen Meter Luft.

»Es ist – wie heißt das so schön bei Ihnen? – am Arsch der Welt«, erklärte er. »Aber frühmorgens und am Abend herrscht Betrieb, wenn die Wagen unserer Militärmissionen zwischen Berlin und der Zone pendeln. Onkel Joe hat auf der Potsdamer Konferenz in einem schwachen Moment unterschrieben, dass sie nicht kontrolliert werden dürfen.«

Da hast du deinen BMW, dachte Nina.

»Sind Sie sicher, dass Sie Touristin sind?« fragte er.

»Sind Sie sicher, nicht auf der falschen Bank zu sitzen?«

Santa lächelte. »Elsa Opel hat etwas, Marathon Man, wie ich annehme. Beim BND müssen Sie vor fünf Jahren eingeschlagen sein wie eine Cruise Missile, sonst wären Sie nicht nach kurzer Zeit Verbindungsführerin von Rem Kukura geworden, einem Pink Star, dem besten Agenten, den Pullach je hatte. Wie ist es für Sie, dass er heute gegen Jegor Beljakow ausgetauscht wird, für den man in Kalifornien bereits die Giftspritze aufgezogen hatte? Fühlt es sich wie ein Erfolg an oder wie Versagen?«

»Dieses Gespräch ist beendet«, sagte sie und stand auf.

»Welches Gespräch denn?« herrschte er Nina an. »Seien Sie gefälligst ein bisschen dankbarer. Immerhin bin ich der Mann, der auch Kukura vor der sicheren Hinrichtung bewahrt hat.«

»Was wollen Sie?«

»Wir liefern Beljakow, dafür hat uns der BND versprochen, dass wir Kukura melken dürfen. Wenn er nur halb so viel über das sowjetische Agentennetz in den USA weiß, wie behauptet wird, lade ich Sie ins beste Restaurant von München ein. Aber wer garantiert uns, dass Kukura reden wird? Sie?«

Nina schwieg.

»Sehen Sie. Ich will nur sicher sein, dass wir keinen lahmen Gaul gekauft haben.«

Über ihr Krähen, kreisend, als wäre sie Aas.

Er musterte sie. »Wie ist Zarizyno im Sommer? Ich war nur im Winter da.«

Etwas rutschte unter ihr weg. Sie saß wieder auf der Bank, hörte Santa. »Unsere Moscow Station weiß, was Sie vor zwei Jahren dort getan haben. Es ist amüsant, dass man beim BND nach wie vor so große Stücke auf Sie hält. Die haben ziemlich romantische Vorstellungen von Ihnen.«

Tausend Sätze fielen ihr ein. Und keiner taugte was.

»Dieses Familienfest von vier Geheimdiensten findet heute allein aus einem Grund statt: Ihretwegen. Sie haben vertuscht, was wirklich zu Kukuras Enttarnung und Verhaftung geführt hat. Ehrlich: Das hätte ich an Ihrer Stelle auch. Aber was, wenn es rauskommt? Die Antwort kennen Sie so gut wie ich.«

Ihr war, als würde sie nackt vor Santa in der Kälte stehen.

»Falls Kukura nicht mit uns kooperieren will, kriege ich von Ihnen jeden verfluchten Bericht aus Ihrer Moskauer Zeit. Und jeden, den Sie unterschlagen haben. Denn ich bin überzeugt, dass Sie Pullach noch viel mehr verschweigen.«

»Das wäre Hochverrat«, brachte sie heraus.

»Sie wissen sicher, dass dort im Wasser Stahlreiter sind, um Schwimmer aufzuspießen. Daran sehen Sie: Man kann fast am Ziel sein, aber dann erwischt es einen doch.«

Als er aufstand und ging, wollte sie ihm folgen und ihm das Genick brechen. Diesen Hass fühlte Nina auf der ganzen Fahrt zurück, jede Sekunde, noch in der Hotellobby. In der Stille das Klingeln einer Aufzugtür. Sie hörte Lachen aus der Bar dringen. Ein Männerzirkel, auch hier Heldenverse; Deals, Tricksereien, Bilanzen. Kukura hatte erzählt, dass er als KGB-Agent einmal im New Yorker Harvard Club gewesen war. Ich saß mit meinem billigen Anzug auf einem knallroten Ledersofa. Die Gipsbüsten von römischen Konsuln haben mich beglupscht. Goldene Aschenbecher, goldene Lampen, auf dem Klo Handtücher mit Monogramm. Ich hörte ihr großmäuliges Gerede über Börseninvestments und Frauen, die sie ins Bett gekriegt hatten, und dachte: Wer hier freiwillig lebt, darf an nichts glauben, außer an Geld und Sex.

Nina fuhr in den zehnten Stock. Im Zimmer starrte sie den Teppichvelours an, das braun-orange Farblabyrinth. Sie setzte sich aufs Bett, entsperrte das Schloss ihres Diplomatenkoffers und nahm die Handakte aus dem verborgenen Fach.

STRENG GEHEIM

13. November 1983

Ort: Berlin/Wannsee. Fachwerkbalkenbrücke auf vier Stützen. Eine Durchfahrtsöffnung für Schiffe und zwei Seitenöffnungen. Stützweite der Durchfahrtsöffnung: 73 m, der Seitenöffnungen: je 36 m. Durchfahrtsweite durch die Hauptöffnung: 60 m, durch die beiden Seitenöffnungen: 21 bzw. 16 m. Zonengrenze verläuft durch die Brückenmitte; im Norden Schwenk Richtung Krughorn, im Süden Linksknick zum Jagdschloss hin.

Personen: Rem Kukura. KGB, Erste Hauptverwaltung, Dienst I. Aufenthalt zuletzt: unbekannt.

Jegor Beljakow. Sowjet. Konsulat San Francisco. Vater: Konstantin Beljakow, Mitglied des Politbüros des ZK der KPdSU. Aufenthalt J.B. zuletzt: Folsom State Prison, Kalifornien.

Beteiligte Parteien: BND, CIA, KGB.

Assistenz: US-Militärmission Potsdam, BKA, WaPol, MFS, VP.

Sicherung Ost: Scharfschützen, Grenzboote, Speznas.

Sicherung West: 4 Scharfschützen (U.S. Army), GSG 9.

Austausch: 22 Uhr.

Identifikation Kukura: Elsa Opel. BND, Abt.3, Referat 32F.Finished Intelligence.

Sie las es wieder.

Wieder und wieder.

Alles stimmte. Aber nichts ergab mehr Sinn.

Sie ging zum Fenster. Jetzt erst sah sie den Schnee. Er fiel so dicht, dass sie das nahe Brandenburger Tor nur noch ahnte. Es war noch nicht einmal halb zwei, und die Sonne verramschte schon ihr letztes Licht.

Ninotschka

Sie fuhren in derselben Formation wie am Morgen. Die Stadt war weiß. Streusalz knirschte unter den Hartgummireifen des dreieinhalb Tonnen schweren Panzers. Flocken rasten auf der Autobahn wie Geschosse auf die Scheinwerfer zu. Vor ihrem Aufbruch hatte Boehnke sie informiert, dass Jegor Beljakow in Tempelhof gelandet und unterwegs zur Brücke war.

Aber auch Rem Kukura war hier.

Durch einen Scout der US-Militärmission wussten sie, dass um halb acht vom sowjetischen Flugplatz Eberswalde-Finow, vierzig Kilometer im Norden, eine Fahrzeugkolonne gestartet war. Auf der Potsdamer Seite hatte man im Grenzgebiet eine Ausgangssperre für alle Bewohner erlassen, die bis Mitternacht gelten sollte. Volkspolizei patrouillierte durch das Villenviertel. Seit einer Stunde standen drei schwarze Saabs auf der von der Stasi abgeriegelten Straße hundert Meter hinter den östlichen Grenzhäuschen.

So nah sind wir uns. Nur noch ein paar Schritte.

Als ob wir uns jemals fern gewesen wären.

Die Chaussee war wie ausgestorben und schon am Rathaus Wannsee für den Verkehr blockiert. Nach zwei Kontrollstellen langten sie schließlich bei der Brücke an. Nina sah Beamte der BKA-Sicherungsgruppe, Trommelrevolver unter den offenen Jacken. Bei ihnen Sturmhauben-Männer, GSG 9. Sanitäter an einem Ambulanzwagen. Schutzpolizei mit Maschinenpistolen. Auf dem Dach der Wachbaracke ein Scharfschütze, unter dem weißen Ghillie kaum zu sehen.

Die Brücke lag im Dunkel. Auf dem See tanzten die Lichter von Booten im wirbelnden Schnee. Hier war sie, die Bühne für die größte Show, die der Kalte Krieg zu bieten hatte.

Sie gingen zu Richard Wolf, dem Chef der Spionageabwehr des BKA. Einige seiner Leute waren bei ihm. Er plauderte mit dem US-Botschafter und einem Nina unbekannten Mann, der sich als Unterstaatssekretär des State Departments erwies und den Händedruck eines Waschbären besaß.

Sie nickte Wolf zu, als würden sie sich bloß flüchtig kennen. Seine schwarzen Augen waren forschend wie immer, Schlitze nur, als würde er direkt in die Sonne blicken.

»Ich fragte Herrn Wolf eben, wieso das Bundeskriminalamt bei Ihnen die Spionageabwehr übernimmt, wenn Sie doch den BND haben«, sagte der Botschafter.

»Die dürfen spionieren, aber nicht ermitteln und schon gar keine Festnahmen durchführen«, erwiderte Wolf. »Das ist bei Ihnen mit der CIA und dem FBI nicht anders.«

»Dafür haben wir die hübscheren Sekretärinnen«, konterte Boehnke und haute Wolf auf die Schulter.

Weller lachte mit den Herren. Nina schämte sich für sie.

Sie sah Beljakow in Handfesseln aus einem VW-Transporter steigen. Ein Polizist schnarrte: »When you try to run away we fire.« Beljakow grinste. Er hatte ein Gesicht wie ein schlechter Traum. Nina kannte Männer wie ihn, Männer mit Vätern wie seinem. In Moskau hingen sie in der Bar des National rum, auf dem Tisch dicke Dollarrollen, dabei kriegten sie alles umsonst. Wenn ihr Stolichnaya nicht rasch genug nachgeschenkt wurde, drückten sie den Kopf der Kellnerin johlend in die Spüle. Oder taten ihr Schlimmeres an. Um Mitternacht ließen sie sich zum Dom Kino chauffieren, wo die neuesten Hollywoodhits allein für sie liefen und ihre Malinas und Nataschas giggelten, wenn sie ihnen unter die kurzen Röcke langten. Jeg the Ripper hatten amerikanische Zeitungen Beljakow genannt.

Auf der Fahrbahnmitte hatte man ein Periskop aufgestellt. Ein Polizist ließ Nina an das Infrarot-Okular. In zwanzigfacher Vergrößerung sah sie auf der Potsdamer Seite Offiziere Fotos schießen, rauchen. Melder spritzten hin und her, salutierten.

Hüben und drüben mussten an die zweihundert Personen mit dem Austausch beschäftigt sein. Alles für nur zwei Männer, von denen der eine Ehre besaß und der andere die Giftspritze verdient hätte.

»Die Offiziere sind Sowjets«, hörte sie den Polizisten.

Weller kam. »Sie tragen Abzeichen der 35. Luftsturmbrigade Cottbus, dürften jedoch von der Dritten Hauptverwaltung des KGB sein.«

Es entstand Bewegung. Zwei DDR-Transporter fuhren auf die Brücke und stellten sich ein Stück hinter der Grenzmarke quer, sodass nur ein enger Durchlass blieb. Ninas Hände waren klatschnass. Sie trat vom Periskop zurück.

»Sie haben noch fünfzehn Minuten, die Russen sind immer auf die Sekunde pünktlich.« Weller zündete sich eine Lord an und hielt Nina die Packung hin.

Sie schüttelte den Kopf.

»Doch, Sie wollen.«

Weller gab ihr Feuer. Sie saugte an der ersten Zigarette ihres Lebens, als wäre sie Kettenraucherin. Der Schnee stäubte jetzt so fein, dass er wie ein Nebel war.

»In Gedanken haben Sie es doch tausend Mal getan«, sagte Weller. »Sie gehen mit Beljakow auf die Brücke, bis zum Strich. Den können Sie nicht verfehlen, er ist extra für Sie vom Schnee freigeräumt worden. Wenn Sie Kukura klar identifiziert haben, geben Sie uns das Zeichen. So halten es die Sowjets auch mit Beljakow; die wollen bloß sichergehen, dass wir ihnen keinen Doppelgänger unterjubeln. Die beiden gehen gleichzeitig los. Sie nehmen unseren Mann in Empfang und spazieren cool mit ihm hierher. Um Mitternacht feiern wir im Kempinski.«

Wellers ruhige Art tat ihr gut. Sie hatte diese Stimme schon in ganz anderen Tonlagen gehört. Aber als Frau hätte Weller es nie in so eine Position geschafft, ohne je über einen Herrenwitz gelacht zu haben.

Ohne so hart zu sein, dass ich in den Verhören zitterte.

Dann fühlte Nina sich, als hätte man ihr ins Gesicht getreten. Sie sah Santa. Er stieg fidel aus seinem BMW, absolvierte einen launigen Begrüßungsparcours.

»Ich weiß, es wäre Ihnen wohler, wenn Männer von uns bei Ihnen wären«, kam Wellers Stimme zurück. »Aber das war die Bedingung der Sowjets: je eine Person auf beiden Seiten. Und Sie sind die Einzige, die Kukura identifizieren kann.«

»Wer ist das dort?« fragte Nina.

»Carter McGhee, Chief of Berlin Station der CIA. Kommen Sie, ich mache Sie bekannt.«

Schon fasste Weller sie am Arm.

Nina dachte kurz daran, sich Boehnke anzuvertrauen. Aber Boehnke war der BND. Das, was sie in Moskau getan hatte, in Zarizyno, wäre ihm kein tröstendes Wort wert, keinen Drink in seinem Büro, kein Gespräch über die Artistik eines Lebens, von dem der Tod nur 9 mm entfernt gewesen war. Ebenso gut hätte sie von der Glienicker Brücke springen können.

»Ah, das ist also die berühmte Elsa Opel«, meinte McGhee, ohne seine Fluppe aus dem Mundwinkel zu nehmen. »Was für ein Wetter. So scheißkalt war’s zuletzt in Zarizyno.« Er hatte jede Menge Spaß.

Die eine Nina hoffte inständig, dass Kukura McGhee geben könnte, was er wollte. Diese Nina war so naiv wie an dem Tag, an dem sie mit neunzehn aus ihrem Elternhaus fortging. Aber die Nina, die in Moskau gelernt hatte, auf einer Spinnwebe zu balancieren, wusste, dass das unmöglich war. Dass Kukura aus einem einzigen Grund gleich über diesen Strich gehen würde: weil sie alle Welt belogen hatte. Das BKA, den BND, die CIA.

Und sich selbst.

Der Moment der Wahrheit war in so weite Ferne gerückt, dass sie sich eingeredet hatte, er käme nie. Kukura würde jetzt traurig lächeln und sagen: Ach, Ninotschka, du weißt doch, es ist besser, ein Mal zu sterben, als ständig den Tod zu erwarten.

»Ich hätte eine hübsche Geschichte für Sie, Frau Opel, die wird Ihnen gefallen«, sagte McGhee. »Vor ein paar Jahren hat ein Überläufer uns berichtet, dass er zusammen mit Kukura in der KGB-Residentur der sowjetischen Mission in Mexico City stationiert war. Ein Amerikaner hat sie kontaktiert und wollte ein Treffen. Kukura ist hingegangen. Es war in irgend so einer Kaschemme. Eine geladene Pistole hat vor dem Mann auf dem Tisch gelegen. Er meinte, er hätte eine Zeit in Russland gelebt. Zuerst in einem Moskauer Hotel, dann hätte man ihm Arbeit in Minsk gegeben, in einem Kombinat, das Radios produzierte. Er hätte die Nichte eines KGB-Offiziers kennengelernt und sie geheiratet. Sie habe ausreisen dürfen; seit der Rückkehr in die Staaten würde er mit der Frau und der gemeinsamen Tochter in Texas leben. Da müsse er weg. Das FBI würde ihn rund um die Uhr observieren. Er hätte Todesangst und wolle zurück in die Sowjetunion, doch die hätte den Visumsantrag abgelehnt. Kukura ließ den Spinner sitzen, so hat er es erzählt.« McGhee trat seine Zigarette aus. »Der Mann hieß Lee Harvey Oswald, und es trug sich im September 1963 zu, zwei Monate bevor er in Dallas John F. Kennedy das Hirn aus dem Schädel geblasen und es auf Jackies pinkem Chanelkostüm verteilt hat. Schätze, dass wir Ihrem Pink Star was schulden. Ohne ihn wäre dieses scheißliberale Harvard-Weichei Präsident geblieben und dem Iwan noch viel tiefer in den roten Arsch gekrochen.«

Niemand sagte ein Wort.

Nina sah, dass der amerikanische Botschafter kreidebleich geworden war. Doch er wagte nicht, den Mund aufzumachen. Mehr musste sie über McGhee nicht wissen.

»Na ja, Geschichten, wer weiß, ob sie wahr sind«, sprach er weiter. »Ich kenne Leute, die schwören, dass Rem Kukura gar nicht existiert und nur ein Phantom ist, das der KGB erfunden hat.« McGhee sah Nina an. »Sie sind die Einzige, die es besser wissen könnte. Sagen Sie uns: Was ist er für ein Mann?«

Vernichten kannst du mich. Aber demütigen nicht.

»Vor allem ist er kein ekelhafter Scheißkerl, der es amüsant findet, dass eine junge Frau, die Mutter von zwei Kindern, die Ermordung ihres Mannes mit ansehen musste.«

Augen wie die von McGhee hatte Nina noch nie gesehen.

Da wurde die Brücke von beiden Seiten taghell angestrahlt. Es war, als würde sie aus einem schwarzen Granitblock gefräst. Der Rest der Welt ein großes Nichts.

Sie nahm jedes Detail so deutlich wahr, wie sie es bloß von Filmen kannte. Beljakow wurde zu ihr geführt. Man nahm ihm die Fesseln ab; er rieb sich grinsend die Handgelenke, ließ die Fingerknöchel knacken. Weller nickte Nina zu, im Gesicht das Bedauern, dass sie die Karriere einfach weggeschmissen hatte. Der Schlagbaum schnellte hoch. Sie setzte einen Fuß vor den anderen und wusste: Keinen einzigen Schritt würde sie jemals vergessen. Sie ging mit Beljakow auf die quergestellten Autos zu. Es waren Barkas mit Kastenaufsätzen, wie sie von der Stasi für Gefangenentransporte benutzt wurden. Der eine mattgrau, der andere beige, mit einem Kratzer auf der Beifahrertür und zu wenig Luft im rechten Vorderreifen. Sie bewegte sich eckig, Beljakow stolzierte dicht neben ihr. Noch immer schien außer ihnen niemand auf der Brücke zu sein. Die Flakscheinwerfer grellten sie direkt an, sie musste die Augen zusammenkneifen. Nina warf Beljakow einen Blick zu. Dessen Halsader puckerte vergnügt. Im Geist saß er morgen um diese Zeit in der Bar des National mit Malina-Natascha im Arm. Der Schnee war bis zur Brückenmitte unberührt, weiß wie die Haut einer Geisha.

Noch zwei Schritte.

Einer.

Sie standen am Grenzstrich.

Er war gefegt.

Zwischen den Barkas tauchte ein Mann auf, etwa fünfzehn Meter von Nina entfernt. Den hohen Wangen nach ein Sibirier. »Ich soll Sie von Ihrem Patenonkel Alexander Romanowitsch grüßen«, sagte er mit seltsam fisteliger Stimme auf Russisch.

»Mein Patenonkel heißt Denis Maximowitsch«, antwortete Beljakow.

Der Russe lächelte und verschwand.

Kam zurück.

Rem.

Sein schwarzes Haar war raspelkurz rasiert. Die Wangen so hohl, dass seine Augen wie die eines Außerirdischen wirkten. Er hatte viel Gewicht verloren. Aber sein Lächeln erinnerte sie an den Tag im Gorkipark, wo er sie zum ersten Mal Ninotschka genannt hatte. Sie wusste, er hatte zwei lange Jahre fest daran geglaubt, dass sie ihn retten würde. Und hier war sie.

Nina drehte sich um, starrte auf der Westseite gegen eine Mauer aus Licht. Sie hob die rechte Hand. Rem und Beljakow setzten sich in Bewegung. An Rems Mantel waren alle Knöpfe abgeschnitten. Einer der Schnürsenkel hing runter. Ihr schien, als würde sie sich wie ein Kreisel drehen, immer schneller und schneller. Die beiden Männer waren auf gleicher Höhe, gingen blicklos aneinander vorbei.

Fünf Meter, dann würde sie Rem in die Arme schließen.

Er stolperte. Im ersten Augenblick dachte sie, er wolle sich bücken, um den Schnürsenkel zuzubinden. Doch er krümmte sich, wurde dann nach hinten gerissen. Ihre Blicke trafen sich. Rem streckte die Hand nach ihr aus. Seine Schläfe wurde von Geisterhand rot angemalt. Nina rannte los, hin zu ihm. Eine Eisenfaust prügelte auf ihren linken Arm ein. Trotz der dicken Lederhandschuhe waren ihre Finger plötzlich eiskalt.

Irgendwo ein Schrei. War sie das? Nina stürzte auf die Knie. Weitere Schüsse. Kugeln wirbelten den Schnee um sie herum auf, ziselierten wundersam schöne Ornamente ins Weiß. Der Russe zerrte den leblosen Beljakow hinter die Fahrzeuge. Eine siedend heiße Manschette quetschte sich um Ninas Hals. Sie robbte auf den Ellbogen zu Rem, wollte sich über ihn werfen, ihn mit ihrem Körper schützen.

Aber er war nicht mehr da.

Weggezaubert.

Sie wurde gewahr, dass sie sich gedreht hatte und mit dem Gesicht zur Westseite lag. Als sie sich herumwälzte und Rem sah, lag er auf dem Rücken. Er bewegte kraftlos die Arme, als wollte er einen Schneeengel machen.

Irgendwie kam sie hoch. Unter ihr federte die Fahrbahn wie ein Trampolin. Nina hatte ein Pfeifen im Ohr, das sie verrückt machte. Die Brücke stand auf dem Kopf. Ihr Stahl verschmolz mit dem Asphalt und dem Schnee zu einem dreidimensionalen Gemälde von Baselitz. Es gab kein Oben und kein Unten mehr, kein Nah oder Fern. So musste es im Weltraum sein, schwerelos. Dann hämmerte die Erdanziehung sie auf den Boden. Sie wog plötzlich Tonnen. Dichter Rauch, überall. Blutgeschmack. Sie tapste schwerfällig einen Schritt, ohne zu wissen, wohin.

Jetzt eine Erschütterung, so ungeheuer, dass Nina sie bis in die Zähne spürte. Sie wurde wieder leicht, schwebte, kam erst zu sich, als sie ins Wasser eintauchte.

Die Kälte war ein Stromstoß mit tausend Volt. Ihr schwerer Mantel zog sie hinab. Sie kämpfte gegen die Tiefe, ruderte mit den Armen, trat wild um sich. Weil sie den Sturz nicht hatte kommen sehen und nicht die Luft angehalten hatte, war Ninas Sauerstoff verbraucht.

Sie stellte sich die letzte Runde der zehntausend Meter vor, weit vorn die Führende, die in der Kurve den Sprint anziehen würde. Nina war chancenlos in die Verfolgergruppe eingekeilt. Doch sie rammte sich mit den Ellbogen in eine winzige Lücke. Stieß schnell nach außen und sah die verzerrten Gesichter der anderen, die stieren Blicke. Ihre Lunge füllte sich nicht mehr mit Luft, sondern mit Schmerz, aber sie holte auf, Meter um Meter, hörte vor sich bald das Hecheln der Führungsfrau, den schlaffen, abgenutzten Atem, und wusste, sie würde mit einer Körperlänge Vorsprung den Zielstrich überqueren.

Nina starrte hoch zur Wasseroberfläche. Dort war es so hell, als tauchte die Sonne in den See. Etwas Schwarzes schoss auf sie zu und zog einen Kometenschweif aus Licht hinter sich her. Der Komet schrammte über ihren linken Arm, der zuvor fast taub gewesen war. Jetzt explodierte ein Brandsatz in ihm, jede Zelle eine Wunde.

Dann war sie oben.

Der komplette West-Berliner Teil der Brücke war weg, die andere Hälfte ragte ins Nichts. Um sie brannte das Wasser; es war so heiß, dass Nina der Schweiß in Strömen übers Gesicht lief. Ihre Muskeln hatten sich in schmelzendes Eis verwandelt. Kosmischer Staub erfüllte die Luft, ein Meteoritenschauer aus grünem, gelbem, pinkem Feuer regnete von einem arktischen Himmel. Weit vor ihr war etwas im Wellenfeuer.

Ein Körper. Er bewegte sich. Ging unter.

Tauchte wieder auf und kämpfte wie sie ums Überleben.

Es gab eine Zeit, da fiel Atmen mir unendlich schwer. Aber jetzt habe ich mich so daran gewöhnt, dass ich es vermissen würde.

Das hatte Rem in Moskau gesagt. Am Tag des Wahnsinns.

Sie schwamm zu ihm. Quälend langsam. Da hörte sie über sich lautes Stöhnen. Sie hob den Blick. Der Potsdamer Teil der Brücke neigte sich, die Stahlträger hielten das freischwebende Gewicht nicht länger. Entsetzt sah sie, dass die beiden Barkas ins Rutschen gerieten und unmittelbar über ihr zum Rand des Torsos schlitterten.

Kippten.

Sie machte unbeholfene Kraulschläge, die Hände patschten bloß aufs Wasser. Einer der tonnenschweren Giganten schlug dicht neben ihr auf, verfehlte sie um Haaresbreite. Sie wurde von einer Riesenwelle hinaufgewuchtet, hing einen jagenden Herzschlag lang frei in der Luft, durchströmt von dem Glück, nicht zermalmt worden zu sein.

Dann sprang die Panikmaschine an.

Mit Urgewalt wurde sie in die Tiefe gerissen, rasend schnell, als hinge sie an einem Fahrstuhlkabel. Eine Ewigkeit verging, bis sie wusste, was mit ihr geschah: Die Kapuze des Dufflecoats hatte sich in einem der Seitenspiegel des Barkas verfangen.

Das Fahrzeug traf auf den Grund. Verzweifelt versuchte sie, an die Kapuze zu gelangen. Ich muss den Mantel ausziehen! Sie fand die Schlaufen und Knöpfe nicht. Dann schoss Nina in den Kopf: Die Handschuhe! Ich habe die Handschuhe noch an!

Was für eine elende Qual, dieses nasse, vollgesogene Leder loszuwerden, ohne jedes Gefühl in den Fingern.

Schaffte es.

Nina strampelte nach oben, kotzte Wasser und hielt sich an einer dünnen Scholle fest.

Wo war Rem?

Sie schrie seinen Namen, bis nur noch ein Wimmern aus ihr entwich, das Fiepen eines verendenden Tieres.

Das Stückchen Scholle, das sie umklammert hielt, zerbrach. Ihr Gehirn befahl Schwimmbewegungen, doch die Arme und Beine waren längst geschmolzen. Ihr ganzer Körper löste sich auf, während sie auf ewig in die Tiefe glitt. Zuletzt sah sie, wie sie auf dem Donskoi-Friedhof Rems kalte Hände in ihre nahm. Hörte sich sagen: Wir sehen uns in Zarizyno. Alles wird gut, das verspreche ich dir. Dann rannte sie dort in diese Finsternis ohne Ende, in der Brust ein Loch, so groß, dass die ganze Welt darin verschwunden war.

Die stille Pforte

Fast vier Jahre zuvor

Beim Stauwehr Oberföhring sah Nina zum ersten Mal auf die Uhr. Sie war zwei Minuten hinter ihrer besten Zeit, und noch gut vier Kilometer lagen vor ihr. Obwohl ihre Muskeln bereits sauer waren, zog sie das Tempo an. Auf dem Eisbach-Parcours an der Isar sah sie um diese Uhrzeit keinen Menschen. Getier floh lautlos ins Gehölz. Sie lief beim Deutschen Museum aus, rang mit hängendem Oberkörper nach Atem, die Fäuste in die Seiten gestemmt. Mit der Brechstange eins zwölf gutgemacht. Mehr war nicht drin, nach Nächten, in denen sie kaum Schlaf gefunden hatte. Nina war spät dran, kaufte nach der schnellen Dusche eine Leberkäs-Semmel und futterte sie im Auto. Beim Tierpark wurde sie geblitzt, aber da das Kennzeichen gefälscht war, würde sie nie einen Strafzettel sehen.

Heute war ihr dreißigster Geburtstag. Vor fünf Jahren hatte sie mit Freundinnen gefeiert, durchgetanzt. In Berlin. Abends würden die Eltern anrufen. Ihrer Mutter hatte sie erzählt, dass sie bei der Bundesvermögensverwaltung sei. Kind, und dafür hast du studiert? Doch ihr Vater wusste natürlich, wofür das stand.

Herzlichen Glückwunsch, Nina.

Pullach war so tot wie ein überfahrenes Eichhörnchen. Sie fuhr längs der mit Stacheldraht bewehrten Sichtbetonmauern, die sich über sechshundertfünfzig Meter zu beiden Seiten der Heilmannstraße hinzogen. Das Camp war in keinem Stadtplan verzeichnet. Am Tor stand: Behördenunterkunft. Sie nahm die linke der fünf Schleusen, erhielt ihren Mitarbeiterausweis und fuhr in die große Leere.

Es war schwer zu fassen, dass siebentausend Menschen hier arbeiteten. Im Sommer war das riesige Gelände recht idyllisch, mit Waldstücken zwischen den locker gruppierten Gebäuden. Aber an einem Februarmorgen im dünnen Regen hatte es den Liebreiz einer Kläranlage. Sie hielt sich links, stoppte hinterm Rondell an der nächsten Schleuse. Nina zeigte ihren Ausweis und durfte durch. Sie parkte den Fiat 500 vor dem Plattenbau der Abteilung Auswertung, im Camp für gewöhnlich Pentagon genannt. Der Kerl vom Bereichsschutz nickte sie müde durch. Unten tackerte Nina die Karte in der Stechuhr und nahm den Büroschlüssel aus dem Schließfach. Wände waren aufgeklopft, überall lagen Kabel herum, Gerätschaften. EDV hielt Einzug, aber die beauftragte Firma durfte bloß nachts arbeiten, damit ihre Elektriker keine Gesichter von Dienstangehörigen sahen. Im zweiten Geschoss gedämpfte Stimmen in der Lagezentrale. Das SU-Referat befand sich eins höher. Sie war wie immer die Erste, unter zwölf Stunden blieb sie nie. Bei Krisen verbrachte sie die Nächte im Haus, aber das galt für alle. Zuletzt vor zwei Monaten beim sowjetischen Einmarsch in Afghanistan.

Sie könnte heute ins Kino gehen, Coppola, Apocalypse Now, Spätvorstellung. Wahrscheinlich würde sie zu erschossen sein. In der Kaffeeküche lag der Spiegel auf dem Tisch. Die bei den Kollegen ach so verhasste Linkspresse hatte wieder mal gegen Pullach gefeuert, und die Stahlhelme wurden festgezurrt.

Nina hatte sich schon oft für den Dienst geschämt. Etwa als hochkochte, dass die RAF-Verteidiger und ihre Mandanten in Stammheim abgehört worden waren. Was würde am Montag im Spiegel stehen, wenn dessen Redakteure wüssten, dass die Hintergrundgespräche, zu denen die Amtsspitze gelegentlich in Münchner Sternerestaurants lud, ebenfalls mitgeschnitten wurden? Ihre Meinung behielt Nina für sich, genauso wie ihr Faible für Wolf Wondratschek, dessen Gedichtbände im Camp als Terroristenliteratur galten.

Im Büro holte sie das Dossier aus dem Tresor, das Angelika Leidinger ihr gestern auf den Schreibtisch geknallt hatte.

Quellenmeldung (32E-175-IC): Leonid Breschnew ist dement; entweder als Folge seiner Tablettenabhängigkeit oder einer Parkinson-Erkrankung. Der Verfall ist so fortgeschritten, dass er sogar die Namen von Politbüromitgliedern vom Zettel ablesen muss. Zu Gesprächen auf hoher Ebene ist er nicht mehr imstande; die meiste Zeit des Tages schläft er oder dämmert dahin. Seine Ärzte geben ihm noch zwei bis drei Jahre.

Nachrichtendienstliche Einschätzung: Falls dies zutrifft, stellt sich drängend die Frage nach Breschnews Nachfolger. Michail Sergejewitsch Gorbatschow betrachte ich als einen ernstzunehmenden Aspiranten. Er wurde vor weniger als zwei Jahren ZK-Sekretär für Landwirtschaft, schon im Jahr darauf Kandidat des Politbüros und steht augenscheinlich vor seiner Berufung zum Vollmitglied. Das ist eine außergewöhnliche Karriere für einen kaukasischen Bauernsohn, dessen Großvater unter Trotzkismus-Verdacht verhaftet worden war. 1975 hat Gorbatschow auf Einladung der DKP die Bundesrepublik besucht und wurde von Medienbeobachtern als intelligent und dynamisch bezeichnet (Artikel aus dem »Stern« anbei). Ich empfehle, das Kanzleramt auf Gorbatschow aufmerksam zu machen …

Leidinger hatte an den Rand geschrieben: Haben Sie sich sein Geburtsjahr angesehen?!

Wieder grübelte Nina über diese Quelle nach, die der Dienst in Moskau besaß. Die Analysten kriegten keine Quellennamen zu sehen; die Position wurde nur umschrieben. Pressevertreter mit Kontakten zu sowjetischen Politikern war ein Klassiker. Oder: Funktionär aus dem Apparat. Die Quelle 32E-175-IC wurde als Person mit Einblick in diverse Korrespondenz bezeichnet. Welche Untertreibung. Fraglos musste es sich um jemanden aus dem innersten Zirkel handeln. Zu so brisantem Herrschaftswissen hatten nur sehr Wenige Zugang.

Erst als an die Tür geklopft wurde und ein Kollege den Kopf hereinsteckte, wurde Nina bewusst, wie lange sie in Gedanken versunken gewesen war.

»Elsa, hier ist ein Satz, mit dem ich nichts anfangen kann.« Er las auf Russisch vor: »Anschließend gingen mehrere Teilnehmer der Parteiversammlung noch in eine Himbeere.«

»Malina kann sowohl Himbeere als auch Bordell bedeuten. Kommt auf den Zusammenhang an, wie du siehst«, sagte sie.

»Unglaublich. Sowas schleppt der VF an, und dann flennt er, dass ich seine Quelle nicht höher einstufe. Wird Zeit, dass sie abgeschaltet wird.«

Nina nickte nur, blieb wieder allein.

Die Quellen wurden bewertet: von A (absolut zuverlässig) bis F (bisher noch nicht einzuschätzen). Die Person mit Einblick in diverse Korrespondenz hatte von Leidinger ein HV gekriegt.

Hochrahmige Verbindung.

Sahnetorte.

Mittags ging sie zum Essen ins Kasino im Erdgeschoss. Als sie sich eben an einen leeren Tisch gesetzt hatte, sah sie verblüfft, dass Julius Boehnke sich eine belegte Semmel holte. Der Chef der Operativen Aufklärung blieb der Auswertung gewöhnlich fern; aus Gründen des Geheimschutzes wurde penibel auf die Abschottung der Abteilungen geachtet. Doch niemand würde es jemals wagen, Boehnke zurechtzuweisen. Es galt als offenes Geheimnis, dass er in Asien als illegaler Agent ohne Immunität im Einsatz gewesen war, bevor er, noch sehr jung, die Leitung der wichtigsten Abteilung des Dienstes angetreten hatte. Ein Pseudonym benötigte er nicht; im Warschauer Pakt war man über ihn im Bilde.

Boehnke walzte zum Ausgang und biss schon die Hälfte der Semmel ab. Alles an ihm war schier. Sollte er einen Hals haben, behielt er es für sich.

Er blieb bei ihr stehen. »Kommen Sie heute um 22 Uhr zum Waldhaus. Sie werden erwartet.«

Schon war er weitergegangen. Entgeistert sah sie ihm nach und fragte sich, ob er sie mit jemandem verwechselte. Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, dass Boehnke überhaupt ihren Namen kannte.

Um zehn?

Nervös arbeitete sie bis Viertel vor im Büro. Fünfzehn Stunden nachdem in ihrer Wohnung beim St.-Anna-Platz der Wecker geklingelt hatte, tat sie den Schlüssel wieder in das Schließfach und ging. Den Fiat ließ sie stehen. Von Laternen tropfte Licht. Der Regen war vorüber, doch die kahlen Bäume glänzten noch vor Nässe. Nirgends ein Stern, der Himmel war mit schwarzen Wolken tapeziert.

Nina kam vor der Zeit ans Waldhaus, stand in der Kälte bei der Holzbaracke, die noch nach dem Wichs von Knobelbechern stank. Hier hatte sie ihren Einführungslehrgang gehabt. Unter dreißig Frischlingen war sie die einzige Frau gewesen. Ganze Stunden hatte sie abgeschaltet. Wir sind die Hauptfront und die letzte Bastion. Sie brauchte keine Latrinenparolen. Ihr musste niemand diktieren, wieso sie hier war. Vieles hatte sie damals verstörend gefunden, wie aus dem Handbuch der Apokalypse abkopiert. Diese Schilder, auf denen Gefahrenstufe Gelb stand. Heute ging sie achtlos daran vorbei. Gelb, immerhin. Sie hatte auch schon Rot erlebt. Man vermutete, dass Pullach bei einem atomaren Enthauptungsschlag der Sowjets ein Primärziel sein würde. Es gab mehrere Schutzkeller, tief unten, mit Nahrung und Luft für viele Jahre. Und wer es nicht schaffte, konnte sich immer noch in einen der Pilze retten, die Einmannbunker, die im Camp überall aus dem Boden schossen. Fünf Tonnen Beton mit winziger Einstiegsluke. So würde dann das Ende aussehen, stehend verhungern.

Die Kälte kaute an Ninas Knochen. Das Belfern der Hunde war das einzige Geräusch. Ab neun ließ man sie frei. An einem ihrer ersten Abende war sie um diese Zeit todmüde aus dem Pentagon gekommen. Ein Knurren im Finstern, dann flog ein rotäugiger Schatten ihr entgegen. Nina hatte nicht zu atmen gewagt, bis der Hund einen Pfiff hörte, endlich von ihr abließ. Seit diesem Tag ging sie nie ohne ein Stück Wurst oder Käse in der Tasche aus dem Büro. Inzwischen kannte man sich. Einen der Dobermänner hatte sie Nurejew getauft, weil er auf seinen Hinterbeinen artistisch um sie herumtanzte, sobald er sie sah. Manchmal dachte sie, dass Nurejew der Einzige im Camp war, der sich freute, sie zu sehen. Solange sie Krakauer dabeihatte. Um die Hunde wurde sich sehr gekümmert. Der Dienst betrieb eine eigene Einrichtung am Starnberger See, wo die Haustiere der Auslandsagenten versorgt wurden.

Nina hörte ein Auto. Der Fahrer stieg nicht aus, sprach kein Wort und kutschierte sie durch den Tunnel rüber in den alten Geländeteil. Er bog in die Zielgerade seiner Beamtenlaufbahn ein; dem Hanns-Martin-Schleyer-Gesicht hätte eine Mensur weniger nicht geschadet. Hanns Martin fuhr schnell. Er drehte beim Wachhäuschen das Seitenfenster runter, nickte seinem Kollegen knapp zu und gab schon wieder Gas. Sie waren in der früheren Reichssiedlung Rudolf Heß. Hitler hatte sich hier aufs Münchner Abkommen vorbereitet. Und zur Entspannung ein Spaziergang mit Blondie.

»Wo fahren wir hin?« brach Nina das Schweigen.

»Zum Doktorhaus.«

Der Dienstsitz des Präsidenten. Nur die Alten aus Gehlens Truppe nannten die prunkvolle Villa noch so, ein posthumer Hackenschlag vor Dr. Schneider, Pseudonym von des Führers liebstem Generalmajor, der »Fremde Heere Ost« geleitet und sich gleich nach der deutschen Niederlage mit phänomenaler Geschmeidigkeit den Amerikanern angedient hatte.

Was in aller Welt will der Präsident von mir?

Hanns Martin fuhr nicht zum Vordereingang, hielt fünfzig Meter vom Haus entfernt in einem Waldstück. Nina folgte ihm über einen Trampelpfad. Sie kamen zu einer Mauer mit einem schweren Tor. Er entriegelte es mit einer Zahlenkombination und stellte sich so, dass Nina die Ziffernfolge nicht erkennen konnte. Eine ältere Sekretärin hatte davon geraunt und es die Stille Pforte genannt, für besondere Gäste. Zwischen Bäumen ein Bassin mit einer nackten Nymphe, rechts das Haus. Hanns Martin schloss eine Tür auf, langte dahinter und machte Licht. Sie schaute in einen engen Gang.

»Erster Stock, dann links.«

Er verschwand. Sie kam in ein schlichtes Vestibül, ging die Treppe mit dem purpurnen Läufer hoch, sah Licht in den Flur fallen und betrat das Büro von Präsident Dietrich Schmücke.

Er stand vom Schreibtisch auf. »Frau Dr. Opel, bitte …«

Nina wurde nicht aufgefordert abzulegen, setzte sich in den Ledersessel, nahm den Raum in sich auf. Helle Wandtäfelung, moderne Einrichtung. Keine Spur von Gehlens Mief.

»Ich sage jedem, der das erste Mal hier ist: Sie befinden sich im Schlafzimmer von Martin Bormann.«

»Ich hatte es mir brauner vorgestellt.«

Schmücke lächelte schmal, Humor gehörte nicht zu seiner Arbeitsplatzbeschreibung. Nina fielen seine unterschiedlichen Gesichtshälften auf; die eine abweisend, die andere freundlich. Sie nickte der freundlichen Hälfte zu.

»Sie waren Leistungssportlerin«, sagte der Präsident. »Und nicht ohne Erfolg, wie man hört. Zehntausend Meter, ja?«

»1977 Vierte der Europameisterschaft.«

»Trotz eines Sturzes, heißt es.«

»Ich bin zu lange liegen geblieben. Eine gute Lektion.«

»Mir war unbekannt, dass Frauen Langstrecken laufen.«

»Der Leichtathletikverband erkennt es nicht an.«

»Was gab Ihnen der Sport?«

»Er hat mich Demut gelehrt. Und dass ein Rennen erst auf dem Zielstrich beendet ist.«

»Warum haben Sie sich für uns entschieden?«

»Ich habe mich nicht beworben, ich wurde getippt.«

»Sie hätten ablehnen können.«

Nach ihrem Slawistik- und Russischstudium an der FU und der Promotion über Maxim Gorkis moralische Korruption durch Stalin hatte Nina sich auf eine Annonce hin beim Auswärtigen Amt beworben und dort eine Stelle im Kulturreferat Osteuropa bekommen. Ein Jahr später verfasste sie einen Text, den sie in der Früh auf sämtliche Schreibtische legte.

»Alles muss aus klarer Klassenposition heraus beschrieben werden. Die Literatur hat Themen zu entwickeln, die mit dem Kurs der Partei übereinstimmen.« So stellt die Führung der KPdSU sich die Aufgabe der sowjetischen Schriftsteller vor. Aber Alexander Herzen, der eine deutsche Mutter und einen russischen Vater hatte, schrieb vor mehr als hundert Jahren, dass Schriftsteller nicht die Ärzte sind, sondern der Schmerz. Welche »Heilungsmethode« der KGB praktiziert: Wir wissen es. Missliebige Künstler werden in psychiatrische Anstalten gesperrt. Die perverse Diagnose hat der KGB-Vorsitzende Juri Andropow längst diktiert:»Schleichende Schizophrenie«. Denn ein Schriftsteller, der aufbegehrt,muss ja krank sein. 1975 unterschrieb Breschnew in Helsinki die Schlussakte der KSZE und verpflichtete sich damit zur Wahrung der Menschenrechte in der Sowjetunion. Stattdessen macht der KGB die Psychiatrie zu einem systematischen Instrument der Unterdrückung der geistigen Elite.»In unserem Land gibt es keine politischen Gefangenen – bloß Kranke, wie im Westen auch«, heißt es dort. Und was tut die Bundesregierung? Sie schweigt.

Nina war zu ihrem Ministerialdirektor zitiert worden. »Mit Zynismus werden Sie bei uns nicht weit kommen«, sagte er.

Sie hatte noch am selben Tag gekündigt. Wochenlang trieb sie dahin, träumte wieder davon, Lektorin zu sein, und schrieb Verlage an, die ihr vor einem Jahr bereits abgesagt hatten. In einem Bonner Café hatte sich ein Mann an ihren Tisch gesetzt und sich mit einem rotgepunkteten Ausweis legitimiert.

»Frau Dr. Opel?« hörte sie Schmücke.

»Ich sah beim Bundesnachrichtendienst die Chance, etwas zu bewegen, statt nur zu lamentieren.«

»Sie sind mit Ihrer Mutter 1963 aus der DDR geflüchtet und wissen, dass wir in aller Regel niemanden mit einem derartigen Hintergrund anwerben.«

Nina wurde in West-Berlin geboren, Friedenau. Als sie drei Jahre alt war, verließ ihr Vater die Familie. Kurz darauf lernte ihre Mutter einen Mann aus Leipzig kennen und zog 1955 mit ihr dorthin. In Gedanken war er für Nina immer bloß Müller. Ein kleines Mädchen sollte nicht die Hand seiner weinenden Mutter halten müssen. Ein Jahr nach dem Mauerbau hatte ihr Vater wieder Kontakt zu ihnen aufgenommen. Er holte sie mit einem Schleuser beide in den Westen.

Sie zwang sich, nicht an die Stunden in dem Hohlraum des Autos zu denken, an ihre Angst Angst Angst.

»Ich bin sicher, dass Sie die besonderen Umstände kennen. Ich habe keine Verwandten in der DDR«, sagte sie.

»Ja. Und einen Vater bei der Spionageabwehr des BKA. Das wird bei Ihrer Entscheidung auch eine Rolle gespielt haben.«

Nina fragte sich, wo Bormanns Bett gestanden hatte. Genau hier? Oder dort, unter dem Portrait des Alten Fritz? Aber vor allem fragte sie sich: Was zum Teufel mache ich hier?

Schritte.

Boehnke kam herein und schaute den Präsidenten an: »Na, kennen Sie Frau Opel jetzt etwas besser?«

Schmücke nickte. »Wir sollten woanders weitersprechen.«

Pink Star

Unten war eine graue Stahltür. Boehnke musste all seine Kraft aufwenden, um sie zu entriegeln, zu öffnen und hinter ihnen zu schließen. Am Ende des steilen Treppenschachtes war eine zweite Tür, wieder schwerer Stahl. Dann standen sie in einem Bunker. Grüner Schmodder klebte am Beton. Verschimmelte Holzkisten, in einer Ecke ein Weinregal. Es roch nach tausend Jahre alten Socken.

»Wir sind im Führerhauptquartier Siegfried«, sagte Boehnke. »Hier ist es sicherer als im War Room des Weißen Hauses.« Er nahm eine Flasche Roten, blies den dicken Staub runter. »Und die Verpflegung ist allemal besser.«

»Ich bin zu einer Weinprobe eingeladen?« fragte Nina.

Der Präsident schaute sie durchdringend an. »Frau Dr. Opel, was Sie jetzt erfahren werden, ist so geheim, dass beim Dienst bisher nur zwei Menschen davon wissen. Beide sind mit Ihnen in diesem Bunker.«

Was geschieht hier?

»Wir haben seit sieben Jahren eine hochrahmige Quelle in Moskau. Ihr Deckname ist Pilger. Selbst der Leiter des Referats Aufklärung Sowjetunion ahnt nichts davon.«

Ihr Mantel wärmte nicht mehr.

»Tun Sie mal so, als wären Sie keine Analystin, sondern im operativen Geschäft«, sagte Boehnke.

Sie nickte.

»Pilger ist vor drei Monaten zu einem Treff nicht erschienen. Seither hatten wir kein Lebenszeichen von ihm.«

»Wer hat Pilger geführt?« fragte Nina. »Jemand aus unserer Moskauer Residentur?«

Boehnke schüttelte den Kopf. »Die Residentur besteht nur aus einem Mann, und der wird vom KGB observiert.«

»Wir hatten einen unserer Illegalen als Verbindungsführer eingesetzt«, sagte der Präsident. »Sein Legendenbüro war der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft. Der VF hielt sich zu geschäftlichen Besprechungen mehrmals im Jahr in Moskau auf, mit den Delegationen eines Konsortiums, das den Sowjets Röhren für eine neue Pipeline liefert. Sie wird uns in Zukunft mit Erdgas aus Sibirien versorgen.«

»Hatten – war?« fragte sie.

»Der VF ist verschwunden«, sagte Boehnke.

»Verschwunden«, echote Nina, still wütend, dass ihr nichts Besseres einfiel.

»Um Mitternacht hatte er im Hotel die Meldung abgesetzt, dass Pilger ein No Show war. Das ist Mitte November gewesen. Seitdem ist unser Mann nicht mehr gesehen worden.«

»Den Residenten haben Sie nicht eingeweiht?«

»Nein. Was hätte er tun können? Zur Miliz gehen und eine Vermisstenanzeige aufgeben?«

»Wir waren uns sicher, dass Pilger aufgeflogen war«, meinte Schmücke. »Längst hingerichtet, obschon es seltsam gewesen wäre, wenn wir nichts davon erfahren hätten. Wie Sie wissen, hängen die Russen sowas zur Abschreckung gern an die große Glocke.« Er reckte den dürren Hals, als sei der Kragen zu eng. »Vor vier Tagen hat Pilger die Funkstille beendet.«

»Wie?«

»Er schmiss einen Zettel in den privaten Briefkasten einer Schreibkraft der Botschaft«, sagte Boehnke. »Es standen zwei Sätze drauf, einer davon ein Zitat.«

»Welches?«

»Ich bin nicht der Arzt, ich bin der Schmerz.«

»Das schrieben Sie im Auswärtigen Amt«, sagte Schmücke. »In dem Papier, das unsere Aufmerksamkeit weckte.«

Nina war starr.

»Sicher erinnern Sie sich an Pia Henning?« fragte Boehnke.

Die Worte kamen mechanisch. »Eine Kollegin im AA.«

»Sie spioniert seit 1971 für die Hauptverwaltung A der Stasi. Das BKA ist mit drei OBS-Teams an ihr dran. Wir wollen das Umfeld abfischen.«

Pia mit dem Smiley auf der Teetasse. Und daheim drei Katzen.

»Die HVA reicht die Erkenntnisse, die ihre Agenten bei uns beschaffen, pflichtschuldigst an den großen Bruder in Moskau weiter. Pilger ist Oberst des KGB. Nach einem kleinen Umweg über deren Residentur in Berlin-Karlshorst landet das Material auf seinem Schreibtisch.«

Nach langem Schweigen sagte Nina: »Die Information über Breschnews Demenz stammt von Pilger.«

»Manchmal liefert er uns etwas aus dem Kreml. Es war die letzte Nachricht vor seiner Funkstille.«

»Sie haben dafür gesorgt, dass ich diesen Bericht bekam. So etwas bekäme ich normalerweise nie zu sehen.«

Boehnke grinste Schmücke an: Habe ich zu viel versprochen?

»Um Missverständnisse auszuschließen: Frau Dr. Leidinger glaubt, es würde sich um fiktives Testmaterial handeln«, sagte der Präsident. »Und was Michail Gorbatschow betrifft: Ein so junger Mann könnte nie Generalsekretär werden.«

»Wie alt war Herr Boehnke, als er Chef unserer Aufklärung wurde?« fragte Nina. Und dann: »Ich habe das vor zwei Jahren geschrieben. Wieso sollte Pilger jetzt darauf zurückkommen?«

»Denken Sie nach.«

»Er soll mich da schon auf dem Schirm gehabt haben?«

»So wie wir. Es war quasi Ihr Bewerbungsschreiben für den BND«, sagte Boehnke. »Ehrlich gesagt fragten wir uns, ob Sie Blickfeldarbeit für die HVA gemacht haben.«

»Danke für die Blumen.«

»Nanu, habe ich Ihnen Mimosen geschenkt? Solange Pilger einen Verbindungsführer hatte, bestand aus seiner Sicht kein Anlass, irgendwas zu ändern. Aber jetzt ist alles neu. Ich bin ein bisschen enttäuscht. Sie haben ja gar nicht gefragt, wie der zweite Satz auf dem Zettel lautet.«

Nina wurde schlecht.

»Diese Frau oder keinen«, sagte Boehnke.

»Das ist nicht Ihr Ernst.«

»Haben Sie Angst vor kaltem Wasser?«

»Dafür bin ich nicht ausgebildet, und –«

»– zu jung?« fragte der Präsident. »Wie alt war Herr Boehnke nochmal, als er unsere Aufklärung übernahm? Wie man hört, sprechen Sie besser Russisch als Puschkin. Aber dass Pilger Sie will, ergibt noch auf andere Weise Sinn. Eine Frau als VF. Das existiert im Gedankenkosmos des KGB nicht. Und ja: Für uns wäre es auch eine Premiere.«

Boehnke fuhr das Kinn aus. »Ein Mann würde jetzt fragen: Wann geht mein Flug?«

Nina atmete durch. »Für mich ist es das Wahrscheinlichste, dass Pilger enttarnt und verhaftet wurde und diese Nachricht eine Aktive Maßnahme des KGB ist, um uns dort in eine Falle zu locken.«

»In der Tat lässt sich das nicht ausschließen«, erwiderte der Präsident. »Nur: Dieser Mann ist zu bedeutsam für uns.«

»Als Pilger 1973 mit uns Kontakt aufnahm, dachten wir erst, es wäre eine Provokation des KGB«, sagte Boehnke. »Aber der hat unseres Wissens noch nie Offiziere für so etwas eingesetzt. Sie vertrauen den eigenen Geheimnisträgern nicht genug, um sie zu Doppelagenten zu machen.«

»Schon mit dem ersten Material, das Pilger uns übermittelt hat, bewies er, dass er zu kühnsten Hoffnungen berechtigte«, sagte Schmücke. »Und er übertraf sie alle.«

Nina wusste, dass achtzig Prozent der Informationen, die der KGB über die Bundesrepublik hatte, von der HVA kamen. Allein daran konnte sie Pilgers Bedeutung ermessen. Pink Star nannten Geheimdienste einen wie ihn.

»Was war das für ein unglaubliches Material, mit dem er Sie sofort überzeugt hat?« fragte sie.

Die Männer wechselten einen Blick.

»Sie erwarten von mir, dass ich Pilger führe, wahrscheinlich auf ein Himmelfahrtskommando gehe. Eine Frau würde jetzt sagen: Fliegen Sie doch selbst.«

Boehnke räusperte sich. »Er hat uns Guillaume geliefert.«

Mach den Mund zu, Nina.

»Das mit den gefunkten Geburtstagsgrüßen aus Ost-Berlin, die der Verfassungsschutz entschlüsselt haben soll, ist von uns lanciert worden, um Pilger zu schützen.«

»Den Rest besprechen Sie mit Boehnke«, sagte Schmücke.

Es regnete wieder schlank weg. Sie standen am Seerosenbassin unter dem Vordach. Nina schaute zu der Nymphe, vermutlich das Werk eines Nazi-Bildhauers.