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Katharina Herzog

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Beschreibung

Von der Ostsee nach Südengland - eine große Liebe und ein Geheimnis, das zwischen zwei Schwestern steht. Es ist ein bezaubernder Ort – der Rosenhof auf Usedom, der sich seit Generationen im Besitz der Familie Jung befindet. Anders als ihre Schwester hat es Emilia auf der Ostseeinsel nach der Schule aber nicht mehr ausgehalten, und sie ist nach Paris gegangen. Doch dann hat Clara einen schweren Autounfall und bittet ausgerechnet sie, sich um ihre beiden Kinder zu kümmern. Emilia ist mit dieser Aufgabe vollkommen überfordert. Außerdem steht die Rosengärtnerei kurz vor der Insolvenz. Als sie herausfindet, dass ihre Schwester nach Kent reisen wollte, um dort nach Wegen zu suchen, den Familienbetrieb zu retten, fliegt sie zusammen mit Claras bestem Freund Josh und ihrer rebellischen 13jährigen Nichte Lizzy ins Land der Rosen. Ihre Reise führt die drei vom berühmten Sissinghurst Garden über die Domstadt Canterbury bis zu dem kleinen Küstendorf St. Margaret´s at Cliffe. Emilia stößt dabei nicht nur auf eine verschollen geglaubte Rose, sondern auch auf die Geschichte einer großen, verbotenen Liebe. Und auch lange vergessene Gefühle für Josh erwachten erneut ...

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Katharina Herzog

Wie Träume im Sommerwind

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Nicht alle Träume gehen in Erfüllung – und manchmal ist das das Beste, was einem passieren kann.

 

Es ist ein bezaubernder Ort – der Rosenhof auf Usedom, seit Generationen im Besitz der Familie Jung. Anders als ihre Schwester hat es Emilia dort nach der Schule nicht mehr ausgehalten. Doch dann hat Clara einen schweren Autounfall, und ausgerechnet Emilia soll sich um die beiden Kinder und den Hof kümmern. Eine schwere Aufgabe: Die Gärtnerei steht kurz vor der Insolvenz. Als Emilia herausfindet, dass ihre Schwester nach Kent reisen wollte, um dort nach Wegen zu suchen, den Familienbetrieb zu retten, fliegt sie zusammen mit Claras bestem Freund Josh und ihrer rebellischen Nichte Lizzy in den «Garten Englands». Emilia stößt dabei nicht nur auf eine verschollen geglaubte Rose, sondern auch auf die Geschichte einer großen, verbotenen Liebe. Auch lange vergessene Gefühle für Josh erwachen erneut …

 

Von der Ostsee nach Südengland – eine große Liebe und ein Geheimnis, das zwischen zwei Schwestern steht.

Vita

Katharina Herzog ist die deutsche Autorin für Liebesromane mit Fernweh-Garantie. Sie liebt es, ihre Leser an Sehnsuchtsorte wie Amrum, die Amalfiküste, Juist und New York zu entführen und diese Schauplätze auch selbst zu bereisen. Mit ihren Romanen «Immer wieder im Sommer», «Zwischen dir und mir das Meer» und «Der Wind nimmt uns mit» schrieb sie sich nicht nur in die Herzen ihrer Leser, sondern eroberte auch die Bestsellerlisten. Katharina Herzog lebt mit ihrer Familie, Pferd und Hund bei München und plant schon ihre nächste Reise.

Für Marco,

der mit mir ins Land der Rosen reiste

– eine Reise, auf der ich so viel gelernt habe –,

 

und für Claudia von Inselverliebt,

die mir den Zauber ihrer Heimatinsel nähergebracht hat.

Wer die Wahrheit sucht,

darf nicht erschrecken,

wenn er sie findet.

(Buddhistische Weisheit)

Prolog

Zinnowitz, Juni 1999

«Jetzt sei doch mal ein bisschen vorsichtiger, Millie!» Clara deutete mit tadelnder Miene auf die Rosen.

So ein Mist! Schon wieder hatte Emilia mit ihrer Schere eine Knospe erwischt. Sie musste behutsamer vorgehen, wenn von ihrem Rosenstämmchen am Ende noch etwas übrig sein sollte! Leider war sie einfach zu ungeduldig, um wie ihre Schwester die verblühten Rosenköpfe behutsam zwischen Daumen und Zeigefinger zu nehmen und erst dann ihren Trieb zu durchtrennen. Stattdessen schnitt sie wild drauflos, um möglichst schnell fertig zu werden. Deshalb hatte Claras Stämmchen auch eine perfekte Kugelform, während ihr eigenes aussah wie eine der zerrupften Wolken am Himmel.

Eine plötzliche Windböe fegte durch die Gärtnerei. Rosenblätter wirbelten umher wie Konfetti: rosa, rot, weiß und apricot.

«Beeil dich! Gleich gibt es ein Gewitter!» Clara schaute in den immer dunkler werdenden Himmel. Sie hatte bereits alle vertrockneten Blüten abgeschnitten und entfernte nun wilde Triebe und Totholz.

Obwohl sie jetzt schon den ganzen Nachmittag damit beschäftigt waren, ihrem Papa in der Rosengärtnerei zu helfen, war auf Claras weißem T-Shirt kein Staubkorn zu entdecken, und Emilia fragte sich wieder einmal, wie um Himmels willen es ihre Schwester schaffte, sich niemals schmutzig zu machen. Sie schien auch nie zu schwitzen. Während Emilias Haare wegen der Schwüle unangenehm an ihrer Haut klebten, kringelten sich Claras goldblonde Locken immer noch in sanften Wellen bis zu ihrem Dekolleté hinunter.

Emilia liebte ihre große Schwester. Wirklich! Aber es war ziemlich anstrengend, mit jemandem zusammenzuwohnen, der nicht nur engelsgleich schön war, sondern auch beliebt, sportlich, klug und in beinahe jeder Hinsicht perfekt. Clara war gut in der Schule – in der Grundschule hatte sie sogar einmal ein Jahr übersprungen. Emilia kam es manchmal so vor, als hätten ihre Eltern ihr bestes Erbgut in Clara investiert, und sie musste sich mit dem kümmerlichen Rest zufriedengeben: mit stinknormalem braunem Haar, einer Nase, dick und unförmig wie eine Sellerieknolle, und Noten, die genauso durchschnittlich waren wie der Rest von ihr.

Clara und sie waren genauso unterschiedlich wie die Rosenstämmchen, die Papa ihnen vor ein paar Jahren geschenkt hatte: Für Clara hatte er die zarte, reinweiße Anne-Marie de Montravel ausgesucht und für Emilia die Fisher & Holmes, deren scharlachrote, prall gefüllte Blüten so betörend dufteten. Ihre leicht gebogenen Stacheln bohrten sich einem schmerzhaft in die Haut, wenn man nicht aufpasste. So wie jetzt! Autsch! Emilia saugte das Blut von ihrem Finger.

In der Ferne grollte es unheilvoll, und ein paar Sekunden später teilte ein Blitz über der Ostsee den Himmel.

Clara ließ die Schere sinken. «Komm, wir gehen rein und machen nachher weiter!», sagte sie. Obwohl sie drei Jahre älter war als Emilia, war Clara bei Gewittern ein absoluter Angsthase. Aber das hätte sie ihr gegenüber natürlich niemals zugegeben.

 

Sie schafften es gerade noch rechtzeitig ins Haus, bevor der Himmel seine Schleusen öffnete. Papa war immer noch in der Gärtnerei beschäftigt, aber Mama war gerade von ihrem Ausflug nach Ahlbeck zurückgekommen. Wie jeden Mittwoch, wenn sie sich mit ihrer Freundin in dem Seebad zum Kaffee traf, trug sie ein Kleid und Schuhe mit hohen Absätzen. In der Hand hielt sie einen flachen Koffer aus schwarzem Leder, der an den Rändern schon ganz abgewetzt war.

«Schau mal, was Mechthild mir mitgegeben hat!» Ihre Mutter stellte den Koffer vor Emilia und Clara auf dem Küchentisch ab. «Den hat ihr ein Bekannter gegeben, er kann ihn nicht mehr gebrauchen.» Sie öffnete das Ding, und die Duftwolke, die daraus hervorströmte, war so intensiv, dass Emilia den Atem anhielt.

«Was ist das?»

«Ein Musterkoffer. Mechthilds Bekannter war Vertreter für Parfümrohstoffe. Mit dem Koffer ist er zu den Parfümherstellern gegangen und hat ihnen die Düfte vorgestellt, aus denen sie später Parfüms zusammenmischten.»

Neugierig trat Emilia an den Koffer heran, um seinen Inhalt zu untersuchen. Die geheimnisvollen Flakons mit den bunten, wohlriechenden Flüssigkeiten im Schaufenster der Parfümerien hatten sie schon immer fasziniert. Im Laufe der letzten Jahre hatte sich in dem Schuhkarton unter ihrem Bett eine riesige Menge Proben angesammelt, die sie inzwischen fast alle mühelos anhand ihres Dufts bestimmen konnte. Aber es war ihr noch nie in den Sinn gekommen, dass Parfümhersteller ein Beruf war, genau wie Bäcker, Zahnarzt, Gärtner oder Lehrer.

Sie schaute in den Koffer. Bestimmt fünfzig kleine Fläschchen befanden sich darin, auf den Etiketten fremdartige Namen wie Bergamotte, Ylang-Ylang, Violette Absolue, Ambrette …

Emilia drehte das Bergamotte-Fläschchen auf, weil sie diesen Namen am spannendsten fand. Die Flüssigkeit darin roch wie Zitrus, nur frischer und herber – wie der Earl-Grey-Tee, den Papa so gerne trank. Sandelholz roch, wie der Name vermuten ließ, holzig, aber auch erdig, Ylang-Ylang-Öl blumig-süß und Moschus nach Tier und ein bisschen nach Urin.

«Das hier riecht ein bisschen wie dein Parfüm, Mama!» Emilia hielt eines der Fläschchen hoch. Maiglöckchen stand darauf. «Wie heißt es noch mal?»

«Chanel N° 5.»

Emilia liebte es, wenn ihre Mama diesen Duft auftrug. Einen Sprühstoß tupfte sie sich immer auf den Hals, einen auf das Handgelenk, und einen dritten – auf ihn freute sich Emilia immer ganz besonders – sprühte sie in die Luft, und dann tanzte Emilia in einer Wolke aus blumigen und fruchtigen Duftpartikeln, die auf sie herunterrieselten. Dieses Fläschchen hier roch tatsächlich ähnlich. «Aber in deinem ist noch was anderes drin: Vanille und …», Emilia schnupperte erst an dem Maiglöckchenduft und dann an ihrer Mutter, «… dieses Sandelholz.»

«Das riechst du alles?» Clara zog die Nase kraus.

Ja! Ihre Schwester etwa nicht? Nachdenklich drehte Emilia das Maiglöckchen-Fläschchen zwischen ihren Fingern hin und her und schaute aus dem Fenster in den schiefergrauen Himmel. Immer wieder wurde er von Blitzen erhellt.

«Wieso benutzt du eigentlich immer nur dieses eine Parfüm?» Ihre Mutter hatte ein paar Flakons auf ihrer Kommode stehen, aber außer Chanel N° 5 waren die Fläschchen alle noch voll.

«Euer Vater hat es mir damals von einem Freund aus dem Westen schicken lassen, weil er genau wusste, wie sehr ich es mir wünschte. Bei uns in der DDR gab es damals solche Sachen nicht zu kaufen. Es war ein nur ein ganz kleines Pröbchen, versteckt in einer Socke, und ich habe es nur zu ganz besonderen Gelegenheiten benutzt, um möglichst lange etwas davon zu haben.» Über ihr Gesicht huschte ein Lächeln. «Immer, wenn ich es aufsprühe, muss ich an diesen Tag denken, an dem ich es bekommen habe. Außerdem war es schon das Lieblingsparfüm von Marilyn Monroe, und wenn ich den Duft trage, kann ich mich genauso schön, erfolgreich und mondän fühlen wie sie.» Sie zwinkerte Emilia zu.

«Mondän?»

«Wie eine Dame von Welt.»

Wie eine Dame von Welt! Emilia und Clara wechselten einen Blick und grinsten sich an.

«Das habe ich gesehen.» Mama hob den Zeigefinger. «Und ihr könnt ruhig lachen. Bevor ich euren Vater kennengelernt habe, bin ich als Rosenkönigin zumindest im Osten ganz schön herumgekommen.» Sie sagte das in einem scherzhaften Ton, aber Emilia entging der sehnsuchtsvolle Beiklang in ihrer Stimme nicht.

 

Während der Regen auf das Dach trommelte und sich die Linden vor dem Fenster im heftigen Wind bogen, saßen sie am weiß lackierten Küchentisch, tranken Limo und aßen die Torte, die Mama aus dem Café mitgebracht hatte. Doch obwohl Emilia Erdbeertorte liebte, konnte sie sie heute nicht richtig genießen. Immer wieder wanderten ihre Gedanken zu dem verheißungsvollen Inhalt des schwarzen Koffers zurück. Am liebsten hätte sie ihn sich geschnappt und wäre sofort damit in ihr Zimmer gelaufen. Vielleicht könnte sie mit seiner Hilfe herausfinden, aus welchen Düften sich die Parfümproben in ihrem Schuhkarton zusammensetzten, und wenn sie das wusste …

Es klingelte. Emilia lief zur Tür. Sie öffnete und stand einem Jungen gegenüber, der etwa in Claras Alter war. In der einen Hand hielt er einen aufgespannten Regenschirm, an der anderen einen kleinen Jungen. Er reichte ihm nur bis zum Ellbogen, hatte aber genau die gleichen dunklen Haare und die gleichen großen, lakritzfarbenen Augen wie er.

«Hallo! Ich bin Josh, und das ist Mats», sagte er. «Wir sind im Haus gegenüber eingezogen, und ich soll von meiner Mutter fragen, ob Sie uns vielleicht drei Eier leihen könnten. Die Geschäfte sind schon zu.»

«Natürlich! Kommt rein, bevor ihr ganz nass werdet!» Ihre Mutter, die ihr gefolgt war, schob Emilia zur Seite, damit die beiden eintreten konnten. «Ihr seid also unsere neuen Nachbarn. Wie schön!»

Emilia schloss die Tür, aber nicht, ohne noch einen Blick auf das Körner-Haus gegenüber zu werfen. Ein alter VW-Bus parkte davor. Das kleine Reetdachhaus mit dem verwilderten Garten stand seit Jahren leer und war so heruntergekommen, dass sie sich nicht vorstellen konnte, dass jemand freiwillig dort einzog. Aber vor ein paar Tagen hatte Papa beim Abendbrot erzählt, dass eine Frau aus Berlin es gemietet hatte.

Der Junge streifte seine ausgetretenen Turnschuhe am Fußabtreter ab und wies seinen Bruder an, das Gleiche zu tun. Den Regenschirm ließ er vor der Tür stehen. Emilia an seiner Stelle wäre einfach hineingelaufen, ohne daran zu denken, dass ihre nassen Schuhe schmutzige Abdrücke auf den Fliesen hinterlassen könnten.

«Bei euch riecht es aber gut! Wie in einem Parfümladen», sagte der kleine Junge.

Clara lachte. «So riecht es bei uns nicht immer. Unsere Mutter hat uns den alten Musterkoffer eines Parfümrohstoffvertreters mitgebracht.» Sie öffnete ihn, damit die beiden einen Blick hineinwerfen konnten.

Als Josh neugierig näher trat, kam er einen Augenblick so nah an Emilia heran, dass nicht nur sein nackter Arm den ihren streifte, sondern sie auch seinen Duft wahrnehmen konnte. Er roch besser als alle Essenzen in den vielen Fläschchen im Koffer.

Nachdem Mama die Eier aus dem Vorratsschrank geholt hatte, brachte Emilia die beiden wieder nach draußen. Das Gewitter hatte sich genauso schnell verzogen, wie es gekommen war, und die Sonne leuchtete wieder von einem makellos blauen Himmel. Neben dem alten VW-Bus parkte inzwischen ein großer Umzugswagen. Ein kleines Mädchen in einem langen Kleid und mit leuchtend gelben Gummistiefeln hüpfte in einer Pfütze herum. Ein etwas größeres stand daneben und hielt ein strampelndes Kleinkind auf dem Arm.

Josh blieb einen Moment stehen, um Emilias dicken Kater Mo zu streicheln, der unter einem Busch hervorgekrochen kam und sich verschlafen reckte. Dann ging er mit seinem Bruder an der Hand über den vor Nässe dampfenden Asphalt zu seinem neuen Zuhause hinüber.

Emilia nahm Mo auf den Arm, und während sie ihnen nachsah, breitete sich in ihrem Bauch ein ganz warmes Gefühl aus.

Sie war elf Jahre alt, die Luft duftete rein und wie frisch gewaschen, über dem Achterwasser spannte sich ein Regenbogen, und sie hatte an diesem Tag gleich mehrere Entdeckungen gemacht:

Es gab etwas, das sie viel besser konnte als ihre Schwester, nämlich riechen. Ihre Mutter trug Chanel N° 5, weil sie dann immer an den Tag denken musste, als Emilias Vater es ihr geschenkt hatte – und damit sie sich so schön, erfolgreich und mondän wie eine berühmte Hollywoodschauspielerin fühlte. Im Haus gegenüber war ein Junge eingezogen, der nach einer Mischung aus Sonnencreme, Apfelshampoo und Sommerwind roch. Und irgendwann würde sie ein Parfüm mischen können, das sie an diesen besonderen Tag erinnerte.

20 Jahre später

1. Kapitel

Nachts sind alle Katzen grau, heißt es. Diese hier war weiß, mit einem kleinen schwarzen Fleck rechts neben der Nase und einem etwas größeren auf dem Rücken. Jede Nacht, am Ende von Emilias Schicht, kam sie an Paul’s Bistro vorbei, setzte sich mit der mühelosen Eleganz, wie sie nur Katzen haben, auf die fleckigen Platten, und wartete geduldig darauf, dass Emilia erschien und ihr den erhofften Leckerbissen brachte. Manchmal war es ein Stück schlaffes Burgerbrötchen, manchmal der Rand einer Pizza. Die Katze aß sogar Pommes mit Ketchup. Als Bahnhofskatze durfte sie nicht wählerisch sein.

Offensichtlich kam dem Tier diese Einstellung zugute, denn anders als die vielen anderen Katzen, denen Emilia in Paris begegnete, sah sie wohlgenährt aus. Keine Rippe zeichnete sich an ihrem Körper ab, und ihr weißes Fell war zwar ein bisschen schmutzig, fühlte sich aber unter Emilias Fingern weich und seidig an.

«Heute habe ich etwas ganz Besonderes für dich», sagte Emilia und warf der Katze einen Zipfel Wurst zu. Dann drehte sie das Schild an der Tür des kleinen Bistros um. Aus ouvert wurde fermé.

Die tagsüber so belebten Bahnsteige waren jetzt verwaist, lediglich ein Nachtzug wurde noch erwartet, und das auch erst in zwei Stunden. Nur Abdul war noch da und fuhr mit seiner Kehrmaschine seine einsamen Runden.

«Feierabend für heute?», rief er ihr zu.

«Ja, in ein paar Minuten.»

«Ich muss noch ein bisschen.» Seine weißen Zähne leuchteten in dem dunklen, schmalen Gesicht.

Emilia grinste. Diese Unterhaltung führten sie jeden Tag. Als Abdul letzte Woche krank gewesen war, hatte ihr richtig etwas gefehlt. Sie warf noch einmal einen Blick auf die Katze, die sich über den Wurstzipfel hermachte, und ging zurück ins Bistro.

Die beiden Frauen an Tisch zwei waren endlich bereit zu gehen. «Hier! Der Rest ist für Sie!» Eine von ihnen legte zwei Scheine auf den Mahagonitisch. Mit ihrer kühlen, blonden Schönheit erinnerte sie Emilia an ihre Schwester. Selbst wenn Clara in der Erde herumwühlte, schaffte sie es, so auszusehen, als käme sie gerade von der Kosmetikerin. Schweiß und Schmutz schienen an ihr abzuperlen wie Öl an einer teflonbeschichteten Pfanne. Genau wie alle Widrigkeiten des Lebens. Nicht einmal, dass sie mit neunzehn Jahren mit Lizzy schwanger geworden war (von einem Mann, über dessen Identität sie hartnäckig Stillschweigen wahrte), hatte sie erschüttert. Und auch als Klaus, der Vater von Felix, acht Jahre später mit einer Zahnarzthelferin durchbrannte (er hatte sie beim Zähnebleichen kennengelernt), hatte Clara sich nur kurz geschüttelt und dann weitergemacht, als wäre nichts gewesen.

Der bullige Blaumannträger am Spielautomaten machte keine Anstalten zu gehen. Genauso wenig wie der Typ im Anzug. Seit zwei Stunden saß er am Tresen und bestellte einen Gin nach dem anderen. Wieso er wohl um diese Zeit nicht in seinem teuren Appartement saß oder seine Getränke in einem hippen Club schlürfte? Sein Anzug war von Hugo Boss, und er hatte die für Geschäftsmänner typische Aktentasche bei sich. Er roch nach Minzpastillen und einer erdigen Moschusnote mit einem Hauch Meeresbrise. Sein weißes Hemd musste einen Tick zu lange nass in der Waschmaschine gelegen haben.

«Kann ich noch einen haben?» Seine Zunge war mit jedem Glas schwerer geworden.

«Wir schließen in ein paar Minuten. Aber wenn Sie sich beeilen …»

Er nickte.

Emilia wusste aus eigener Erfahrung, dass er es am nächsten Morgen bereuen würde. Trotzdem nahm sie ein sauberes Glas aus dem Regal und goss Gin hinein.

«Sie kommen aus Deutschland?», fragte er.

«Ja.»

«Was hat Sie nach Paris verschlagen? Die Liebe?» Er zwinkerte ihr zu. Wären die Tränensäcke unter seinen Augen nicht gewesen und sein müder, leerer Blick, hätte er ziemlich attraktiv sein können.

«Nein, das Studium», entgegnete sie knapp.

«Was studieren Sie?»

Emilia stöhnte innerlich. Wieso hatte sie ihm nicht einfach gesagt, dass sie sich in Abdul verliebt hatte und mit ihm zusammen in einem Ein-Zimmer-Appartement in Château Rouge hauste – einem Viertel, das man in Paris lieber meiden sollte.

«Verwaltungswissenschaften.» Das war der langweiligste Studiengang, der ihr spontan einfiel. «Können Sie zahlen? Ich muss die Abrechnung machen.»

Als sie damit fertig war, ging Emilia noch einmal in die Toiletten, um zu kontrollieren, dass sich dort niemand mehr aufhielt. Sie tat das immer mit einem etwas mulmigen Gefühl. Einmal hatte eine Frau so betrunken über der Kloschüssel gehangen, dass Emilia den Notarzt hatte rufen müssen.

Zurück im Bistro stellte sie fest, dass der Typ am Spielautomaten gegangen war, und auch der Geschäftsmann war schwankend von seinem Barhocker aufgestanden.

«Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?»

«Nein, danke. Ich wohne nicht weit von hier.» Er sah aus, als ob er noch etwas sagen wollte, tat es aber nicht. Mit einer unsicheren Bewegung hängte er sich sein Jackett über die Schulter und verließ das Paul’s.

Emilia wartete noch einen Moment, dann ging auch sie.

Die Katze hatte den Wurstzipfel inzwischen längst verspeist und inspizierte gerade den Inhalt eines Papierkorbs. Als sie Emilia sah, ließ sie davon ab und folgte ihr. So wie jede Nacht. Aber nur, bis Emilia das Bahnhofsgelände verlassen hatte und auf den Boulevard de la Chapelle einbog, dann machte sie kehrt. Einmal hatte Emilia darüber nachgedacht, sie mit nach Hause zu nehmen, und die Katze hochgehoben. Der Hieb, den das Tier ihr verpasst hatte, war als heller, schmaler Streifen noch immer deutlich auf der Innenseite ihres Unterarms zu erkennen. Er erinnerte sie stets an den schwachen Moment, in dem sie die Einsamkeit als gar zu bedrückend empfunden hatte. Es wäre schön gewesen, beim Nachhausekommen von jemandem erwartet zu werden, der sie nicht mit Salut, bouffon! begrüßte, wie Napoleon, der grüne Papagei ihres Mitbewohners Pedro, es tat. Und Trottel war noch eines seiner harmloseren Schimpfworte.

 

Die Straßenlaternen warfen ein trübes, schmutzig-gelbes Licht auf den Asphalt. Am Kiosk kam Emilia ein Clochard mit einer Plastiktüte in der Hand entgegen, aus der eine billige Weinflasche ragte. Auch in der Bahnhofsmission brannte noch Licht. Als Emilia daran vorbeikam, sah sie Diana durch die gläserne Front und winkte ihr zu. Vor einem Bordell standen drei leichtbekleidete Damen und warteten darauf, dass jemand kam, der auf der Suche nach der schnellen Befriedigung oder der Illusion von Nähe war. Ein Betrunkener im Rippshirt mit Joint in der Hand wankte auf sie zu. Etwa auf ihrer Höhe stolperte er über den Bordstein.

«Gros con!», fluchte er. Napoleon hätte seine helle Freude an ihm gehabt. Die drei Damen kicherten.

Tagsüber waren Bahnhöfe elektrisierende Orte. Orte der Ankunft und des Abschieds, an denen sich so viele verschiedene Emotionen auf engem Raum ballten. Emilia konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie an einem strahlend schönen Sommertag am Gare du Nord angekommen war. Mit einem riesigen Trekkingrucksack auf dem Rücken und ganz vielen Träumen im Gepäck. Nachts waren Bahnhöfe einfach nur trostlos.

Sie beschleunigte ihre Schritte. Der Schwanz der Katze, die immer noch neben ihr herlief, war auf den letzten Metern immer dicker geworden und peitschte zunehmend hektisch hin und her. Nun drehte sich das Tier um und schoss in großen Sprüngen zurück auf das sichere Terrain des Bahnhofs.

Abseits des Boulevard de la Chapelle war das Quietschen von Emilias Turnschuhen auf dem Asphalt schon bald das einzige Geräusch. Außer ihr war kaum noch jemand unterwegs, auch Autos fuhren nur sehr vereinzelt an ihr vorbei. In vielen Vierteln war in Paris nachts nicht mehr los als zu Hause. Aber wenn sie auf Usedom um diese Zeit noch unterwegs war, begleitete sie der Geruch des Meeres, hier in Paris war es der von Urin. Trotzdem wollte sie die Weite der französischen Weltstadt nicht mehr gegen die Enge ihrer piefigen Heimatinsel eintauschen.

 

Vor dem Supersonic standen nur ein paar Raucher. Emilia drängte sich an ihnen vorbei zu Antoine, dem Türsteher, einem kleinen Mann mit Zuhälterschnurrbart und stechendem Blick, der ausdrückte, dass man sich trotz seiner geringen Körpergröße besser nicht mit ihm anlegte. Als sie eintrat, sah sie Jacky mit einem Typen, den Emilia nicht kannte, an einem Tisch in der Nähe der Bar sitzen.

«Hey! Ich dachte schon, dass du uns versetzt.» Jackys leuchtend rot geschminkte Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Sie stand auf und begrüßte Emilia mit zwei Luftküsschen.

«Es hat heute etwas länger gedauert, bis ich alle Gäste rausgeschmissen hatte.»

Jacky schüttelte missbilligend den Kopf. «Du solltest dir endlich einen anderen Job suchen.»

«Nenn mir einen, bei dem man ohne entsprechende Ausbildung so viel verdient wie als Bedienung, und ich mache es sofort», erwiderte Emilia und nahm den Tequila entgegen, den Jacky ihr reichte.

Sie hatte Jacky vor ein paar Monaten nach einem feuchtfröhlichen Abend in einem Burger King kennengelernt, und seitdem zogen sie gemeinsam um die Häuser. Mit ihr konnte man viel Spaß haben, aber als Freundin hätte Emilia sie trotzdem nicht bezeichnet. Dazu müssten sie auch mal über etwas anderes reden als über heiße Kerle und coole Party-Locations. Aber momentan hatte Emilia sowieso keine Lust auf tiefergehende Gespräche.

Sie kippte den Tequila in einem Zug hinunter und spürte, wie die Anspannung von ihr abfiel und sich ein Gefühl von Wärme in ihrem Körper ausbreitete. Nach dem dritten Tequila stand sie auf der Tanzfläche, nahm den Geruch von Schweiß, die Mixtur verschiedener Parfüms und den Erdbeergeruch der Nebelmaschine wahr, und der Beat der Technomusik gab ihrem Körper seine Bewegungen vor. Das Vibrieren ihres Handys an ihrem Hintern spürte sie zwar, aber da sie davon ausging, dass es nur Pedro war, der seinen Wohnungsschlüssel vergessen hatte, ließ sie es in der Gesäßtasche ihrer Jeans stecken. Sie hatte keine Lust, schon wieder nach Hause zu gehen, nur um ihm aufzusperren, das hatte sie im Laufe des letzten halben Jahres schon mehrmals getan. Auch die weiteren Anrufe ignorierte Emilia. Erst in den frühen Morgenstunden zog sie das Handy heraus, als schon erste Sonnenstrahlen den Pariser Himmel mit einem zarten Rosaton überzogen. Ihr war ein wenig schwindelig, und sie wollte die Telefonnummer des Informatikstudenten einspeichern, der sie nur wenige Minuten vorher an die Fassade des Supersonic gepresst und geküsst hatte.

Ihre Mutter hatte versucht, sie anzurufen. Und sie hatte ihr eine Nachricht geschrieben.

Ruf mich bitte an! Egal wie spät es ist!

Es lag nicht an dem vielen Alkohol, den Emilia getrunken hatte, dass ihr ganz flau im Magen wurde.

«Was ist?», fragte der Informatikstudent.

«Meine Mutter. Ich muss sie zurückrufen!»

«Jetzt? Es ist halb fünf.»

Emilia drehte ihm den Rücken zu und entfernte sich ein paar Schritte, bevor sie auf Rückruf drückte.

«Endlich!» Die sonst so resolute Stimme ihrer Mutter am anderen Ende der Leitung klang ganz dünn.

«Ist was mit Papa?», fragte Emilia. Als sie an Weihnachten das letzte Mal zu Hause gewesen war, hatte ihr Vater so müde ausgesehen – und sicher fünf Kilo abgenommen. Seitdem machte sie sich Sorgen um ihn.

«Nein!» Delia fing an zu weinen, und Emilias Kehle schnürte sich so stark zusammen, dass sie kaum noch Luft bekam. Sie hatte noch nie gesehen oder gehört, dass ihre Mutter geweint hatte. «Deine Schwester … Clara hat gestern Abend Lizzy ins Internat gefahren. Auf dem Rückweg hatte sie einen Autounfall. Sie musste mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus geflogen werden …» Die Stimme ihrer Mutter erstarb.

«Ich komme nach Hause.»

2. Kapitel

Zinnowitz, Juli 2003

Unglaublich, wie warm es ist!, dachte Clara. Die letzten Tage hatte das Wetter verrücktgespielt, von Dauerregen über Sturm bis zu Hagel war alles dabei gewesen, und die Wolken hatten so tief gehangen, dass sie das Gefühl gehabt hatte, mit den Händen nach ihnen greifen zu können. Doch heute Nacht war der Himmel sternenklar. Kein Lüftchen regte sich, und der Sand schmiegte sich warm an ihre Fußsohlen und Handflächen. Clara griff hinein und ließ sich die feinen Körner durch die Finger rieseln. Diese Geste fühlte sich an wie eine Metapher für ihr Leben. Alles entglitt ihr, verlor an Substanz. Alles, was jahrelang so beständig und vertraut gewesen war. So vertraut wie der Anblick der Seebrücke, die vor ihr lag.

Aus ihrer Richtung schallten Stimmen zu Clara herüber. Lachen. Laute Musik. Ihre Klassenkameraden saßen und lagen im Kreis im Sand und feierten ausgelassen. Mit viel Alkohol, Zigaretten und – wenn sie den süßlichen Geruch in der Luft richtig deutete – auch ein paar Joints. Alle hatten Spaß. Nur ihr selbst war zum Weinen zumute.

Die weißen Strandkörbe hoben sich scharf vom schwarzen Nachthimmel ab, der von Millionen winziger Sterne erhellt wurde und den Lichtern der Promenade, die schlafend im Nichts zu schweben schienen. Clara suchte nach einem Punkt, an dem sich ihr Blick festhalten konnte, fand ihn aber nicht.

So viele erste Male hatten sich an diesem Strand abgespielt: das erste Mal draußen schlafen, die erste Zigarette, der erste Kuss. Auch dieser Abend würde ein erstes Mal sein. Ein erstes letztes Mal. Nach diesem Abend würde sich alles ändern.

Viele der Menschen, die sie schon ein ganzes Leben lang begleiteten, würden in den kommenden Wochen verstreut werden wie vertrocknete Rosenblätter im Wind. Melanie ging zum Studieren nach Berlin, Nicole für ein Jahr als Au-pair-Mädchen in die USA, Josh auf die Polizeischule nach Rostock …

«Ach, hier bist du! Wieso sitzt du ganz allein am Strand und bläst Trübsal? Du solltest dich wie verrückt freuen, dass die Schule endlich vorbei ist. Was würde ich darum geben, an deiner Stelle zu sein!» Emilia ließ sich neben ihr in den Sand plumpsen. Obwohl sie drei Jahre jünger war als Clara, war sie mit auf die Abschlussparty gekommen, denn eine Feier ließ ihre kleine Schwester sich niemals entgehen.

«Du willst also auch eine Ausbildung in der Gärtnerei machen?», fragte Clara ironisch.

Emilia schnaubte. «Eher geht die Sonne am Morgen unter.»

Ihre Schwester konnte es gar nicht erwarten, Usedom den Rücken zu kehren und in die große weite Welt hinauszuziehen. Nach Paris wollte sie, um dort eine Ausbildung zur Parfümeurin zu machen. Wenn sie ihr Abitur schaffte, wonach es momentan notentechnisch wirklich nicht aussah, denn Emilia hatte die neunte Klasse nur mit Ach und Krach geschafft. Und wenn sie ihren Vater überreden konnte, ihr diese Flausen zu finanzieren, wonach es auch nicht aussah. Sie soll erst mal was Anständiges lernen, hatte er vor ein paar Wochen erst gesagt. Aber all das änderte nichts daran, dass Emilia unbeirrt an diesem Ziel festhielt.

«Magst du?» Emilia reichte ihr eine Flasche.

«Was ist da drin?»

«Wodka-O.» Emilia grinste.

Clara nahm einen Schluck und musste husten. «Und wo hast du den Orangensaft versteckt?»

«Ist eine Spezialmischung von mir.» Emilia nahm ihr die Flasche wieder ab und ließ sich die orangefarbene Flüssigkeit in die Kehle rinnen. Ihr schien der beißende Geschmack des Alkohols nichts auszumachen. «Jetzt sag schon, wieso bist du nicht bei den anderen und feierst? Selbst Josh hat gerade einen Jacky-Cola geext.»

«Ich wollte nur einen Moment allein sein. Aber ich hatte gerade beschlossen zurückzugehen.» Das stimmte zwar nicht, doch sie wusste genau, dass Emilia nicht lockerlassen würde, bis sie sich wieder unter das Partyvolk mischte. So gut kannte sie ihre Schwester nach fünfzehn gemeinsamen Jahren.

Clara stand auf und klopfte sich den Sand von ihrer rosafarbenen Caprihose. «Was hat Papa eigentlich zu deiner neuen Haarfarbe gesagt?», fragte sie Emilia auf dem Weg zur Seebrücke.

Am Nachmittag hatte sich Emilia mit Hilfe ihrer Freundin Becky in einem stundenlangen Projekt ihre langen dunklen Haare erst blondiert und dann leuchtend blau gefärbt. Ihre Mutter hatte es recht gefasst aufgenommen. Aber ihr Vater war der konservativste Mensch auf der Welt, und Clara hätte ihr ganzes Geld darauf verwettet, dass er der Typveränderung seiner jüngsten Tochter nicht so souverän gegenüberstand wie Clara. Da er noch in der Gärtnerei gearbeitet hatte, als sie zum Strand gegangen war, um die Party vorzubereiten, hatte sie seine Reaktion nicht mehr mitbekommen.

«Wie wohl? Er ist natürlich total ausgeflippt. Wie kannst du dich so verschandeln?, hat er gezetert. Und rate, was er noch gesagt hat!»

«Was sollen denn die Leute denken …»

«Exakt.» Emilia grinste. «Er hat aber noch ein Du siehst aus wie ein Schlumpf drangehängt. Wenn, dann wie Schlumpfine, habe ich gesagt.» Sie verdrehte die Augen. «Papa ist so spießig. Mama ist viel cooler als er.»

Das stimmte. Ihre Eltern waren sowieso total unterschiedlich. Ihre Mutter legte viel Wert auf ihr Äußeres. Sie war immer schick gekleidet, und sie trug immer Lippenstift und Nagellack. Im gleichen Farbton natürlich. Ihr Vater dagegen sah immer ein bisschen so aus, als wäre er gerade erst aus dem Bett gekommen. Egal wie oft er seine Haare kämmte oder sie mit den Fingern glatt strich, sie fügten sich immer nur ganz kurz, bevor sie wieder nach allen Seiten abstanden. Und wenn Mama ihm nicht seine Kleider rauslegen würde, hätte er wahrscheinlich immer das Gleiche an oder eine vollkommen unmögliche Kombination. Er war auch viel gefühlsseliger als sie. Heute Morgen auf der Abschlussfeier hatte er so sehr geweint, dass Delia ihm peinlich berührt ein Taschentuch reichen musste. Doch trotz aller Unterschiede hatte Clara immer das Gefühl, dass die beiden sich aufrichtig liebten. Im Moment saßen sie zusammen mit ein paar anderen Eltern in einem der Restaurants an der Promenade und feierten dort den Abschluss ihrer Kinder.

«Oh Gott! Diese bescheuerte Denise kippt Josh gerade den nächsten Jacky rein», stöhnte Emilia und wies mit einem Kopfnicken in die Richtung von Claras Klassenkameraden. «Du solltest ihn retten, bevor sie ihn abschleppt, oder schlimmer – bevor er hier alles vollkotzt.» Sie zog eine Grimasse.

«Rette du ihn! Ich muss dringend wohin und helfe dir dann!»

Zuvor allein am Meer hatte Clara den Druck auf ihrer Blase noch ignorieren können, jetzt nicht mehr. Als sie sich auf dem Weg zu den Toiletten noch einmal umdrehte, sah sie, wie sich Emilia zwischen Josh und Denise quetschte und dabei halb auf deren Schoß zum Sitzen kam. Dass Denise protestierte, schien Emilia nicht weiter zu beeindrucken.

Clara lächelte. Emilia war es total egal, was irgendwelche Leute von ihr dachten, und sie zog ohne Rücksicht auf Verluste ihr Ding durch. Und auch wenn sie dieses egoistische Verhalten oft nervte, musste sie insgeheim doch zugeben, dass sie ihre kleine Schwester um ihr Selbstbewusstsein, ihre Unbeschwertheit und ihre Unabhängigkeit von der Meinung anderer beneidete.

 

Als Clara wieder aus dem Toilettenhäuschen kam, traf sie ihre Mutter auf dem schmalen Parkstreifen, der den Strand von der Promenade trennte, bei einer Gruppe von rauchenden Erwachsenen. Sie selbst hielt auch eine Zigarette in der Hand, aber als sie Clara bemerkte, ließ sie die Kippe schuldbewusst fallen und trat sie mit dem Absatz ihrer Pumps aus.

«Verpetz mich nicht bei deinem Vater!», sagte Delia zu ihr. «Du weißt ja, wie sehr er das hasst. Dabei mache ich es ja wirklich nur ganz, ganz selten.» Sie nahm einen Kaugummi aus ihrer Handtasche und schob ihn sich in den Mund. «Wusstest du, dass Emilia raucht?»

«Hast du etwas anderes erwartet?»

Ihre Mutter seufzte. «Natürlich nicht. Aber man wird ja noch hoffen dürfen … Dieses Kind lässt nichts aus. Gut, dass du immer so pflegeleicht warst, sonst wäre ich sicher längst schon ganz grau auf dem Kopf!» Sie legte den Arm um Claras Schultern. «Was ist denn los? Du siehst so deprimiert aus. Habt ihr keinen Spaß?»

«Doch, die anderen schon. Aber ich …» Sie zuckte resigniert mit den Schultern. «Ab morgen wird alles anders werden.»

«Das stimmt. Aber glaub mir: Stillstand ist schlimmer als Veränderung.» Delia ließ ihren Blick in Richtung Strand schweifen. «Ich habe mit Gitti gesprochen», sagte sie in die anschließende Stille hinein.

«Gitti? Meinst du deine Freundin, die aus der DDR geflohen ist und jetzt mit einem Mann in England lebt?»

Delia nickte. «Sie wohnen in Kent. Und ihr Mann heißt Lloyd. Er ist Gartengestalter, und er hat einen Sohn aus erster Ehe. Matthew. Ich habe Gitti gefragt, ob du in den sechs Wochen Sommerferien zu ihnen kommen kannst.»

«Du hast was?» Clara konnte nicht glauben, was sie gerade gehört hatte.

«Ich habe Gitti gefragt, ob du eine Zeitlang bei ihr wohnen kannst. Du musst unbedingt mal raus», erklärte ihre Mutter. «Keine Widerrede!», schob sie nach, als Clara den Mund öffnete, um zu protestieren. «Du kannst nicht hier auf der Insel versauern. Jetzt steht dir die Welt offen. Jetzt kannst du noch so viel erleben. Irgendwann ist es zu spät.»

Sie seufzte, und Clara fragte sich, ob sie dabei an ihr eigenes Leben dachte, das sich überwiegend zwischen Blumenladen, Haushalt und gelegentlichen Treffen mit Freunden abspielte. «Du und Papa, ihr könntet mal Urlaub machen», sagte sie. «Ein paar Tage kommen Millie und ich in der Gärtnerei auch ohne euch klar.»

«Das bezweifle ich nicht. Aber du weißt doch, wie dein Vater ist: Wieso wegfahren und Geld ausgeben, wenn es zu Hause sowieso am schönsten ist?»

Der Ansicht war Clara auch. Da war sie ganz das Kind ihres Vaters. Typisch Usedomerin eben! Aber ihre Mutter, die war mehr wie Emilia. Als ihre Eltern sich kennengelernt hatten, war sie Rosenkönigin gewesen. Sie hatte Pläne gehabt, wollte studieren. Aber zu alldem war es nie gekommen, denn zu DDR-Zeiten durfte man nicht reisen, und nach dem Mauerfall waren sie und Emilia auf der Welt gewesen …

Clara malte mit der Schuhspitze kleine Kreise in den kiesigen Boden. Auch wenn ihr bei dem Gedanken, in ein Flugzeug zu steigen und zu wildfremden Menschen zu reisen, ganz mulmig wurde, sollte sie vielleicht doch einmal über den Vorschlag ihrer Mutter nachdenken!

3. Kapitel

Die Reise von Paris nach Usedom hatte ewig gedauert, und je flacher die Landschaft geworden war, die vor dem Zugfenster vorbeizog, und je mehr Windräder am Horizont auftauchten, desto stärker war das Gefühl der Beklemmung in Emilias Brustkorb geworden. Inzwischen wusste sie von ihrer Mutter, dass Clara Kopfverletzungen, einen Milzriss und mehrere gebrochene Rippen hatte. Das alles war nicht akut lebensbedrohlich, aber auch nicht ungefährlich … Der Milzriss musste operiert werden.

Auf der Fahrt hatte Emilia sämtliche Gebete heruntergesagt, an die sie sich aus ihrer Kindheit noch erinnern konnte, und Gott sogar einen Deal angeboten: Wenn Clara wieder gesund wurde, würde sie sich endlich einen anständigen Job suchen. Sie würde nicht mehr jede Nacht um die Häuser ziehen und so viel trinken, dass sie morgens mit einem dicken Kopf und einem pelzigen Gefühl im Mund aufwachte. Sie würde sich nicht mehr mit Typen einlassen, nur um die Leere in ihrem Inneren für einen Moment zu vergessen, die sie seit zwei Jahren mit sich herumtrug und mit nichts zu füllen vermochte. Sie würde ihr Leben von jetzt an verdammt noch mal endlich wieder auf die Reihe kriegen!

Emilia holte tief Luft. Dann trat sie entschlossen durch die Schiebetüren des Krankenhauses, und sofort war er da: der ekelerregende Gestank nach Desinfektionsmittel, Kaffee, Verzweiflung und Tod. Sie hasste Krankenhäuser. Selbst nach den Geburten von Lizzy und Felix war sie nur widerstrebend dorthin gefahren, um ihre Schwester und das Baby zu besuchen.

Emilia versuchte, flacher zu atmen. Trotzdem schnürte sich ihre Kehle zusammen, und ihr gerade noch flatterndes Herz wurde zu einem schweren, trägen Klumpen in ihrem Brustkorb. Das Quietschen ihrer Turnschuhe auf dem Linoleum klang unangenehm schrill in ihren Ohren, als sie so schnell wie möglich auf den Aufzug zueilte und nach oben fuhr. Die Station für Innere Medizin, auf der Clara lag, befand sich im dritten Stock.

Als Emilia den Aufzug verlassen hatte, sah sie als Erstes Lizzy. Irgendjemand musste sie aus dem Internat abgeholt haben. Sie saß mit ihrem Handy in der Hand auf einer Sitzgruppe vor der Stationstür. Ihre Haare, lang und honigfarben wie die ihrer Mutter, hingen wie ein Vorhang vor ihrem Gesicht.

«Lizzy!», sagte Emilia leise, um sie nicht zu erschrecken.

Dennoch zuckte das Mädchen zusammen. Lizzy hob den Kopf. Ihr schmales Gesicht mit dem etwas zu spitzen Kinn sah ganz verquollen aus, ihre dunklen Augen waren gerötet. Nur zögernd stand sie auf. Seit Weihnachten war Lizzy ein ganzes Stück in die Höhe geschossen, sie reichte Emilia inzwischen sicher schon bis zu den Augenbrauen. So genau konnte Emilia das aber nicht feststellen, denn das Mädchen blieb ein paar Meter vor ihr stehen.

Es war noch gar nicht so lange her, da war Lizzy immer auf sie zugestürmt und hatte sich in ihre Arme geworfen. Aber da hatte sie auch noch Röcke aus Tüll und Shirts mit Einhorn-Applikation getragen. Nun steckten ihre langen, dünnen Beine in Jeans, die so eng saßen, dass sie kaum ihr Handy in eine der Taschen zwängen konnte. Im Gegensatz dazu war ihr schwarzer Pullover so weit, dass Emilia und sie zusammen hineingepasst hätten, und er reichte ihr fast bis zu den Knien. Die einst cremefarbenen Chucks an ihren Füßen waren schmutzig und mit schwarzem Filzliner bemalt. Die Namen ihrer Freundinnen standen darauf, aber auch Fuck School!.

«Sie lassen uns nicht zu Mama», sagte sie anklagend.

«Was? Aber Oma hat mir doch am Telefon erzählt, dass sie schon bei ihr war.»

«Sie durfte ja auch. Aber Felix und ich nicht. Kinder dürfen nicht auf die Intensivstation, hat die Schwester gesagt.» Eine Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel, und mit einer ungeduldigen, fast schon zornigen Bewegung wischte Lizzy sie weg.

In diesem Moment wünschte Emilia sich ein bisschen, mehr wie ihre beste Freundin Becky zu sein. Becky hätte sich nicht von Lizzys Distanziertheit ins Bockshorn jagen lassen, sondern wäre, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, auf sie zugegangen, hätte sie in ihre molligen Arme geschlossen und Lizzys knochigen Körper fest an sich gepresst.

Aber da sie leider nicht wie Becky war, sagte Emilia nur: «Ich werde mit der Schwester reden. Du bist ja schon dreizehn.» Sie zögerte einen Moment. «Wer hat dich aus dem Internat abgeholt?»

«Josh.» Ein kurzes Lächeln huschte über Lizzys Gesicht. Sie hatte schon immer sehr an ihm gehangen.

Emilias Schulterpartie jedoch versteifte sich. Das hatte sie sich gedacht. «Ist er auch hier?»

«Nein. Nur Oma, Opa und Felix. Josh muss arbeiten.»

Sie atmete aus. Gut! Der hätte ihr gerade noch gefehlt! «Bringst du mich zu ihnen?»

 

Ihre Eltern saßen mit Felix auf unbequem aussehenden Plastikstühlen im Wartezimmer der Intensivstation. Betroffen betrachtete Emilia die beiden. Ihre Mutter war schick gekleidet wie immer. Sie trug einen Overall aus weichem Jeansstoff und Sandalen, die mit bunten Schmucksteinen verziert waren. Wie immer war sie sorgfältig geschminkt, vielleicht sogar etwas stärker als sonst. Aber die Falten, die sich von ihren Nasenflügeln in Richtung Kinn zogen … waren die schon immer so tief gewesen? Und ihr Vater … hatte der seine breiten Schultern auch an Weihnachten schon so sehr hängen lassen? Ihre Eltern sahen aus, als wären sie seit ihrem letzten Zusammentreffen um zehn Jahre gealtert.

Im Gegensatz zu seiner Schwester hatte ihr neunjähriger Neffe keinerlei Berührungsängste. Er lief auf Emilia zu und schmiegte sich an sie. «Mama hatte einen Autounfall!»

«Ich weiß.» Emilia ließ ihre Reisetasche auf den Boden fallen und streichelte dem Kleinen über die weichen, dunkelblonden Haare, die glatt wie ein Helm sein Gesicht einrahmten.

«Na komm!» Thees hielt seinem Enkel seine große Hand hin, deren Nägel von der Arbeit im Garten immer ein bisschen schwarz waren. «Lass uns mal im Kiosk nachschauen, ob wir dort was Süßes für dich und deine Schwester finden. Und für mich eine Tasse Kaffee. – Soll ich dir eine mitbringen?», wandte er sich an seine Tochter.

Emilia nickte dankbar. Sie hatte seit Ewigkeiten nicht mehr richtig geschlafen, war im Flugzeug gar nicht und im Zug nur hin und wieder für ein paar Minuten weggedämmert.

«Wie geht es ihr?», fragte Emilia ihre Mutter, nachdem die große, kräftige Gestalt ihres Vaters und seine beiden Enkel durch die Stationstür verschwunden waren. «Weißt du schon was Neues?»

Delia rieb sich übers Gesicht und verschmierte dabei ihre Wimperntusche. «Den Umständen entsprechend ganz gut. Die Operation ist gut verlaufen. Der Milzriss war zum Glück nicht besonders tief. Die Rippenbrüche heilen von selbst, hat der Arzt gesagt. Aber die Kopfverletzung …» Sie griff nach Emilias Hand und drückte sie. «Sie haben Clara ins künstliche Koma gelegt.»

«Was?» Emilia befreite ihre Hand mit einem Ruck aus der ihrer Mutter. «Aber …»

«Es ist nicht so schlimm, wie es sich anhört», versuchte Delia sie zu beruhigen, aber es gelang ihr ganz und gar nicht. «Der Arzt hat gesagt, dass diese Maßnahme nur der Entlastung ihres Körpers dient und dass junge, gesunde Menschen wie deine Schwester so etwas in den allermeisten Fällen problemlos verkraften. Sie braucht jetzt nur Ruhe … Bitte erzähl es nicht den Kindern. Wir haben ihnen gesagt, dass Clara nur ganz tief schläft.»

Emilia atmete tief durch. Auch wenn ihre Mutter etwas anderes behauptete: Das klang schlimm. Das war alles ein einziger Albtraum! «Kann ich zu ihr?»

«Gleich. Gerade sind noch zwei Schwestern bei ihr und wechseln ihre Verbände.»

Ihre Verbände … Es waren also gleich mehrere. «Was ist denn überhaupt passiert? Wisst ihr das inzwischen?», fragte sie, und ihre Stimme hörte sich entsetzlich zittrig an. Dabei hätte sie ihrer Mutter so gerne Halt gegeben.

Delia schüttelte den Kopf. «Der Unfall ist kurz hinter Breest passiert. Auf der langen, geraden Allee. Ein anderes Auto war nicht beteiligt. Die Polizisten vermuten, dass Clara am Steuer eingenickt ist. Sie …» Delia stockte, dann fuhr sie fort: «Sie hat nicht besonders gut geschlafen in der letzten Zeit.»

«Wieso nicht? Hatte sie Sorgen?»

Delia zögerte einen Moment zu lange, bevor sie weitersprach. «Du kennst doch deine Schwester. Sie hat ständig Sorgen. Für alles und jeden fühlt sie sich verantwortlich.»

Bestimmt hatte Clara diese Sorgen Klaus zu verdanken. Emilia verschränkte ihre Finger so fest, dass die Knöchel weiß unter der Haut hervortraten. Wie hatte ihre Schwester sich nur mit so einem Arschloch einlassen können? Und dann war sie auch noch schwanger von ihm geworden! Zum Glück war sein dunkelblondes Haar das Einzige, was Felix von seinem Vater geerbt hatte.

Thees war gerade mit den Kindern vom Kiosk zurückgekommen und hatte Emilia einen Plastikbecher voll dampfendem Kaffee in die Hand gedrückt, als die Tür aufging und eine Schwester das Wartezimmer betrat.

«Sie können jetzt zu Frau Jung. Aber bitte nicht mit der ganzen Familie», sagte die Schwester. Ihre braunen Augen sahen müde aus.

«Geh ruhig!» Ihr Vater nickte Emilia zu. «Wir waren schon bei ihr.»

«Ich will mit! Bitte!» Felix nahm Emilias Hand und schaute mit großen Augen zu der Schwester auf.

Die junge Frau seufzte. «Gut, ausnahmsweise. Aber nur kurz, damit deine Schwester eure Mutter anschließend auch noch für ein paar Minuten besuchen kann.»

 

Aus Filmen wusste Emilia, wie es auf einer Intensivstation aussah, aber es traf sie trotzdem hart, Clara inmitten von Apparaturen und Monitoren und an mehrere Schläuche angeschlossen in einem Bett liegen zu sehen, das viel zu groß für sie wirkte. Der Druck von Felix’ Hand verstärkte sich, und sie bedauerte es, dass sie ihn mitgenommen hatte. Clara war nicht allein im Zimmer. Neben ihr, nur durch einen Paravent abgetrennt, lag eine Frau, die in einer Tour stöhnte. Und dann das furchtbare Piepen, das von den Apparaten ausging! Eine junge Schwester, die ein rotes Band mit Schleife im brünetten Haar trug, hängte gerade einen Beutel mit einer hellen Flüssigkeit an ein Gestell. Schwester Anne stand auf dem Schild an ihrer Brust.

Emilia zog einen Stuhl heran und setzte sich neben das Bett. Felix kletterte auf ihren Schoß.

«Sie schläft ganz tief», flüsterte er.

«Ich weiß.»

«Meinst du, sie hat Schmerzen?»

Emilia schüttelte den Kopf und hoffte, dass sie damit recht hatte.

Felix streichelte den Arm seiner Mutter.

Nicht, wollte Emilia schon sagen. «Dürfen wir sie überhaupt berühren?», fragte sie die Schwester. Sie fühlte sich so furchtbar hilflos und unsicher.

«Klar. Fassen Sie sie an! Reden Sie mit ihr! Das wird ihr guttun. Auch wenn sie schläft, wird sie das alles spüren.» Schwester Anne nickte ihr noch einmal aufmunternd zu und verließ dann das Zimmer.

«Werd schnell wieder gesund, Mama!» Felix strich mit dem Daumen über das Pflaster, das die Kanüle fixierte, die in Claras Handrücken steckte.

Emilia blinzelte. Vorsichtig streckte auch sie die Hand aus. Claras Haut fühlte sich ungewohnt kühl an. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, und sie musste sich zwingen, ihrer Schwester ins Gesicht zu schauen. Das wunderschöne, ebenmäßige Gesicht, das nun von Abschürfungen und Blutergüssen verunstaltet wurde. Die blonden Locken waren von einem dicken Verband verdeckt. Aber am schlimmsten war der Schlauch, der in Claras Mund steckte. Emilia kämpfte gegen das Schluchzen an, das in ihrer Kehle aufstieg, und grub ihre Nase für einen Moment in Felix’ Nacken, um seinen tröstlichen Kindergeruch einzuatmen.

Gestern um diese Zeit hatte sie noch im Paul’s gestanden, Essen und Getränke serviert und mit einem attraktiven Kerl geflirtet, der sich die Zeit im Bahnhofsbistro vertrieb, weil sein Zug nach Nantes Verspätung hatte. Und nun saß sie hier neben ihrer älteren Schwester auf der Intensivstation, mit deren tapferem kleinen Sohn auf dem Schoß, und niemand konnte sagen, ob Clara jemals wieder so sein würde wie vor dem Unfall.

Natürlich würde sie das! Emilia presste Felix an sich. Das hatte der Arzt schließlich zu ihrer Mutter gesagt! Sie durfte sich jetzt nicht so hängenlassen. Sie musste an Felix denken. Und auch an Clara. Schließlich hatte die Schwester gesagt, dass sie einiges mitbekam.

«Du hast mir einen ganz schönen Schreck eingejagt, Schwesterherz!», sagte sie und streichelte Claras viel zu kühle Wange. «Mich auf diese Weise wieder nach Hause zurückzuholen, war nicht okay von dir. Ich wollte doch erst in ein paar Wochen kommen! Aber jetzt, wo ich schon mal da bin, mache ich mir eben ein paar schöne Tage, während du im Krankenhaus liegst und dich mal so richtig ausschläfst.»

Es war vollkommener Schwachsinn, den sie hier von sich gab. Aber was sollte sie Clara schon erzählen?

Ach, Clara! Mit dem Studium, das hat alles nicht so geklappt, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich würde so gerne mit dir darüber reden! Und ich wüsste gern, wieso du in der letzten Zeit nicht gut geschlafen hast. Was macht dir solche Sorgen? Wieso haben wir in der letzten Zeit nur so wenig miteinander telefoniert? Wieso haben wir überhaupt so wenig Zeit miteinander verbracht? Du wolltest mich doch in Paris besuchen! Verdammt, du blöde Kuh! Komm bloß nicht auf die Idee, nicht wieder gesund zu werden!

Das hätte sie gerne zu ihr gesagt. Emilia nahm Claras Hand und drückte sie an ihre Lippen. Eine Zeitlang saß sie so da, mit Felix auf dem Schoß, dessen Atemzüge langsam ruhiger wurden, und betrachtete Claras regloses Gesicht, bis die schrille Stimme der jungen Schwester sie plötzlich hochschrecken ließ: «Halt! Stopp!»

Felix zuckte zusammen und riss die Augen auf. Emilia wandte sich um. Josh war durch die Glastür ins Claras Zimmer getreten.

4. Kapitel

Wie eine Furie stürmte die junge Schwester hinter Josh her. «Wie sind Sie denn hier reingekommen? Sie können hier nicht einfach jemanden besuchen! Sie müssen sich vorne anmelden!»