Wild - Jamey Bradbury - E-Book

Wild E-Book

Jamey Bradbury

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Beschreibung

Die siebzehnjährige Tracy lebt mit Vater und Bruder in der Wildnis Alaskas. Sie hilft bei der Zucht und beim Training der Schlittenhunde und verbringt viel Zeit mit der Jagd im Wald. Eines Tages wird sie auf einem Streifzug von einem Fremden überfallen. Tracy wehrt sich und zückt ihr Messer, danach kann sie sich an nichts mehr erinnern. Zu Hause wagt sie nicht, von dem Vorfall zu berichten. Als ein mysteriöser jugendlicher Ausreißer bei der Familie auftaucht und behauptet, von einem Mann verfolgt zu werden, entsteht in Tracy der Verdacht, dass es sich dabei um den verletzten Unbekannten handelt. Immer mehr zu Jesse hingezogen, wird sie von panischer Angst vor dem Fremden im Wald erfasst. Ihr entgleitet alles, und sie zieht erneut ihr Messser ... In einem außergewöhnlichen Genremix entwickelt Jamey Bradbury eine dramatische Geschichte um ihre jugendliche Hauptfigur, deren animalisches Wesen zugleich fasziniert und verstört. John Irving charakterisiert den Roman als "ungewöhnliche Liebesgeschichte und gruseligen Horrorthriller, der sowohl an die Brontë-Schwestern wie an Stephen King gemahnt".

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Seitenzahl: 479

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Die siebzehnjährige Tracy lebt mit Vater und Bruder in der Wildnis Alaskas. Sie hilft bei der Zucht und beim Training der Schlittenhunde und verbringt viel Zeit mit der Jagd im Wald. Eines Tages wird sie auf einem Streifzug von einem Fremden überfallen. Tracy wehrt sich und zückt ihr Messer, danach kann sie sich an nichts mehr erinnern. Zu Hause wagt sie nicht, von dem Vorfall zu berichten. Als ein mysteriöser jugendlicher Ausreisser bei der Familie auftaucht und behauptet, von einem Mann verfolgt zu werden, entsteht in Tracy der Verdacht, dass es sich dabei um den verletzten Unbekannten handelt. Immer mehr zu Jesse hingezogen, wird sie von panischer Angst vor dem Fremden im Wald erfasst. Ihr entgleitet alles, und sie zieht erneut ihr Messer …

In einem aussergewöhnlichen Genremix entwickelt Jamey Bradbury eine dramatische Geschichte um ihre jugendliche Hauptfigur, deren animalisches Wesen zugleich fasziniert und verstört.

Jamey Bradbury, geboren 1979 in Ohio und aufgewachsen in Illinois, studierte Creative Writing an der Universität von North Carolina in Greensboro. Sie veröffentlichte Kurzgeschichten in verschiedenen Literaturzeitschriften. The Wild Inside ist ihr erster Roman, er wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Bradbury lebt in Anchorage, Alaska, wo sie für lokale Medien und bei einer Sozialeinrichtung für Indigene arbeitet. jameybradbury.com.

Jamey Bradbury

Wild

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Lydia Dimitrow

Die Übersetzerin

Lydia Dimitrow, geboren 1989 in Berlin. Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Berlin und Lausanne. Autorin von Theatertexten und Prosastücken (u. a. Stipendiatin in der Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquiums Berlin) und Übersetzerin aus dem Englischen und dem Französischen (u. a. Joseph Incardona, Isabelle Flükiger, Bruno Pellegrino, Valérie Poirier). Für ihre Übertragung des Romans Der Zoo in Rom von Pascal Janovjak wurde ihr 2022 der Terra Nova Preis Übersetzung der Schweizerischen Schillerstiftung verliehen. lydia-dimitrow.de.

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

The Wild Inside

Copyright © 2018 by Jamey Bradbury

E-Book-Ausgabe 2022

Copyright © der deutschen Übersetzung

2022 by Lenos Verlag, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Coverillustration: Mathieu Persan

eISBN 978 3 03925 703 4

www.lenos.ch

Für meine Eltern, Kit und Jim Bradbury

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Dank

1

Ich konnte immer schon ganz gut sagen, was einem Hund im Kopf rumgeht. Dad meint, das liegt daran, wie ich auf die Welt gekommen bin, in der offenen Tür von unserem Zwingerschuppen, mit zweiundzwanzig Hundeaugenpaaren auf mich gerichtet, und das Erste, was ich jemals gehört habe, das Bellen und Heulen unserer Hunde.

Damals gab es noch keine Krankenstation im Ort, also musste die Hilfsschwester einmal im Monat zu uns rauskommen. Als die erste Hälfte der Schwangerschaft rum war, sagte sie meiner Mutter, dass sie im Bett bleiben und sich nicht überanstrengen soll. Und Mom hat diesen Rat genau bis zu der Nacht befolgt, in der ich geboren wurde. An einem 1. März, der so kalt war, dass ihr die Haarspitzen einfroren. Sie ging nach draussen, zwischen den Hundehütten durch zum Schuppen, kam bis zur Tür, dann packte sie der Schmerz. Sie ging in die Hocke, hielt sich den Bauch und brüllte nach meinem Dad. Und ich flutschte einfach aus ihr heraus. Ich war schneller in dieser Welt, als sie gucken konnte, ohne dass sie gross nachgeholfen hätte. Sie sagte, das war das Einzige an mir, was jemals einfach gewesen wäre.

Was hast du da draussen gewollt?, habe ich sie einmal gefragt.

Sie hatte mit den Schultern gezuckt. Gemeint: Ich schätze, ich habe die Hunde vermisst.

Als Baby war ich gross und schwer und hatte immer Hunger. Mom hat mir erzählt, dass manche Frauen ihre Kinder nicht dazu kriegen, die Brust zu nehmen, und ich kenne das von manchen Welpen, sie hören nicht auf ihre Instinkte und weigern sich zu trinken, und dann muss man der Mutter die Milch abzapfen und den Welpen von Hand füttern. Ich war nicht so. Ich bin geradewegs auf Angriff gegangen und habe nicht mehr losgelassen. Ein Baby wie mich hatte Mom noch nie gesehen, ich war unersättlich, sagte sie. Sie stillte mich, bis sie dachte, dass nichts mehr in ihr wäre, und dann stillte sie mich weiter.

In unserem Familienalbum gibt es Bilder von uns, wir vier, wie wir zusammen im Hof arbeiten oder kurz vor einem Rennen um den Schlitten posieren. Ich und Scott mit Moms dunklem Haar und Dads braunen Augen. In der Schule habe ich gelernt, dass Blut ein Gedächtnis hat. Es trägt Informationen in sich, die einen zu dem machen, der man ist. Deshalb haben mein Bruder und ich so viel gemeinsam, wir tragen in uns, was das Blut unserer Eltern in seiner Erinnerung hatte. Wenn man teilt, was im Blut ist, ist man einem anderen Menschen so nah, wie es überhaupt nur geht.

Wahrscheinlich habe ich mich deswegen so schwergetan, als Scott und ich anfingen, zur Schule zu gehen. Weil ich mit den anderen Kindern nichts geteilt habe. Vorher war unser Zuhause die Schule gewesen. Mom war unsere Lehrerin, sie gab uns Aufgaben, eine Seite untereinandergeschriebener Zahlen, und die mussten wir dann zusammenzählen oder voneinander abziehen. Als ich klein war, bekam ich einen Stern, wenn ich alles richtig hatte. Zehn Sterne hiessen, dass ich nach draussen durfte. Also beeilte ich mich, die zehn zusammenzukriegen, und dann tummelte ich mich den Grossteil des Tages im Hof bei den Hunden, oder ich rannte durch die Wälder oder raufte mich mit Scott, wir spielten Fangen, meistens zum Spass, aber manchmal wurde es auch ruppig, und dann rief Mom uns zur Ordnung.

Nirgendwo war es so schön wie bei uns. Mein Grossvater hatte alles hier gebaut, bevor mein Dad auf die Welt kam. Er hatte ein Stück Alaska gefunden, das ihm gefiel, mitten im Wald einen Kreis von zehn Acre gelichtet und auf der einen Hälfte unser Haus gebaut, auf der anderen den Schuppen für unseren Zwinger, ein langes Gebäude mit einer Werkstatt an einem Ende und jeder Menge Platz für Ausrüstung und die Schlitten. Zwischen dem Haus und dem Zwingerschuppen standen unsere vierzig Hundehütten. Ansonsten rundherum Bäume und hinten im Hof der Einstieg zu einem angelegten Trail, der drei Meilen mitten durch den Wald führte, bis zum Ptarmigan Lake, dann noch mal etwa dreissig Meilen weiter, über den Fluss, und ab da kamen dann nur noch mehr Bäume, dann Berge, dann Tundra.

Ich verbrachte jede Minute, die ich konnte, im Wald. Wenn man mich so ansah, hätte man vielleicht meinen können: Du bist doch grad mal siebzehn und auch noch ein Mädchen, du kannst dich doch nicht so ganz allein da draussen rumtreiben, dich könnte ein Bär zerfleischen oder ein Elch über den Haufen rennen. Aber Fakt ist, wenn man mich und sonst jemand noch irgendwo in der Wildnis aussetzen würde, dann würde sich zeigen, wer von uns beiden eine Woche später putzmunter und ohne einen Kratzer wieder herausspaziert käme. Seit ich stehen kann, fahre ich hinten auf dem Schlitten mit, mit zehn bin ich schon allein mit einem kleinen Gespann auf den Trail gegangen, auch über Nacht, manchmal sogar über mehrere Tage, nur ich und meine Hunde. Sobald ich konnte, bin ich beim Junior Iditarod gestartet, und mit sechzehn bin ich meine ersten Profirennen gefahren. Ich hatte längst genug Meilen zusammen, um mich fürs Iditarod zu qualifizieren, sobald ich achtzehn war, könnte ich mich anmelden. Als ich beim Frauenrennen des Gin Gin 200 unter den besten fünf gelandet bin, habe ich es sogar geschafft, meine Startgebühr zurückzugewinnen. Auch wenn mich das Geld ehrlich gesagt nicht besonders interessierte. Ich wollte nur draussen sein, auf meinem Schlitten stehen, am liebsten jede freie Minute.

Deswegen war ich auch alles andere als begeistert, als mir Dad an einem Freitagnachmittag seine Schlüssel zuwarf und sagte: Bist du so gut und holst deinen Bruder von der Schule ab, Trace?

Ich fing die Schlüssel mit einer Hand aus der Luft und pfefferte sie zurück in seine Richtung. Sie landeten im Gras neben der Schneefräse, an der er gerade rumschraubte.

Kannst du ihn nicht abholen?

Klar, sagte er. Dann bleibst du hier und reparierst das Teil für Eleanor Andrews. Du solltest dich allerdings ranhalten, sie wollte ihren Neffen in einer Stunde schicken, um die Fräse abzuholen.

Würde ich machen, wenn ich könnte, murmelte ich und tastete im Gras nach den Schlüsseln.

Hier, sagte er und fingerte ein Stück Papier aus seiner Hosentasche. Häng das noch für mich im Laden auf, wenn du schon dabei bist.

Es war eine Annonce, für das Schwarze Brett, das im einzigen Laden des Orts neben der Eingangstür hing. Die Leute pinnten ihre Zettel an die Korktafel, auf denen dann so was stand wie: ZU VERKAUFEN – QUADREIFEN oder GRATIS FEUERHOLZ, ZUM SELBERHACKEN.

Dads Zettel war in seiner leicht angeschrägten Handschrift geschrieben, die Buchstaben waren zurückgelehnt, als würden sie sich gegen einen starken Wind stemmen. Zimmer zu vermieten. Kleines Zimmer hinterm Haus, privat, sauber. Holzofen. Kein Wasser, kein Strom. Küche und Bad dürfen jederzeit im Haupthaus mitbenutzt werden. Bei Meile 112. Keine Landstreicher. Dann Dads Name und ganz unten unsere Telefonnummer.

Welches Zimmer denn?, fragte ich. Unser Haus hatte eine gute Grösse, Scott und ich hatten beide unser eigenes Zimmer. Ich würde ganz bestimmt nicht bei ihm einziehen, damit irgendein Fremder gegen Geld da schlafen konnte, wo eigentlich ich hingehörte.

Die Kate war nicht schon immer ein Geräteschuppen, erklärte Dad. Als dein Grossvater sie gebaut hat, sollte das eine richtige Hütte werden.

Neben dem Haus, dem Zwingerschuppen und den vierzig Hundehütten dazwischen gab es noch zwei weitere Bauten auf unserem Grundstück. Einmal den Holzschuppen, in dem wir unser Feuerholz lagerten, aber der war eigentlich mehr ein Dach mit drei Wänden. Und dann noch ein richtiges Bretterhäuschen, mit einem ordentlichen Dach und einem Holzofen, und in eine Wand war sogar ein kleines Fenster eingelassen. Wir benutzten die Kate als eine Art Rumpelkammer, alles, was wir nicht ständig brauchten, packten wir da rein, die Mähmaschine mit der kaputten Klinge, Sägeböcke, Angelruten, ölverschmierte Teile für unseren zweiten Truck, der schon seit längerem auf Blöcken stand.

Die muss nur ausgeräumt werden, sagte Dad.

Und dann soll irgendein Fremder da drin wohnen?, fragte ich.

Wir brauchen das Geld.

Aber wenn ich jetzt hier bin und dir helfen kann –, fing ich an, doch er würgte mich ab.

Weil du ja bis jetzt so eine grosse Hilfe warst, seit du geflogen bist?

Das war nicht fair. Ich hatte getan, was ich konnte, um den Ärger mit der Schule wiedergutzumachen. Die ganze Woche über hatte ich immer erst den Frühstückstisch abgeräumt, wenn Dad Scott in den Ort fuhr und ich allein zu Hause blieb, und dann hatte ich mich an meine Hausaufgaben gesetzt, denn wie sich herausstellte, erwarten sie auch von einem, dass man weiter seinen Stoff abarbeitet, wenn sie einen suspendiert haben. Und ja, vielleicht hatte ich nicht mal die Hälfte des Pensums geschafft, das sie mir mit nach Hause gegeben hatten, aber ich musste ja auch raus zum Jagen. Wo sonst sollte Dad seine Felle herbekommen, die er dann verkaufen oder tauschen konnte? So ein schöner Marderpelz, gegerbt und gespannt, konnte locker fünfzig Dollar einbringen, und das war nicht nichts.

Sich im Wald rumzutreiben zählt nicht als Helfen, sagte Dad, als könnte er meine Gedanken lesen. Könntest du jetzt machen, was ich dir sage, ohne mir zig Gründe vorzubeten, warum das eine Zumutung ist?

Ich rutschte hinter das Steuer des Trucks und wartete darauf, dass der Motor ansprang. Während ich die Auffahrt hinuntertuckerte, bellten hinter mir die Hunde, ziemlich empört darüber, dass es nicht für sie losging. Bevor ich auf den Highway rollte, guckte ich zur einen Seite, dann zur anderen, hin und her, zwei- oder dreimal. Es war ja nicht so, dass ich Dad Ärger machen wollte, ich wollte ihm wirklich helfen, richtig helfen. Nur nicht so. Fürs Autofahren hatte ich noch nie was übriggehabt, auch schon nicht vor der ganzen Sache. Und ich war nicht gern im Ort, erst recht nicht in der Schule. Wenn Dad meine Hilfe wollte, verstand ich nicht, warum ich nicht zu Hause bleiben und richtige Arbeit erledigen konnte, wie die Hunde anständig zu trainieren, ihre Hütten sauberzumachen, mit unserem Nachwuchs rauszugehen, um mir ein Bild zu machen, welche sich gut anstellten und welche vielleicht das Zeug zum Leithund hätten.

Aber an dem Tag, als ich wegen der Prügelei aus der Schule geschmissen wurde, hatte Dad gesagt: Keine Hunde mehr. Ich durfte sie nicht trainieren, nicht mit ihnen spielen, sie nicht mal füttern, was am Ende nur mehr Arbeit für Dad bedeutete. Er war ziemlich wütend wegen dem, was ich dem Mädchen aus meiner Klasse getan hatte, und ich schätze, mir die Hunde zu verbieten war die schlimmste Strafe, die ihm einfiel, ausser vielleicht mir zu erklären, dass ich nicht mehr jagen darf.

Ich arbeitete hart dafür, eine gute Musherin zu werden, das Jagen dagegen lag mir immer im Blut. Ich mochte es, auf die Jagd zu gehen, und las gern was darüber, wir hatten zu Hause jede Menge Bücher zu dem Thema. Am liebsten mochte ich: Ein Messer und ein bisschen Verstand: Mit dem Nötigsten überleben von Joe Wilcox und Kann man das essen? Geniessbare Wildpflanzen von Nancy und Bill Philomen, Fang- und Fallenjagd von Alec Cook und, mein absoluter Favorit, Über alle Grenzen von Peter Kleinhaus, das kein Ratgeber, sondern ein ganz normales Buch ist, aber ich habe trotzdem alles Mögliche übers Überleben daraus gelernt. Peter Kleinhaus ist ein Kerl, der aus den Lower 48 nach Alaska gekommen war und versucht hat, einen ganzen Winter in der Wildnis zu überleben, indem er nur ass, was er selbst erlegt oder irgendwo aufgelesen hatte, und nur da Zuflucht suchte, wo er sich selber irgendwas gebaut hatte. Am Ende verlor er ein Ohrläppchen und zwei Zehen an die Kälte, aber davon abgesehen hat er die Sache gut überstanden.

Ich mochte das Buch von Kleinhaus deswegen am liebsten, weil er an manchen Stellen aufhört, einem Dinge zu erklären, und stattdessen einfach schreibt, was er in dem Moment gedacht hat, und das ist ja das Verrückte. Es gibt Bücher da draussen, da fragt man sich, wenn man sie liest, wie irgendein Fremder so genau wissen kann, was einem selbst im Kopf herumgeht. Es gibt da diese eine Stelle, da ist Kleinhaus seit ungefähr drei Monaten unterwegs, und seit fast vier Tagen tobt ein Schneesturm. Kleinhaus sitzt auf einem Felsvorsprung an einem Berg fest, ohne Brennholz für ein Feuer. Und dann wacht er mitten in der vierten Nacht auf und sieht, dass es endlich aufgehört hat zu schneien. Der Himmel ist klar, und die Sterne sehen aus, als hätte jemand Metallspäne über einem schwarzen Tuch ausgeschüttet, und das Tuch ist endlos aufgespannt, nirgendwo sieht man die Ränder, nur Weite, und du fühlst dich, als könnte der Himmel dich verschlucken, und fast möchtest du verschluckt werden, einfach damit du Teil von etwas so Grossem sein kannst. Und obwohl er friert und sein Feuer aus ist, sitzt Kleinhaus einfach da und starrt in den Himmel. Er schreibt: Unter dieser Unermesslichkeit vergesse ich mich selbst. Meine Menschlichkeit entgleitet mir, und ich bin nicht mehr unverkennbar ich, sondern nur ein ganz gewöhnliches Tier unter einem uralten, gleichgültigen Himmel. Als ich das zum ersten Mal gelesen habe, musste ich das Buch zuklappen und nach draussen gehen. So sehr hat sich mir der Kopf gedreht.

Auch vom Autofahren drehte sich mir der Kopf, nur war das ganz anders. Bäume zogen vorbei, und der Himmel breitete sich über mir aus, sein Grau versprach Schnee, der sich noch nicht einstellen wollte. Ich schlich schon nur, aber die Spikereifen des Trucks kratzten grauenvoll über den Asphalt, und als die erste Kurve kam, ging ich noch mehr vom Gas und versuchte, nicht zum Strassenrand rüberzusehen.

Mom starb, einen Monat bevor ich sechzehn wurde. Es war ein Autounfall. Sie sass nicht am Steuer, sondern lief die Strasse entlang. So viel Platz auf unserem Grundstück, um einen Spaziergang zu machen, aber sie sucht sich den Rand des Highways aus.

Die Strasse, die bei uns zu Hause vorbeiführt, verläuft grösstenteils schnurgerade, man kann sie gut einsehen. Aber da ist diese eine Stelle, wo die Strasse eine enge Kurve macht und es ein Stück abwärts geht, und wenn man da zu schnell reinkommt, dann sieht man den Seitenstreifen vielleicht erst, wenn es zu spät ist. Der Typ, der den Truck fuhr, meinte, er hat nur einen Augenblick weggeguckt. Ich habe sie gar nicht gesehen, so hat er es unserem Village Safety Officer gesagt, er hat nur gehört, wie sein Truck irgendwas erwischt hat, hat erst noch gedacht, es wäre ein grosser Hund oder vielleicht ein Elchkalb gewesen.

Der Aufprall hat meine Mutter gegen einen Baum geschleudert. Ich denke, daran ist sie gestorben. Wenn dir ein Eichhörnchen in die Falle geht und es noch nicht tot ist, wenn du es findest, du aber noch nicht die Kraft hast, ihm das Genick mit den Händen zu brechen, dann kannst du es mit Wucht gegen einen Baum schlagen und die Sache so erledigen. Was ich mich nur frage, ist, was ihr durch den Kopf ging, als sie so durch die Luft gesegelt ist. Ob es so war, wie immer alle sagen, dass die Zeit plötzlich langsamer läuft und es einem so vorkommt, als hätte man Stunden, um über sein Leben nachzudenken oder den Schneeflocken dabei zuzusehen, wie sie wie herabfallende Sterne auf den Boden gleiten, während die Nacht um dich herum immer heller wird, weil alles so sauber und weiss ist? Sollte sie irgendetwas gedacht haben, dann hoffe ich, dass es das war.

Was ich mich auch frage, ist, was sie da wollte, mitten in der Nacht, am Strassenrand. Das ist nicht gerade ein schöner Ort für einen Spaziergang. Wenn ein Auto vorbeirauscht, spritzen Schnee und Schmutz und Steine hoch, und der Sog des Fahrtwinds rüttelt einen durch. Ich wüsste nicht, was daran verlockend sein soll. Aber da war sie, am Rand der Strasse, allein im Dunkeln, bis sie im Licht von zwei Frontscheinwerfern aufleuchtete.

Als ich vor der Schule hielt, war Scott nirgends zu sehen, ich wartete und beobachtete, wie die anderen Schüler aus dem Gebäude strömten, wie die, die weiter weg wohnten, in den Bus verfrachtet wurden, mit dem auch Scott und ich früher hergekommen waren, bis ich es fertiggebracht hatte, dass man uns auch da rauswarf. Unser Rektor meinte, ich hatte schon von Anfang an nur für Ärger gesorgt.

Schliesslich stieg ich aus dem Truck und beeilte mich, an den älteren Schülern vorbeizukommen, sie standen in Grüppchen zusammen, blödelten herum und lachten, bevor sie sich auf ihre Quads schwangen, um nach Hause zu fahren. Und da stand Beth Worley, mit Nasenschiene und einem Pflaster über der Stelle, die sie Anfang der Woche genäht hatten. Ich war überrascht, dass sie schon wieder in der Schule war; so wie sie geschrien hatte, als man sie zur Krankenstation getragen hatte, hätte man denken können, sie macht es nicht mehr lange. Sie funkelte mich böse an, als ich jetzt an ihr vorbeiging, und ihre Freunde verstummten, bevor sie anfingen zu tuscheln, als sie dachten, ich wäre weit genug weg. Aber ich hatte immer schon ein besseres Gehör als die meisten.

Scott kniete vor seinem Klassenzimmer, seine Bücher lagen überall verteilt auf dem Boden. Aber erst als ich bei ihm war und ihm half, sie zurück in seinen Rucksack zu stopfen, sah ich, was für ein fetter blauer Fleck neben seinem Mundwinkel blühte.

Wer war das?, fragte ich.

Er schüttelte den Kopf. Ist doch egal. Komm, wir gehen.

Dir ist klar, dass ich hier für die Prügeleien zuständig bin, oder?, sagte ich, als wir raus ins Freie gingen.

Du machst mich fertig, Tracy Sue Petrikoff, sagte er und klang dabei genauso wie Dad damals im September, als er einen Anruf aus der Schule bekam, weil ich einem Typen mein Knie in die Leiste gerammt hatte, nachdem der mir im Sportunterricht einen Ball an den Kopf gepfeffert hatte.

Ich streckte den Arm aus und boxte Scott leicht gegen die Schulter, nicht so, dass es weh tat, nur zum Spass.

Halt die Schnauze, sagte ich.

Er boxte zurück.

Halt sie doch selber.

Pass lieber auf, Scotty!, rief irgendein Typ über den Hof. Die haut dir noch eine runter!

Gelächter von irgendwelchen Leuten, die nicht mal in meinem Jahrgang waren. Dinge sprechen sich schnell rum, wenn zu viele Menschen aufeinanderhocken und alle sich das Maul zerreissen.

Fick dich ins Knie, brüllte Scott zurück.

Hey, sagte ich. Ist der Typ nicht dein Freund?

Scott zuckte mit den Schultern. Ja, aber irgendwie ist er auch ein Blödmann. Und du bist meine Schwester.

Ich wuschelte ihm durch die Haare und wusste ganz genau, dass er das hasste. Er schlug meine Hand weg.

Wie Dad es mir aufgetragen hatte, hielten wir am Laden, ich liess Scott rausspringen und den Zettel aufhängen. Dann nahmen wir Kurs auf zu Hause, und mir wurde immer wohler, je weiter wir uns von der Tankstelle und dem Diner entfernten, wo die Leute sich praktisch Schulter an Schulter um den Tresen drängten wie die Sardinen in der Büchse. Im Truck roch es nach Öl und nassem Fell, und ich musste an all die Male denken, die wir vier uns vorne auf die Sitze gequetscht hatten und zusammen in den Ort gefahren waren, um unsere Vorräte aufzufüllen, manchmal hatten wir dann noch einen Zwischenstopp im Diner eingelegt, bevor wir uns wieder auf den Rückweg machten. Dann kamen Männer an unseren Tisch, um Dad die Hand zu schütteln oder ihm einen auszugeben. Den Namen Bill Petrikoff Junior kannte man in ganz Alaska. Inzwischen wirkte das alles wie aus einem anderen Leben, wie etwas, was ich in einem Buch gelesen haben musste. Die Dinge änderten sich schnell, als Mom starb.

Es war wie dieses Spiel, das ich und Scott immer gespielt hatten: Vorher/Nachher. Mom gab uns zwei Bilder, und auf den ersten Blick sahen sie exakt gleich aus, aber wenn man genauer hinsah, konnte man winzig kleine Unterschiede erkennen. Ein Kerl trug auf dem einen Bild einen Cowboyhut, auf dem anderen hatte er ein Basecap auf dem Kopf. Ein roter Schuh wurde zu einem blauen. Ein fliegender Vogel am Himmel war plötzlich verschwunden. Es war unsere Aufgabe, die Unterschiede zu finden.

Für uns gab es im Vorher-Bild nur Hunde. Einen ganzen Hof voller Hunde, und Dad, wie er einen Schlitten repariert, Mom, wie sie sich übers Feuer beugt und in einem Topf gefrorenen Fisch und Rindertalg zusammen kocht, um das Ganze später übers Trockenfutter zu geben. Wie sie die Futterrationen für unterwegs vorbereitet, die Schuhe für die Pfoten näht. Ausserdem genug Geld, um Helfer zu bezahlen, die bei den Vorbereitungen auf die Rennen mitanpacken konnten, erst bei all den kleineren und dann bei dem ganz grossen. Wenn schliesslich das Iditarod kam und Dads Gespann auf der Startpiste stand, kümmerte sich Mom um einen der grossen Wheeldogs, das sind die Hunde, die direkt vor dem Schlitten angeschirrt sind. Wenn das Startsignal ertönte und die Helfer die Hunde losliessen, drehte Mom sich um und gab Dad noch einen schnellen Kuss, bevor er an ihr vorbeizog. Dann beeilte sie sich, zu mir und Scott hinter die Absperrung zu kommen, und Dad drehte sich um und winkte uns zu, winkte, bis er auf dem Gipfel des ersten Hügels angekommen war, und verschwand.

Nach dem Rennen nahmen wir Dad dann auf der kleinen Landebahn in Empfang, wo das Flugzeug, das er in Nome gechartert hatte, ihn und die Hunde wieder bei uns absetzte. Wir bepackten den Truck und machten uns auf den Heimweg, Mom an einem Ende der Sitzbank, Dad an dem anderen, ich und Scott in der Mitte, ein Sandwich, bei dem unsere Eltern das Brot waren. Draussen die Kälte, aber immer warm im Truck. Schneeflocken im Licht der Scheinwerfer.

Das war Vorher. Nachher war Dad, wie er die Hände in die Hüften stemmte, während ich den Truck in unserer Auffahrt abstellte; er sah aus, als hätte ihn ein kleines Kind gezeichnet, mit nur ein paar dünnen Linien. Sämtliche Polster waren von seinen Knochen verschwunden, seine Augen gross und dunkel, als würden sie in seinem Kopf versinken. Mit finsterer Miene wartete er darauf, dass wir aus dem Truck stiegen.

Na, mein Sohn, sagte er und schenkte Scott ein Lächeln, das sich nicht in seinen Augen spiegelte. Geh schon mal rein, und mach deine Hausaufgaben, in Ordnung?

Aye, aye.

Und du, sagte Dad, und ich erstarrte, in meinem Magen bildete sich ein Knoten, als ich den Ton in seiner Stimme hörte. Du hast Hausarrest. Und damit meine ich nicht nur keine Hunde. Ich meine damit: Du wirst den Hof nicht mehr verlassen, nicht jagen, nicht mit den Hunden rausgehen. Und zwar für eine ganze Weile nicht.

Ein fester Knoten in meinem Magen.

Was?

Die Schule hat angerufen, als du weg warst. Du hast dir einen Verweis eingehandelt. Ich habe dir gesagt –

Auf keinen Fall.

Wie bitte?

Auf keinen Fall, wiederholte ich. Einen Scheiss werde ich. Ich habe die ganze Zeit trainiert, bis du mir gesagt hast, ich darf nicht mehr. Ich bin diejenige, die sich am meisten um die Hunde kümmert. Das ist das letzte Jahr, dass ich fürs Junior zugelassen bin. Das erste Jahr, dass ich beim Iditarod starten kann!

Er schüttelte den Kopf. Du wirst dieses Jahr keine Rennen fahren, Trace. Selbst wenn das mit der Schule nicht wäre, wir können uns die Startgebühren nicht leisten.

Die Sonne überzog unseren Hof mit den Schatten der Bäume, lange Streifen von Dunkelheit, die in das braune Gras einsickerten. Unsere Hunde fragten sich langsam, was wir da trieben. Sie sassen auf ihren Hinterläufen und legten die Köpfe schief. Manche schnupperten an ihren Näpfen. Ich stellte mir Dad vor, wie er seine sanften Hände auf ihr Fell legt, ihre Pfoten inspiziert, ihre Beine nach einer langen Tour massiert. Ich hätte nicht mehr sagen können, wann er das letzte Mal auf einem Schlitten gestanden hatte.

Bei diesem Gedanken biss ich die Zähne aufeinander und ballte die Fäuste, am liebsten hätte ich auf irgendwas eingeschlagen. Es war dasselbe Gefühl wie, als ich Beth die Nase gebrochen hatte, eine aufflackernde Wut wie ein Feuer, das den Wald erfasst, keinen Baum und keinen Grashalm stehenlässt.

Je wütender ich wurde, desto stiller wurde Dad. Er seufzte, als würde jede Luft aus ihm entweichen.

Deine Mom konnte das besser, sagte er.

Konnte was besser?

Das hier. Tun, was richtig für dich ist. Wissen, was du brauchst. Es war einfacher, als du noch klein warst. Du wolltest bloss die ganze Zeit draussen sein, mir auf Schritt und Tritt überallhin folgen.

Ich wollte ihm sagen, dass das nicht stimmte. Mom konnte eine Menge Sachen ziemlich gut, und es gab eine Zeit, wo wir Stunden um Stunden einfach nur damit verbrachten zu reden. Aber da war so viel, was sie mir nicht gesagt hat. Manchmal war sie kurz davor gewesen, wie wenn man am Ufer eines Bachs steht und noch nicht sicher ist, ob man ihn durchqueren soll. Aber anstatt ihren Fuss ins Wasser zu setzen, hat sie sich jedes Mal wieder umgedreht und, was auch immer sie mir sagen wollte, ist auf der anderen Seite geblieben.

Stattdessen sagte ich nichts. Es kam nicht oft vor, dass Dad über Mom sprach, und noch seltener war, dass wir darüber redeten, wie sie gewesen war oder was sie jetzt machen würde. Ich war fast sicher, dass sie jeden Augenblick aus dem Haus kommen, ihren Kopf aus der Tür strecken und fragen würde: Tauscht ihr zwei da draussen Geheimnisse aus? Ich erwischte mich dabei, wie ich wirklich darauf wartete. Jetzt kommt es mir idiotisch vor, wie enttäuscht ich war, als ich sie nirgends entdecken konnte. Als würden wir sie heraufbeschwören, indem wir nur über sie redeten.

Das alles will ich immer noch, sagte ich zu Dad. Draussen sein. Rennen fahren.

Du bist nicht die Einzige, die Dinge tun muss, die sie nicht will.

Er war so ruhig, es kam mir gemein vor, ihn anzubrüllen. Aber ich konnte nicht anders.

Du könntest doch machen, was du willst! Anstatt deine Zeit damit zu verplempern, das Zeug von anderen zu reparieren, Scheisstische und -regale zu zimmern, um sie dann zu verscherbeln –

Und was glaubst du, wie ich dafür sorge, dass wir etwas zu essen auf dem Tisch haben, Tracy? Wie denkst du, dass ich alles am Laufen halten soll?

Du bist doch Musher! Meine Stimme traf ihn fast wie eine Faust. Es tat mir weh, zu sehen, wie ich ihm weh tat, aber ich konnte nicht aufhören. Und so richtig wollte ich auch gar nicht. Jedenfalls solltest du das sein! Das ist dein echter Job! Ich bin die Einzige, die letztes Jahr überhaupt ein Rennen gefahren ist –

Sein Gesicht wurde hart. Ich verstummte.

Er räusperte sich. Seine Stimme klang ganz ruhig.

Ich habe gesagt, was ich zu sagen habe, Tracy. Ich wäre dir dankbar, wenn du jetzt reingehen würdest. Du kannst dich heute ums Abendessen kümmern.

Es wäre weniger schlimm gewesen, wenn er zurückgeschrien hätte. Ein frostiger Windhauch wehte durch den Hof. Dad ging in einem grossen Bogen um mich herum Richtung Hundehütten. Die Hunde sprangen auf ihre Füsse und fingen an zu bellen, als sie ihn sahen, denn sie wussten, es war Zeit für ihre abendliche Fütterung.

Ich sah ihm nach, bis er im Schuppen verschwunden war, dann rammte ich meine Faust gegen den Truck. Danach waren meine Knöchel aufgeschrammt und taten weh, aber ich schlug noch einmal zu. Dann rannte ich los, stürmte an unserem Haus vorbei, überquerte den kreisrunden Hof. Stürzte mich in den Wald. Der kühle, feste Boden unter meinen Füssen. Dad würde ausser sich sein, wenn ich nach Hause kam. Aber irgendetwas musste ich tun.

Es hat etwas Befriedigendes, so schnell zu rennen. Wenn du rennst, bewegst du dich auf einen Ort zu, aber auch von einem Ort weg. Ein Gefühl legt sich um dich wie eine Decke. Es hüllt dich ein und lässt deine Gedanken verstummen, dann musst du nicht mehr den Stimmen in deinem Kopf zuhören, sondern kannst auf das Rascheln der Büsche, das schnatternde Eichhörnchen in den Baumwipfeln lauschen. So lange wie möglich renne ich so schnell, wie ich kann. Meine Gedanken wandern ab, ich bin nur noch Atem, Knochen, Muskel. Es ist ein friedliches Gefühl von Konzentration, Kraft und Energie, alles auf einmal.

So schüttele ich Wut und Sorgen ab, wie ein Hund sich das Wasser aus dem Pelz schüttelt. So schaffe ich in mir Platz, um mich neu zu füllen.

Nach einer Weile verliess ich unseren Trail und schlug mich tiefer in den Wald. In den Blättern wisperte der Wind. Der Herbst ist kurz in Alaska, wie nur an einem einzigen Tag die Blätter sich färben und welken und von den Bäumen fallen, schreibt Peter Kleinhaus. Aber es ist eine gute Zeit fürs Fallenstellen und für die Jagd. Manchmal findet man einen Baum, wo ein Elch mit seinem Geweih den Stamm freigelegt hat, und wenn man mit der Hand darüberfährt, ist das Holz weich wie eine Wange.

Ich fühlte, wie weich die Stelle war, und fragte meine Mutter: Und was ist mit einem Elch?

Selbst seit sie gestorben war, fand ich sie manchmal im Wald. Sie war kaum wirklich da, wie ein Spinnennetz, durch das ich meine Hand strecken konnte. Ich konnte die Erinnerung an ihre Stimme heraufbeschwören, dünn wie ein Hauch Eis auf einer Pfütze.

Ein Elch ist zu gross, sagte sie. Was willst du mit dem?

Ich zuckte die Schultern, aber die Vorstellung, etwas so Grosses wie einen ausgewachsenen Elch zu erlegen, liess meinen Magen kribbeln.

Du solltest nie mehr nehmen, als du brauchst.

Als sie noch da war, hatte sie mir eine Stelle gezeigt, wo Wühlmäuse kleine Pfade durch das Gras gebahnt hatten, hier und da sah man ihre Kötel, alles war mit ihren Spuren übersät, man erkennt sie an den beiden Zehen in der Mitte, die nach vorne zeigen, und dem kleineren Zeh jeweils zu beiden Seiten. Es gab eine Zeit, da sind wir zusammen durch den Wald gestreift, Hand in Hand, bis sie mich irgendwann losliess und mir Wolfswurz oder Straussenfarn oder Moltebeere zurief, und ich rannte los und suchte den Trail nach dem ab, wonach sie gefragt hatte, und dann erklärte sie mir, was davon man essen kann und was einen krank macht oder sogar umbringt.

Aber was sie mir nie hatte erzählen müssen, ist, wie am Morgen die Eichhörnchen ausschwärmen, um nach Futter zu suchen, und dass ihr Gewusel wie ein Signal ist, sobald sie anfangen sich zu tummeln, gehen auch die anderen Tiere im Wald auf Streifzug. Abends kehrt ein Eichhörnchen dann zurück zu seinem Baum, und wenn du weisst, welcher sein Zuhause ist, kannst du wie eine Art Trichter bauen, dafür nimmst du einfach einen hohlen Holzstamm oder ein paar einzelne Äste und legst sie dem Eichhörnchen in seinen üblichen Weg, dann knüpfst du eine Schlinge und hängst sie am Ende des Trichters etwa eine Handbreit über dem Boden auf. Danach versteckst du dich im Gebüsch und versuchst, möglichst flach zu atmen. Du wartest ab, bis du siehst, wie etwas vor dem Trichter durch die Blätter am Boden raschelt. Das Eichhörnchen wird stutzen, sich auf seine Hinterläufe setzen und mit seinen schwarzen Augen Ausschau halten, und da musst du ganz still sein. Dann huscht es in den Trichter, und wenn es am anderen Ende wieder rauskommt, geht es direkt in die Falle.

Sein Körper ist noch warm. Genauso willst du es.

Es gibt zwei Wege, wenn du wirklich wissen willst, was in einem anderen Wesen vorgeht, und keiner davon beinhaltet Reden, denn das lenkt in Wirklichkeit nur ab. Der eine Weg, einen anderen kennenzulernen, ist, Seite an Seite mit ihm zu leben und zu arbeiten. Jeder geht still für sich seinen Aufgaben nach, und mit der Zeit lernst du, wie der andere sich bewegt, sein Körper sich regt und rührt, wie es aussieht, wenn sein Gesicht von einem Gedanken durchzuckt wird und dir so mehr verrät, als Worte es je könnten. So war es vorher mit mir und Dad gewesen. Wir konnten uns einen Schlitten nehmen, die Zugleinen im Schnee auslegen und die Hunde für unser Gespann aussuchen, ohne dabei auch nur ein Wort zu wechseln.

Der andere Weg ist eine Art von Beobachten, Zuhören, die sich tief in deinem Kopf abspielt. Dabei kommt man einem anderen Tier so nah, wie es überhaupt nur geht. Du schaffst in deinem eigenen Ich Platz für etwas anderes, dann nimmst du alles in dir auf und fängst an zu verstehen.

Für das Eichhörnchen nahm ich mein Messer. Es gibt eine Stelle am Hals, wenn du in die einschneidest, dann fliesst das Blut ab, bis der Körper in deinen Händen ganz schlaff wird.

Danach war ich wieder ich selbst. Und in mir immer noch diese brennende Wut, die ich versucht hatte im Wald loszuwerden. Ich dachte an Dad, wie er zum Schuppen gegangen war, an seinen schmalen Rücken, die zusammengefallenen Schultern unter seinem Mantel. Wie enttäuscht er geklungen hatte. Mich überkam eine Müdigkeit, die noch grösser war als meine Wut. Mom hatte mich immer wieder gewarnt, dass ich nie die Kontrolle über mich verlieren durfte, aber an Tagen wie diesem kostete mich das viel zu viel Kraft. Meine Muskeln summten unter der Haut, meine Beine wollten mich zurück auf den Trail tragen, tiefer in den Wald hinein, wo es noch so viel mehr kleines Getier gab, das ich hätte jagen können.

Ich drehe mich um, ich strauchle, als plötzlich etwas in mich hineinrast, eine Schulter rammt mich am Kopf, Sterne explodieren vor meinen Augen. Ich blinzle sie weg. Stosse den Kerl zur Seite, zu dem die Schulter gehört, ein Bär von einem Mann, breite Brust, gräuliche, ein paar Tage alte Stoppeln, gross wie ein Baum, der gesamte Wald verschwindet hinter ihm. Er stürzt sich mit seinem ganzen Gewicht auf mich. Ich packe ihn, versuche ihn wegzudrücken. Greife nach dem Messer in meiner Tasche. Seine Finger krallen sich in meine Haare, zerren an ihnen, eine kratzige Stimme: Warte – Und dann mein Messer in meiner Hand.

Ich flüchte zur Seite weg, für einen kurzen Augenblick fliege ich. Wieder Sterne, diesmal gefolgt von einer schwarzen Mauer, die mich von dem Mann und dem Wald trennt, von dem Schrei, der durch die Bäume gellt.

Als ich wieder zu mir kam, brummte mir der Schädel, meine Schläfe schmerzte an der Stelle, wo ich auf eine knotige Wurzel geprallt war, die aus dem Boden geragt hatte. Es war inzwischen dunkel, Mondlicht sickerte durch die Äste auf den Boden. Aber ich habe immer schon nachts besser gesehen als im schroffen Tageslicht, ich erkannte genau, wo die Schritte des Fremden das Gras niedergetrampelt hatten, wie sie vom Trail zu dieser Lichtung führten. Ich sah auch die abgebrochene Igelkraftwurz, wo der Kerl sich seinen Weg von der Lichtung, wer weiss wohin, gebahnt haben musste.

Mein Herz raste wie ein aufgeschrecktes Eichhörnchen, meine Nackenhaare waren aufgestellt, ich hielt den Atem an, lauschte, ich war sicher, dass der Fremde ganz nah war, den tiefschwarzen Abend wie einen Mantel trug. In diesem Teil des Waldes hatte ich zwar keine Fallen aufgestellt, aber ich fühlte mich, als wäre ich in eine meiner eigenen Schlingen getappt, ich konnte mich nicht mehr rühren, sondern nur noch darauf warten, dass der Unbekannte sich zeigte. Nach einer ganzen Weile, in der ich bei jedem pfeifenden Vogel und jedem knackenden Ast zusammengezuckt war, stand ich schliesslich auf. Die Bäume tanzten im Kreis um mich herum, ich streckte die Hand nach einem von ihnen aus, und der Schwindelanfall ging vorbei, sie blieben stehen. Ich entdeckte mein Messer auf dem Boden, darauf Flecke von getrocknetem Blut. Es musste mir heruntergefallen sein, als der Kerl mich umgestossen hatte. Hatte ich es nicht abgewischt, bevor ich es wieder eingesteckt hatte? Nachdem ich das Eichhörnchen hatte ausbluten lassen? Es sah mir nicht ähnlich, mein Messer nicht sauberzumachen, ich wollte ja nicht, dass die Klinge stumpf wird. Es sei denn, ich hatte es noch ein zweites Mal benutzt. Ich klappte das Messer zusammen und steckte es in meine Tasche. Für den Moment konnte ich nichts machen, ausser nach Hause zu gehen.

Im Schuppen brannte Licht, als ich nach Hause kam, also lief ich zwischen den aufgereihten Hundehütten entlang und streckte meine Hand aus, damit Peanut und Hazel sie ablecken konnten. Ich blieb stehen, um Flash den Bauch zu kraulen. Die anderen – vierzehn Schlittenhunde hatten wir noch – sprangen an mir hoch und wedelten mit dem Schwanz, während ich an ihnen vorbeiging.

Dad stand in der Werkstatt im hinteren Teil des Zwingerschuppens an seiner Tischsäge und war dabei, ein Regal für eine Frau aus dem Ort zu bauen, die ihn dafür auch bezahlen wollte. Er war sicher wütend. Die Gefahr war gross, dass er noch wütender wurde, wenn ich anfing, auf den Regalbrettern mit unserer Ausrüstung herumzukramen, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Aber in Wahrheit waren sein Ärger und unser Streit inzwischen meine geringste Sorge. Alles an mir war angespannt, ich war todsicher, jeden Augenblick würde eine Gestalt aus dem Nichts auf mich losstürzen. Die ganze Zeit dachte ich, ich hätte ihn hören müssen, als er sich an mich herangeschlichen hatte, aber das Eichhörnchen, das ich gefangen hatte, hatte mich von innen gewärmt und meine Gedanken erfüllt, und der Teil von mir, der wachsam hätte sein müssen, war mit unserem Streit von vorhin beschäftigt gewesen.

Auf den Regalbrettern herrschte ein Gewirr aus Leinen und Geschirren, Schlafsäcken und Zelten, Kanistern mit Heizöl, Ersatzheringen, einem alten Sack Trockenfutter für die Hofkatze, die wir früher hatten. Ich fand, was ich suchte: einen Wetzstein. Ich tröpfelte ein bisschen Öl darauf, setzte mich auf einen Hocker neben der Tür und holte mein Messer raus, wischte die Klinge an meinem Hosenbein ab und zog sie über den Stein. Das schabende Geräusch fühlte ich mehr, als ich es hören konnte.

Als die Säge verstummte, fragte Dad mich: Hast du mich vorhin nicht gehört, oder legst du es jetzt endgültig darauf an?

Meine Hände hielten inne. Meine Knöchel waren rau und aufgeschrammt von meinen Hieben gegen den Truck.

Ich musste nach meinen Fallen sehen, antwortete ich.

Ich hatte hier und da in unserem Wald welche aufgestellt, die meisten nah genug an unserem Grundstück, dass ich sie zu Fuss erreichen konnte. Manches von dem, was ich fing, war zu klein, um es nach Hause mitzubringen, aber anderes konnte man essen, und der Rest hatte Fell, das Dad verkaufen oder eintauschen konnte.

War was dabei?, fragte er über seine Schulter hinweg.

Diesmal nicht, sagte ich, denn ein Eichhörnchenfell zu gerben macht mehr Arbeit, als es einbringt, und ich hatte das Eichhörnchen sowieso fallen lassen, als der Fremde sich auf mich gestürzt hatte.

Ich drehte das Messer, um es auf der anderen Seite zu bearbeiten. Die Säge fing wieder an zu surren, Dad schob ein neues Brett durchs Blatt. Als er mit dem Zuschneiden fertig war, stellte er die Maschine aus. Wischte die Hände an seinem Hemd ab, Späne rieselten auf den Boden. Er seufzte und blieb in der Schuppentür stehen. Die Lampe mit Bewegungsmelder, die Dad bei den Hundehütten angebracht hatte, warf einen Kreis aus Licht, der den Rest des Hofs noch dunkler erscheinen liess. Die Hunde waren für heute versorgt, die meisten eingerollt, Nase an Schwanz, manche paddelten mit ihren Pfoten im Schlaf, träumten vom Laufen.

Es war über ein Jahr her, dass Dad von den Rennen ausgeschlossen worden war. Bevor Mom starb, hätte ich mein Leben darauf verwettet, dass so was niemals passieren könnte. Aber die Nacht, in der sie von diesem Truck erwischt wurde, hatte eine Lawine losgetreten. Ich habe mal gelesen, dass, wenn man in eine Lawine gerät, man nichts anderes machen kann, als gegen den Schnee zu schwimmen und irgendwie zu versuchen, nicht unterzugehen. Wir waren nur nicht so gut im Schwimmen. Waren immer noch dabei, uns wieder an die Oberfläche zu kämpfen.

Mach nicht zu lange, sagte Dad, ohne sich umzudrehen. Ist Zeit, ins Bett zu gehen.

Er durchquerte die Lache aus Licht unter der Lampe im Hof, dann verschwand er in der Dunkelheit. Liess mich allein zurück im Schuppen, umgeben von unserer Ausrüstung, dem halben Dutzend Schlitten im hinteren Teil des Raums, die nur darauf warteten, dass sich jemand auf ihre Kufen stellte. In einem Hof voller leerer Hundehütten. Mit einer Handvoll Hunde, die nicht nur laufen wollten, sondern laufen mussten.

Und auch ich musste. Alles in mir sehnte sich danach, auf einen Schlitten zu kommen. Ich fühlte, wie es mich auf den Trail zog, wie jeder Acre Land hinter dem Haus danach verlangte, dass ich seine altvertrauten Hügel und Senken durchstreifte. An jedem anderen Abend hätte ich mich noch für ein paar Minuten davongestohlen, gerade lange genug, um diesen Drang in mir zu stillen.

Aber neben dem Verlangen blieben mein stotterndes Herz und das Kribbeln auf meiner Haut. Zwei Augen, ein gebückter Schatten, der in der Deckung der Nacht weiter lauerte. Der Gedanke an den Fremden liess mir den Atem stocken, und das war kein angenehmes Gefühl. Mir wurde klar, dass ich keine Ruhe mehr hätte, bis ich ganz sicher sein konnte, dass von dem Kerl keine Bedrohung mehr ausging.

2

Ich war dir ziemlich ähnlich, als ich in deinem Alter war, sagte Mom.

Sie sass auf meiner Bettkante und versuchte, mir die Haare aus dem Gesicht zu streichen. Ich wich ihrer Hand aus, ich war immer noch wütend.

Sie seufzte.

Ich war vielleicht sogar noch jünger als du, als ich anfing durch den Wald zu stromern, fuhr sie fort. Meine grossen Brüder zu jagen, Tieren nachzustellen. Ich habe das Fallenlegen nie so gelernt wie du. Aber ich war stundenlang draussen und kam völlig verdreckt wieder nach Hause. Ich war ein richtiger Wildfang.

Ich betrachtete sie durch das Dickicht meiner struppigen Haare. Sie war sauber und gerötet von der heissen Dusche, eingewickelt in ihren flauschigen weissen Bademantel. Auf ihrer Nase klemmte die Brille, die sie immer aufsetzte, wenn sie irgendwas Fipseliges wie Nähen erledigte. Ihre Fingernägel waren kurz geschnitten, ihre Haare nass, aber gekämmt.

Warst du nicht, sagte ich.

Sie lächelte.

Ob du es glaubst oder nicht.

Wieso gehst du dann nie in unseren Wald?, fragte ich.

Menschen ändern sich, antwortete sie. Deine Grossmutter und dein Grossvater haben uns mitten in der Wildnis aufgezogen. Du weisst doch, wo McCarthy liegt? Ganz in der Nähe bin ich aufgewachsen. Wir hatten endlose Wälder, die wir durchstreifen konnten. Wochenlang konntest du unterwegs sein, ohne auch nur einer Menschenseele zu begegnen. Du konntest dich von deinen Brüdern wegstehlen, deine eigenen Kreise ziehen, dich verirren. Das ist vielen Leuten passiert – dass sie sich verirrt haben, meine ich. Oder in Schwierigkeiten geraten sind, sich verletzt haben. Nicht jeder ist der Wildnis so gewachsen wie du, Tracy.

Hast du dich verirrt?, fragte ich.

Nein, nie. Ich wusste immer, wo ich war, selbst wenn ich weit von zu Hause weg war. Aber es gab da diesen Jungen, der – der hat sich verirrt. Sie haben tagelang versucht, ihn zu finden. Sogar ich habe nach ihm gesucht.

Und, hast du ihn gefunden?

Du kannst nie wissen, wen du im Wald triffst, sagte sie anstelle einer Antwort.

Sie strich mir über die Wange.

Bist du beim Jagen schon mal jemandem begegnet?

Uns gehörte nicht der ganze Wald, wenn man weit genug vordrang, kam man irgendwann im Nationalpark an. Das wusste ich aus meinen Erdkundestunden bei Mom. Vor allem im Sommer liefen Wanderer mit gigantischen Rucksäcken und kanisterweise Bärenspray einem über den Weg. Normalerweise hörte ich sie schon von weitem kommen und versteckte mich auf einem Baum, bis sie weitergezogen waren.

Genau das erzählte ich auch ihr.

Gut so, sagte sie. Aber solltest du jemals jemandem begegnen, wenn du auf der Jagd bist – geh nach Hause. Dreh dich einfach um, und lauf nach Hause.

Abgesehen von den Wanderern tauchten jedes Jahr ein, zwei Fremde bei uns im Hof auf, Herumtreiber, die entweder der Wald ausgespuckt hatte oder die per Anhalter nach Fairbanks oder Anchorage wollten. Sie fragten bei uns nach Arbeit, und manchmal sagte Dad: Vor dem Haus könnte mal wieder Schnee geschippt werden oder Ich hätte nichts dagegen, wenn das Laub vorm Schuppen zusammengeharkt wäre. Danach packte Mom ihnen etwas zu essen ein für unterwegs, und Dad drückte ihnen ein bisschen Geld in die Hand. Einmal fragte ich, warum es ihnen nichts ausmacht, etwas abzugeben, auch wenn das Geld bei uns selber gerade knapp war oder wir schon drei Abende hintereinander die Reste vom Eintopf gegessen hatten. Dad hatte gesagt: Weil sich das so gehört. Und Mom hinzugefügt: Weil, manchmal, wenn du jemandem sagst, dass du nichts für ihn hast, dann sieht er sich dein Haus und dein Land an, und dann kommt er später wieder und holt sich, was du ihm nicht gegeben hast.

Ich war nicht mehr ganz so wütend, ich wollte mehr von Mom darüber hören, wie es war, so wild aufzuwachsen. Ich setzte mich im Bett auf, in meinem Magen rumorte es, und fragte: Und was ist aus dem Jungen geworden? Hat ihn jemand gefunden?

Tracy, hast du gehört, was ich gesagt habe?

Ich laufe nach Hause, wenn ich einen Fremden sehe.

Genau.

Weil man Fremden nicht vertrauen kann?

Ganz genau, antwortete Mom. Bleib nicht stehen, um sie anzusprechen oder zu gucken, ob sie Hilfe brauchen. Auch wenn sie verletzt sind. Du holst mich oder deinen Dad, und wir kümmern uns darum. Verstanden?

Ich nickte.

Ich laufe weg, wenn ich einen Fremden sehe, wiederholte ich. Weil, sie könnten gefährlich sein.

Braves Mädchen, sagte sie.

Am Morgen, nachdem ich dem Fremden im Wald begegnet war, wachte ich mit ihrer Stimme im Kopf auf. Ich zog mich an und wusch mir das Gesicht, während die Fetzen dieser Erinnerung weiter an mir hingen. Meine Schläfe tat an der Stelle weh, wo ich auf die Wurzel geprallt war, die mich am Vortag ausgeknockt hatte, jetzt prangte dort ein blaugeäderter violetter Bluterguss, der zwar von meinen Haaren bedeckt wurde, aber ich zog trotzdem zur Sicherheit eine Mütze auf.

In der Küche lagen unsere beiden Hunde im Ruhestand, Homer und Canyon, neben dem Holzofen. Ausserdem holten wir jeden Tag einen unserer noch aktiven Hunde ins Haus, heute war Old Susitna an der Reihe. Sie war beide Male, die Dad das Iditarod gewonnen hatte, seine Leithündin gewesen, aber auch sie würde sicher bald in Rente gehen. Sie stand auf, um mich zu begrüssen, und schnupperte an meiner Hand, um zu sehen, ob ich ein Leckerli hatte. Ich kraulte alle drei Hunde einmal ausgiebig.

Dad stand an der Spüle und nippte an seinem Kaffee. Er hatte mich das Frühstück verschlafen lassen und Scott schon zur Schule gefahren. Die Eier mit der Fleischwurst, die er am Morgen gebraten hatte, standen noch kalt auf dem Herd. Ich klappte die Scheiben in der Mitte zusammen und hatte sie in zwei Bissen verputzt.

Dad leerte seine Tasse.

Gut geschlafen?

Ich zuckte mit den Schultern.

Besser wär’s, sagte er. Du wirst ordentlich Energie brauchen, um deine Aufgaben für heute abzuarbeiten.

Ich überflog den Zettel, den er mir auf den Tisch gelegt hatte, und sah, dass er einiges gefunden hatte, um mich auf Trab zu halten und dafür zu sorgen, dass ich den Grossteil des Tages nicht nur auf Abstand zu den Hunden, sondern vor allem auch im Haus blieb. Saugen, Staubwischen, den Küchenboden schrubben, der einzige Punkt auf der Liste, für den ich nach draussen durfte, war Nummer eins: Kate ausräumen.

Die Aufgaben an sich machten mir nichts aus. Ich wusste, es war ein Tauschgeschäft, was man bekommt, muss man sich erarbeiten. Das fand ich fair. Was nicht fair war, war die Art der Aufgaben. Dads Liste war eine weitere Strafe, nur dass er sie mir diesmal hintenrum unterjubelte. Ich würde nie alles vor dem Abendessen abgearbeitet haben, und dann würde er sagen, dass ich noch meine Hausaufgaben machen muss, und wenn ich damit fertig wäre, würde er sagen, dass ich nicht rausdarf, solange ich Hausarrest habe. Er dachte, mir den Wald zu verbieten wäre dasselbe, wie Scott seine Comichefte oder seine alte Kamera wegzunehmen, aber das war es nicht. Mein Magen krampfte sich zusammen, ich atmete tief ein und versuchte, die Panik zu unterdrücken, die in mir aufstieg.

Du fängst lieber gleich an, sagte Dad.

Ich folgte ihm nach draussen, um als Erstes die Sache mit der Kate zu erledigen. Der Himmel hing tief, voller dichtgeballter Wolken, weiss und schwer. Alles war still. Tage wie dieser riechen normalerweise flach und sauber. Ein Knistern liegt in der Luft, es kribbelt auf der Haut, und man weiss, bald wird alles von Schnee bedeckt sein. Dazwischen kann man noch ein paar dumpfe Noten von Herbst wahrnehmen, nasse Blätter und fauliges Holz, Dinge, die verrotten und wieder zu Staub zerfallen. Es ist ein Geruch, der zum Draussen, zum Jahreszeitenwechsel gehört. Ein Geruch, der rein gar nichts mit Menschen zu tun hat.

Doch dieser Tag roch faul.

Ich sah ihn, bevor Dad ihn sah. Sogar bevor die Hunde ihn witterten. An der Stelle, wo der Trail in unseren Hof mündet, kam der Fremde zwischen den Bäumen hervorgestolpert.

Dann fingen die Hunde an zu bellen, und Dad sah hoch, sah den Mann taumeln und zusammenbrechen. Dad liess die Axt fallen, die er in der Hand hatte. Ich sah ihm hinterher, wie er zu diesem Berg von Mann rannte. Ich stand da wie erstarrt. Mir schoss die Erinnerung durch den Kopf, mit der ich heute Morgen aufgewacht war. Mom, wie sie mich fragt: Bist du beim Jagen schon mal jemandem begegnet?

Anstatt an den Tag zuvor musste ich daran denken, wie ich einmal ein Elchkalb gefunden hatte. Jemand hatte seine Schlingfalle zu hoch aufgehängt, sie hatte das Kalb erwischt anstelle des kleineren Getiers, für das sie gedacht war. Ich selber benutze keine Schlingen, ausser ich kann abwarten und sie im Blick behalten, aber eine Zeitlang hatte ein Kerl so nah an unserem Land seine Fallen aufgestellt, dass man ihn schon fast einen Wilddieb nennen konnte. Wahrscheinlich hatte das Kalb den Draht an seiner Kehle gespürt, war in Panik geraten und hatte angefangen daran zu zerren, wodurch der Draht sich nur immer enger zuschnürte, bis dem jungen Elch die Luft wegblieb. So fand ich ihn.

Tracy!

Dads Stimme rüttelte mich wach.

Tracy, hol mir ein Handtuch!

Der Fremde reglos am Boden.

Mach schon!

Ich riss mich endlich los und rannte ins Haus. Dann sprintete ich über den Hof, der mit jedem meiner Schritte immer grösser wurde, meine Beine wollten einfach nicht schnell genug, und dann war ich plötzlich da, auf Knien neben dem Fremden. Der Boden unter ihm rot verfärbt. Seine Wunde ein Einstich, ein klaffendes Loch in seiner Bauchhöhle, Blut strömte heraus.

Hilf mir, ihn aufzurichten, sagte Dad und presste das Handtuch auf die Wunde. Wir müssen ihn zur Krankenstation bringen.

Ich beugte mich über den Fremden. Sein Gesicht war vom Auge bis zur Wange von Narben überzogen, wie Krallenspuren, rosa und wulstig. Ich versuchte mich an das Gesicht zu erinnern, das sich am Tag zuvor im Wald auf mich gestürzt hatte, suchte in meinem Gedächtnis nach Narben, danach, wie gross die Hände gewesen waren, die mich gepackt hatten. Hatten sie dieselbe Grösse wie die Hände von dem Mann hier, wie die, an denen jetzt sein eigenes Blut klebte? Aber sosehr ich meine Erinnerung durchforstete, ich sah nur verschwommenes Grün, Braun, dann Sterne. Dann nichts mehr.

Ich legte den Arm um ihn und wollte ihm hochhelfen, als sich plötzlich seine zuckenden Lider öffneten. Seine Augen fixierten mich, wurden grösser. Er versuchte zu sprechen, brachte aber nur ein Röcheln hervor.

Es ist alles in Ordnung, sagte Dad. Bleiben Sie ganz ruhig. Wir holen Ihnen Hilfe.

Der Mann krallte sich an Dads Hemd fest. Ich schwankte unter seinem Gewicht. Er war grösser als Dad und kräftig. Wie einen gefällten Baum zerrten wir ihn über den Hof und in den Truck.

Ich ruf dich an, wenn ich da bin, sagte Dad.

Dad –

Mach die Tür zu.

Mit Vollgas wendete er den Truck, die Reifen spuckten Schotter. Hinter ihm flog der Staub auf.

Nach so viel Tumult Stille wie in einem luftleeren Raum. Der Staub legte sich. Ich keuchte, als wäre ich gerade eine Meile so schnell gerannt, wie ich konnte. Der Himmel war so weiss, dass es einem in den Augen weh tat. Drüben bei den Hundehütten drehte Marcey sich um sich selbst, dann legte sie sich vor ihre Hütte. Flash winselte.

Ich versuchte nachzudenken und versuchte, nicht nachzudenken.

Als ich das Kalb fand, fragte ich mich, wie lange es sich schon so aufgehängt hatte. Nicht lange genug, um kalt oder steif zu werden, alles war von Schnee bedeckt, nur sein Körper nicht. Ich hielt den Atem an und blieb stehen. Wartete, ob seine Flanke sich hob oder senkte. Ein Elchkalb ist nicht gerade klein, und seine Schalen sind scharf, ich wollte ihm nicht zu nahe kommen, falls es noch lebte, denn wenn es sich erschrecken würde, hätte es mich verletzen können.

Ich wartete ab, bis ich ganz sicher war. Dann nahm ich mein Messer.

Aber als ich den Schnitt gesetzt hatte, das Blut herausströmte und ich einen Schritt zurücktrat, hörte ich, wie das Kalb blökte. So leise, dass ich es mir vielleicht nur eingebildet hatte. Das Kalb verdrehte die Augen und sah mich an.

Und dann war es tot, es war inzwischen dunkel geworden, und so viel Zeit war vergangen, dass ich nicht wusste, wo sie geblieben war, ich war nur immer noch im Wald und rannte. Ich hatte nie wieder einen Gedanken an das Kalb verschwendet, bis ich mit staubbedeckter Haut in unserer Auffahrt stand und an mein blutverschmiertes Messer dachte, daran, wie ich es später an meinem Hosenbein abgewischt hatte, und an den Mann, der in unseren Hof gestolpert war und aus einer Wunde blutete, die nicht tief genug war, um ihn umzubringen.

Als Scott noch in Moms Bauch war, sagte sie manchmal zu mir: Leg deine Hand hierher, und dann konnte ich ihn treten spüren. Ich stellte ihn mir wie einen glatten Fischotter vor, der mit der Strömung ihres Blutes schwamm. Dad sagte mir einmal, dass sie eigentlich kein zweites Baby hätte kriegen sollen, nachdem es mit mir so schwierig gewesen war. Die Hilfsschwester hatte sie gewarnt, dass es ihr schlechtgehen würde und sie bis zur Geburt im Bett bleiben müsste, aber Mom ging es prächtig. Tatsächlich kann ich mich an keine andere Zeit erinnern, in der ihre Haut warm und sonnengebräunt ausgesehen hätte, den ganzen Sommer war sie gesund und rund und so glücklich, wie ich sie noch nie vorher gesehen hatte. Sie baute Gemüse an und jätete ihre Hochbeete, bis Scott kam. Er wurde im Gesundheitszentrum geboren wie normale Babys und war ein dürres, langbeiniges Etwas. Er roch komisch und sah aus wie ein haarloses Opossum. Als er klein war, sah ich Mom zu, wie sie seine Fingernägel kurz biss und sie einen nach dem anderen ausspuckte.

Komm da weg, Trace, sagte sie.

Sie mochte es nicht, wenn ich an seinem Bettchen stand.

Setz dich, sagte sie. Sie hob Scott hoch und legte ihn mir in den Arm. Du musst seinen Kopf halten.

Er war schwerer, als er aussah. Ich lag ihr ständig in den Ohren, dass ich ihn auch mal nehmen wollte. Jetzt war ich ihm so nah, dass ich die blauen Adern an seinen Schläfen sehen konnte, direkt unter der Haut. Er steckte sich die Faust in den Mund und lutschte daran.

Gut so, sagte Mom. Du musst vorsichtig mit ihm sein. Verstanden?

Es war nicht mit Absicht, sagte ich.

Du hast ihm in den Finger gebissen, bis er geblutet hat.

Er hatte geschrien, als es passiert ist.