WILD CROW - Die Rache der Weißen Witwe - Jacob Grey - E-Book

WILD CROW - Die Rache der Weißen Witwe E-Book

Jacob Grey

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Beschreibung

Ein Junge, der mit den Raben fliegt

Caw hat den Spinnen-Mann besiegt und die Herrin der Fliegen entmachtet. Doch nun droht ein neuer, der schrecklichste aller Feinde. Die Weiße Witwe hat nur ein einziges Ziel: Caw und seine Raben zu vernichten und die Stadt Blackstone unter ihre Herrschaft zu bringen. Das bedeutet Tod und Verderben für alle ihre Bewohner. Alle, die Caw am liebsten sind, befinden sich in tödlicher Gefahr. Werden Caw und seine Raben sie auch diesmal noch beschützen können?

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Seitenzahl: 283

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Von dem geheimnisvollen Jacob Grey ist wenig bekannt. Angeblich lebt er in den USA in einer großen Stadt, wo er nachts durch die Straßen streift, immer auf der Suche nach neuen dunklen und wunderbaren Geschichten. Er liebt alle Tiere, und ebenso wie sein Held spricht er mit Raben – aber niemand weiß, ob er ihre Antworten versteht.

Weitere Bände in dieser Reihe

Wild Crow – Der Fluch des Spinnenmanns

Wild Crow – Der schwarze Schwarm

Jacob Grey

Aus dem Englischen

von Anne Brauner

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1. Auflage

Erstmals als cbt Taschenbuch April 2018

© 2018 der deutschsprachigen Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Text © Working Partners Ltd 2016

Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel:

»Ferals – The White Widow’s Revenge«

bei HarperCollins Children’s Books

a division of Harper Collins Publishers London, New York

Übersetzung: Anne Brauner

Umschlaggestaltung: Init GmbH; Isabelle Hirtz, Inkcraft

nach einer Originalvorlage

Jacket art © 2015 by Eric Deschamps

Jacket design by Sarah Creech

Vignetten innen: Frank Niedertubbesing

CK • Herstellung: AJ

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-21670-2V001

www.cbj-verlag.de

Mit besonderem Dank an Michael Ford

Erstes Kapitel

Die haben ja keine Ahnung, dachte Caw. Keinen Schimmer, dass sie in höchster Gefahr schweben.

Er zog den Kragen hoch, obwohl er bereits bis auf die Haut nass war, und ließ den Blick über die Straße schweifen. Wegen des abscheulichen Wetters war es ruhig, nur wenige Menschen gingen ihren Geschäften nach. Ein Mann in einem schwarzen Anzug aß unter einer tropfenden Markise ein Sandwich und Autos schossen über die glatte Straße. Ein Junge lief an der Hand seiner Mutter in ein Schuhgeschäft, um sich vor der Sintflut in Sicherheit zu bringen.

Obwohl es seit Tagen regnete, machten die Wolken nicht den Eindruck, als könnten sie jemals austrocknen. Die Straßen konnten kein Wasser mehr aufnehmen und das Dach, auf dem Caw stand, war voller Pfützen. Er sah auf die Schuhe herunter, die er aus einem Altkleidercontainer gefischt hatte. Sie waren schon längst völlig durchweicht und seine Zehen schmatzten beim Gehen, doch Caw war schon so oft bis auf die Haut nass geworden, dass es ihm nichts mehr ausmachte. Da er in einem Rabenhorst, einer Art Baumhaus, im Blackstone-Park aufgewachsen war, hatte er viele Stürme überstanden, die über die Stadt hinweggefegt waren und seine schützende Plane abgerissen hatten. Wenn sie das Loch nicht reparieren konnten, hatten Caw und seine Raben sich dicht an den Boden gekauert, schutzlos dem peitschenden Wind und Regen ausgesetzt. Er hatte es gehasst, doch er hatte sich immer darauf verlassen, dass es wieder aufhören würde.

Ich habe vergessen, wie die Sonne aussieht, sagte Screech. Caws jüngster Rabe saß mit auf dem Dachvorsprung und plusterte sich auf, um sich gegen den Regen zu schützen. Die beiden anderen Vögel hockten neben ihm.

Sollen wir nicht lieber nach Hause fliegen?, fragte Glum hoffnungsvoll. Er hielt den Schnabel auf die Brust gedrückt und die Augen geschlossen.

Schimmer legte den Kopf schief. Hört auf zu jammern, sagte sie. Das bisschen Wasser schadet nicht.

Passanten auf der Straße würden die drei Raben nicht beachten, dachte Caw. Und nur Wildstimmen wie er selbst würden bemerken, dass er die Vögel verstehen konnte.

»Crumb will, dass wir hier warten, während er die Bank überprüft«, sagte Caw und wies mit dem Kopf auf das Gebäude auf der anderen Straßenseite.

In Blackstone gibt es zwanzig Banken, sagte Glum. Die Chance, dass sie sich ausgerechnet diese aussuchen, ist gering.

Caw zuckte die Achseln.

Ich kann runtergehen und nachsehen, wenn du willst, sagte Schimmer und hüpfte unruhig hin und her.

Caw dachte darüber nach. Möglicherweise befanden sich dort unten ihre Feinde; ein Rabe, der sich auffällig verhielt, könnte sie warnen.

Stattdessen überlegte er, ob er Schimmer ins Krankenhaus schicken sollte, damit sie durchs Fenster Selinas Zustand begutachtete. Wenigstens hätte sie dann etwas zu tun. Sie mochte die Tochter der Fliegenflüsterin nicht sonderlich, doch sie würde ihm gehorchen. Außer Caw hatten alle Vorbehalte gegen das Mädchen. Doch Selina Davenport lag seinetwegen im Krankenhaus, denn sie hatte sich in den Lauf einer Kugel geworfen, um ihm das Leben zu retten.

Seit der Schlacht auf dem Dach über der Wohnung der Polizeipräsidentin Cynthia Davenport vor zwei Wochen lag Selina bewusstlos in der Klinik von Blackstone. Die Ärzte wussten nicht, warum sie nicht aufwachte, und glaubten an eine Infektion. Caws Freund Crumb, der Taubenflüsterer, war der Meinung, dass es besser wäre, wenn sie nie wieder aufwachte. Caw sagte nichts dazu, denn Selina war seine Freundin. Sie hatte zu ihm gehalten, als es am meisten zählte.

Hallo?, fragte Schimmer. Was meinst du, Boss? Ich kann den Häuserblock abfliegen. Dabei sieht mich keiner.

»Okay«, sagte Caw. »Aber pass auf.«

Schimmer glitt mit ausgebreitetem Gefieder in einen langsamen Sinkflug und verschwand aus seinem Gesichtsfeld. Caw nahm sich vor, später Glum ins Krankenhaus zu schicken. Er hoffte jeden Tag auf gute Neuigkeiten.

Als er ein Quieken hörte, entdeckte er hinter sich Pip, den jungen Mäuseflüsterer, der mit dem schlaksigen Crumb die Feuertreppe hinaufstieg.

Höchste Zeit, sagte Glum.

Crumb hielt einen zerschlissenen Schirm hoch und Pip blieb dicht bei ihm, während sie übers Dach huschten.

Mit einem unbeholfenen Hüpfer landete eine Taube neben Crumb.

»Halte weiter Ausschau, Bobbin«, sagte der Taubenflüsterer. Trotz des Schirms hing ihm das Haar in nassen Strähnen ins Gesicht und Regentropfen perlten in seinem struppigen Bart. »Wir sind am richtigen Ort.«

Caw blickte über die Straße auf die elegante dreistöckige Sparkasse von Blackstone. »Woher willst du das wissen?«, fragt er. »Alles sieht ganz normal aus.«

»Der Direktor ist eine Wildstimme«, erklärte Pip eifrig. Der Mäuseflüsterer hatte die Augen unter der Kapuze seines Regenmantels weit aufgerissen. Der Mantel war ihm mindestens drei Größen zu groß und ging ihm bis zu den Knien.

Crumb nickte. »Pickwick – der Spatzenflüsterer. Wahrscheinlich haben die ausgebrochenen Gefangenen sich deshalb für diese Bank entschieden – sie holen sich das Geld und rächen sich an den Wildstimmen, die sie aufhalten wollten.«

Caws Herz schlug schneller. Er wusste, wie brutal ihre Feinde waren, denn erst vor wenigen Wochen hatte die Herrin der Fliegen die gefährlichsten Gefangenen freigelassen und sie mit Hilfe des Mitternachtssteins zu einer Armee neuer Wildstimmen geformt. Sie hatte jedem einzelnen eine eigene Tierart zugewiesen, die sie als Gegenleistung für ihren Gehorsam befehligen durften.

Obwohl Caw die Polizeipräsidentin besiegt hatte, waren ihre Wildstimmen noch auf freiem Fuß. Die Stadt wurde von einer Welle des Verbrechens überschwemmt, hundertfach verschärft durch die neuen Wildstimmenkräfte der Kriminellen. Diebstahl, Körperverletzung, Vandalismus … In den Zeitungen erschienen Berichte, dass Tiere an den Tatorten gesichtet worden waren – ein Schwarm Geier war über das Rathaus gezogen, eine Waschbärenplage hatte das Kino heimgesucht –, doch die Polizei hatte keine Schlüsse daraus gezogen. Caw konnte es den Beamten nicht verübeln, sie wussten nichts von der Existenz der Wildstimmen.

An diesem Morgen hatte ein Einbruch im Kasino zwei Wachposten das Leben gekostet. Die Fleischwunden an ihren Kehlen wiesen auf Lugmann, die neue Pantherwildstimme. Es war pures Glück gewesen, dass zwei von Pips Mäusen vor Ort gewesen waren und belauscht hatten, dass man eine Bank überfallen wollte.

Caw ballte die Fäuste. Je besser die Verbrecher mit der Zeit ihre Kräfte meisterten, umso tödlicher würden sie. Jemand musste sie aufhalten.

»Sollen wir den anderen Bescheid sagen?«, fragte Caw. Mrs Strickham und die anderen guten Wildstimmen hatten überall in Blackstone Position bezogen und bewachten sämtliche Banken.

Crumb schüttelte den Kopf. »Es ist immer noch möglich, dass sie es auf eine andere Bank abgesehen haben. Ich fürchte, das müssen wir auf die eigene Kappe nehmen.«

»Pickwick ist aber bereit?«, fragte Caw mit einem Blick auf seine Waffe, das Rabenschwert. Das Schwert mit der kurzen schwarzen Klinge, das in der Rabenlinie vererbt wurde, hing an seiner Seite. Die Scheide hatte er selbst aus den Resten eines alten Lederbeutels gefertigt.

»Ein Kämpfer ist er nicht, unser Pickwick«, antwortete Crumb. »Er spricht sogar kaum noch mit seinen Vögeln. Immerhin wird er alle unbeteiligten Kunden in Sicherheit bringen.«

Caw fand es sonderbar, wenn eine Wildstimme ihre Kräfte nicht nutzte und ein ganz normales Leben führte. Sein eigenes Leben war alles andere als das.

Schimmer kehrte mit einem alarmierenden Krächzen zurück.

Sie kommen!, rief sie. Ein schwarzer Lieferwagen, hält fünf Häuserblocks östlich an einer Ampel.

»Gut gemacht«, sagte Caw und wandte sich an Crumb und Pip. »Gleich sind sie da.« Sowie Crumb eine ausladende Geste machte, kamen mehrere Tauben von den Nachbarhäusern angeflogen. Pip beugte sich über die Dachkante, als Caw von der Straße einen lauten Schrei hörte. Ein Blick nach unten zeigte, wie sich ein kleines Mädchen in die Arme seiner Mutter flüchtete. Als eine Schar Mäuse aus einer Regenrinne krabbelte und über die Straße sauste, wichen die Passanten zurück.

Pip grinste. »Wer braucht schon einen Panther, wenn man ein, zwei Mäuse hat?«

Mit einer flinken Geste schickte er die Mäuse auf die Treppe vor der Bank. Mit der gesammelten Masse ihrer vielen Körper öffneten sie die Automatiktüren und flitzten hindurch. Schreiend rannten die Kunden nach draußen, gefolgt von einem kleinen grauhaarigen Mann, der Anzug und Brille trug und sich fortwährend leise entschuldigte. Dann hob er den Kopf zum Dach und salutierte unauffällig.

Crumb nickte zurück. »Gehen wir runter.«

»Holt die anderen«, sagte Caw zu Screech, und die Raben schwangen sich in die Luft, während er zur Feuerleiter hastete. Als er das Geländer packte und nach unten rutschte, schoss Adrenalin durch seine Adern. Nachdem er hart mit den Fersen auf der nächsten Plattform angelangt war, lief er zur nächsten Treppe und erreichte auf diese Weise innerhalb von Sekunden den Bürgersteig. Dann lief er über die Straße. Nach dem Mäuseüberfall und wegen des schlechten Wetters waren nun noch weniger Fußgänger unterwegs.

Mr Pickwick sah Caw kommen und kniff die Augen zusammen. »Tut mir leid, heute früher geschlossen«, sagte er. »Ungezieferbefall.«

»Ich bin der Rabenflüsterer«, erwiderte Caw in aller Eile, denn sie mussten in die Bank gelangen, bevor der Lieferwagen der Häftlinge vorfuhr.

Der alte Mann musterte ihn misstrauisch.

»Er gehört zu mir«, rief eine Stimme von oben. Crumb und Pip schwebten im Regen, getragen von Dutzenden von Tauben.

Mr Pickwick lächelte grimmig, als sie vor ihm landeten. »Ich verstehe. Kommt schnell herein.«

Die Bank war altmodisch und gepflegt, die holzverkleideten Schalter in Bronze eingefasst und an einer Wand hing ein großes Wandbild aus wirbelnden Ölfarben. Es roch nach Bohnerwachs und war still bis auf das Getrappel der Angestellten, die durch die Hintertüren das Gebäude verließen.

»Wie schließen wir die Türen ab?«, fragte Caw mit Blick auf die Glastüren am Eingang.

»Da ist ein Schalter – unten links«, antwortete Mr Pickwick.

Nachdem Caw den Knopf unter einer durchsichtigen Plastikabdeckung gefunden hatte, drückte er darauf und die schweren Glastüren schlossen sich mit leisem Gleiten.

»Das ist kugelsicheres Glas«, sagte Mr Pickwick.

»Ruf die Polizei auf der Hotline an«, sagte Crumb.

Als der Bankdirektor am Schalter den Hörer abnahm, hielt ein schwarzer Lieferwagen mit quietschenden Bremsen an der Treppe vor dem Gebäude. Caws Herz machte einen Satz, als er den kurz geschorenen Fahrer an seinen muskulösen, mit Gefängnistattoos verzierten Armen erkannte. Lugmann. Der Ausbrecher beugte sich vor, um einen Blick auf die Bank zu werfen, und riss die Augen auf, als er Caw entdeckte. Er grinste gemein und Caw packte sein Schwert am Heft.

Dann wurde die Hecktür des Lieferwagens schwungvoll geöffnet und eine kahlköpfige Frau mit einem Piercing in der Lippe sprang heraus. Caw erinnerte sich, dass sie auf dem Dach der Polizeipräsidentin mitgekämpft hatte. Sie winkte in den Lieferwagen.

Die Klappe senkte sich und ein riesiger Kopf tauchte auf. Der mächtige Bison trottete witternd auf den Bürgersteig. Allein von seiner Größe bekam Caw weiche Knie – die Hufe waren so groß wie Essteller. Das Tier schwenkte den Kopf in ihre Richtung und knurrte kehlig, während Speichelfäden aus seinem Maul hingen.

»Ist die Tür bisonsicher?«, fragte Crumb, der bleich geworden war. Wie gelähmt beobachteten sie das gewaltige Tier, als es die Treppe erklomm und durch geweitete Nüstern schnaubte.

Als Lugmann ausstieg, folgte ihm eine große schlanke schwarze Raubkatze auf dem Fuß. Er ließ den Blick über die Straße schweifen, sah Caw dann direkt in die Augen und schloss die Hände wie zu einem Gebet. Dann löste er sie wieder und befahl stumm: »Mach die Tür auf.« Caw schüttelte den Kopf.

Nachdem die Frau mit der Glatze dem Bison einen Befehl gab, stürmte er mit gesenktem Kopf gegen die Tür.

Es knallte derart, dass alle rückwärts sprangen. Das Glas erbebte, doch es brach nicht. Der Bison nahm Anlauf und griff zum zweiten Mal an. Obwohl auch diesmal das Glas hielt, waren die Scharniere verbogen.

»Offenbar haben sie die Kabel durchgeschnitten«, sagte Mr Pickwick und zeigte auf das Telefon in seiner schlaffen Hand. »Die Leitung ist tot. Hat einer von euch ein Handy dabei?«

Crumb schüttelte den Kopf.

Caw verlor den Mut. Doch er verdrängte seine Angst und sandte seine Gedanken aus, um seine Raben zu suchen. Mit geballten Fäusten rief er seine Vögel zu sich.

Hinter der Glastür sauste plötzlich eine schwarze Wolke im Sturzflug von den umliegenden Gebäuden auf die Bank zu.

Schnappt euch den Bison! Er sandte einen Schwarm Raben gegen die Kreatur und befahl einigen davon, die Wildstimmenfrau anzugreifen. Deren Verbindung mit dem Bison wurde dabei anscheinend gekappt, da das gewaltige Tier die Stufen hinunterpolterte und an den Lieferwagen prallte.

Lugmann preschte durch den Vogelschwarm und schwenkte einen Vorschlaghammer, den er von der obersten Treppenstufe aus gegen die Glastür donnerte. Der Schlag ließ die gesamte Bank erbeben; Pickwick zuckte zusammen. Lugmann trat einen Schritt zurück und legte sein ganzes Gewicht in den nächsten Hammerschlag. Erste Risse erschienen in der Scheibe, doch dann warfen sich auch Crumbs Tauben in die Schlacht und griffen Lugmann an, als er erneut ausholte. Vergeblich versuchte er sie abzuschütteln, während immer weitere hinzukamen. Er ließ den Hammer fallen, zog sich mit seiner Komplizin in den Lieferwagen zurück und rammte die Tür zu.

»Du meine Güte«, sagte Pickwick. »Sind wir … ist es vorbei?«

Das Knurren des Bisons drang nur gedämpft durch die Glastür. Lugmann und die Frau saßen in dem Lieferwagen in der Falle, umzingelt von Raben und Tauben. Dennoch starrten sie bösartig durch die Wagenfenster. Sicherlich hatte mittlerweile jemand die Polizei gerufen.

Doch Caws Herz hörte nicht auf zu rasen. So leicht kann es doch nicht sein …

»Geschafft«, sagte Crumb.

»Noch nicht ganz«, näselte eine vertraute Stimme.

Caw zuckte zusammen und drehte sich rasch um. Das Wandbild bewegte sich auf eine Art und Weise, dass seine Augen schmerzten. Blinzelnd sah er zu, wie eine männliche Gestalt daraus hervortrat und verschiedene Farben über ihren Anzug flackerten, bevor sich ein helles Beige durchsetzte. Es war Mr Silk, der Mottenflüsterer, der sich nun an den breitkrempigen Hut tippte.

»Echt nett von dir, Caw, dass du mir Gesellschaft leistest.«

Caw ließ eine Hand vorschnellen, doch seine Raben waren alle außerhalb des Gebäudes beschäftigt. Ein Blick auf Crumb bewies, dass der Taubenflüsterer den gleichen Fehler begangen hatte.

»Wer sind Sie?«, fragte Pickwick.

»Nur ein Kunde, der etwas abheben möchte«, sagte Mr Silk. »Recht viel sogar.«

»Auf ihn drauf, Pip!«, schrie Caw.

Eine wahre Mäuseflut stürzte sich auf den Mottenflüsterer, doch Mr Silk hob nur gelangweilt die Arme. Die Wände und die Decke erwachten zum Leben, als Tausende von Motten sich von sämtlichen Oberflächen schälten, die Mäuse innerhalb weniger Sekunden unter sich begruben und Caw massenhaft ins Gesicht flogen. Er wand sich keuchend und rang nach Luft, denn die winzigen flatternden Flügelchen raubten ihm den Atem. In dem Chaos konnte er gerade noch erkennen, wie Pip sich zusammenrollte und Crumb über einen Blumenkübel stolperte.

Als er ein lautes Krachen hörte, regnete es spitze Scherben. Glas. Silk soll uns nur ablenken! Er tauchte seitlich ab, sobald der Bison mit seiner Herrin im Gefolge durch die zerstörte Tür stampfte und in der Eingangshalle der Bank stehen blieb. Sein Rücken und seine Nüstern dampften.

Als im nächsten Moment die Motten abzogen und Caw von Licht und Luft eingehüllt wurde, heulte jemand ganz fürchterlich auf.

Der Bison ragte mit gesenkten Hörnern über Pip auf und scharrte unablässig mit den Hufen. Der Mäuseflüsterer stand mit dem Rücken an einem Schalter und zitterte vor Angst.

Obwohl sich Caws Raben an der offenen Tür zusammengefunden hatten, wies er sie mit einer Geste an, sich zurückzuhalten. Eine falsche Bewegung und das mächtige Tier würde Pip erdrücken oder mit seinen Hörnern in Stücke reißen.

»Eine kluge Entscheidung«, sagte Lugmann und schlenderte zu Caw, während er den Vorschlaghammer schwenkte. Sein Panther fletschte die Zähne und Caw zuckte zusammen, als er den heißen Atem der Wildkatze spürte.

»Dass mir keiner von euch eine Dummheit macht«, sagte der Häftling. »Ihr könnt gar nicht so schnell gucken, wie Tyras Bestie den Jungen umbringt. Ein Vogelschwarm kann nichts dagegen ausrichten.«

Mr Pickwick ließ endlich das untaugliche Telefon los und legte es sanft in die Ladestation. »Und was jetzt?«

»Bring Mr Silk in den Tresorraum«, sagte Lugmann.

Als Mr Pickwick zögerte, sah der Ausbrecher den Panther an. Sofort sprang die Raubkatze auf den Schalter neben dem Spatzenflüsterer und fuhr beinahe spielerisch mit der Tatze über seinen Arm. Mr Pickwick schrie auf, als die Krallen durch seinen Anzug drangen und Blut auf den Boden spritzte.

»Tun Sie, was er sagt«, meinte Crumb mit bebender Stimme. »Lugmann, wenn dem Jungen etwas passiert …«

»Wenn ihr tut, was wir wollen, bleibt er am Leben«, erwiderte Lugmann.

Mr Pickwick führte den Mottenflüsterer zu einer Tür im hinteren Bereich der Bank und gab einen Code ein. Wütend beobachtete Caw, wie Mr Silk in seinem beigefarbenen Anzug mit Mr Pickwick verschwand. Als er den Mottenflüsterer zum letzten Mal gesehen hatte, war er in den Blackwater gefallen, den schmutzigen Fluss, der unter der Stadt dahinströmte. Caw hatte angenommen, er wäre ertrunken.

»Sie sind erbärmlich«, sagte Pip auf einmal mit zitternden Lippen.

»Maul halten«, sagte Lugmann und hob den Hammer hoch.

»Ich hab keine Angst«, entgegnete Pip.

»Ruhe!«, rief Crumb.

»Nein!«, widersprach Pip. »Selbst wenn er uns tötet, halten ihn die anderen Wildstimmen auf!«

Tyra lachte. »Mit Vögeln und Mäusen?«, fragte sie. Der Bison schnaubte mit wogenden Flanken.

Pip musste schlucken. »Ihr seid doch nur eine Bande gieriger Betrüger«, sagte er. »Wir arbeiten alle zusammen, aber ihr denkt nur an euch.«

»Pip!«, rief Crumb. »Hör bitte auf!«

»Der Junge traut sich mehr als du, Taubenflüsterer«, sagte Lugmann.

Mehrere Bankmitarbeiter, die sich im hinteren Teil versteckt hatten, kamen mit schweren Säcken über den Schultern durch die Tür. Da sie oben offen waren, flogen Geldscheine heraus. Die Männer warfen entsetzte Blicke auf den Bison und den Panther.

»Ladet das Zeug in den Wagen!«, sagte Lugmann ungeduldig und wies mit dem Hammer nach draußen.

Die Bankangestellten trugen die Säcke durch die zerstörte Glastür die Treppe hinunter und stellten sie auf die Ladefläche des Lieferwagens. Anscheinend bemerkten sie die Hundertschaften der Vögel auf der Straße gar nicht so richtig und liefen sofort davon, sobald der Wagen vollgeladen war. Als Mr Silk sich wieder dazugesellte, warf Lugmann ihm die Autoschlüssel zu. »Wir kommen gleich raus, ich bin nur nicht ganz fertig hier«, kündigte Lugmann mit einem höhnischen Grinsen an.

Tyra rief den Bison zu sich und tätschelte sein verfilztes Fell.

»Wir haben, was wir wollten, mein Freund«, sagte Mr Silk und legte Lugmann eine Hand auf den Arm. »Ungefähr drei Millionen, wenn meine Schätzung stimmt.«

Lugmann schüttelte seine Hand ab und richtete seinen kalten Blick auf Pip. »Stimmt, aber mein Tierchen hat noch nichts zu fressen bekommen.«

Caw spannte alle Muskeln an, bereit aufzuspringen. Er spürte seine Raben vor der Bank, die bereits ihr Gefieder ausbreiteten. Pip würde nichts passieren, jedenfalls nicht, solange Caw noch atmete …

Mr Silk nahm nachdenklich seinen Hut ab. Dann warf er einen raschen Blick auf Pip, der angefangen hatte zu weinen, seit der Panther auf ihn zuschlich. »Das entspricht nicht dem Befehl«, sagte er ruhig.

Lugmann und der Mottenflüsterer standen einander Auge in Auge gegenüber. Caw zögerte, der Atem blieb ihm in der Kehle stecken. Befehl? Wer gibt ihnen Befehle?

»Ich … lese zwischen den Zeilen«, sagte Lugmann. »Warte im Wagen, Silk. Es sei denn, du willst zuschauen.«

Der Mottenflüsterer setzte seinen Hut wieder auf und verließ schnellen Schrittes die Bank, ohne sich noch einmal umzusehen.

»Sie haben versprochen, Pip nichts zu tun«, sagte Crumb.

»Nein«, widersprach Lugmann. »Ich habe nur gesagt, dass er am Leben bleibt. Leben kann er doch auch mit einem Bein, oder?«

»Sie haben Ihr Geld«, knurrte Caw. »Hauen Sie ab.«

»Mach schon«, sagte Tyra mit glänzenden Augen.

Der Panther riss das Maul mit den gelblichen Zähnen auf.

Zweites Kapitel

Caw rief seine Raben zu sich und steuerte sie mit all seiner Willenskraft. Als seine Vögel aufflogen, hörte er ein Grollen, und ein Rudel Wölfe schlich an ihm vorbei. Caws Herz jubelte. Das bedeutet, dass Racklen hier ist!

Zwei Wölfe stürzten sich auf den springenden Panther und schlugen ihre Krallen in sein Fleisch. Als ein anderer Wolf Lugmann umwarf und drei weitere Wölfe laut knurrend nach dem Kopf des Bisons schnappten, flüchtete das Tier in Panik.

Nein, das sind keine Wölfe. Dafür waren sie zu klein und geschmeidig. Ihr Fell war hell und blass, nicht grau.

Kojoten.

Der Panther wälzte sich auf der Erde, glitt rückwärts und schlug mit einer Pfote aus.

Tyra lief zu Lugmann, doch statt ihm zu helfen, schnappte sie sich den Vorschlaghammer. Während sie sich noch bemühte ihn hochzuheben, kamen die Raben angeschossen und pickten mit den Schnäbeln auf ihre Hand. Schreiend ließ sie das schwere Werkzeug wieder los, das eine Delle im Boden hinterließ. Die Raben rissen an ihren Sachen, hoben sie in die Luft und ließen sie hinter der Kasse grob fallen. Die Tauben eilten den Kojoten zu Hilfe und der gewaltige Bison buckelte und krachte bei seinem Fluchtversuch ins Mobiliar.

Mr Pickwick kroch aus dem Weg, während Crumb Pip auf den Arm nahm. Gleichzeitig wirbelte der Panther brüllend herum und schleuderte einen Kojoten wie ein Fliegengewicht durch die Bank. Einen anderen Kojoten klatschte er unter lautem Geheul auf den Boden. Doch ständig kamen weitere Kojoten angelaufen, bis Caw es aufgab, sie zu zählen.

Der Bison taumelte hinter den Schalter und erschien sofort wieder mit Tyra, in deren Kragen er sich festgebissen hatte. Sie war kaum noch bei Bewusstsein. Das Biest schleppte sie, so schnell es eben konnte, hinter sich her durch die Tür und die Treppe hinunter.

Auch Lugmann war wieder auf den Beinen und lief durch die zerstörte Eingangstür der Bank, während sein Panther ihn vor den fauchenden Kojoten abschirmte. Die beiden Verbrecher kletterten auf die Ladefläche und schlossen die Türen.

Jetzt lief Caw zur Treppe und forderte seine Raben auf, sie aufzuhalten. Als Mr Silk den Gang einlegte, schwärmten sie über die Windschutzscheibe. Der Wagen machte einen Satz nach vorn, prallte gegen einen Laternenpfahl, fuhr im Slalom über die nasse Straße und stieß mit einem geparkten Auto zusammen. Der Asphalt war mit Glas übersät. Auf einmal schwang die Hecktür auf und ein paar Säcke fielen heraus. Nachdem Lugmann die Tür wieder zugeknallt hatte, fuhr der Lieferwagen mit quietschenden Reifen weiter, während die Raben von der Windschutzscheibe getrieben wurden. Federn und gebündelte Geldscheine lagen auf der Straße.

Mr Pickwick, der seinen blutenden Arm hielt, erschien an Caws Seite und warf ihm einen erbarmungswürdigen Blick zu. Die Bank war zerstört, Blutflecken, Federn und Fell am Boden, Stühle umgestürzt, eine Wanduhr hing schief; ungefähr ein Dutzend Kojoten leckten ihre Wunden.

»Wo kamen die denn her?«, fragte Caw.

Crumb hielt nach wie vor den schwer atmenden Pip im Arm und hob den Kopf, als sich eine unbekannte Stimme meldete. »Ich hatte das Gefühl, man könnte uns hier brauchen.«

Ein Mann um die dreißig sprang die Treppe hoch. Er trug Jeans und ein makelloses weißes T-Shirt, eine Lederjacke und Lederschuhe. Sein blondes Haar wellte sich im Nacken und seine Augen glänzten hellblau. Der Mann lächelte freundlich, als ein mit Blut bespritzter Kojote sein Bein mit dem Kopf anstupste.

»Das war mutig von dir, Vic«, sagte er. »Von euch allen.«

Die Kojoten reagierten einstimmig mit einem Geräusch zwischen Schnurren und Knurren.

»Fivetails!«, rief Crumb.

»Wer?«, fragte Pip, der ebenso verwirrt war wie Caw.

»Johnny Fivetails«, antwortete der Mann und reichte dem Mäuseflüsterer die Hand.

Pip betrachtete sie verunsichert.

Der Mann grinste und klopfte ihm stattdessen auf die Schulter. »Du stehst wohl noch unter Schock. Das war aber auch ein harter Kampf.«

»Was machst du hier?«, fragte Crumb. »Und wie bist du –«

Heulende Sirenen schnitten ihm das Wort ab.

»Das erkläre ich euch später«, erwiderte Johnny Fivetails. »Jetzt sollten wir lieber gehen.«

Caw war immer noch tief erschüttert, als er durch die kleinen Gassen zu seinem Haus vorging. Es regnete heftig und Pip verkroch sich unter dem Schirm, gefolgt von Crumb und dem Kojotenflüsterer. Raben und Tauben landeten in gleichmäßigen Abständen auf den Häusern und Bäumen. Falls am Boden Kojoten waren, hielten sie sich im Verborgenen. Als Caw einmal nach hinten sah, ließ Johnny den Blick schweifen und lächelte, ohne sich um den Regen zu scheren.

»In den letzten acht Jahren ist hier nicht viel passiert, oder?«, fragte er.

»Kann man so sagen«, erwiderte Crumb mit verwirrter Miene. »Ich dachte, du hättest Blackstone für immer verlassen.«

»Dachte ich auch«, sagte Johnny.

»Das heißt, ihr kennt euch?«, fragte Caw Pip leise.

Pip schüttelte den Kopf. »Aber ich habe von ihm gehört. Der große Johnny Fivetails! Im Schwarzen Sommer hat er auf unserer Seite gekämpft. Seit ewigen Zeiten hat ihn niemand mehr zu Gesicht bekommen.«

Das hatte Johnny offenbar gehört. »Mich hält es nie an einem Ort«, sagte er. »Das war schon immer so.«

»Und warum bist du dann zurückgekommen?«, fragte Crumb.

Johnny zeigte beim Lächeln seine blendend weißen Zähne und zeigte auf Caw. »Wegen diesem jungen Mann.«

»Wegen mir?«, fragte Caw.

»Dein Ruhm hat sich schnell verbreitet«, antwortete Johnny. »Ich kann es kaum glauben, dass ich den Rabenflüsterer endlich persönlich kennenlerne, der ins Totenreich gegangen und wieder zurückgekehrt ist! Den Helden, der die Herrin der Fliegen besiegt hat! Du nimmst es mir hoffentlich nicht übel, aber du siehst gar nicht aus wie ein harter Kerl. Andererseits konnte man von deiner Mutter das Gleiche sagen.«

Caw war erschrocken, als Johnny seine Mutter erwähnte. »Sie … Sie haben sie gekannt?«

»Selbstverständlich!«, rief Johnny. »Die mutigste Frau, die mir je begegnet ist. Und wunderschön, aber ich war damals erst zwanzig.« Er wurde rot. »Tut mir leid – das musst du nicht unbedingt über deine Mutter wissen.«

»Kein Problem«, erwiderte Caw peinlich berührt. »Und danke übrigens, dass Sie uns eben in der Bank gerettet haben.«

»Ein glücklicher Zufall, dass ich gerade vorbeigekommen bin«, sagte Johnny. »Ich habe noch nie im Leben eine Bisonwildstimme getroffen, aber wir haben ihr gezeigt, wo der Hammer hängt, stimmt’s?«

»Stimmt!«, rief Pip.

Auf Crumb machte das deutlich weniger Eindruck. »Du bist also rein zufällig vorbeigekommen?«

»Nicht so ganz«, antwortete Johnny. »Ich habe Maddie kontaktiert. Maddie kennt ihr doch? Die Eichhörnchenflüsterin?«

»Madeleine«, meinte Crumb mit einem knappen Nicken. »Ja, wir kennen uns.«

Caw bemerkte die spürbare Abkühlung der Atmosphäre und hatte Mitleid mit Crumb. Als Caw dem Taubenflüsterer geholfen hatte, mit seinen wenigen Habseligkeiten aus dem alten Versteck zu Caw zu ziehen, war ein Foto herausgefallen. Es zeigte Madeleine und Crumb als Jugendliche in inniger Umarmung.

»Ja, also«, fuhr Johnny fort, der von alldem nichts mitbekam, »sie erzählte mir, ein paar neue Wildstimmen wären aufgetaucht, die sich nicht an die Regeln hielten. Gestern Abend habe ich etwas über ein Kasino gehört und heute von einem Banküberfall. Da musste ich sofort an Mr Pickwick denken. Zum Glück, würde ich sagen.«

Crumb nickte, er wirkte mitgenommen.

»Maddie – Entschuldigung, Madeleine«, erklärte Johnny, »sah echt gut aus. Endlich ist sie den Rollstuhl los – das freut mich wirklich sehr für sie.«

Caw sah, wie Crumb erneut zusammenzuckte. Höchste Zeit, das Thema zu wechseln.

»Du bleibst also in Blackstone?«, fragte er.

»Das steht noch nicht fest«, antwortete Johnny. »Ich bin nicht gut in Entscheidungen. Hey, stimmt es, dass du dich, du weißt schon, in einen Raben verwandeln kannst?«

Caw wurde rot.

»Und ob das stimmt!«, rief Pip.

»Fantastisch«, sagte Johnny. »Den Trick musst du mir zeigen.«

Seit dem Kampf gegen die Herrin der Fliegen hatte Caw es nicht einmal mehr versucht, doch er spürte die Kraft, die ihm innewohnte. »Äh … klar, mach ich«, erwiderte er.

»Wo bist du denn abgestiegen?«, fragte Crumb.

»In einem miesen Loch am Fluss«, antwortete Johnny. »Der Aufzug funktioniert nicht und es stinkt, aber wenigstens regnet es nicht rein!« Er strich sich ein paar feuchte Strähnen aus dem Gesicht.

Sie standen an einer Kreuzung, wo eine Straße westlich zu Caws Haus abbog und die andere bergauf zu dem Park im Norden und zum Haus der Strickhams führte. Caw überlegte, wie es Lydia wohl erging. Sie war die erste menschliche Freundin, die er je gehabt hatte, und auch die beste, doch er hatte sie seit vierzehn Tagen nicht gesehen. Er vermisste sie, ihr Lächeln und ihre Witze fehlten ihm. In letzter Zeit beschlich ihn immer häufiger das Gefühl, dass es nicht mehr viel zu lachen gab.

»Hier verabschiede ich mich jetzt«, sagte Johnny. »Ich muss Futter für das Rudel besorgen.« Er reichte Caw die Hand. »Es war mir eine Ehre, dich kennenzulernen, Rabenflüsterer. Wir sehen uns.«

Caw fand das ein bisschen komisch, nahm aber seine Hand.

Johnny schüttelte sie kräftig und sah Caw eindringlich an. »Weißt du eigentlich, dass du ihr sehr ähnlich siehst?«

Caws Wangen brannten erneut.

»Komm doch mit zu Caw!«, rief Pip unvermittelt. »Wir haben jede Menge Platz.«

Johnny hob die Hände. »Oh nein, das kann ich nicht annehmen.«

»Ich bin sicher, Johnny will nicht –«, setzte Crumb an.

»Doch, du musst!«, beharrte Pip. »Du hast uns gerade das Leben gerettet.«

»Das liegt bei Caw, würde ich sagen«, meinte der Kojotenflüsterer. »Schließlich ist es sein Haus.«

Crumb sagte gar nichts mehr, doch Caw fand Pips Vorschlag gar nicht so schlecht. Außerdem konnte Johnny ihm vielleicht noch mehr über seine Mutter erzählen.

»Du bist herzlich eingeladen«, sagte er.

Johnny zuckte die Achseln. »Das ist sehr nett von dir, Caw. Wohnt ihr immer noch da, wo deine Familie früher gewohnt hat? Ich glaube, ich weiß sogar noch den Weg.« Mit diesen Worten setzte er sich an die Spitze der kleinen Truppe und pfiff fröhlich vor sich hin.

Auf dem Heimweg dachte Caw über den Banküberfall nach. Ein Bison … Dieses Tier war auf dem Dach nicht vorgekommen, als die Herrin der Fliegen ihre neue Armee zusammengestellt hatte. Er fragte sich, was dort oben noch alles gewesen war – und welche Schrecken sie in Zukunft erwarten könnten.

Dann fiel ihm etwas ein, das Mr Silk gesagt hatte.

»Das entspricht nicht dem Befehl …«, murmelte Caw.

»Darüber habe ich auch schon nachgedacht«, sagte Crumb leise. »Anscheinend haben sie einen neuen Chef.«

»Einer der Häftlinge?«, mutmaßte Caw.

»Kann sein«, antwortete Crumb skeptisch.

Caw erschauerte, als ihm eine weitere Möglichkeit einfiel. »Du glaubst doch nicht etwa, dass die Fliegenflüsterin …«

»Auf keinen Fall«, sagte Crumb rasch. »Sie ist in der Psychiatrie von Blackstone. Da ihre Verbindung zu den Fliegen gekappt ist, stellt sie keine Bedrohung mehr dar.«

Caw nickte, aber aus unerfindlichen Gründen glaubte er es nicht.

Der Regen hatte nachgelassen, als sie schließlich in der verlassenen Straße ankamen, in der Caw wohnte. Johnny Fivetails ging neben Caw her und staunte über die dunklen, leeren Häuser.

»Mit diesem Viertel ist es echt bergab gegangen«, sagte er und wandte sich an Caw. »Tut mir leid, Mann. Ist einfach ein Schock für mich.«

»Schon gut«, erwiderte Caw. »Ich mag die Einsamkeit.«

»Die Menschen sind während des Schwarzen Sommers von hier geflohen«, bemerkte Crumb spitz.

»Wahrscheinlich«, sagte Johnny.

Auf einmal schämte sich Caw, als sie sich dem verwilderten Vorgarten und dem mit Brettern vernagelten Haus näherten. Als Crumb und Pip vor zwei Wochen eingezogen waren, hatten sie große Pläne geschmiedet, alles zu streichen und die Fenster zu reparieren. Doch der Kampf gegen die ausgebrochenen Häftlinge hatte all das zunichtegemacht.

Im Esszimmer schien Licht, die anderen Wildstimmen waren also schon eingetroffen.

Caw führte die Truppe zur Haustür und drückte sie auf.

Mehrere Gäste saßen am Esstisch in dem von Kerzen beleuchteten Raum. Neben vertrauten Gesichtern wie dem von Ali, dem Bienenflüsterer, Racklen, dem Wolfflüsterer und Chen, der Fledermauswildstimme, waren auch Unbekannte gekommen. In den vergangenen Wochen hatte Mrs Strickham, die Fuchsflüsterin, alle treu ergebenen Wildstimmen um sich versammelt, die sie finden konnte. Obwohl sich einige standhaft geweigert hatten, waren die meisten einverstanden gewesen und hatten sich dem Argument gebeugt, dass sich durch die Bündelung der Kräfte ihre Überlebenschancen erhöhten. Auf dem Boden lagen Hunde verschiedener Rassen, und mehrere Vogelarten verteilten sich im Raum, während sich die Eidechsen an den Möbeln festhielten.

Es roch intensiv nach den unterschiedlichsten Speisen. Während einige Wildstimmen sich aus Takeaway-Packungen bedienten, hatten andere Teller, Schüsseln oder verschiedene Behälter aus Caws Küche geholt.

Als er sich damit einverstanden erklärt hatte, dass die guten Wildstimmen ihr Basislager in seinem Haus aufschlagen durften, war ihm nicht klar gewesen, was Mrs Strickham damit gemeint hatte. Doch jetzt konnte er sein Versprechen schlecht zurücknehmen. Es war sinnvoll, sich immer wieder hier zu treffen – selbst wenn ihre Feinde ahnten, wo sie sich aufhielten, waren in dieser Umgebung wenigstens keine unschuldigen Menschen gefährdet. Auße