Wildboy - Die Stimme des weißen Raben - Jacob Grey - E-Book

Wildboy - Die Stimme des weißen Raben E-Book

Jacob Grey

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Beschreibung

Ein magisches Leseabenteuer: Starke Helden, faszinierende Tiere und jede Menge Spannung

Der 13-jährige Caw lebt in einem Baumhaus zusammen mit seinen drei Raben. Er hat kein anderes Zuhause, er hat sich nie gefragt, warum er die Sprache der Raben sprechen kann und er meidet die Menschen – bis auf einen einzigen: das Mädchen Lydia. Erst nach und nach erfahren Caw und Lydia, was ihr Schicksal ist: sie gehören zu den Wildstimmen, zu den besonderen Menschen, die durch ein magisches Band mit der Welt der Tiere verbunden sind. Doch diese magische Welt ist bedroht: Der fürchterliche, machthungrige Spinnen-Meister hält sie in seinem Würgegriff. Es gibt nur einen einzigen Weg, um ihn zu besiegen – und nur Caw und seine Raben können diesen Weg gehen.

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Seitenzahl: 300

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Jacob Grey

Die Stimme

des weißen Raben

Aus dem Englischen

von Anne Brauner

Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

1. Auflage 2015

© 2015 der deutschsprachigen Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag

in der Verlagsgruppe Random House, München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Text © Jacob Grey 2015

Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel:

»Ferals – The Crow Talker«

bei HarperCollins Children’s Books,

a division of HarperCollins Publishers, London, New York

Übersetzung: Anne Brauner

Lektorat: Julia Przeplaska

Umschlagkonzeption: init | Kommunikationsdesign, Bad Oeynhausen

unter Verwendung einer Illustration von Bente Schlick,

www.benteschlick.com.

Umschlagrückseite/Klappen: Illustrationen © Thinkstock

(oblachko, Ingram Publishing, kevinhill illustration)

Vignetten innen: Frank Niedertubbesing

CK · Herstellung: AJ

Satz und Reproduktion: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-14631-3

www.cbj-verlag.de

Besonderer Dank gilt Michael Ford

»… Mehrere Leichen waren von Bissen entstellt. Andere Opfer hatte man aus großer Höhe fallen lassen und wieder andere waren aufgrund von Giftstoffen im Blut fürchterlich aufgedunsen. Bis heute weiß niemand, was – oder wer – hinter der sonderbaren Mordserie steckt, die in diesem verhängnisvollen Sommer über Blackstone hereingebrochen ist.«

Das Geheimnis des Schwarzen Sommers

Von Josephine Wallace, leitende Bibliothekarin in der Blackstone Central Library

Erstes Kapitel

Die Nacht gehörte ihm. Er kleidete sich in ihre Schatten, schmeckte ihren Duft. Er genoss die Klänge und die Stille in allen Facetten. Caw sprang von Dach zu Dach, ein Junge, den nur das weiße Auge des Mondes und die drei Raben im Blick hatten, die über ihm durch die Nacht flogen.

Blackstone breitete sich wie eine Seuche nach allen Seiten aus. Caw nahm die Stadt in schnell aufblitzenden Bildern wahr: Wolkenkratzer im Osten, die endlose schräge Dächerlandschaft der ärmeren Viertel und die rauchenden Schornsteine im Industriegebiet im Westen. Im Norden ballten sich verlassene Mietshäuser, während der Fluss Blackwater als aufgewühlte Brühe Richtung Süden schwappte und den Schmutz mit sich trug. Dennoch wurde die Stadt nicht sauberer und es stank weiter nach Fäulnis.

Caw kam auf der schmutzigen Scheibe eines Oberlichts ins Rutschen, legte die Hände leise ans Glas und blickte durch den trüben Schimmer nach unten. Ein Hausmeister arbeitete sich gebückt mit Wischmopp und Eimer durch einen Flur. Er war in seiner eigenen Welt versunken und blickte nicht auf. Das taten sie nie.

Als Caw weiterging, schreckte er eine fette Taube auf, ließ eine uralte Werbetafel links liegen und vertraute darauf, dass die Vögel ihm folgten. Zwei seiner Raben waren im Nachthimmel kaum zu erkennen – fliegende pechschwarze Schatten. Der dritte war weiß, seine bleichen Federn leuchteten geisterhaft in der Dunkelheit.

Ich bin am Verhungern, murrte Screech. Die Stimme des kleinsten Raben war heiser und näselnd.

Wann hast du mal keinen Hunger?, sagte Glum, der bedächtig die Flügel schwang. Die Jugend ist so gierig.

Caw lächelte. Alle anderen würden nur die Schreie normaler Vögel hören. Doch Caw hörte mehr, sehr viel mehr.

Ich wachse noch!, protestierte Screech und schlug empört mit den Flügeln.

Schade, dass dein Verstand nicht mitwächst, keckerte Glum.

Der alte Milky schwebte blind über ihnen, wie gewohnt, ohne etwas zu sagen.

Caw lief langsamer, um durchzuatmen. Er sog die kühle Luft tief in seine Lunge und lauschte den Geräuschen der Nacht: dem Gleiten eines Wagens über den glatten Asphalt, dem Dröhnen ferner Musik. Weiter weg heulte eine Sirene und ein Mann schrie etwas Unverständliches.

Caw interessierte es nicht, ob der Mann vor Wut oder Glück so laut war. Die Welt da unten gehörte der normalen Bevölkerung von Blackstone. Doch hier oben, in den Silhouetten der Skyline … lag sein Reich, und das seiner Raben.

Nachdem er durch den warmen Strom einer Klimaanlage gegangen war, blieb er stehen und hielt die Nase in die Luft.

Essen. Etwas Salziges.

Er lief zur Dachkante und warf einen Blick nach unten. Eine offene Tür in einer Gasse mit Müllcontainern. Dort lag der Hintereingang eines Imbisses, der rund um die Uhr geöffnet war. Caw wusste aus Erfahrung, dass sie oft noch genießbares Essen entsorgten – Reste wahrscheinlich, aber er war nicht wählerisch. Vorsichtig spähte er in alle dunklen Ecken. Er nahm nichts Ungewöhnliches wahr, doch am Boden war es immer riskant. Dort lebten die anderen, er nicht.

Glum landete neben Caw und neigte den Kopf. Sein Stummelschnabel glänzte golden im Licht einer Straßenlaterne. Glaubst du, es ist sicher?, fragte er.

Eine plötzliche Bewegung zog Caws Blick auf sich. Eine Ratte wühlte in den Müllsäcken. Sie hob den Kopf und sah ihn furchtlos an. »Ich denke schon«, antwortete er. »Passt trotzdem auf.«

Er wusste, dass er ihnen das nicht extra sagen musste. Nach so vielen gemeinsamen Jahren vertraute er ihnen fast mehr als sich selbst.

Caw schwang sich über die Dachkante und landete weich auf dem Steg der Feuerleiter. Screech schoss im Sturzflug nach unten und setzte sich rechts auf einen Müllcontainer, während Glum an eine Ecke des Dachs flog, um die Hauptstraße im Blick zu behalten. Als Milky sich auf dem Geländer der Feuerleiter niederließ, kratzten seine Krallen über das Metall. Die Raben hielten Wache.

Caw schlich die Sprossen hinunter. Einen Augenblick lang blieb er in der Hocke und nahm die Hintertür des Imbisses genau in Augenschein. Sein Magen knurrte laut, als er das Essen roch. Pizza, dachte er. Und Burger.

Caw wühlte in dem Container, der ihm am nächsten stand, und fand eine gelbe Styroporschachtel, die noch warm war. Er riss sie auf. Pommes frites! Gierig stopfte er sie in den Mund.

Fettig, salzig und am Rand leicht verbrannt. Sie schmeckten gut. Saurer Essig kratzte in seinem Hals, aber das war Caw egal. Er hatte zwei Tage lang nichts zu sich genommen, schlang das Essen, ohne zu kauen, herunter und hätte sich beinahe verschluckt. Dann nahm er noch mehr. Als ihm eine Fritte aus der Hand fiel, war Screech sofort zur Stelle und pickte sie mit dem Schnabel auf.

Ein heiserer Schrei von Glum.

Caw zuckte zusammen, duckte sich neben den Container und suchte mit seinen Blicken die dunkle Umgebung ab. Sein Herz raste, als vier Menschen am anderen Ende der Gasse auftauchten.

»Hey!«, sagte der Größte. »Finger weg von unserem Proviant!«

Caw schlich rückwärts und drückte die Schachtel an die Brust. Screech ergriff flatternd die Flucht.

Als die Gestalten näher kamen, beleuchtete eine Straßenlaterne ihre Gesichter. Vier Jungen, nicht viel älter als er. Obdachlos, dem Zustand ihrer Kleidung nach zu urteilen.

»Es gibt genug«, beschwichtigte Caw und zeigte mit dem Kopf auf die Müllcontainer. Es war ein komisches Gefühl, mit anderen Menschen zu sprechen. »Genug für uns alle«, fügte er hinzu.

»Falsch«, sagte ein Junge mit zwei Piercings in der Oberlippe. Er war den anderen einige Schritte voraus und rollte bedrohlich mit den Schultern. »Genug für uns. Was du da machst, ist Diebstahl.«

Sollen wir uns auf sie stürzen?, fragte Screech.

Caw schüttelte den Kopf. Wegen ein paar Pommes frites musste man keine Verletzung riskieren.

»Hör gefälligst auf, den Kopf zu schütteln, du dreckiger Dieb!«, rief der größte Junge. »Lügner!«

»Bäh, und stinken tut er auch«, spottete ein kleinerer Junge.

Caw stieg das Blut ins Gesicht; er ging noch einen Schritt zurück.

»Wo willst du denn hin?«, fragte der Junge mit dem Lippenpiercing. »Bleib doch noch ein bisschen.« Er ging auf Caw zu und gab ihm einen kräftigen Schubs.

Überrumpelt von dem plötzlichen Angriff fiel Caw auf den Rücken. Als die Schachtel in hohem Bogen durch die Luft flog, verteilte sich der Inhalt auf dem Boden. Die Jungen hatten Caw mittlerweile umzingelt.

»Jetzt wirft er sie auch noch hin!«

»Heb sie schön wieder auf!«

Caw kam wieder hoch. Er saß in der Falle. »Ihr könnt sie haben.«

»Dafür ist es jetzt zu spät«, entgegnete der Anführer. Er fuhr mit der Zunge über die Ringe in seiner Oberlippe und griff in die Tasche. »Jetzt musst du zahlen. Wie viel hast du dabei?«

Caw zog mit klopfendem Herzen das Futter seiner Hosentaschen heraus. »Nichts.«

Eine glänzende Klinge funkelte an der Hosentasche des Jungen. »Dann müssen wir wohl deine diebischen Fingerchen nehmen.«

Der Junge stürzte sich auf ihn, doch Caw zog sich rasch an dem Container hoch.

»Er ist schnell, das muss man ihm lassen«, sagte der Junge. »Schnappt ihn euch.«

Die drei anderen umstellten den Container. Einer griff nach Caws Knöchel, ein anderer schüttelte die Mülltonne. Caw schwankte und versuchte das Gleichgewicht zu halten. Sie lachten ihn aus.

Drei Meter zu seiner Linken war eine Regenrinne. Er sprang, doch als er sich an dem Metall festhielt, brach das Rohr aus der Wand. Ziegelstaub vernebelte die Luft. Caw fiel schwer auf die Seite und bekam keine Luft mehr. Vier grinsende Gesichter neigten sich über ihn.

»Haltet ihn gut fest!«, kommandierte der Anführer. »Nehmt seine Hand.«

»Bitte … nein …« Caw wehrte sich, doch die Jungen setzten sich auf seine Beine und zerrten an seinen Armen. Als er alle viere von sich gestreckt hatte, baute sich der Junge mit dem Messer vor ihm auf. »Welche soll ich nehmen, Leute?« Er zeigte mit der Messerspitze abwechselnd auf Caws Hände. »Die linke oder die rechte?«

Caw konnte seine Raben nicht mehr sehen. Ihm war schwindelig vor Angst.

Der Junge kauerte sich neben Caw und drückte ihm ein Knie auf die Brust. »Ene, mene, miste …« Das Messer tanzte von links nach rechts.

Achtung, Caw!, rief Glum. Alle hoben den Kopf, als der Rabe schrie. Dann kam eine Hand von oben und packte den Messerstecher am Kragen. Der Junge schrie auf, als er von Caw weggerissen wurde.

Ein Knacken – dann wischte Haut über Haut – und das Messer fiel klirrend auf den Boden.

Wo kommt der denn her?, fragte Screech.

Caw setzte sich auf. Ein großer dünner Mann hielt den Jungen mit dem Lippenpiercing am Nacken. Unter der schmutzigen Mütze quoll drahtiges braunes Haar hervor. Der Mann trug mehrere Schichten dreckiger Klamotten unter einem alten braunen Trenchcoat, den er mit einem verschlissenen blauen Cordgürtel zugebunden hatte. Ein flaumiger Bart spross ungleichmäßig um sein Kinn. Unter all dem Schmutz schätzte Caw ihn auf Mitte zwanzig. Wahrscheinlich obdachlos.

»Lasst ihn in Ruhe«, sagte der Mann mit rauer Stimme. Im Halbdunkel war sein Mund ein schwarzes Loch.

»Was geht dich das an?«, fragte der Junge, der Caws linken Arm festgehalten hatte.

Der Mann knallte den Anführer an den Müllcontainer.

»Der Typ ist komplett durchgeknallt«, sagte der Junge, der auf Caws Beinen gesessen hatte. »Kommt, wir hauen ab!«

Der Anführer hob sein Messer auf und richtete es auf den Obdachlosen.

»Dein Glück, dass du so dreckig bist«, zischte er. »Mit dir versau ich mir mein Messer nicht. Kommt, Leute.«

»Haut endlich ab!«, brüllte der Mann.

Die vier Angreifer drehten sich um und liefen aus der Gasse. Caw stand keuchend auf. Als er den Kopf hob, saßen seine Raben nebeneinander auf dem Geländer der Feuerleiter und sahen schweigend zu.

Nachdem die Bande um die Ecke gebogen war, kam eine weitere kleine Gestalt aus der dunklen Gasse hinter den Müllcontainern hervor und stellte sich neben den jungen Mann. Der Junge war vielleicht sieben oder acht. Sein schmales Gesicht war blass und das schmutzige blonde Haar stand struppig von seinem Kopf ab. »Ja, und kommt bloß nie wieder!«, schrie er den Typen nach und reckte die Faust.

Caw sammelte in Windeseile die verstreuten Pommes auf und warf sie in die Schachtel zurück. Kein Grund, eine wertvolle Mahlzeit zu verschwenden. Die ganze Zeit spürte er die Blicke seines Retters und des Jungen in seinem Rücken.

Als er fertig war, steckte er die Schachtel in die tiefe Tasche seines Mantels und flitzte zur Feuerleiter.

»Warte«, rief ihm der Obdachlose nach. »Wer bist du?«

Caw drehte sich zu ihm um, blickte zu Boden und schüttelte den Kopf. »Niemand.«

»Ach ja?«, schnaubte der Mann. »Und wo sind deine Eltern, du Niemand?«

Caw schüttelte noch mal den Kopf. Er wusste nicht, was er sagen sollte.

»Sei bloß vorsichtig«, sagte der Mann.

»Ich kann auf mich selbst aufpassen.«

»Das sieht man«, erwiderte der Junge und hob das Kinn.

Als die Raben krallenkratzend auf dem Geländer das Gewicht verlagerten, hob der junge Mann den Blick. Er kniff die Augen zusammen und lächelte leicht. »Freunde von dir?«, fragte er.

Zeit zu gehen, sagte Glum.

Caw stieg die Metallleiter hoch, ohne sich noch einmal umzusehen. Er hangelte sich geschickt an der Feuertreppe hoch und machte mit seinen sicheren Tritten fast kein Geräusch. Als er oben war, wagte er einen letzten Blick. Der Mann beobachtete ihn, während der Junge im Müll wühlte.

»Etwas Schlimmes kommt auf uns zu«, rief der Mann. »Richtig schlimm. Wenn du in Schwierigkeiten gerätst, sprich mit den Tauben.«

Er sollte mit Tauben reden? Caw sprach nur mit Raben.

Tauben?, fragte Screech, als hätte er Caws Gedanken gehört. Sogar Steine haben mehr Verstand!

Der ist wahrscheinlich nicht ganz dicht, krächzte Glum. Wie viele Menschen.

Caw hievte sich aufs Dach und lief los. Doch er bekam die Abschiedsworte des Mannes nicht aus dem Kopf. Auf ihn hatte er keinen verrückten Eindruck gemacht. Seine Miene war entschlossen, sein Blick klar. Ganz anders als die alten Säufer, die über die Straße wankten oder in Hauseingängen hockten und bettelten.

Außerdem hatte er Caw das Leben gerettet und seine eigene Haut riskiert – völlig ohne Grund.

Caws Raben schwebten über ihm, umflogen die Häuser und kreisten zu ihm zurück, während sie dem Nest immer näher kamen. Dem Nest – ihrem Zuhause.

Caws Herz schlug wieder langsamer, als die Nacht ihn in ihre dunklen Arme schloss.

Zweites Kapitel

Der Traum wieder. Immer derselbe Traum.

Er ist zurück in der Wohnung. Das Bett ist so weich, dass er sich wie auf einer Wolke fühlt. Warm ist es, er möchte sich umdrehen und die Decke ans Kinn ziehen und weiterschlafen. Aber das geht nicht. Denn der Traum ist nicht nur ein Traum. Sondern Erinnerung.

Schnelle Schritte auf der Treppe vor seinem Zimmer. Sie kommen, um ihn zu holen.

Er schwingt die Beine aus dem Bett und spürt den weichen Teppich unter seinen nackten Füßen. Es ist dunkel im Zimmer, aber er kann seine Spielsachen noch erkennen, die auf einer Kommode aufgereiht sind, neben einem Regal mit Bilderbüchern.

Unter der Tür erscheint ein Lichtstreifen, und er hört, wie seine Eltern hektisch, aber gedämpft miteinander sprechen.

Die Klinke wird heruntergedrückt, sie kommen herein. Seine Mutter trägt ein schwarzes Kleid, silbern rinnen Tränen über ihr Gesicht. Sein Vater trägt eine braune Cordhose und ein Hemd mit offenem Kragen. Der Schweiß steht ihm auf der Stirn.

»Bitte nicht …«, sagt Caw.

Seine Mutter nimmt seine Hand in ihre kalten feuchten Hände und zieht ihn zum Fenster.

Caw wehrt sich, aber im Traum ist er klein, und sie ist zu stark für ihn.

»Kämpf nicht dagegen an«, sagt sie. »Bitte. Es ist am besten so. Versprochen.«

Caw tritt gegen ihre Schienbeine und kratzt sie, doch sie drückt ihn mit eisernem Griff an sich und hebt ihn auf die Fensterbank. Vor lauter Angst beißt Caw sie in den Unterarm. Sie lässt nicht los, nicht einmal, als er mit den Zähnen ihre Haut einritzt. Als sein Vater die Vorhänge aufzieht, sieht Caw eine Sekunde lang sein Gesicht im schwarzen Spiegel der Fensterscheibe: verquollen, mit großen Augen, verängstigt.

Das Fenster wird aufgerissen und die kalte Nachtluft weht ins Zimmer.

Jetzt hält ihn auch sein Vater fest – seine Eltern nehmen jeweils einen Arm und ein Bein. Caw wehrt sich, er tobt und schreit.

»Pst! Pst!«, sagt seine Mutter. »Alles wird gut.«

Das Ende des Albtraums naht, doch diese Erkenntnis macht es nicht weniger schrecklich. Sie ziehen und schieben ihn über das Sims, bis seine Beine herunterhängen und er tief unter sich den Erdboden sehen kann. Sein Vater beißt brutal die Zähne zusammen. Er meidet Caws Blick. Doch Caw sieht, dass auch er weint.

»Tu’s!«, sagt sein Vater und lässt los. »Jetzt tu’s doch endlich!«

»Wieso?«, will Caw rufen, doch es kommt nur ein gequältes Kinderweinen heraus.

»Verzeih mir«, sagt seine Mutter. Dann stößt sie ihn aus dem Fenster.

Für den Bruchteil einer Sekunde dreht sich sein Magen um. Dann haben ihn die Raben. Sie bedecken seine Arme und Beine, sie graben ihre Krallen in seine Haut und den Schlafanzug. Eine dunkle Wolke, die wie aus dem Nichts erscheint und ihn nach oben trägt.

Ihre Federn berühren sein Gesicht, sie riechen nach Erde.

Er schwebt höher, immer höher, zwischen ihren schwarzen Augen, zerbrechlichen Beinen und schlagenden Schwingen.

Er übergibt seinen Körper den Vögeln und dem Rhythmus ihres Fluges, bereit aufzuwachen …

Doch heute Nacht wacht er nicht auf.

Die Raben fliegen tiefer, setzen ihn sanft auf dem Bürgersteig ab und drehen über eine helle Zufahrtsstraße, die von großen Bäumen gesäumt ist, eine Schleife zurück zum Haus. Er sieht seine Eltern am Fenster stehen. Sie umarmen sich, halten sich aneinander fest.

Wie konnten sie nur?

Noch immer wacht er nicht auf.

Dann sieht Caw eine Gestalt, ein Wesen, das im dunklen Vorgarten Form annimmt und bedächtig und entschlossen zur Haustür geht. Es ist groß, fast so hoch wie die Tür und sehr mager. Die spindeldürren Gliedmaßen sind zu lang für den Körper.

Es ist neu, dass der Traum nicht endet. So weit reicht seine Erinnerung nicht – das weiß Caw in seinem tiefsten Inneren.

Mit irgendeinem Trick gelingt es ihm, das Gesicht des Wesens ganz aus der Nähe zu betrachten. Es ist wohl ein Mann – aber so einen hat er noch nie gesehen. Caw will den Blick abwenden, doch er wird von den blassen Zügen magisch angezogen, die noch bleicher wirken, da der Mann pechschwarzes Haar hat, das in spitzen Stacheln über seiner Stirn und einem Auge liegt. Wären diese Augen nicht, wäre er durchaus attraktiv. Sie sind vollkommen schwarz, nur die Iris, nirgends etwas Weißes.

Caw kann sich nicht vorstellen, wer dieser Mann sein soll, und doch weiß er, dass er abgrundtief böse ist. Der schlanke Körper des Mannes zieht die Dunkelheit an. Er ist gekommen, um etwas Schlimmes zu tun. Böses. Das Wort kommt unaufgefordert. Caw will schreien, doch vor Angst versagt seine Stimme.

Er will unbedingt aufwachen, doch es gelingt ihm nicht.

Der Besucher lächelt und hebt eine Hand, deren Finger wie schlaffe Spinnenbeine herunterhängen. Caw bemerkt einen dicken goldenen Ring, als der Mann zum Türklopfer greift. Es sieht aus, als würde eine Blume ihre Blütenblätter schließen. Und nun sieht Caw nur noch den Ring und das Bild auf der ovalen Oberfläche. Eine eingravierte Spinne in scharfen Strichen, mit acht vibrierenden Beinen. Der Körper besteht aus einer Schlangenlinie mit einem kleinen Kreis für den Kopf und einem größeren für den restlichen Körper. Auf dem Rücken prangt etwas, das wie ein M aussieht.

Der Fremde klopft einmal, dann dreht er den Kopf und sieht Caw direkt in die Augen. Einen kurzen Moment lang sind die Raben verschwunden, und die Welt ist bis auf Caw und den Fremden leer und verlassen. Die Stimme des Mannes ist ein leises Flüstern, kaum bewegt er die Lippen.

»Ich komme dich holen.«

Caw erwachte mit einem lauten Schrei.

Auf seiner Stirn trocknete der Schweiß, er hatte eine Gänsehaut. Trotz der Plane, die über ihm zwischen den Ästen hing, konnte er seinen Atem sehen. Als er sich hinsetzte, ächzte der Baum, und das Nest geriet sanft ins Schaukeln. Eine Spinne huschte von seiner Hand.

Zufall. Reiner Zufall.

Was ist los?, fragte Screech und flog vom Nestrand zu ihm.

Caw schloss die Augen, doch das Bild des Spinnenrings brannte ihm unter den Lidern.

»Nur der Traum«, antwortete er. »Der gleiche wie immer. Schlaf weiter.«

Doch in dieser Nacht war es eben nicht der gleiche Traum gewesen. Der Fremde – dieser Mann an der Tür –, den hatte es in Wirklichkeit nicht gegeben. Oder doch?

Wir wollten schlafen, maulte Glum, aber du hast uns geweckt, weil du gezuckt hast wie ein halb gefressener Wurm. Sogar der arme alte Milky ist wach. Glum sträubte mürrisch das Gefieder.

»Das tut mir leid«, sagte Caw. Er legte sich wieder hin, doch er konnte nicht mehr einschlafen, da ihm der Traum noch immer als schwaches Echo durch den Kopf ging. Warum war es heute anders, nachdem er jahrelang den gleichen Albtraum gehabt hatte?

Caw schlug die Decke zurück und gewöhnte seine Augen an das milchige Licht unter der Plane. Das Nest bestand aus einer Plattform weit oben in einem Baum und hatte einen Durchmesser von drei Metern. Er hatte es aus Holzstücken und geflochtenen Zweigen gebaut und eine Luke aus einer geriffelten, halb durchsichtigen Plastikplatte in den Boden versenkt. Der Rand des Nests war mit weiteren geflochtenen Zweigen verstärkt, in die Caw gestohlene Bretter von einer Baustelle eingearbeitet hatte. Auf diese Weise hatte das Nest die Form einer Schüssel mit steilen Wänden, die gut einen Meter hoch waren. Seine spärlichen Besitztümer lagen in einem abgewetzten Koffer, den er vor einigen Monaten am Ufer des Blackwater gefunden hatte. Wenn er Ruhe vor den Blicken der Raben haben wollte, konnte er eine alte Gardine in der Mitte aufspannen, auch wenn Glum diesen Wink mit dem Zaunpfahl nie kapierte. Auf der anderen Seite diente ein kleines Loch im Planendach als Ein- und Ausgang für die Raben.

Es war kalt hier oben, vor allem im Winter, aber dafür war es trocken.

Als die Raben ihn vor acht Jahren zum ersten Mal in den alten Park geführt hatten, waren sie in ein verlassenes Baumhaus auf einer Astgabel knapp über dem Boden gezogen. Doch sobald er alt genug zum Klettern war, hatte Caw sich hier sein eigenes Nest gebaut, gut geschützt vor der Außenwelt. Er war stolz darauf. Hier war er zu Hause.

Caw löste eine Ecke der Plane und zog sie beiseite. Als ihm ein Regentropfen in den Nacken fiel, erschauerte er.

Der Mond stand fast voll am wolkenlosen Himmel. Milky saß reglos draußen auf einem Ast. Sein weißes Gefieder glänzte silbern im Mondschein. Nun drehte er blitzschnell den Kopf und schien Caw mit einem bleichen blinden Auge anzusehen.

Das war’s dann wohl mit Schlafen, grummelte Glum und schüttelte missbilligend den Schnabel.

Screech hüpfte auf Caws Arm und zwinkerte zweimal. Stör dich nicht an Glum, sagte er. Oldtimer wie er brauchen ihren Schönheitsschlaf.

Glum krächzte scharf. Halt den Schnabel, Screech.

Caw atmete den Stadtgeruch ein. Autoabgase. Schimmel. Etwas Sterbendes in der Gosse. Es hatte geregnet, aber kein Regen der Welt konnte Blackstone reinwaschen. Hier stank es immer.

Sein Magen knurrte, doch er freute sich über diesen Hunger, der seine Sinne schärfte und den Schock verdrängte. Caw musste an die Luft, einen klaren Kopf bekommen. »Ich suche mir was zu essen.«

Jetzt?, fragte Glum. Du hast doch gestern erst gegessen.

Caw entdeckte die Styroporverpackung, die er am Abend mitgenommen hatte, in der anderen Ecke des Nests, bei dem Durcheinander, das die Raben sammelten. Glitzerdinge. Kronkorken, Dosen, Aufreißlaschen, Alufolie. Auch die Überreste von Glums Abendessen waren überall verstreut – Mäuseknochen, säuberlich abgenagt. Ein kleiner kaputter Schädel.

Ich könnte auch etwas vertragen, meinte Screech und streckte die Flügel zur Seite.

Ich kann es nicht oft genug betonen, stöhnte Glum und schüttelte erneut den Schnabel. Gierschlund.

»Macht euch keine Sorgen«, sagte Caw. »Bin gleich zurück.«

Er schwang sich von der Plattform ins hohe Astwerk und kletterte an den Haltepunkten nach unten, die er mit geschlossenen Augen gefunden hätte. Als er das letzte Stück sprang, schwebten drei Vögel – zwei schwarze, ein weißer – aufs Gras.

Caw ärgerte sich. »Ihr müsst nicht mitkommen«, sagte er zum tausendsten Mal. Ich bin kein Kleinkind mehr, hätte er beinahe hinzugefügt, doch er wusste, dass er sich dann wie eines anhören würde.

Lass uns doch, sagte Glum.

Caw zuckte die Achseln.

Schon seit Jahren wurde das Tor zum Park nicht mehr geöffnet und das Gelände lag stets verlassen da. Obwohl es bis auf das Rauschen der Blätter im Wind ruhig war, hielt sich Caw lieber im Schatten. Die Sohle seines linken Schuhs schlabberte. Bald würde er ein neues Paar stehlen müssen.

Er ging an dem verrosteten Klettergerüst vorbei, auf dem niemals Kinder spielten, und überquerte die längst überwucherten Blumenbeete. Auf dem Fischteich trieb eine dicke Schmutzschicht. Screech hatte vor einem Monat steif und fest behauptet, einen Fisch gesichtet zu haben, doch Glum glaubte, das hätte er sich ausgedacht. Jenseits der Parkmauer ragte auf der linken Seite das Gefängnis von Blackstone mit vier hohen Türmen in den Himmel. Manchmal hörte Caw nachts Geräusche, die von den mächtigen fensterlosen Mauern gedämpft wurden.

Als Caw an dem ungenutzten Musikpavillon stehen blieb, der mit Graffiti besprüht war, ließ Screech sich auf einer Stufe nieder und tippte mit den Krallen auf den Betonboden.

Irgendwas stimmt doch nicht, oder?, fragte er.

Caw verdrehte die Augen. »Du gibst wohl nie auf, was?«

Screech legte den Kopf schief.

»Es liegt an dem Traum«, gestand Caw. »Er war anders als sonst. Ich verstehe das nicht.«

Der Albtraum stand ihm wieder vor Augen. Der Mann mit den schwarzen Augen. Sein scharfer Schatten – wie an Mitternacht. Die ausgestreckte Hand, der Spinnenring …

Caw sah Milky und Glum zu, die hoch am Himmel kreisten. Er wusste, dass sie nur auf ihn aufpassen wollten. Und ohne die Raben hätte er sicher nicht so lange durchgehalten.

Deine Eltern sind Teil der Vergangenheit, sagte Screech. Lass sie ruhen.

Caw nickte und ging weiter. Wie so oft tat ihm das Herz in der Brust weh. Jedes Mal, wenn er an seine Eltern dachte, war der Schmerz wie eine alte Wunde, die erneut aufriss. Er würde niemals Ruhe davon haben. Jede Nacht erlebte er es von Neuem: die leere Luft unter seinen strampelnden Beinen; das Rauschen und Schlagen der Rabenflügel von oben.

ENDE DER LESEPROBE