WILD CROW - Der schwarze Schwarm - Jacob Grey - E-Book

WILD CROW - Der schwarze Schwarm E-Book

Jacob Grey

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Beschreibung

Der schreckliche Spinnenmann ist vernichtet – aber ein neuer Feind bedroht Caw und seine Verbündeten.

Die Schwarze Herrin der Fliegen hat ihre Augen überall – und sie ist auf der Suche nach Caw. Denn als Erbe der Rabenflüsterer ist er im Besitz einer mächtigen magischen Waffe – und die Herrin der Fliegen wird alles dafür tun, um sie zu erlangen. Zusammen mit seiner Freundin Lydia und seinen treuen Raben an der Seite glaubt Caw die Stadt beschützen zu können. Aber um diese dunkle Macht zu besiegen, wird die Kraft der Raben nicht ausreichen.

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Seitenzahl: 342

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Von dem geheimnisvollen Jacob Grey ist wenig bekannt. Angeblich lebt er in den USA in einer großen Stadt, wo er nachts durch die Straßen streift, immer auf der Suche nach neuen dunklen und wunderbaren Geschichten. Er liebt alle Tiere, und ebenso wie sein Held spricht er mit Raben – aber niemand weiß, ob er ihre Antworten versteht.

Weitere Bände in dieser Reihe

Wild Crow – Der Fluch des Spinnenmanns

Jacob Grey

Aus dem Englischen

von Anne Brauner

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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© 2015 der deutschsprachigen Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Neumarkter Str. 28, 81673 München Text © Working Partners Ltd 2015 Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel: »Ferals – The Swarm Descends« bei HarperCollins Children’s Books a division of Harper Collins Publishers London, New York Alle Rechte vorbehalten Übersetzung: Anne Brauner Jacket art © 2015 by Eric Deschamps Jacket design by Sarah Creech Vignetten innen: Frank Niedertubbesing Umschlaggestaltung: © Isabelle Hirtz, Inkcraft nach einer Originalvorlage CK · Herstellung: AJ Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach ISBN 978-3-641-18535-0V002
www.cbj-verlag.de

Mit besonderem Dank an Michael Ford

Erstes Kapitel

Hier gibt’s Geister, dachte Caw. Nicht die Spuk-Gespenster, die durch leere Räume fegen und heulend an Türen schlagen, sondern traurigere. In aller Stille hatte sich eine Traurigkeit eingenistet, die aus den Erinnerungen der Lebenden stammte.

Er sah noch mal auf die Uhr, die Crumb ihm geschenkt hatte – zwei Uhr morgens.

Das ist alles andere als eine gute Idee, sagte Glum. Er kauerte drei Meter über dem Boden auf einem Ast und barg den Schnabel in seinem dichten Brustgefieder. Ich bin älter als du. Warum hört eigentlich nie jemand auf die Stimme der Erfahrung?

»Ich habe sie gehört«, sagte Caw. »Und in den Wind geschlagen.«

Er gab sich selbstbewusst, doch sein Mund war trocken und er erschauerte, während er im im Gebüsch hockte. Das Haus stand leer, der mit Graffiti bemalte Putz bröckelte. Zwei Fenster waren unversehrt, die anderen entweder eingeschlagen oder mit Brettern vernagelt. Der Rasen vor dem Haus war so hochgeschossen, dass nicht einmal mehr ein Weg zur Haustür zu sehen war. Neben dem Haus standen Bäume; einer von ihnen war vom Sturm zersplittert aufs Dach gesunken und die Äste waren durch die Ziegel ins Haus gedrungen. Es sah aus, als würden sie drinnen weiter wachsen.

Trautes Heim, Glück allein, murmelte Screech, der nervös über Caws Schultern hüpfte. Die Krallen des jungen Raben bohrten sich trotz der Lederjacke in seine Haut.

Heim?, dachte Caw. Wohl kaum. So fühlte es sich nun wirklich nicht an.

Er durchforstete seine Erinnerungen, doch dieser Ort tauchte nicht darin auf. Als die Raben ihn fortgebracht hatten, war er fünf Jahre alt gewesen; das Gebäude vor seinen Augen schien ihm unbekannt. Wäre nicht das nervöse Grauen gewesen, das er bei diesem Anblick empfand – dasselbe Gefühl wie in seinen Träumen.

Wir können immer noch zur Kirche zurückkehren, Caw, sagte Glum. Wir könnten die süßen Reibekuchen aufessen, die vom Abendessen übrig sind. Und woher wissen wir überhaupt, dass es das richtige Haus ist?

»Das weiß ich eben«, sagte Caw mit eiskalter Sicherheit.

Er hörte hinter sich Flügel schlagen, als ein dritter Rabe landete. Drahtig und geschmeidig hackte der Vogel mit schmalem Schnabel in die Erde und holte einen zuckenden Wurm hervor. Das klebrige Tierchen wand sich wie wild, doch der Rabe warf es in die Luft und schlang es hinunter.

Hallo Schimmer!, sagte Screech und warf sich in die Brust.

Die Luft ist rein, sagte das Rabenweibchen, von dessen Schnabel Erdkrumen bröselten. Worauf wartet ihr noch?

Auf die Einsicht dieses jungen Mannes, sagte Glum. Dass man die Geschichte ruhen lassen soll.

Sei doch nicht so ein Spielverderber!, sagte Schimmer und spannte die Flügel. Das Gefieder schimmerte in Blau- und Rottönen wie vergossenes Öl auf nassem Asphalt. Ich habe vier Wochen gebraucht, um dieses Haus zu finden. Wenn Caw nicht reingeht, mache ich es selbst.

»Hört gefälligst auf, so zu reden, als wäre ich gar nicht da!«, sagte Caw. Ausnahmsweise ließen die Raben ihr Hickhack ruhen. Seit Schimmer zu ihnen gestoßen war, kam das nur sehr selten vor. Raben waren stur, zankten sich gern und wollten am liebsten das letzte Wort haben. Alle außer Milky, dem weißen Raben, mit dem Caw aufgewachsen war. Im Laufe der langen Jahre im Nest hatte er höchstens zwanzig Worte gesprochen. Caw wünschte, der alte Rabe wäre noch bei ihnen.

Er stand auf, reckte sich und warf einen Blick auf die Straße. In diesem Stadtteil wohnte niemand mehr.Die Familien hatten ihre Häuser verlassen, weil es seit dem Schwarzen Sommer – der großen Schlacht zwischen den Wildstimmen vor acht Jahren – keine Arbeit mehr gab. Ein kaputter verrosteter Roller lag im welken Laub der Gosse und in dem Garten vorm Haus hing eine schiefe Schaukel an ausgefransten Seilen im Baum.

Caw malte sich kurz aus, wie es wohl gewesen war, seine Kindheit hier zu verbringen. Hatte er mit anderen Kindern aus den leeren Nachbarhäusern gespielt? Es war unglaublich schwer, sich an diesem trostlosen, bedrohlich stillen Ort lachende Kinder vorzustellen. Mit klopfendem Herzen ging er über die Einfahrt zum Haus. Die Haustür war mit Brettern vernagelt, doch er könnte locker durch ein Fenster einsteigen.

Du kannst immer noch umkehren, sagte Glum, der stur auf seinem Ast blieb.

Glum hatte leicht reden: Ihm bedeutete das Haus nichts, während es für Caw die Welt war. So viele Jahre lang war seine Vergangenheit ein unbeschriebenes Blatt für ihn gewesen – ein weites Land ohne Hinweisschilder, an denen er sich hätte orientieren können. Doch dieses Haus war ein Mahnmal, das er nicht ausblenden konnte. Was würde er darin finden? Er holte ein zerknittertes Foto aus der Jackentasche. Crumb, der Taubenflüsterer, hatte ihm dieses Bild seiner Eltern geschenkt. Er war mit diesem abendlichen Ausflug Caws auch nicht einverstanden gewesen und hatte gebrummt, das Ganze sei »reine Zeitverschwendung.« Caw strich mit dem Daumen über die Gesichter seiner Eltern. Genauso hatten sie ausgesehen, als er sie im Totenreich getroffen hatte. Er hatte nur wenige kostbare Momente mit ihnen verbracht und sehnte sich schmerzlich nach einer weiteren Begegnung. Und wo könnte er mehr über sie herausfinden als in diesem Haus?

Er war es ihnen schuldig, jetzt nicht umzukehren.

Als Caw eine Hand auf ein Brett über der Tür legte, stellte er fest, dass es nicht fest vernagelt war. Er riss kraftvoll an einer Ecke und hielt es mitsamt den verrosteten Nägeln in der Hand. Auch die anderen Bretter ließen sich leicht entfernen, sodass er sich rasch Zutritt zum Haus verschaffte.

Caw spürte die Raben in seinem Rücken und drehte sich um. Klar, alle drei hockten vor ihm auf der Erde.

»Ich gehe allein da rein«, sagte er.

Schimmer nickte und Screech hüpfte ein kleines Stück zurück. Glum wandte sich mit einer theatralischen Kopfbewegung ab.

Caw war wenig überrascht, dass das Licht im Haus nicht funktionierte. Es war kühl und roch nach Moder. In dem trüben Licht entdeckte er umgefallene Möbel und schiefe Bilder. Im Eingang führte eine breite Treppe zu einem Absatz und schraubte sich dann weiter in den ersten Stock. Caw hatte das Gefühl, etwas wäre hoch gehuscht, vielleicht eine Ratte oder ein Vogel, doch als er erneut hinsah, rührte sich nichts.

Er hatte das dumpfe Gefühl, hierher zu gehören. Gewisse Dinge kamen ihm bekannt vor – ein Lampenschirm, ein Türknauf, ein zerschlissener Vorhang. Vielleicht spielte ihm seine Erinnerung jedoch nur einen Streich, weil er in den Überresten vergangenen Lebens gerne etwas Wichtiges entdecken würde.

Hinter einem Torbogen stand ein in die Jahre gekommenes Sofa und aus einem Wandschalter ragten Drähte. Als er weiterging und einen Esstisch erblickte, lähmte ein Angstanfall seine Beine. Dieses Zimmer kannte er aus seinen Albträumen. Hier war es geschehen – an diesem Tisch waren seine Eltern von den Spinnen des Spinnenmeisters ermordet worden. Jetzt lag Staub darauf, doch Caw sträubte sich, näher heranzugehen.

Stattdessen wandte er sich zur Treppe, deren Stufen knarrten, als er nach oben ging. Mit jedem Schritt bereitete ihm das quälende Heimweh mehr Magenschmerzen und im ersten Stock trugen ihn seine Füße wie von selbst zu einer Tür, an der ein kleines Schild in Form eines Zuges klebte. Darauf standen Worte, die er dank Crumbs Unterricht entziffern konnte – »Jacks Zimmer.«

Jack Carmichael.

So hatte er geheißen, früher.

Caw holte tief Luft und drückte die Tür auf.

Als sein Blick auf die Fenster fiel, wurden seine Knie weich. Die Erinnerungen, die so sehr einem Traum glichen, verdichteten sich zu nackter Angst. Caw musste sich am Türrahmen festhalten.

Aus dem Gedächtnis spürte er den festen Griff seiner Eltern, die ihn aus dem Bett zum Fenster schleppten. Sie hatten die Finger so tief in seine Arme und Beine gebohrt, dass es wehtat, und schienen seine angstvollen Schreie nicht zu hören. Dann hatte sein Vater das Fenster geöffnet und seine Mutter hatte ihn hinausgeworfen. Der Boden schoss ihm entgegen, ein namenloser Schrecken ergriff ihn, während er fiel …

Caw atmete durch, als die Erinnerung verblasste.

Viele Jahre lang war es das Einzige gewesen, woran er sich erinnert hatte, und es hatte in ihm gebrodelt – dass sie ihn so herzlos verstoßen hatten. Mittlerweile wusste er, dass dies nur eine kleine Episode einer langen Geschichte war, die vor vielen Jahrhunderten begonnen hatte – es war die Sage der Wildstimmen, die einander bekämpften. Seine Eltern wollten ihn damals nicht umbringen, sondern beschützen, indem sie ihn möglichst weit vom Spinnenmeister fortbrachten.

Als Caw die Augen öffnete und den Blick vom Fenster wandte, zitterte er.

Das Zimmer war so gut wie leer. Auf zwei Regalen lagen Papiere, in einer Ecke gammelten Kleidungsstücke. Caw hatte nicht erwartet, dass es hier wie im Museum aussah, aber dieser jämmerliche Zustand ärgerte ihn doch. Irgendwer hatte all seine Sachen mitgenommen.

Die Wut verebbte so rasch, wie sie gekommen war, und ließ ihn in dumpfer Trauer zurück. Natürlich war das Haus geplündert und zerstört worden. Viele Kleinkriminelle hatten sich im Chaos bereichert, das mit dem Schwarzen Sommer einhergegangen war. Und in so einem schönen Haus hatte man sich vermutlich ausgiebig bedienen können.

Er ging über den schimmeligen Teppich zum Fenster. Die Scheibe war gesprungen und er wischte das Wasser, das sich innen gesammelt hatte, mit seinem Jackenärmel ab. Die Nacht war ruhig, hell strahlten die Sterne am wolkenlosen Himmel und sanft schien der Mond.

Caw seufzte. Crumb hatte recht – es war sinnlos gewesen, herzukommen. Die Vergangenheit lag hinter ihnen.

Plötzlich sah er etwas, weiter unten zwischen den Bäumen. Ein blasses Gesicht leuchtete in der Dunkelheit neben einem Baumstamm.

Caws Herz machte einen Satz. Das Gesicht bewegte sich nicht, es starrte ihn nur an. Der Mann war alt, seine Haut so weiß, als wäre er ein geschminkter Clown. Wer war das? Und was wollte er in Caws Garten?

Caw wollte das Fenster öffnen, um dem Mann etwas zuzurufen, doch das ging nicht. Als er sich noch mal mit aller Kraft dagegen stemmte, gab es knarrend nach. Er wollte gerade rufen, als hinter ihm jemand panisch Luft holte.

»Wer bist du?«

Als er sich umdrehte, rührte sich der Altkleiderhaufen in der Ecke. Dort lag ein Mädchen in einem Schlafsack. Sie war dünn und schmutzig, das strähnige Haar hing ihr ins Gesicht. Sie war wohl etwas älter als er.

Caw wich zurück, bis er ans Fenster stieß. Am liebsten wäre er weggelaufen, doch vor Angst war er wie gelähmt. Dann fand er seine Stimme wieder.

»Ich …« Was sollte er sagen? Wo sollte er anfangen? Ihr Blick war trotzig, doch Caw spürte, dass auch sie Angst hatte. Das half ihm ein wenig, und er hob die Hände, um zu zeigen, dass er ihr nichts tun würde. »Das ist mein Haus«, sagte er. »Und wer bist du?«

Das Mädchen stand auf und pellte sich aus dem Schlafsack. Ihre Knöchel wurden weiß, als sie einen Baseballschläger umklammerte, der neben ihr gelegen hatte.

»Bist du allein?«, fragte sie.

Caw dachte an den alten Mann vor der Tür und sah sich flüchtig um. Doch das Gesicht in den Bäumen war nicht mehr da. Auch die Raben waren nirgends zu sehen.

»Äh … ja«, antwortete er.

»Und wenn das dein Haus ist, warum wohnst du dann nicht hier?«, fragte das Mädchen und richtete den Baseballschläger gegen ihn. So wie sie aussah, würde sie nicht zögern, damit zuzuschlagen.

Caw hielt Abstand. »Ich war sehr lange nicht hier«, sagte er. Obwohl er nach einer besseren Erklärung suchte, fiel ihm nichts ein.

Das Mädchen hob den Schläger höher. Wenn er das Falsche sagte, würde sie zuschlagen.

»Meine Eltern … haben mich rausgeworfen«, sagte er. Stimmte ja irgendwie.

Das Mädchen entspannte sich sichtlich und ließ den Schläger sinken. »Willkommen im Club«, sagte es.

»In welchem Club?«

Sie runzelte die Stirn. »Das sagt man so«, erklärte sie. »Es bedeutet, dass wir im selben Boot sitzen.«

Caw wurde immer verwirrter. »Wir sind in einem Haus, nicht in einem Boot«, sagte er.

Damit brachte er das Mädchen wider Willen zum Lachen. »Von welchem Planeten kommst du denn?«, fragte es und schüttelte den Kopf.

»Von diesem«, antwortete Caw, der kapiert hatte, dass sie sich über ihn lustig machte. Immer noch besser, als ihn mit einem Baseballschläger niederzumähen. »Bist du auch allein?«, fragte er.

Sie nickte. »Ich bin von zu Hause weggelaufen. Seit ein paar Wochen schlafe ich hier. Übrigens heiße ich Selina.«

»Caw«, sagte Caw.

»Ist das eine Abkürzung?«

»Nee.«

»Ich wusste, dass hier viele Häuser leer stehen«, sagte Selina. Sie schwenkte den Schläger durch den Raum. »Von allen war es hier am schönsten.«

»Danke«, sagte Caw. »Das war früher mein Zimmer.«

Das Mädchen grinste. »Es gefällt mir echt gut, die Rattenköttel machen es richtig gemütlich.«

Darüber musste Caw einfach lachen. Es hatte eine Weile gedauert, doch mit Crumbs und Pips Hilfe gelang es ihm allmählich, sich mit anderen zu unterhalten. »Also, ich finde die verkohlten Vorhänge am schönsten.«

Selina lehnte den Schläger an die Wand. »Ich kann auch gehen, wenn du möchtest«, sagte sie.

Caw schwieg, er hatte ein komisches Gefühl in der Magengrube. Niemand hatte ihn je gefragt, was er wollte, und er hatte selbst keine Vorstellung davon. Er betrachtete ihr mageres Gesicht und ihre Lumpen. Wenn er sie aus dem Haus warf, was würde dann aus ihr werden? Wahrscheinlich konnte sie in einem anderen Gebäude unterkriechen, doch sie hatten sich gerade erst kennengelernt und bis auf den Baseballschläger machte sie einen netten Eindruck.

Das Mädchen griff nach dem Schlafsack.

»Du kannst ruhig bleiben«, sagte Caw rasch.

Sie hielt inne. »Oh – du wohnst jetzt woanders?«

Er sah die Verzweiflung in ihrem Blick. Dann dachte er an die Sankt-Franziskus-Kirche, in der er mit Crumb und Pip lebte, und mied ihren Blick.

»Kann man sagen.«

Selina lächelte schief. »Verstehe. Ich komme auch allein klar.«

Caw musterte sie und überlegte, ob sie nur so tat, als wäre sie mit allen Wassern gewaschen. In der Kirche hatte er eine Matratze, es war warm und es gab etwas zu essen. Es war tausendmal besser als hier. Sollte er sie mitnehmen? Platz gab es genug. Sein Herz drängte ihn, etwas zu sagen, doch sein Verstand sprach dagegen. Crumb würde es nicht gefallen, wenn er mit einer Fremden auftauchte. Und wie sollten sie ihre Wildstimmenkräfte vor ihr geheim halten?

Nein, das Risiko war zu hoch.

»So habe ich das nicht gemeint«, sagte er. »Ich bin dort selbst nur zu Gast, das ist alles.«

Sie nickte. »Kein Problem.«

Er hatte ein schlechtes Gewissen. Nachts war es sicher bitterkalt im Haus; und was bekam sie, der keine Raben halfen, zu essen?

»Du siehst aus, als hättest du Hunger«, sagte er schließlich. »Ich könnte später wiederkommen und dir etwas zu essen bringen, wenn du möchtest.«

Selina wurde rot, doch sie reckte trotzig das Kinn. »Ich brauche keine Hilfe«, sagte sie.

»Weiß ich«, erwiderte er. »Ich wollte nur … also, ich weiß, wo man etwas zu essen findet. In der Stadt.«

»Ich auch«, sagte sie misstrauisch. »Ich hab einfach keinen Hunger, klar?«

Es wurde unbehaglich still. Caw hatte sie nicht beleidigen wollen.

»Und wenn wir uns erzählen, was wir wissen?«, schlug sie schließlich vor. »Ich kann dir zeigen, wohin ich immer gehe, und du tust das Gleiche. Zwei Einzelkämpfer können sich doch gegenseitig helfen.«

Caw blinzelte. Mit einem solchen Angebot hatte er nicht gerechnet. »Wie … zusammen?«

»Warum denn nicht?«, fragte Selina. »Wie wär’s mit morgen Abend? Um zehn?«

Caw nickte bereits, ohne eine Sekunde darüber nachgedacht zu haben.

Screech gurrte leise vor dem Fenster. Sie machen sich bestimmt schon Sorgen. Caw wollte nicht, dass sie hereinkamen und Selina erschreckten.

»Ich muss los«, sagte er.

Sie betrachtete ihn konzentriert mit gefurchter Stirn. »Okay«, sagte sie. »Bis morgen, Caw. Bis dahin hüte ich die Schätze deiner Eltern.«

»Schätze?« Hatte sie etwas gefunden?

Sie lächelte erneut. »Scherz.«

»Ach so.« Caw wurde rot. »Verstehe. Bis dann.«

Seine Wangen brannten noch, als er das Haus verließ, doch auf der Treppe wurde ihm leicht ums Herz. Er hatte so lange mit keinem normalen Menschen gesprochen und bis auf ein paar Aussetzer war es gut gelaufen. Sollte er Crumb von dem Mädchen erzählen? Der Taubenflüsterer hatte nicht viel übrig für Leute, die keine Wildstimmen waren.

Im Wohnzimmer zögerte er, weil ihm plötzlich alle möglichen Fragen durch den Kopf gingen. Von wo war sie ausgerissen und warum? Wie lange war sie schon hier und wie hatte sie überlebt? Nun, er hatte später noch genug Zeit, sie das alles zu fragen.

Was gefunden?, fragte Schimmer und hüpfte an Caws Seite, als er die Haustür schloss.

»Nichts Wichtiges«, log Caw. »Kommt, wir gehen nach Hause.«

Gar nichts? Schimmer legte den Kopf schief.

»Das Haus ist eine Ruine«, antwortete Caw. »Ich hätte auf Glum hören sollen.«

Hab ich dir gleich gesagt, sagte Glum.

Er hätte ihnen von Selina berichten müssen, das war ihm klar, doch sie würden nur dagegen wettern, so wie damals bei Lydia. Außerdem hatten die Raben ihm sein Leben lang alles Mögliche verheimlicht und es war befriedigend, ihnen nun auch etwas vorzuenthalten – selbst wenn es nichts Wichtiges war.

Sie traten gerade von dem Rasen vor dem Haus auf den Bürgersteig, als plötzlich jemand aus der Dunkelheit kam.

Eiskalte Panik ergriff Caw. Er bekam keine Luft und die Raben stiegen kreischend auf. Er wich zurück, stolperte und fiel auf den Rücken. Alles in ihm schrie danach, davonzurennen, doch er konnte sich nicht bewegen.

Der Mann schob heftig das Kinn vor. »Jack Carmichael?«, fragte er sanft aber drängend. Abscheu überwältigte Caw, denn die Zähne des Mannes ragten als spitze Smaragdsplitter aus seinem Zahnfleisch.

Ihr kennt euch?, fragte Screech.

Caw schüttelte mit Mühe den Kopf. Er hatte den Mann erkannt, dessen weißes Gesicht er durchs Fenster seines Zimmers gesehen hatte. Auch aus der Nähe war der Mann sehr blass – er hatte blutleere Lippen, eine eingedrückte kleine Nase, große Augen und eine getönte Brille, durch die er ihn ohne zu blinzeln anstarrte. Sein Gesicht war zum Skelett abgemagert, mit tiefen Höhlen unter den Wangenknochen, und er hatte weder Augenbrauen noch sonstiges Haar. Sein langer schwarzer Mantel war bis oben zugeknöpft.

Schimmer flog auf einen Ast über dem Mann und krächzte laut und barsch.

»Ich bin in friedlicher Absicht hier«, sagte der Mann und blickte hektisch nach allen Seiten. »Jedenfalls, wenn du wirklich Jack Carmichael bist. Der Rabenflüsterer?«

»Wer sind Sie?« Caw rappelte sich auf. »Wieso spionieren Sie mir nach?«

Er war auf der Hut, als der blasse Fremde die Hand in den Mantel steckte. Glum breitete die Flügel aus, bereit, zuzustoßen. Doch der Mann zog keine Waffe hervor, sondern einen Stein, der ungefähr halb so groß war wie Caws Faust. Er war glänzend schwarz poliert.

»Das soll ich dir von Elizabeth geben«, sagte der Mann und hielt ihm den Stein hin. »Von Elizabeth Carmichael.«

Die Worte versetzten Caw einen Stich. »Von meiner Mutter? Sie haben sie gekannt?«

»Vielleicht«, antwortete der Mann und zögerte. »Wahrscheinlich. Einst.« Er verzog die Lippen zu einem gespenstischen Lächeln, das sofort wieder verschwand. »Jetzt stehen wir uns natürlich näher als je zuvor.«

Was will er damit sagen?, fragte Schimmer.

Caw starrte den Stein an, der auf der Handfläche des Mannes lag. Je mehr er sich darauf konzentrierte, umso weniger konnte er seine Form erkennen. Er war gar nicht rundum schwarz, denn in der Tiefe wirbelten farbige Strudel, die wieder verschwammen. Caw schrak zurück, doch der Mann trat noch einen Schritt vor und wollte ihm den Stein aufdrängen.

»Er gehört dir, junger Mann. Dir, der Rabenwildstimme. Nimm ihn. Nimm ihn.«

Vielleicht ist das eine Falle, sagte Screech.

Obwohl Caw dem Mann die Verzweiflung anhörte, war er aus unerfindlichen Gründen sicher, dass er die Wahrheit sagte. Der Stein gehörte ihm, davon war er aus tiefster Seele überzeugt. Als er die Hand ausstreckte, ließ der Mann den Stein hineinfallen. Er war leichter als erwartet und sonderbar warm.

»Was ist das?«, fragte Caw.

Anstelle einer Antwort riss der Mann sein blasses Gesicht hoch und wich in die Dunkelheit zurück. »Ich muss jetzt gehen«, sagte er. »Und ich will nichts damit zu tun haben, Rabenflüsterer. Den musst du allein tragen.«

Caw drehte sich um, als eine Taube aus einem Fenster auf der Rückseite seines Elternhauses flog. Einer von Crumbs Vögeln flog als grauer Schatten davon.

Caw schloss die Hand über dem Stein. Er hörte die Raben wie aus der Ferne, doch er konzentrierte sich mehr auf das seltsame Gefühl, dass der Stein auf seiner Haut pochte. Oder war es nur sein eigener Puls?

Als Caw den Kopf wieder hob, war der Mann verschwunden. Screech landete auf seiner Schulter und pickte sanft in sein Ohr.

»Aua!«, rief Caw. »Was soll das?« Er steckte den Stein in die Hosentasche.

Du hast nicht zugehört, sagte Screech, alles in Ordnung?

Caw nickte bedächtig. »Los, wir gehen zur Kirche zurück. Und … das behalten wir für uns, klar?«

Screech keckerte. Wem sollen wir das schon erzählen? Es ist ja nicht so, als würden alle die Rabensprache verstehen, oder?

»Stimmt auch wieder«, sagte Caw.

Zweites Kapitel

Als Caw aufwachte, fiel graues Licht durch ein Loch im Kirchengebälk und kündigte die Morgendämmerung an. Er hörte es brutzeln und roch etwas, das ihm schlagartig vor Augen führte, wie hungrig er war.

Würstchen …

Er wälzte sich auf die Seite und warf den Bücherstapel neben der Matratze um. Sofort kam die Erinnerung an die vergangene Nacht zurück. An den Stein, an den Fremden.

Crumb beugte sich nur wenige Meter weiter über das Kohlenbecken. Er hatte Caw den Rücken zugewandt, während er die spritzenden Würstchen in einer Pfanne wendete. Pip saß neben ihm und ließ eine Maus unter und auf seinem Ärmel rauf und runter rennen. Er trug eine Armeejacke, die ihm mindestens drei Nummern zu groß war; sein zotteliges Haar musste dringend gebürstet werden. Sehnsüchtig blickte er auf die Pfanne.

»Die sind bestimmt längst fertig!«, sagte der Mäuseflüsterer.

»Immer mit der Ruhe«, sagte Crumb.

Auf einem Dachbalken gurrte eine Taube.

»Ach, er ist schon wach?«, sagte Crumb. »Das erstaunt mich, nachdem er gestern Nacht wieder herumgeschlichen ist.«

Caw merkte, dass Crumb ihn meinte, und wurde rot, als ihm die Taube wieder einfiel, die aus dem Haus geflogen war. Was hatte sie alles gesehen? Als er sich hinsetzte, flatterten seine drei treuen Raben von einem Rundfenster neben die Matratze. Er ärgerte sich über sich selbst, weil er seine Spuren nicht besser verwischen konnte, und weil ihm die Sache peinlich war. Er hatte schließlich nichts verbrochen.

»Ich musste es mir ansehen«, sagte er. »Irgendwas dagegen einzuwenden, dass ich versuche, mehr über meine Vergangenheit zu erfahren?«

»Und hast du etwas gefunden?« Endlich drehte Crumb sich zu ihm um. Er trug eine rote Kappe mit einem Tigerkopf – dem Emblem des Baseballteams von Blackstone –, doch seine langen Haare quollen wild darunter hervor. Sein Vollbart und sein Schnurrbart wuchsen in ungleichmäßigem Flaum. Caw erinnerte sich daran, wie sie sich erstmals in einer Gasse über den Weg gelaufen waren. Er hatte Crumb für einen der vielen Obdachlosen gehalten, die auf den Straßen von Blackstone lebten. Seitdem war Crumb so etwas wie sein großer Bruder geworden.

»Nein«, antwortete er auf die Frage, betastete jedoch automatisch seine Hosentasche mit dem dunklen Stein, ehe er die Bewegung kaschierte, indem er mit dem Reißverschluss spielte.

»Du lügst«, erwiderte Crumb. »Bobbin hat noch jemanden im Haus gesehen.«

Wovon redet er?, fragte Glum.

»Ein junges Mädchen, hat er gesagt. Er ist durch ein Fenster ins Haus geflogen, um zu sehen, was du vorhattest. Stimmt doch, Bobbin, oder?«

Die dicke Taube auf dem Balken ruckte mit dem Kopf und erinnerte Caw daran, dass er beim Betreten des Hauses geglaubt hatte, da wäre etwas auf der Treppe. Offenbar war es Crumbs Vogel gewesen, der ihn beobachtet hatte.

»Einfach nur ein Mädchen«, schmollte Caw. »Sie hat kein Zuhause. Du sollst mir nicht nachspionieren.«

»Und du sollst mich nicht anlügen«, sagte Crumb. Auf einmal wirkte er älter als Anfang Zwanzig. Er legte die fetttriefenden Würstchen in drei Brötchen. »Wir sind doch deine Familie, Caw.«

Erzählst du ihm auch von dem Freak vor der Tür?, fragte Schimmer.

Caw schüttelte den Kopf, als Crumb ihm den Teller mit dem Wurstbrötchen reichte. Bobbin hatte den bleichen Mann anscheinend nicht bemerkt, also musste er Crumb auch nichts verraten. Dann müsste er nur noch mehr Fragen zu der sonderbaren Begegnung beantworten, abgesehen davon, dass der »Freak« sich deutlich ausgedrückt hatte. Er musste den Stein allein tragen. So sollte es auch sein, bis er mehr darüber wusste.

»Und?«, fragte Pip mit vollem Mund. »Was war das für ein Mädchen?«

»Sie heißt Selina«, antwortete Caw. »Sie ist von zu Hause ausgerissen.«

Crumb nickte, biss in sein Brötchen und kaute nachdenklich. »Lass dich lieber nicht mit ihr ein. Es schadet nur, wenn man sich mit Menschen abgibt.«

Das nervte Caw. Crumb hatte ihm nichts zu befehlen, nur weil er ein paar Jahre älter war. »Aber –«

»Du trägst jetzt Verantwortung, Caw«, schnitt Crumb ihm das Wort ab. »Als Wildstimme kannst du nicht allen verraten, wer du bist. Den Menschen ist nicht zu trauen.«

Da war Caw sich nicht so sicher. Zum Beispiel war Caws Freundin Lydia ein ganz normales Mädchen. Gut, er hatte sie in den zwei Monaten, seit er bei Crumb wohnte, nicht gesehen, doch das lag nicht an ihm. Er wusste, dass ihre Mutter nicht wollte, dass sie sich trafen. Und ihr Vater, Mr Strickham, wusste nicht einmal über die Wildstimmen Bescheid. Sie führten ihr eigenes Leben, ein normales Leben eben.

»Isst du das nicht?«, fragte Pip hoffnungsvoll und zeigte auf Caws Brötchen. Sein eigener Teller war bereits leer und zwei Mäuse fraßen die letzten Krumen.

»Doch.« Caw zog den Teller enger an die Brust.

»Solltest du auch«, sagte Crumb. »Heute wird trainiert, das weißt du, oder? Und dann lernen wir noch ein bisschen Lesen.«

Caw stöhnte. Den Unterricht im Lesen fand er schön, doch Crumb bestand darauf, dass sie dreimal in der Woche mit ihren Tieren trainierten. Das tat jedes Mal richtig weh.

»Muss das sein?«

Crumb runzelte die Stirn. »Wie oft soll ich es dir noch sagen, Caw? Auch wenn der Spinnenmeister tot sein mag, wissen wir nicht, wie viele seiner Anhänger noch auf freiem Fuß sind und es auf uns abgesehen haben.«

Ein Bild schoss Caw durch den Kopf – eine weiße Spinne, die er über den Friedhof hatte krabbeln sehen, nachdem er den Spinnenmeister vernichtet hatte. Doch er hatte sie nur für den Bruchteil einer Sekunde gesehen – vielleicht hatte sein übermüdeter Verstand ihm etwas vorgegaukelt. Er verdrängte den Gedanken.

»Ohne ihren Anführer –«, setzte Caw an.

»Es gibt immer neue Feinde«, unterbrach Crumb ihn streng.

Ehe Caw weiter protestieren konnte, sauste eine Taube an ihm vorbei, krallte sich das Brötchen von seinem Teller und flog knapp außer Reichweite nach oben.

»Sehr lustig«, murrte Caw. Die Taube ließ das Brötchen wieder fallen und Caw fing es auf. »Morgen trainiere ich dafür doppelt. Wie wär das?«

Crumb starrte ihn in Grund und Boden, bis Caw verlegen wegsah. Nach allem, was Crumb für ihn getan hatte, schuldete er dem Taubenflüsterer vielleicht ein wenig mehr Respekt. Doch innerlich schmollte er immer noch. Ständig kommandierte Crumb ihn herum. Die Uhr hatte er ihm auch nur geschenkt, damit er rechtzeitig zum Essen kam. Aber Crumb musste ihm nicht alles und jedes vorschreiben. »Ich kann dich nicht zwingen«, sagte Crumb. »Aber denk dran, heute Nachmittag wird Emily beerdigt.«

»Weiß ich«, sagte Caw. Er war der alten Tausendfüßerflüsterin nur einmal begegnet. Die traurige alte Frau hatte unsäglich darunter gelitten, dass ihre Kinder im Schwarzen Sommer gestorben waren. »Stimmt es, dass sie keinen Erben hat?«, fragte er leise.

Caw nickte. »Mit ihrem Tod stirbt die Tausendfüßerlinie für immer aus.«

Stille senkte sich herab. Die besonderen Kräfte der Wildstimmen wurden von den Eltern auf ihre Kinder übertragen. Eine andere Möglichkeit gab es nicht.

Und wenn wir nicht trainieren, was machen wir dann?, fragte Schimmer. Caw fiel auf, dass sie sein Brötchen ebenfalls nicht aus den Augen ließ. Er brach ein Stückchen ab und warf es ihr zu.

»Wir gehen raus«, sagte er.

»Darf ich mitkommen?«, fragte Pip und sprang auf.

Caw überspielte seinen Unwillen mit einem Lächeln. Manchmal war es lustig, wenn Pip dabei war, doch er folgte ihm so oft wie sein eigener Schatten, dass Caw sich danach sehnte, allein zu sein.

»Bleib doch lieber hier und trainiere mit Crumb«, schlug Caw vor. »Mit mir wird dir ganz schnell langweilig. Raben sind echt öde, weißt du?«

Charmant, krächzte Screech.

Pip war die Enttäuschung anzusehen, doch er nickte.

Caw lockerte die Deckenrolle, die er als Kopfkissen benutzte, und holte eine schlanke Klinge heraus – das Rabenschwert. Er steckte es in die Scheide, die er aus altem Leder gefertigt hatte, und schlang sie über die Schulter. Crumb machte vor Neugierde große Augen. »Glaubst du, es gibt Ärger?«

Caw schüttelte den Kopf. »Nein, aber wie du schon sagtest, man weiß nie, was einen draußen erwartet.« Seine Raben folgten ihm zur Treppe.

Wir sind also langweilig, ja?, fragte Glum.

Caw wartete, bis sie außer Hörweite waren, und flüsterte dann: »Ich wollte nicht, dass uns heute jemand zusieht. Jedenfalls nicht dort, wo ich jetzt hin will.«

Ohh … auf geheimer Mission!, sagte Schimmer.

»Haltet Ausschau nach Tauben«, sagte Caw. »Ich erkläre euch alles unterwegs.«

Blackstone war eine geschichtsträchtige Stadt. Crumb hatte Caw nächtelang davon erzählt – wie es vor Jahrhunderten mit einer kleinen Siedlung an einem sumpfigen Fluss begonnen und sich zu einer Stadt entwickelt hatte, nachdem der Fluss gedämmt und zur Bewässerung auf die Felder umgeleitet worden war. Später war die Stadt zu einem bedeutenden Stützpunkt an der Kreuzung zweier großer Handelsstraßen geworden. Im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert wurde die Holzbebauung durch Backsteinhäuser ersetzt. Die industrielle Revolution, die das ganze Land erfasst hatte, hatte auch Blackstone zu ungeahntem Wohlstand verholfen. Man hatte den Fluss verbreitert und noch weiter umgelenkt. Stabile Brücken überspannten seinen Lauf.

Mit jeder Generation siedelten sich neue Bevölkerungsströme an, die ihre jeweils eigene Kultur und Vorstellungskraft mitbrachten. Stahlwerke und Fabriken machten der Finanzwelt und neuer Technologie Platz, während die Bevölkerung explodierte und neue Vororte erschloss. Blackstone hatte den Eindruck erweckt, als wäre die stetige Erfolgsgeschichte nicht aufzuhalten.

Doch dann kam der Schwarze Sommer, in dem die Wildstimmen die Stadt zerstörten.

Seitdem waren acht Jahre vergangen, ohne dass Blackstone sich auch nur ansatzweise davon erholt hatte. Die Stadt glich einem verletzten Tier, das nicht wieder auf die Beine kam und ums nackte Überleben kämpfte.

Für Caw sah die Stadt anders aus als für die normale Bevölkerung, die am Boden blieb und sich an Straßennamen und auffälligen Gebäuden orientierte. Er wusste, wo es ruhig und gemächlich zuging oder wo mehr los war. Er wusste, wo man in Sicherheit oder in Gefahr war, wo man sich als Obdachloser gut versorgen konnte und wo nur magere Beute zu erwarten war. Wo er unbemerkt durch die Dunkelheit schleichen konnte und wo die Sicherheitsbeleuchtung ihn verriet. Entfernungen maß er nicht in Meilen, sondern in Zeit. Zehn Minuten brauchte er über die Schienen, die nicht mehr in Gebrauch waren, für die Strecke vom verlassenen Bahnhof zur Kathedrale. Zwölf, wenn er den Umweg über die Dächer der alten Gummifabrik nahm.

Überall zeigten sich die verschiedenen Schichten der Vergangenheit. Immer wieder Kirchen oder alte Stützpfeiler, die wie faulige Zahnstümpfe aus dem seichten Flusswasser ragten, wo früher ein Anleger gewesen war. Und natürlich die Kanalisation, die sich durch Tunnelgewölbe unter der gesamten Stadt erstreckte, sich in Pumpwerke, Kläranlagen und weiter weg letztendlich in den Blackwater-Fluss ergoss.

Bei seinen ersten Ausflügen war Caw nie bis dorthin vorgedrungen. Doch mit der Zeit gewann er an Selbstvertrauen und wagte sich auch unter die Erde. Tagsüber, wenn es wegen der Bauarbeiter oder Polizeihubschrauber auf den Dächern nicht sicher war, boten die unterirdischen Tunnel eine andere Möglichkeit, ungesehen durch die Stadt zu stromern.

Nur die Raben sträubten sich dagegen.

Vögel haben etwas gegen Decken, sagte Glum, als sie durch einen Schacht in einen Tunnel in der Nähe der Kirche gelangten.

Der Himmel gibt uns Sicherheit, sagte Schimmer.

Keine Angst, ich passe auf dich auf, sagte Screech. Allerdings zitterte seine Stimme bei diesen Worten.

Glum gluckste kehlig. Kann mir einer die Kotztüte reichen?

»Wir müssen sichergehen, dass uns niemand folgt«, sagte Caw. »Anders geht es nun mal nicht.«

Er sprang von der untersten Stufe der Eisenleiter und landete auf dem Boden des Tunnels. Zum Glück war es trocken, doch die Luft war schal und modrig.

Bevor er weiter in den Tunnel vordrang, holte Caw eine Taschenlampe hervor und schaltete sie ein. Die Vögel flogen abwechselnd vor. Bis auf vereinzelte Ratten waren sie im Tunnel noch nie auf Lebewesen gestoßen, aber er bekam trotzdem immer noch eine Gänsehaut. Allein wäre er nicht gern hier unten gewesen.

Sein Rücken juckte und er zog an den Schulterriemen unter seiner Kleidung, damit das Rabenschwert besser saß. Die uralte Waffe war nicht besonders ansehnlich und bestand eigentlich nur aus einer zweischneidigen Klinge, die etwa siebzig Zentimeter lang und nicht richtig scharf war. Dennoch konnte Caw einen Angreifer zumindest so erschrecken, dass er Zeit zur Flucht gewann. Außerdem gehörte das Schwert der Rabenlinie und vermochte, ein Tor ins Totenreich zu öffnen. Caw hatte die Pflicht, es zu bewahren.

Mit seiner freien Hand tastete er nach dem Stein in seiner Hosentasche. Hatte der Stein auch etwas mit der Rabenlinie zu tun? Heute fühlte er sich nicht irgendwie besonders an, dennoch musste etwas an ihm dran sein, weil seine Mutter sonst nicht dafür gesorgt hätte, dass er ihn bekam. Schließlich war sie vor ihm die Rabenflüsterin gewesen.

Aber hatte der unbehaarte Fremde gestern Nacht überhaupt die Wahrheit gesagt, als er behauptete, Caws Mutter gekannt zu haben? Wahrscheinlich war er selbst eine Wildstimme, selbst wenn er keine Tiere an ihm gesehen hatte.

Zu viele Fragen! Caw wusste nur einen Ort, wo er möglicherweise Antworten finden würde.

Hallo? Erde an Caw …, sagte Screech.

»Was?«

Du benimmst dich wirklich komisch, sagte Screech. Glum redet mit dir.

»Tut mir leid«, sagte Caw. »Ich habe nur nachgedacht. Was hast du gesagt, Glum?«

Dass wir nach Westen fliegen, oder?, sagte Glum. Die Rabenaugen funkelten silbern im Licht der Taschenlampe. Willst du das Mädchen besuchen?

»Nein«, antwortete Caw, ohne seine Schritte zu verlangsamen. »Wir gehen zum Gort House.«

Zu Quaker!, rief Glum. Was willst du denn von dem alten Feigling?

»Er könnte etwas über den schwarzen Stein wissen«, erwiderte Caw. Schließlich konnte er ihn nicht einfach mit sich herumtragen, ohne auch nur zu ahnen, was daran so besonders war. Seine Mutter wollte, dass er das in Erfahrung brachte – sie hatte ihm den Stein aus einem bestimmten Grund hinterlassen, das stand fest.

Sie trotteten im Dunkeln durch das schier endlose gewundene Tunnelsystem, von dem man meinen könnte, ein Verrückter hätte es erschaffen. In dem verschlungenen Labyrinth gab es immer wieder breite oder schmale Schächte in verschiedenen Höhen. Caw ließ sich zwanzig Minuten von seinem Gedächtnis lenken und stieg dann mehrere Leitern hoch. Seine Schuhe machten klirrende Geräusche auf den Stufen und schickten ein Echo durch die Tunnel, bevor er auf der höheren Ebene weiterging.

Weißt du überhaupt, ob das die richtige Richtung ist?, fragte Schimmer von einem vorspringenden Rohr. Ich hab keine Lust, mich hier unten zu verirren.

Wir kennen diese Tunnel wie die Unterseite unserer Flügel, sagte Screech und flog neben sie. Ist dir auch so kalt?

Schimmer rückte von ihm ab. Danke, mir geht’s bestens.

Der Tunnel stieg sanft an. Caw zählte die senkrechten Luftschächte, bis er sicher war, dass sie an dem passenden angekommen waren.

»Das ist unserer«, sagte er.

Er führte die Truppe an, stemmte sich von unten gegen den Kanaldeckel und spähte hinaus. Wie erhofft, war er auf einer verlassenen baumbestandenen Allee herausgekommen, die sich bergauf schlängelte – es war die Straße, die vom Herrick Hill zum Gort House führte.

Gott sei Dank, endlich frische Luft!, sagte Schimmer und flog, gefolgt von den anderen Raben, in einen Baum.

Caw stieg aus der Kanalisation und legte den Kanaldeckel wieder auf. Es war nur ein kleiner Spaziergang den Hügel hinauf zum Gort House, doch er lief schnell seitlich der Straße auf sein Ziel zu. Quaker wohnte in einer ruhigen Gegend, und es war unwahrscheinlich, dass sie jemandem begegneten. Falls es doch passierte, konnte Caw rasch ins Gebüsch springen.

Caw hatte Vertrauen zu Quaker, obwohl er wirklich feige war. Schließlich war es der Katzenflüsterer gewesen, der ihm als Erster reinen Wein über das Rabenschwert, seine Eltern und viele andere Dinge eingeschenkt hatte. Er sah sich als eine Art Wissenschaftler, der sich auf die Geschichte und die Kultur der Wildstimmenlinien spezialisiert hatte. Gort House war voll von Kostbarkeiten, überlieferten Gegenständen und Büchern – ein Museum des Wildstimmenvolkes.

Doch als sie sich dem Haus näherten, schlug Caws Herz schneller.

Irgendetwas stimmte hier nicht.

Das Tor stand auf und in der runden Einfahrt hielt ein Polizeiwagen mit stumm kreisendem Blaulicht. Caw hob die Hand, damit die Raben nicht weiterflogen, doch das war nicht nötig. Sie hatten sich bereits auf dem Torgitter niedergelassen.

Was ist hier los?, fragte Screech.

Caw machte sich immer größere Sorgen. War Quaker etwas passiert? War vielleicht ein Dieb eingebrochen? Oder jemand, der noch gefährlicher war … Er schlich durchs Tor und an den formvollendet zugeschnittenen Hecken entlang über den Rasen.

»Lasst mich los!«, schrie jemand. Katzen fauchten.

Caw duckte sich gerade rechtzeitig ins Gebüsch, um zu sehen, wie Quaker aus der Haustür geschubst wurde. Zwei Beamte drehten ihm die Arme auf den Rücken. Der Katzenflüsterer trug einen eleganten Tweedanzug in Brauntönen mit einer roten Weste zu senffarbenen Mokassins. Zwei getigerte Katzen schlichen um seine Beine, als die Polizisten ihn seitlich gegen ihren Wagen schleuderten. Sein Monokel fiel heraus und ein Polizist zertrat es mit seinem Stiefel.

»Ich habe nichts verbrochen!«, rief Quaker. »Sagt mir doch wenigstens, was ihr von mir wollt!«

Eine graue Katze sprang mit gesträubtem Nackenfell auf die Motorhaube und machte einen Buckel.

»Nein Freddie!«, rief Quaker.

Ein Polizist löste seinen Schlagstock und ging auf die Katze los, die heruntersprang und in den Garten sauste.

»Das dürfen die nicht«, murmelte Caw und wollte aus dem Gebüsch treten.

Nein!, sagte Glum und Caw zögerte.

»Ich habe ein Recht darauf zu erfahren, worum es geht!«, sagte Quaker, als ein dritter Polizist aus dem Haus kam.

»Was gefunden?«, fragte der Beamte, der versucht hatte, die Katze zu schlagen.

»Nur haufenweise alte Bücher und verdächtige Antiquitäten«, sagte der dritte. »Für eine gründliche Durchsuchung brauchen wir Verstärkung.«

»Aber nicht ohne Durchsuchungsbeschluss, kommt nicht infrage!«, sagte Quaker.

Zack! Der Polizist schlug Quaker mit dem Handrücken ins Gesicht. »Maul halten!«

Caw zuckte zusammen. Viel wusste er nicht über die Polizei, doch so durften sie sich auf keinen Fall benehmen.

Quaker war im Polizeigriff zusammengesunken, als sie ihn in den Wagen verfrachteten.

»Ich darf nicht zulassen, dass sie ihn abführen«, sagte Caw, doch er blieb wie angewurzelt in seinem Versteck stehen.

Was willst du denn dagegen tun?, fragte Screech. Sie sind zu dritt. Und denk dran, du kannst dich nicht als Wildstimme zu erkennen geben.

Die Polizisten stiegen zu Quaker ins Auto, der Motor heulte auf und der Wagen raste aus der Einfahrt. Caw drückte sich an die Hecke und sah mit klopfendem Herzen, wie sie abfuhren. Mehrere Katzen kamen aus dem Haus und miauten jämmerlich. Sie versammelten sich am Tor, als der Wagen den Hügel hinunterfuhr.

Wir reden hier von der Polizei, Caw, sagte Glum. Crumb würde nichts damit zu tun haben wollen und ich muss ihm mal wieder recht geben … hey!

Caw lief den Hügel hinunter und hielt den Stein in der Hosentasche fest, damit er nicht herausfallen konnte. Er wusste, was er zu tun hatte. Wenn er sich in einen Raben verwandelte, konnte er sie in der Luft verfolgen. Er nahm all seine Energie zusammen, sprang hoch und erzwang die Verwandlung, indem er seinem inneren Raben die Oberhand gab …

… dann landete er schmerzhaft auf der Straße und rang nach Luft.

Wie peinlich war das denn?, sagte Screech und landete neben ihm.

Vielleicht solltest du mal wieder mit Crumb trainieren, sagte Glum.