Wildwood 3: Der verzauberte Prinz - Colin Meloy - E-Book

Wildwood 3: Der verzauberte Prinz E-Book

Colin Meloy

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Beschreibung

Das Schicksal der Welt liegt in den Händen zweier Kinder

Für die zwölfjährige Prue und ihren besten Freund Curtis, die schon einmal die Undurchdringliche Wildnis und ihre geheimnisvollen Bewohner vor dem Untergang bewahrt haben, brechen noch längst keine ruhigeren Zeiten an: So erweckt ein unbedachtes Experiment einen bösen Geist aus der Vergangenheit zum Leben. Eine Bande von Waisenkindern macht sich auf den Weg in die Industriewüste, um ihre dort gefangen gehaltenen Freunde zu befreien. Und der alte Ratsbaum stößt düstere Prophezeiungen aus, in denen die Rede von einem Roboterprinzen ist, der die Welt retten wird. Einmal mehr müssen Prue und Curtis in die Tiefen des Wildwalds reisen – mit all seinen eigenwilligen Bewohnern, bei denen man oft erst im letzten Augenblick weiß, woran man ist …Wird es ihnen diesmal gelingen, die dunklen Mächte für alle Zeiten zurückzudrängen?

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Seitenzahl: 612

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Wildwood Imperium – The Wildwood Chronicles, Book 3

bei Balzer + Bray, HarperCollins Publishers, New York, erschienen.

Copyright © 2014 by Unadoptable Books, LLC

Copyright © 2014 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Redaktion: Babette Kraus

Umschlaggestaltung: Teresa Mutzenbach, München

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN: 978-3-641-12261-4V002

www.heyne-fliegt.de

Für Milo

INHALT

ERSTER TEIL

EINSDie Maikönigin

ZWEIEin schwieriger Gast

DREIDer vergessene Ort

VIERDie Spirale im Wald · Ein Finger auf einem Spiegel

FÜNFZurück im Wald · Ein Flüchtling der Industriewüste

SECHSDie Fahrradmaid kehrt in die Villa zurück · Für eine einzelne Feder

SIEBENIm Reich der Schwarzmützen

ACHTDer designierte Interims-Gouverneurregent

NEUNWo die Luft herkommt · Der zweite Gegenstand

ZEHNDie leere Akte · Unthanks Wiedergeburt

ELFNach Wildwald

ZWEITER TEIL

ZWÖLFFünfzehn Sommer

DREIZEHNEin Treffen am Baum

VIERZEHNEine geborene Saboteurin · Zwei von dreien

FÜNFZEHNDie Macht des Morschen Baums

SECHZEHNDer unbestreitbare therapeutische Nutzen des Singens

SIEBZEHNWo alle waren

ACHTZEHNDer Angriff auf den Titanenturm

NEUNZEHNFür eine gute Sache

ZWANZIGDer Kuss · Über die Grenze

EINUNDZWANZIGWiedererweckt

DRITTER TEIL

ZWEIUNDZWANZIGDie Geschichte eines Kauzes

DREIUNDZWANZIGDie einsame Insel

VIERUNDZWANZIGDie Letzten der Wildwald-Räuber

FÜNFUNDZWANZIGEine Mahlzeit für die Ausgesetzten

SECHSUNDZWANZIGRiesen werden geboren

SIEBENUNDZWANZIGDie Flut kommt!

ACHTUNDZWANZIGWildwald-Freischärler, schwingt euch auf!

NEUNUNDZWANZIGDer Körper eines Erben · Die Schlacht um den Baum

DREIßIGDer Widerstrebende Wiederbelebte

EINUNDDREIßIGWildwald-Regina

ZWEIUNDDREIßIGWildwald-Imperium

FARBTAFELN

Durchdringend starrten sie ihren Gast an, der den Großteil der einen Esstischseite einnahm.Darum geht es den Chapeaux Noirs: die Industriewüste in Trümmer zu legen. Die Unterdrücker, Ausbeuter und Plünderer auszulöschen. Finis.Und dann tauchte ihr Sohn aus dem Halbdunkel auf: ein Junge von fünfzehn Sommern, vierzehn Wintern.Sie holte drei Dinge aus den Taschen des Umhangs: eine Adlerfeder. Einen weißen Stein. Das Gebiss eines Jungen.Das Schiff schaukelte auf den Wellen, die es näher an den einzigen sichtbaren Anlegeplatz zogen, einen klapprigen Holzsteg.Der Efeu hing an ihm herunter wie ein struppiges Fell und baumelte in langen Zotteln aus seinem gesichtslosen Kopf wie bei einem übermäßig behaarten Hund.Alexandra breitete die Arme aus, und ihr Sohn ging zu ihr und bettete den Kopf sanft an die Brust seiner Mutter.

ERSTER TEIL

EINS

Die Maikönigin

Zuerst der Ausbruch des Lebens. Dann kamen die Feierlichkeiten.

So war es seit Generationen, so lange sich der Älteste der Ältesten erinnern konnte, so weit die Aufzeichnungen zurückreichten. Wenn die ersten Triebe sich aus der Erde schoben, war der Paradeplatz bereits freigeräumt und der Maibaum aus seinem Exil im Keller der Villa geborgen. Das Gremium hatte sich versammelt, die Königin war bestimmt worden. Dann blieb nur noch das Warten. Das Warten auf den Mai.

Und wenn er kam, so kam er in leuchtend weißem Gewand: die Maikönigin. Sie erschien hoch zu Ross, wie es die Tradition gebot, und trug ein blendend weißes Kleid, aus ihren Haaren sprossen Blumengirlanden. Ihr Name war Zita, und sie war die Tochter eines Gerichtsstenografen, eines stolzen Mannes, der freudestrahlend als Ehrengast auf der Tribüne stand, neben dem designierten Interims-Gouverneurregenten und seiner rotwangigen, dicken Frau und den drei gelangweilt und ratlos aussehenden Kindern in kleinen, schlecht sitzenden Anzügen, die sie sonst nur zu Hochzeiten trugen.

Doch die Maikönigin leuchtete mit ihren langen braunen Zöpfen und dem weißen, weißen Gewand, und jeder in der Stadt strömte herbei, um sie und die ihr folgende Prozession zu sehen. Auf dem Marktplatz spielte eine Blaskapelle, die gerade zum Gefallen der Machthaber »Der Sturm auf das Gefängnis« gegeben hatte, und nun eine Abfolge von beliebten Schlagern anstimmte. Den Takt gab ein schnauzbärtiger Tenorsaxofonist vor, der die schlüpfrigsten Passagen zum Vergnügen des Publikums extra laut spielte. Die jüngeren Zuhörer ließen einen traditionellen Tanz über sich ergehen, während die Älteren verträumt mitwippten und nostalgisch von den guten alten Zeiten schwärmten, als sie ebendiese gestreiften Hosen trugen und in den Mai tanzten. Unterdessen herrschte die Königin und lächelte von ihrem blumenbeladenen Podest herunter. Sie konnte nicht älter als fünfzehn sein. Sämtliche Jungen erröteten bei ihrem Anblick. Selbst die berüchtigten »Speichen«, die unerbittlichsten Verfechter der Fahrradrevolution, legten ihre sonst so strenge Haltung zugunsten eines unbekümmerten Schlenderns ab, und an diesem Tag wurden keine Worte des Zorns zwischen ihnen und den wenigen Zweiflern im Publikum gewechselt. Und als die Synode eintraf, um die Segnung des Tages zu krächzen, duldete die Menge sie schweigend. Der Ritus wirkte merkwürdig beharrlich, wenn man bedachte, dass die Maifeierlichkeiten viel weiter zurückreichten als die Fixierung der Sekte auf den Morschen Baum. Ja, das Maifest war bereits eine langjährige Tradition gewesen, so hieß es, als die Zweige dieses Baums noch voller grüner Knospen hingen, bevor er seinen heutigen Namen erhielt, bevor der seltsame Parasit den Baum in seinen derzeitigen Scheintod versetzt hatte. Doch solcher Art war die Stimmung an jenem Tag: Selbst den Spielverderbern wurde ihr eigener Friede zugestanden.

Als schließlich die Feier rund um den mit Bändern geschmückten Maibaum ausgelassener wurde und die Dunkelheit einsetzte, als die Männer um die Klatschmohnbierfässer versammelt saßen und die Frauen manierlich am Brombeerwein nippten und das Tanzen so richtig in Schwung kam, da war die Maikönigin längst auf den Schultern einer Schar junger Männer mit viel Trara nach Hause getragen worden. Dort, so nahm ihr mittlerweile beschwipster Vater an, schlief sie nun friedlich, das weiße Gewand in die Ecke geworfen, die Zöpfe völlig zerrupft, das Kissen mit Blüten übersät.

Doch das war nicht der Fall.

Zita, die Maikönigin, kletterte am Spalier aus ihrem Zimmer im ersten Stock hinunter, immer noch in ihrem weißen Kleid, den Blumenkranz auf dem geflochtenen Haar. Ein Dorn der Kletterrose stach ein winziges Loch in den Taft, als sie den Boden erreichte. Sie blieb stehen und sah sich forschend um. Vom Marktplatz her hörte sie gedämpfte Festgeräusche, und ein paar vereinzelte Heimkehrer lachten auf der Straße über einen Witz. Sie pfiff zweimal.

Nichts.

Erneut schob sie die Lippen vor und stieß zwei schrille Pfiffe aus. Im Wacholder neben ihr raschelte es. Zita erstarrte.

»Alice?«, fragte sie in die Dunkelheit. »Bist du das?«

Plötzlich teilten sich die Büsche, und ein Mädchen im dunklen Mantel tauchte auf. Ein paar Wacholderäste hingen störrisch in ihren kurzen blonden Haaren. Zita runzelte die Stirn.

»Du musstest nicht unbedingt da durchschleichen«, sagte sie.

Alice drehte sich zu ihrem improvisierten Pfad um: ein Loch im Gestrüpp. »Du hast doch gesagt, ich soll heimlich kommen.«

Noch ein Geräusch. Dieses Mal aus der Seitenstraße. Es war Kendra, ein Mädchen mit drahtigen, kurz geschnittenen Haaren. Sie hielt etwas in der Hand.

»Super«, sagte Zita. »Du hast das Räucherfass mitgebracht.«

Kendra nickte und streckte die Hand mit dem Gefäß aus. Es war aus angelaufenem Messing, verfärbt von jahrzehntelangem Gebrauch. Tränenförmige Löcher sprenkelten das Töpfchen, an den Seiten klebten Goldketten wie Haare. »Das muss ich unbedingt heute Nacht zurückbringen. Ohne Witz, wenn man Vater wüsste, dass das fehlt. Er muss morgen irgendwas Komisches machen.« Kendras Vater war erst kürzlich der aufstrebenden Synode beigetreten, ein Apostel des Morschen Baums. Seine Tochter war sichtlich nicht so froh über seine neu entdeckte Religiosität.

Zita wandte sich an Alice, die immer noch Blätter von ihrem Mantel zupfte. »Hast du den Salbei?«

Alice nickte und zog ein mit Zwirn zusammengebundenes Sträußchen Blätter aus einer Tasche, die sie sich über den Rücken geschlungen hatte. Ein erdiger Geruch stieg aus den Kräutern auf.

»Gut.«

»Ist das alles?«, fragte Alice und steckte das Bündel in die Tasche zurück.

Zita schüttelte den Kopf und zog ein blaues Fläschchen hervor. Die beiden anderen Mädchen kniffen die Augen zusammen und versuchten, im Halbdunkel zu erkennen, was sich darin befand.

»Was ist das?«, wollte Kendra wissen.

»Weiß ich nicht«, gab Zita zurück. »Aber wir brauchen es.«

»Und war da nicht was mit einem Spiegel?« Wieder Kendra.

Zita hatte ihn dabei: ein Spiegel, ungefähr so groß wie ein Buch. Das Glas war in einen verzierten Goldrahmen gefasst.

»Bist du sicher, dass du weißt, was du tust?« Das war nun Alice, die unbehaglich in ihrem zu großen Mantel herumzappelte.

Zita verzog den Mund zu einem breiten Lächeln. »Nein. Aber das gehört ja zum Spaß dazu, oder?« Sie schob das Fläschchen wieder in ihre Tasche und den Spiegel in einen Rucksack zu ihren Füßen. »Los«, sagte sie. »Wir haben nicht ewig Zeit.«

Leise marschierten die drei durch die Gassen der Stadt, mieden sorgsam die nach Hause torkelnden Festgäste. Die roten Backsteingebäude wichen allmählich den niedrigen Holzhütten der äußeren Bezirke, und als sie einen bewaldeten Hügel erklommen, verebbten hinter ihnen die Klänge der letzten Blaskapelle in der Ferne. Hier schlängelte sich ein Pfad durch die Bäume. Zita hielt neben einer umgestürzten Zeder an und sah sich um. In einigem Abstand sah man zwischen den dicht stehenden Bäumen die hellen Fenster der Villa Pittock funkeln wie kleine Sternschnuppen. Zita hatte eine rote Kerosinlampe dabei und zündete sie mit einem Streichholz an. Gerade wollten sie ihren Weg fortsetzen, als ein Geräusch sie aufschreckte: Schritte im Unterholz.

»Wer ist da?«, fragte Zita laut und schwang die Laterne in die Richtung, aus der das Geräusch kam.

Ein jüngeres Mädchen zeigte sich, einen Mantel hastig über den Flanellschlafanzug geworfen.

»Becca!«, rief Alice. »Ich bringe dich um, aber ehrlich.«

Das Mädchen wirkte ziemlich schuldbewusst, seine Wangen wurden knallrot und sie senkte die Augenlider. »’tschuldige«, murmelte sie.

»Was macht sie hier?«, herrschte Zita Alice an.

»Das würde ich auch gern wissen«, sagte Alice, ohne ihre kleine Schwester aus den Augen zu lassen.

»Ich weiß, was ihr vorhabt«, sagte Becca.

»Ach ja?«, fragte Zita.

»Becca, geh nach Hause«, sagte Alice. »Wissen Mama und Papa, dass du weg bist?«

Aber Becca beachtete ihre Schwester gar nicht. »Ihr ruft die Kaiserin.«

Zitas Blick schnellte zu Alice. »Was hast du ihr erzählt?«

»N-nichts.« In der Hoffnung auf Rettung sah Alice die anderen Mädchen an. Schließlich gab sie mit gerunzelter Stirn zu: »Sie hat uns belauscht. Gestern Abend. Sie hat gesagt, sie verrät es unseren Eltern, wenn ich sie nicht mitmachen lasse.«

»Ich will mit«, sagte Becca zu Zita. »Ich will dabei sein und sehen, was passiert.«

»Du bist noch zu klein«, meinte Zita.

»Wer sagt das?«

»Ich sage das«, erklärte Zita. »Und ich bin die Maikönigin.«

Das brachte das kleinere Mädchen zum Schweigen.

»Geh nach Hause«, sagte Alice. »Sonst wirst du den Tag verwünschen, an dem du geboren wurdest.«

»Ich sag es Mama und Papa«, fuhr Becca ihre Schwester an. »Ich schwör’s bei den Bäumen. Ich sag es ihnen. Und dann kriegst du eine Woche Hausarrest und verpasst den Frühlingsumzug der Schule.«

Alice warf Zita einen flehenden Blick zu, der zu sagen schien: Kleine Schwestern, was soll man da machen? Die Maikönigin gab nach. »Wie viel weißt du?«, fragte sie Becca.

Die atmete erleichtert auf und sagte: »Ich hab schon davon gehört, aber ich kenne niemanden, der es probiert hat. Im alten Steinhaus. Hinter der Macleay-Straße. Es heißt, sie ist da gestorben.« Sie blickte von einem Mädchen zum anderen und schloss aus ihrem Schweigen, dass sie nicht ganz falschlag. »Man muss was sagen, einen Zauberspruch oder so. In der Mitte des Hauses. Und sich dreimal im Kreis drehen. Um sie aufzuwecken. Ihren Geist.«

Nun nickte Zita. »Okay, du darfst mit. Aber du musst schwören, keinem zu erzählen, was du siehst. Schwörst du?«

»Ich schwöre.«

»Dann komm.« Zita ging weiter. Alice gab ihrer Schwester eine Kopfnuss und reihte sich als Schlusslicht in der kleinen Prozession ein.

Weit entfernt schlug eine Uhr die halbe Stunde, und Zita beschleunigte ihren Schritt. »Nicht mehr lang«, sagte sie.

»Warum die Eile?«, fragte Kendra.

»Nach Mitternacht funktioniert es nicht mehr. Wir müssen vor der vollen Stunde anfangen. Am ersten Mai, la lu, la lai.«

Kendra sah Alice fragend an, aber die zuckte nur die Achseln. Zita war schon seit Langem eine geheimnisvolle Macht in ihrem Leben: Seit sie klein waren, übte sie eine eigenartige Anziehungskraft aus. Sie war ein fantasievolles Mädchen und zog ihre Freunde mit seltsamen Zeichnungen und Gedichten in ihren Bann, mit ihrer Faszination für Übersinnliches.

Der Wald wurde unwegsamer, je mehr sie sich von dem bewohnten Teil Südwalds weg- und in das dornige Gestrüpp an der Grenze zum Vogelfürstentum hineinbewegten. Ein Pfad führte durch das Unterholz, und binnen Kurzem hatten die Mädchen das Haus erreicht, beziehungsweise das, was davon übrig war.

Es war eine Ruine, die Steinmauern durch Wind und Wetter abgebröckelt und beinahe vollständig unter einer dichten Efeudecke verschwunden. Wo einst das Dach gewesen war, ragten nun Zweige in das Haus, und dicke Mooskissen wuchsen in den Rissen zwischen den Steinen. Vorsichtig tasteten sich die vier Mädchen in die Mitte, wo der Fußboden längst vom Grün des Waldes überwuchert worden war: Ein Teppich aus Efeu hatte in dem engen Raum alles andere verdrängt. Wer auch immer früher dort wohnte, hatte mit sehr wenig vorliebgenommen: Das Haus bestand aus einem einzigen kleinen Zimmer. Zwei Löcher in den Steinmauern deuteten auf Fenster hin, eine Tür, deren Rahmen schon vor langer Zeit eingestürzt war, führte hinaus auf eine dunkle, freie Fläche. Was nicht bedeutete, dass das Haus all die Jahre gänzlich unbewohnt geblieben war: Leere Konservendosen mit ausgeblichenen Etiketten lagen in den Ecken, und die Namen und Abenteuer früherer Erforscher bildeten eine Art Tagebuch an den Wänden: BIG RED HAT HIER MAL GESCHLAFEN. TRAVIS LIEBT ISABEL. NICHT SO RICHTIG, JETZT NICHT MEHR. LANG LEBE DIE KAISERIN!, stand dort in Kreide oder Farbe oder einfach in den Stein eingeritzt.

Zita sah auf die Uhr und nickte den anderen zu. »Also los.«

Was man ihr erklärt hatte, was sie bei den größeren Mädchen in der Schule belauscht hatte (die hinten in dem kleinen Klassenzimmer flüsterten, die verbotene Zigaretten auf dem Pausenhof rauchten und spöttisch grinsten, wenn sie näher kam), was sie schließlich später, als sie älter geworden war, erfahren hatte, war Folgendes: Die Grüne Kaiserin war ein Geist, der in diesem Haus spukte und der vor Jahrhunderten dort gelebt hatte, als der Wald noch ein Kaisertum war. Sie war mit der alten Regierung in Konflikt geraten, und man hatte Meuchelmörder ausgeschickt, um Rache an ihr zu üben. Statt jedoch auf ihr Leben hatten die Bösewichte es auf etwas für sie viel Kostbareres abgesehen: ihren Sohn. Eines Nachmittags schlichen sie sich in den Garten und töteten das Kind vor den Augen seiner Mutter. Um ihr Leiden noch zu vergrößern, ließen sie die Frau am Leben. Die Kaiserin, so erzählte man sich, verlor darüber den Verstand, streifte den Rest ihrer Tage durch den Wald und suchte nach ihrem Sohn, da ihr verwirrter Geist nicht begreifen wollte, dass er tot war. Es hieß, sie sei an gebrochenem Herzen gestorben, eine vergessene und verbitterte alte Frau. In ihrem grauen Haar sammelten sich so viele Blätter und Zweige auf ihren Wanderungen, dass die Einheimischen einen neuen Namen für sie erfanden: die Grüne Kaiserin. Es war beinahe, als wäre sie zu einem Teil des Waldes geworden. Angeblich wurde ihre Leiche nie gefunden, war einfach zerfallen und in den Erdboden des Hauses übergegangen. Und es war ja allgemein bekannt unter den Jugendlichen des Dorfes, dass, wenn man kein anständiges Begräbnis erhielt, die Seele dazu verflucht war, auf ewig durch die Welt der Lebenden zu irren.

Diese Geschichte zu hören, gehörte untrennbar zum Erwachsenwerden in Südwald dazu, jeder kannte sie. Dennoch folgten nur wenige ihrer Verheißung, dem dunklen Nachtrag: Mit der richtigen Zauberformel, zur richtigen Zeit im Monat, wenn der Mond voll und der Himmel hell von Sternen war, konnte die Seele der Kaiserin aus ihrem Fegefeuer gerufen und von den Lebenden gesehen werden. Was allerdings dann geschah, darüber gab es nur spärliche Informationen. Manche sagten, sie würde einem sieben Tage lang jeden Wunsch erfüllen. Andere waren ganz sicher, sie würde Rache an jedem üben, den man ihr nannte. Und wieder andere behaupteten, dass nur ihr Schatten erschiene und um ihren ermordeten Sohn weinte und klagte wie eine Todesfee. In jedem Fall fachte es Zitas düstere Fantasie an, und sie war wild entschlossen, den Geist der Frau aus dem Äther herbeizuholen.

Auf Zitas Anweisung hin bildeten die anderen drei Mädchen in der Mitte des Raums einen engen Kreis um sie. Sie stellte den Spiegel neben ihre Füße. Das Räucherfass von Kendra füllte sie mit dem Salbei, den Alice mitgebracht hatte. Wortlos beobachteten die anderen sie, betrachteten sie mit den ernsten Mienen von Kirchgängern vor einem ehrwürdigen Geistlichen. Schließlich zog Zita das blaue Fläschchen aus der Tasche und schüttete den Inhalt in das Räucherfass. Im Licht der Laterne, die Kendra hielt, sah er aus wie ein körniges graues Pulver.

»Streichholz«, sagte Zita.

Sofort holte Alice ein Zündholz aus einer Schachtel mit dem Aufdruck WIRTSHAUS ZUM HIRSCHEN und strich es an der Seite an, sodass es aufflackerte. Zita nahm es ihr aus der Hand und hielt die Flamme an das inzwischen wieder geschlossene Räucherfass.

Ein heller Blitz zuckte aus dem Gefäß.

Kendra kreischte, Alice schlug sich die Hände vors Gesicht. Nur Zita und die kleine Becca blieben ruhig, als ein unheimliches Licht aus den Löchern des Räucherfasses wehte und das zerstörte Häuschen durchflutete, als hätte jemand einen Scheinwerfer angeschaltet. Der Geruch von Salbei erfüllte den Raum, Salbei und ein weiterer Duft, den keine von ihnen so recht zuordnen konnte. Vielleicht war es der Duft von Wasser. Oder von Luft, die aus einem lang versperrten Dachboden entwich.

»Also gut«, sagte Zita feierlich »Alle fassen sich um mich herum an den Händen.«

Die Mädchen gehorchten. Zita stand mit dem leuchtenden Räucherfass in der Mitte, dicke Rauchschwaden drangen mittlerweile aus den tränenförmigen Löchern im Messing. Sie holte tief Luft und stimmte ihren Spruch an:

Am ersten Tag im Mai

La lu, la lai

Wenn der Ruf der Spatzen schallt

La lu, la la

Bevor das Dunkel weicht dem Licht

Rufen wir Grüne Kaiserin dich.

Sie sah sich in dem kleinen Kreis um. Die Augen der Mädchen waren fest geschlossen. Die Kleinste, Becca, furchte in tiefer Konzentration die Stirn. »Und jetzt sprecht mir alle nach«, sagte Zita.

Und das taten sie:

Wir rufen dich

Grüne Kaiserin

Wir rufen dich

Grüne Kaiserin

Grüne Kaiserin

Grüne Kaiserin

Daraufhin sagte Zita: »Und jetzt zählt mit, wenn ich mich drehe.«

Summend begleiteten die Mädchen Zitas langsame Pirouetten in ihrer Mitte.

EINS

ZWEI

DREI

Plötzlich erlosch das Licht in dem Räucherfass.

Der Efeu zu ihren Füßen raschelte, obwohl keine Brise die Luft bewegte.

Und dann ertönte tief aus dem Boden ganz deutlich das heisere Stöhnen einer Frau.

Kendra schrie und stolperte rückwärts, Alice schnappte sich ihre kleine Schwester, warf sie sich in vollkommener Panik über die Schulter und taumelte mit ihr auf die Tür zu. Wie der Blitz hatten drei der vier Mädchen das Haus verlassen und rannten schreiend durch den Wald. Nur Zita blieb wie versteinert stehen, das dunkle Räucherfass in der Hand schwingend.

Alles war still. Das Stöhnen hatte aufgehört, der Efeu zuckte nicht länger. Zita sah auf den Spiegel zu ihren Füßen. Er war beschlagen.

Ganz langsam krochen Worte über das Glas, als würden sie von einem Finger gemalt.

MÄDCHEN, stand da.

Zita stockte der Atem.

ICH BIN ERWACHT.

ZWEI

Ein schwieriger Gast

Pancakes, Pancakes, Pancakes«, verkündete Prues Vater in fröhlichem Singsang, als er den Kopf um die Küchentür steckte. »Wer will noch was, wer hat noch nicht?«

Prue lehnte höflich ab. »Danke, ich nicht mehr.« Sie hatte schon zwei von den kleinen Frühstücks-Pfannkuchen gehabt. Ihre Mutter und ihr kleiner Bruder Mac schwiegen, als hätten sie den Koch gar nicht gehört. Vielmehr starrten sie durchdringend ihren Gast an, der den Großteil der einen Esstischseite einnahm. »Ich würde glatt noch ein paar nehmen«, sagte der nun. »Wenn Sie darauf bestehen.«

Prues Mutter riss die Augen auf, aus ihrem Gesicht wich jede Farbe.

»So mag ich das«, erklärte Prues Vater unverdrossen. »Ein gesunder Appetit.« Er verschwand wieder in der Küche und pfiff dazu einen nicht identifizierbaren Popsong.

»M-möchten Sie vielleicht n-noch O-orangensaft?«, stieß Prues Mutter hervor.

Der Gast schielte nach den drei leeren Krügen auf dem Tisch. Plötzlich wirkte er verlegen. »Ach, nein, danke, Mrs. McKeel«, sagte er. »Ich glaube, ich hatte genug.«

In dem Moment tauchte Prues Vater wieder auf und stapelte fünf weitere Pancakes auf den Teller. Aus den Blaubeeren im Teig stieg Dampf auf. Nach Prues Zählung kam der Gast damit auf siebenunddreißig Stück.

»Ich hoffe, Sie wollten nicht noch mehr.« Prues Vater grinste. »Denn das Mehl ist aus. Und die Milch. Und die Butter.«

Der Gast lächelte ihn an. »Vielen Dank. Das reicht vollauf.« Er griff quer über den Tisch nach dem Sirupkrug, stockte aber, leicht überfordert von der Aufgabe, einen goldenen Haken, der an Stelle seiner Hand saß, durch den Griff zu fädeln.

»Moment«, sagte Prue. »Ich helfe dir.« Sie hob den Krug hoch und goss die zähe braune Flüssigkeit über den Pancake-Stapel. »Sag stopp.«

»Stopp.«

»Dein Freund hat vielleicht einen Appetit«, sagte Mrs. McKeel.

Prue sah ihre Mutter an und seufzte. »Er ist eben ein Bär, Mama.«

Das stimmte natürlich: Der Frühstücksgast im Hause McKeel war ein sehr großer Braunbär. Nicht nur das, er war ein Bär mit glänzenden Haken statt Tatzen. Und er konnte sprechen. Mittlerweile hatte sich die Familie McKeel allerdings schon an seltsame Vorkommnisse in ihrem Leben gewöhnt.

Erst im vergangenen Herbst war der Jüngste der Sippe, Mac, damals gerade ein Jahr alt, von einem Krähenschwarm entführt worden, und seine Schwester war ihn ohne Wissen ihrer Eltern suchen gegangen und hatte dabei nicht nur ihr eigenes Leben in sehr ernste Gefahr gebracht, sondern auch das ihres Klassenkameraden Curtis Mehlberg, der ihr gefolgt war. Und die Krähen hatten das Kind nicht einfach nur irgendwo in einem Nest abgelegt, sondern es in die Undurchdringliche Wildnis gebracht, einen tiefen, riesengroßen Wald am Rande der amerikanischen Stadt Portland in Oregon. Es war ein verbotener Ort, man erzählte sich Geschichten von Unglückseligen, die sich dort verirrt hatten und niemals zurückgekehrt waren. Das war jedoch nicht die ganze Wahrheit: Prue und Curtis hatten innerhalb der Grenzen dieses Walds eine blühende Welt entdeckt, eine Welt von weisen Mystikern, wilden Räubern, sich bekriegenden Maulwürfen und einer Gouverneurswitwe, die von lebendigem Efeu verschlungen wurde. Die beiden waren untrennbar in die Ereignisse dort verstrickt worden, und nun sah es ganz so aus, als hinge das Schicksal dieser Welt von ihrem Handeln ab.

In normalen Haushalten würde man ein Kind, das seinen Eltern solche Dinge berichtete, sofort psychiatrisch untersuchen lassen oder doch zumindest, falls ein Elternteil besonders leichtgläubig war, die örtlichen Behörden informieren. Die McKeels taten keines von beidem. Ja, man könnte sogar behaupten, dass sie selbst ihren nichts ahnenden Kindern diese ganze Angelegenheit eingebrockt hatten. Denn man muss wissen, um ein Kind zu bekommen, hatten sie damals eine Vereinbarung mit einer seltsamen Frau aus der Undurchdringlichen Wildnis treffen müssen, auf einer mitten aus dem Nebel aufgetauchten Brücke. Daher kam den Eltern McKeel diese Welt im Wald nicht so besonders merkwürdig vor. Hauptsächlich hatten sie sich gefreut, ihre Kinder wohlbehalten wiederzuhaben.

Danach wurde alles nur noch komischer. Ein paar Monate zuvor war Prue auf dem Weg zum indischen Imbiss um die Ecke verschwunden. Beiden, Lincoln und Anne McKeel, war instinktiv ein eisiger Schauer über den Rücken gelaufen, als sie nicht zurückkehrte, doch beide wussten auch, dass sehr wahrscheinlich noch Eigenartigeres bevorstand. Diese Ahnung hatte sich bewahrheitet, als später an jenem Abend ein Silberreiher auf ihrer Veranda gelandet war und mit dem Schnabel an ihre Tür geklopft hatte. Relativ entspannt hatte der Vogel verkündet, ihre Tochter sei zu ihrer eigenen Sicherheit zurück in die Undurchdringliche Wildnis gebracht worden, genauer gesagt in ein Gebiet der U.W., das der Vogel als Wildwald bezeichnet hatte. Ganz offenbar war Prue von einiger Bedeutung in dieser seltsamen Welt, und ein Feind hatte einen gestaltwandelnden Attentäter ausgeschickt, um ihr kurzes Kinderleben zu beenden. Damals hatte den McKeels das alles vollkommen eingeleuchtet, und sie hatten sofort die erforderlichen Briefe an die Schule verfasst, dass Prue an Pfeifferschem Drüsenfieber erkrankt sei und auf absehbare Zeit nicht am Unterricht teilnehmen könne. Geduldig warteten sie auf ihre Rückkehr, da sie wussten, sie war in guten Händen.

Und nun das: Ein paar Wochen vorher war Prue mit einem leichten Humpeln, einer provisorischen Armschlinge und einem sehr großen, sehr verständlich sprechenden Braunbären im Schlepptau in ihrem Elternhaus eingetroffen. Sie hatten sich die größte Mühe mit der Unterbringung des neuen Gastes gegeben, hatten ihr riesiges Familienzelt in Prues Zimmer aufgestellt, damit der Bär, dessen Name Esben lautete, seinem bevorzugten höhlenartigen Lebensraum möglichst nahe kam. Sie hatten zusätzliche Fahrten zum Supermarkt unternommen, hatten Vorratspackungen Mehl und palettenweise Milch beschafft, um seinen Bärenappetit zu stillen. Wurden sie bei solchen Hamsterfahrten von Nachbarn ertappt, wenn der Kofferraum ihres Kombis unter fünfzehn Kilo Hackfleisch ächzte, hatte Anne erzählt, sie deckten sich für den Weltuntergang ein. (Sie hatte sich sogar extra eine verstohlen zwinkernde Grimasse zu ihrem Ehemann angewöhnt, als wollte sie den Nachbarn sagen: Er ist hier der Irre. Lincoln seinerseits spielte mit und spickte seine Gespräche mit anderen Leuten mit Verschwörungstheorien, die er sich buchstäblich im selben Moment erst ausdachte, zum Beispiel: »Das Verkehrsministerium hortet Avocados zur Verwendung in avocadobetriebenen Raketen, die ausschließlich Angestellte des Verkehrsministeriums aufnehmen und zu einem der Erde nachgebildeten Ferienanlager/Erlebnispark auf der Mondrückseite bringen werden, von wo aus sie dann die Ausrottung der gesamten Erdbevölkerung zugunsten genetisch veränderter Nachkommen der auf dem Mond lebenden Verkehrsministeriumsangestellten steuern werden. Das habe ich mir nicht ausgedacht.«) Der Unterhaltungswert des Abenteuers hatte sich allerdings bald abgenutzt, und nach einer Weile erkundigte die Familie sich höflich nach der Abreise des Bären. Ihre einzige Sorge: Er nähme ihre Tochter mit.

Nun setzte sich Lincoln McKeel, mittlerweile ohne Schürze, mit einem Glas frischen Saft und einem einzelnen Spiegelei zu ihnen an den Tisch. Mit einem Lächeln in die Runde widmete er sich seiner spärlichen Mahlzeit.

»Können Sie denn schon einschätzen, wann Sie …«, setzte Prues Mutter an, verstummte aber etwas unsicher. Sie wollte keine schlechte Gastgeberin sein.

»Was meine Frau zu sagen versucht, Esben«, sprang Lincoln ihr bei, den Mund voller Eigelb. »Wir sind nur neugierig, wann, Sie wissen schon … Na ja, das Mehl ist alle. Und die Butter. Und die Eier.«

»Und obwohl wir natürlich mit Vergnügen losfahren und neue kaufen«, warf Anne ein, »wäre es vielleicht hilfreich zu wissen … also …«

Prue hielt es nicht mehr aus. »Morgen sind wir weg, versprochen«, sagte sie.

»Wir?«, fragten ihre Eltern wie aus einem Munde.

»WIIIIIIIR!«, brüllte Mac und schwang seine Gabel um den kleinen, mit zartem Flaum bedeckten Kopf wie einen Spieß. Das halb abgekaute Stückchen Pancake, das auf den Zinken gesteckt hatte, flog quer durchs Zimmer. »WIIIIIIR UNNNND BÄÄÄÄÄÄÄÄR!«

»Ich hab euch den Plan doch erklärt.« Interessiert verfolgte Prue die Flugbahn des Geschosses. »Das war von Anfang an klar.«

Esben grunzte zustimmend mit vollem Mund.

»Sobald mein Knöchel und mein Arm wieder gesund sind, müssen wir zurück in den Wald. Wir werden dort gebraucht, wir dürfen nicht noch mehr Zeit vergeuden. Wir müssen unbedingt den–«

»Den anderen Erbauer finden, ist klar«, beendete ihre Mutter den Satz. »Wer auch immer das sein mag. Ich dachte nur, also, dass vielleicht Esben das allein erledigen könnte. Du hast schon so viel Schule verpasst, Prue. Sonst musst du noch die siebte Klasse wiederholen.«

Prue starrte ihre Mutter einen Moment lang wortlos an. »Das ist mir egal«, sagte sie schließlich. »Die siebte Klasse ist mir inzwischen völlig egal. Ich gehöre in den Wald. Sie brauchen mich.«

Esben machte eine kurze Kaupause, um erneut zustimmend zu grunzen. »Das stimmt, Mrs. McKeel«, sagte er. »Es ist wirklich sehr wichtig. Sie wird gebraucht.«

»Sie sind ein sprechender Bär«, entgegnete Anne McKeel wütend. »Erzählen Sie mir nichts von Kindererziehung.«

Esben erstarrte, einen Haken voller Pancakes kurz vor dem Mund.

»Liebling.« Prues Vater streckte die Hand über den Tisch und legte sie auf die seiner Frau. »Ich glaube, wir müssen hier auf die beiden hören. Es geht dabei um mehr als um uns.«

Genau da, als Stille sich über den Esstisch senkte und jeder der Anwesenden, sogar der kleine Mac mit seinem teigverschmierten Haarbüschel, sich in das Schweigen hüllte und das Brummen der Autos auf der Straße vor dem Haus ihre unausgesprochenen Sätze untermalte, brach Anne McKeel in Tränen aus. Der Bär Esben reagierte als Erster. »Aber, aber, Mrs. McKeel«, sagte der gutmütige, verlegene Gast, der gerade etwas sehr Privates und vielleicht sehr Menschliches miterlebte.

War das alles, was zu sagen war? Eine Zeit lang war nur das Weinen von Prues Mutter zu hören, bis sie ihre Tränen wegschniefte und der Bär die Pancakes aufgegessen hatte und alle den Tisch abräumten und das schmutzige Geschirr ins Spülbecken stellten. Der Frühlingstag nahm seinen Lauf, und binnen Kurzem war das morgendliche Drama vergessen. Anne McKeel schluckte ihre Tränen hinunter.

In dieser Nacht, während der Rest des Hauses schlief, lag Prue wach. In unregelmäßigen Abständen schnarchte der Bär in seinem hausgroßen Zelt neben ihrem Bett. Als er einmal eine längere Pause in seiner Sägerei machte, fragte sie zaghaft: »Esben?«

»Hmmm?«, brummelte der Bär.

»Ich kann nicht schlafen.«

»Schon wieder?«

»Ich verstehe nicht, wie du schlafen kannst. Es gibt so viel zu denken.«

»Versuch, es zu lassen.«

Prue schob die Lippen vor und bemühte sich, dem Rat des Bären zu folgen. Aber je mehr sie sich bemühte, desto schwieriger war es.

»Esben?«, sagte sie nach einer Weile.

»Hmmm?«

»Was wird er davon halten? Das ist das, was mir am meisten zu schaffen macht.«

Darauf folgte ein Rascheln: ein riesiger Körper, der sich in einem zu kleinen Schlafsack umdrehte. »Was wird wer wovon halten?«

»Alexei.«

»Ach so. Bin mir nicht ganz sicher.«

»Aber der Baum hat sich das doch sicher gut überlegt, oder?«

»Vermutlich schon.« Pause. »Prue?«

»Ja?«

»Versuch jetzt zu schlafen. Langer Tag morgen.«

Also versuchte sie es, hörte verwundert, dass Esben sofort in einen tiefen, lautstarken Schlaf sank. Aber immer noch purzelten die Gedanken durch ihren Kopf: Was würde Alexei von seiner eigenen Auferweckung halten? Diese Frage beschäftigte sie, seit sie die Botschaft des Ratsbaums erhalten hatte: Dass der mechanische Knabe wiederbelebt werden musste. War der Gouverneurssohn nicht selbst für seinen Tod verantwortlich gewesen, nachdem seine Mutter ihn neu erschaffen hatte? War es nicht ein Vergehen, wenn man ihn ebendieser Rücksichtslosigkeit ein zweites Mal aussetzte? Und doch war die Anweisung vom spirituellen Herz des Waldes persönlich gekommen, dem Ratsbaum: Friede kann nur geschaffen werden, indem der zweimal gestorbene Junge zurückgeholt wird. Würde Alexei ihnen diese Zumutung verzeihen, für den höheren Zweck? Worin bestand der höhere Zweck? Welche Probleme konnten einfach dadurch ausgeräumt werden, dass man eine einzelne Seele aus dem Äther zurückholte?

Die Morgensonne erhellte ihr Zimmerfenster lange, bevor ihr eine Lösung eingefallen war. Prue gab sich geschlagen und schälte sich aus dem Bett, unausgeschlafen und rastlos.

Sie packte ihre Tasche für die Reise. Der Schmerz im Knöchel war fast verschwunden, und der Arm tat nur weh, wenn sie ihn zu stark durchstreckte. Währenddessen spielte Esben im Wohnzimmer mit Mac, ließ den Zweijährigen über seinen Pelzrücken klettern und auf seinen Schoß purzeln. Er drehte zwei Frisbees auf seinen goldenen Haken, ein Kunststück, das er während seiner Zeit im Zirkus perfektioniert hatte, und Mac gluckste bewundernd. Als Prue mit gepackter Tasche über der Schulter am unteren Treppenabsatz erschien, saßen ihre Eltern auf ihren jeweiligen Stammsesseln im Wohnzimmer. Ihr Vater las ein Buch, ihre Mutter versuchte, einem neuen Strickzeug eine irgendwie geartete Form zu entlocken.

Esben setzte Mac ab und sah Prue an. »Fertig?«

Prue nickte.

Anne blickte nicht von ihrem Strickzeug auf, aber Lincoln erhob sich und ging zu seiner Tochter. »Also gut, dann mal los.«

Anne blieb sitzen und kämpfte mit dem Garn.

»Ciao, Mama«, sagte Prue.

Immer noch hob Anne den Kopf nicht. Fragend sah Prue ihren Vater an, doch der zuckte nur die Achseln. Gemeinsam wickelten sie eine fadenscheinige Steppdecke um Esbens massige Gestalt und versteckten seinen Kopf unter der riesigen Mütze, die Anne für ihn gestrickt hatte. In dieser Verkleidung schlich der Bär aus der Haustür, und die drei stiegen in den vor dem Haus geparkten Subaru der Familie.

Sie fuhren schweigend, Esben auf den Rücksitz gekauert: Ein formloser Haufen Decken und Wolle, den man leicht mit der Kleiderspende einer Großfamilie verwechseln konnte. Aus dem Lautsprecher plätscherte ein Aufruf zu einer Hilfsaktion.

»Bekommen wir bald neue Nachrichten per Silberreiher?«, fragte Prues Vater.

Seine Tochter lächelte. »Nur gute, versprochen.«

»Und dieser Attentäter, das wurde endgültig geklärt?«

Bei der Erwähnung von Darla Thennis, dem gestaltwandelnden Fuchs, lief Prue kurz ein Schauer über den Rücken. Sie erinnerte sich an das unsanfte FUMP, das ihr Ableben eingeleitet hatte. »Ja, sie ist weg. Wobei es davon noch mehr geben könnte. Das wissen wir nicht. Deshalb bleiben wir unterirdisch, bis wir in Südwald sind.«

»Und du wirst wie eine Heldin begrüßt werden, stimmt’s? Das habt ihr gesagt.«

»Ja, wenn wir mit unserer Einschätzung richtigliegen.«

»Außer, es hat sich was geändert«, gab Esben zu bedenken.

»Das könnte natürlich auch sein«, sagte Prue, obwohl sie sich mit den möglichen dunkleren Seiten ihres Plans nicht hatte befassen wollen. Sie strich mit dem Finger über das Autofenster, spürte die Sonne darauf. An einer Ampel hielten sie neben einem anderen Wagen, und das Kleinkind auf dem Rücksitz reckte den Hals. Ein Aufleuchten in seinen Augen verriet, dass es Esben entdeckt hatte, und es begann, hektisch gegen die Scheibe zu schlagen, um seine Eltern auf diese seltsame Erscheinung aufmerksam zu machen. Die Ampel schaltete um, und sie waren schon rechts abgebogen, ehe die Eltern den Bären bemerken konnten, mit der Folge, dass das Kleinkind vermutlich noch den ganzen Nachmittag von den Erwachsenen nicht ernst genommene Beteuerungen abgäbe.

Nach einer Weile kamen sie an der Müllhalde an, und Esben warf seine Verkleidung ab: An diesem Ort war niemand zu erwarten, den der Anblick eines sprechenden Bären weiter verwundern würde. Erleichtert atmete er auf und reckte die dicken Arme gen Himmel. »Nichts für ungut«, sagte er zu Lincoln, »aber die Decke riecht nach Katzensabber und schimmligem Teppichboden.«

»Schon in Ordnung.«

Die Strickmütze behielt der Bär allerdings auf. Als er sie geschenkt bekam, hatte er erklärt, er habe schon immer Schwierigkeiten gehabt, passende Kopfbedeckungen zu finden. Nun zog er sie tief über die kleinen Ohren und lief zu dem Schuppen mitten auf der Müllhalde, dessen Tür schief in den Angeln hing. Ganz eindeutig hatte derjenige, der für die Wartung dieses Tunnelzugangs zuständig war, seine Aufgabe in letzter Zeit vernachlässigt. Der Schuppen deckte ein Betonrohr ab, das unter die Erde führte. Am Eingang hielt Esben an und drehte sich zu den McKeels um, die immer noch neben dem Auto standen.

Prue und ihr Vater umarmten sich. Mehrere Plastiktüten umflatterten sie wie Engel. »Pass gut auf dich auf«, sagte Lincoln.

»Mach ich, versprochen«, sagte seine Tochter. Damit ging sie den Abhang hinunter zu dem Bären an der Tür zum Untergrund.

DREI

Der vergessene Ort

Elsie wusste nicht, ob der Blitz oder der Donner der Explosion sie aus dem Schlaf riss. Sie hatte nicht einmal gemerkt, dass sie schlief. Eigentlich hatte sie nur ein wenig die Augen ausruhen wollen, doch dann war die Welt verschwunden und sie schwerelos zu einem anderen Ort befördert worden, in eine andere Welt, aus der die Explosion sie unsanft zurückholte. Sie rieb sich die Augen und spähte in die dunkle Nacht. Irgendwo wütete ein Feuer, ein flackernder Schein am fernen Horizont. Vor einiger Zeit noch hätte sie von dem Knall Herzrasen bekommen, doch nun, nach zwei Monaten in ihrem neuen Leben, erinnerte er sie nur daran, dass sie ihre Pflicht vernachlässigte.

Sie stand auf, weil ihr im Schneidersitz die Beine wehtaten, und hielt sich gut an der eingebrochenen Ziegelmauer fest, während sie sich streckte. Aus dieser Höhe wäre es ihrer Einschätzung nach ein langer Sturz. Sie trat einen Stein von ihrem Aussichtspunkt, und es dauerte einige Sekunden, bis er tief unter ihr aufschlug.

Eine weitere Explosion erleuchtete die Dunkelheit, und dieses Mal sah sie es geschehen. Irgendein Chemiesilo, meilenweit entfernt. Flammen schlugen in den Himmel, erleuchteten die umstehenden Gebäude und ließen Metallteile auf sie niederregnen. Das Feuer schwelte eine Weile, doch bald konnte man es zwischen den Gasflammen und den gelben Lichtern, die die Landschaft der Industriewüste sprenkelten, nicht mehr ausmachen. Sie waren merkwürdig, diese Explosionen. Sie ereigneten sich ziemlich regelmäßig, und es war klar, dass sie nicht zum normalen Arbeitsablauf der Industriewüste gehörten. Die älteren Kinder behaupteten, es sei ein Krieg im Gange, doch zwischen wem, konnten sie auch nicht sagen. Alle hatten sich mittlerweile an den Lärm gewöhnt, an das Blitzen und Donnern, und lebten damit wie früher mit der Müllabfuhr, die brummend vor dem Haus hielt, oder dem Klopfen des Postboten an der Tür.

Elsie war versucht, den Sprechknopf der Puppe zu drücken, die sie in der Armbeuge hielt – es war eine Unerschrockene Tina, deshalb hatte sie jede Menge aufmunternde Sinnsprüche einprogrammiert –, doch sie hielt sich zurück, denn die älteren Kinder hatten es ihr verboten, weil sie fürchteten, sie könnte damit ihre Anwesenheit in dem ehemaligen Lagerhaus verraten. Stattdessen zog sie das Gesicht der Puppe nur fest an ihr eigenes und tätschelte ihr kurz mit den Fingerspitzen die Schulter.

»Schon gut, Tina«, sagte Elsie. »Bei uns gibt es keine Explosionen.«

Die Dunkelheit bekam einen Blaustich, der den Sonnenaufgang ankündigte. Zu Elsies Linken, gleich unter ihr, blitzte ein Licht auf. Sie drehte den Kopf, und eine Stimme rief gedämpft: »Elsie!«

»Michael?«

»Es ist fünf. Ab in die Federn.«

»Verstanden.« Elsie hob den kleinen Beutel zu ihren Füßen auf, einen Leinensack, in dem man Zwiebeln oder Kartoffeln hätte transportieren können. Darin verstaute sie die Sachen, die sie für die Nacht mitgebracht hatte: eine Taschenlampe, eine Tüte Rosinen und eine gelbe Broschüre mit Verhaltensregeln für den Fall eines Erdbebens (ihr einziger Lesestoff). Als sie gerade fertig war, erschien Michael oben auf der Treppe, die zum Ausguck hinaufführte. Einen Augenblick lang teilten sie sich den engen Platz im Treppenschacht, der seit dem Einbruch der Ziegelmauer vor langer Zeit freilag.

»Wie war’s?«, fragte er.

»Gut«, sagte Elsie. »Nichts Besonderes. Ein paar Explosionen, gerade eben. Eine nach der anderen, ganz schnell hintereinander. Sonst das Übliche.« Sie dachte kurz nach. »Ach, und ich habe ihn gesehen.«

»Den Irren?«

»Ja, aber er war ziemlich weit weg.«

Der Junge schnüffelte mehrmals und ließ den Blick über die Umgebung schweifen. Sie – oder eigentlich Carl, denn er hatte ihn entdeckt – hatten ihn »den Irren« getauft, als er vor einigen Wochen zum ersten Mal aufgetaucht war. Wobei sie nicht mal wussten, ob es sich bei dem Irren um einen Mann oder eine Frau handelte, weil er oder sie ganz in Kleider und Decken eingehüllt war. Schon bald waren sie zu dem Schluss gekommen, dass dieser Mensch, wer auch immer er war, keine große Gefahr darstellte, denn er trieb sich selten in der Nähe ihres Unterschlupfs herum, und wenn doch, dann ließ er sich mit einem gut gezielten Steinwurf leicht verjagen, wie ein trauriger streunender Hund.

Dementsprechend unaufgeregt sagte Michael zu Elsie: »Sandra hat Haferbrei auf dem Ofen stehen. Wenn du dich beeilst, kommst du als Erste dran.«

»Okay, danke«, sagte Elsie. Sie reichte Michael die rostige Machete, die sie neben sich an einen Ziegelhaufen gelehnt hatte. Er bedankte sich mit einem Grunzen. Es war die einzige Waffe der Unadoptierbaren, sie hatten sie in einem halb gerodeten Brombeergestrüpp gefunden, nachdem sie schon ungefähr eine Woche in der Industriewüste wohnten. Wie man es ihr beigebracht hatte, stieg Elsie behutsam erst einige Schritte die Holzstufen hinab, ehe sie die Taschenlampe einschaltete. Es war eine von vielen Vorsichtsmaßnahmen; je weniger von ihnen zu sehen war, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass man sie aufspüren würde. Selbst in diesem abgelegensten Winkel der einsamen Industriewüste, einer Einöde von ausgebrannten Lagerhäusern und leer stehenden Gebäuden, die die Unadoptierbaren den Vergessenen Ort nannten.

Der Himmel wurde allmählich heller, während Elsie die gewundene Treppe hinabstieg, und beleuchtete durch die großen Lücken in den Ziegelwänden und die leeren Fensterrahmen ihren Weg. Als sie das Erdgeschoss erreichte, war der riesige Raum von schwachem Licht erfüllt, und in einer Blechtonne in der Mitte brannte ein Feuer. Hoch über ihrem Kopf schossen Tauben zwischen den Dachsparren hindurch, und die Umrisse der schlafenden Kinder sahen aus wie kleine Wellen auf dem verwitterten Holzboden. Sandra rührte in einem schwarzen Metalltopf und begrüßte Elsie, als sie näher kam.

»Morgen«, sagte Sandra.

»Morgen«, sagte Elsie. »Was kochst du da?«

»Haferbrei. Glaub ich«, antwortete die Köchin grinsend. Sie schöpfte eine Kelle voll heraus, um ihn ihr zu zeigen: Er sah aus wie Schleim.

»Lecker«, sagte Elsie. »Haferbrei mag ich gern.«

»Das ist die richtige Einstellung«, sagte Sandra. Sie füllte einen Blechnapf mit dem schleimigen Zeug und reichte ihn Elsie. »Hau rein.«

Elsie spürte, wie ihr Magen knurrte, als sie zum Essplatz der Kinder ging: Ein alter Kantinentisch, der so lang ungenutzt dem Wetter ausgesetzt gewesen war, dass er schon halb verrottet war. Mittlerweile wickelten sich die übrigen Kinder aus ihren hier und da erbeuteten Decken und standen auf. Ein vertrauter schwarzer Haarschopf tauchte auf und schüttelte sich: Er gehörte Elsies Schwester Rachel, die an diesem Tag fünfzehn Jahre alt wurde. Sie saß in ihrem Deckenhaufen und war offenbar traurig, dass sie ihren Geburtstag unter so hoffnungslosen Umständen begehen musste. Elsie schob sich einen Löffel Brei in den Mund und spürte, wie die Wärme in ihre Brust sank und sich in Schultern und Arme ausbreitete. Sie sah ihrer Schwester zu, wie sie ins Leere starrte, bis sie es nicht mehr ertrug. »Rachel!«, rief sie.

Rachel richtete die traurigen Augen auf ihre kleine Schwester.

»Alles Gute zum Geburtstag«, sagte Elsie und rührte in ihrem Napf.

Jetzt lächelte Rachel und stand auf. Die meisten anderen Kinder hatten sich schon vor Sandras Topf mit dem morgendlichen Brei angestellt. Rachel setzte sich Elsie gegenüber an den Tisch.

»Danke, Schwesterchen«, sagte sie.

Elsie sprach mit vollem Mund. »Hol dir was von dem Brei. Der ist lecker, Sandra hat gekocht.«

Rachel sah in Elsies Napf und brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Ich glaub, ich hab keinen Hunger. Du hattest diese Nacht Wache, oder? Wie war’s?«

»Gut«, sagte Elsie. »Ich habe ihn gesehen. Den Irren.«

»Konntest du ihn genauer erkennen?«

»Nö. Er ist nicht in die Nähe gekommen oder so. Ich glaube, Michael hat recht. Das ist nur ein verirrter Landstreicher.«

»Sonst noch was?«

»Nichts Besonderes«, sagte Elsie. »Ein paar Explosionen. Ziemlich weit weg.«

»Ach ja?« Das war Carl Rehnquist, ein Junge in Elsies Alter, der sich zu ihnen an den Tisch gesetzt hatte. Von seiner Breischüssel stieg Dampf auf. »Was denn für welche?«

»Wie meinst du das?«

»Große Explosionen? Oder kleine? Was ist in die Luft geflogen?«

»Keine Ahnung«, sagte Elsie. »Nur ein paar Gebäude. Weit weg.«

»Cool«, sagte Carl.

Elsie zuckte die Achseln und aß noch einen Löffel Brei. »Ist ja nur in der Industriewüste, oder? Wahrscheinlich irgendwelches … Fabrikzeug.«

»Michael hat gesagt, sie passieren immer öfter, die Explosionen«, sagte Carl.

»Wirklich? Davon hat er mir gar nichts erzählt.«

»Ich hab’s gestern zufällig mitbekommen. Er hat gesagt, sie werden immer häufiger. Und sie kommen näher.«

»Tja, du musst nicht alles glauben, was die Kinder so reden«, sagte Rachel.

Carl nahm einen großen Bissen Brei. »Ehe man sich’s versieht, passiert es direkt hier: Bumm!« Feuchte weiße Haferflocken flogen von seinen Lippen, und die Mädchen wussten nicht, ob das Absicht war, um seine Worte zu unterstreichen, oder ein Versehen. »Alles fliegt in die Luft. Aber euch kann es ja egal sein. Ihr seid doch ruckzuck hier raus, oder? Ich meine, habt ihr nicht gesagt, eure Eltern kommen bald von ihrer Reise zurück?«

Die Schwestern schwiegen. Rachel spielte mit ihren Haarsträhnen; Elsie rührte in ihrem Brei.

Carl spürte, dass er zu weit gegangen war. »Sie kommen doch zurück, oder?«

Carl konnte nicht wissen, dass die beiden eine weitere Postkarte von ihren Eltern erhalten hatten, die zweite seit ihr Waisenhaus bei dem Aufstand im Winter in Flammen aufgegangen war. Die erste war angekommen, gleich nachdem sie das verlassene Lagerhaus entdeckt hatten, das neue Zuhause der Kinder im Vergessenen Ort. Die Briefmarke war am 20. Februar in Iğdır in der Türkei abgestempelt worden: Ihre Eltern wünschten ihnen alles Gute und berichteten kurz, dass die Suche nach ihrem Sohn Curtis in den Elendsvierteln von Istanbul sich als Sackgasse erwiesen habe. Doch nun hätten sie verlässliche Informationen erhalten, dass der Junge von einer Gruppe Zigeuner, die als Zirkuskünstler arbeiteten, über die Grenze nach Armenien geschmuggelt worden sei, und sie würden wahrscheinlich noch zwei weitere Wochen im Ausland bleiben (ein Scheck, ausgestellt auf das Unthank-Heim für Ungeratene Kinder, sei bereits an die Adresse des Waisenhauses unterwegs). Die zweite Postkarte, die erst gestern eingetroffen war, hatten ihre Eltern aus der hintersten Ecke Russlands gesandt: ein Schwarz-Weiß-Foto eines in dickem, zerklüftetem Eis festgefrorenen Schiffs, auf dessen Rückseite in der ordentlichen Handschrift ihrer Mutter stand: »Grüße aus Archangelsk! Vergesst die Sache mit dem armenischen Zirkus, das war eine falsche Spur. Die gute Nachricht: Ein amerikanischer Junge wurde hier in der Nähe gesehen, auf einer Insel vor der Nordküste. Fast am Polarkreis! Brrr. Wir sind in zwei Wochen zurück, versprochen! Scheck ist auf dem Weg zu Mr. Unthank. Sagt ihm, dass uns die Verzögerung leidtut.« Rachel bewahrte beide Karten in der Tasche ihres Pullovers auf.

Elsie wechselte geschickt das Thema. »Weißt du, dass Rachel heute Geburtstag hat?«

»Wirklich?« Carls Augen leuchteten auf. »Im Ernst?«

Rachel brummelte zustimmend.

»Neunter Mai«, sagte Elsie. »Neunzehnhundert…«

»…achtundneunzig«, fiel Rachel ihr ins Wort. »Genau.«

»Dann müssen wir eine Party feiern oder so«, sagte Carl.

»Schon okay«, sagte Rachel.

»Nein, wirklich«, fuhr der Junge fort. »Wenn Michael zurückkommt, müssen wir irgendwas Besonderes machen.«

»Zum Beispiel?«, fragte Rachel. »Kekse backen? Oder den Korken von einer Flasche Rattenpipisekt knallen lassen?«

Elsie warf ihrer Schwester einen bösen Blick zu. »Hör auf, Rachel. Er will doch nur nett sein.«

»Wie du willst, du Griesgram«, sagte Carl unbeeindruckt. Er schaufelte sich weiter Brei in den Mund.

Es stimmte: Eine Feier in ihrem neuen Zuhause müsste ziemlich armselig ausfallen. In den zwei Monaten, die sie nun dort wohnten, hatten einige der Waisen Geburtstag gehabt, und bis auf Glückwünsche von ihren Kameraden und eine zusätzliche Ration Brot zum Abendessen war kein Aufhebens gemacht worden. Alles darüber hinaus wurde als Verschwendung betrachtet. Und so behielten die meisten Kinder ihren Geburtstag für sich, um ihre trostlosen Lebensbedingungen nicht noch zu betonen, wo sie doch gerade alle wieder auf die Beine zu kommen versuchten. Sie vertrauten noch immer auf Martha Songs klare Vision für ihre Zukunft: Sie würden hier ihre eigene geschützte Welt aufbauen, die weder den Einschränkungen der Peripherie unterlag, ihrem vorherigen Gefängnis innerhalb der Grenzen der Undurchdringlichen Wildnis, noch denen der Erwachsenenwelt, die jenseits der Industriewüste lauerte wie missbilligende Eltern. Hier konnten sie frei leben. Das mit der Freiheit klappte bisher ganz gut, doch das Leben erwies sich als ziemlich schwierig.

Die Verpflegung war knapp. Jeden Tag brach ein Plündertrupp in die bewohnten Gebiete der Industriewüste auf und wühlte angeknabberte Äpfel und belegte Brote aus Müllcontainern und Abfalleimern. Die Schauermänner, diese Hünen mit den rotbraunen Mützen, die die Silos und Lagerhäuser des Industriegebiets bevölkerten, versammelten sich beim Heulen der Pausensirene zum Mittagessen auf den Treppen vor den Fabriken, und was immer sie zurückließen, war Beute für die Waisen. Wenn man anspruchslos war, konnte man sich damit durchschlagen.

Ein weiteres Problem war die Sicherheit, denn sie mussten nicht nur den gelegentlich auftauchenden Schauermannpatrouillen aus dem Weg gehen, die noch immer verbittert wegen der Abreibung waren, die sie während des Aufstands im Unthank-Heim kassiert hatten, sondern ihr Leben und ihre Nahrungsmittelvorräte wurden auch von Rudeln wilder Hunde bedroht, die diese Gegend der Industriewüste heimsuchten. Daher die nächtliche Wache auf dem Aussichtspunkt im ausgebombten Treppenhaus des Lagerhauses. Sie wechselten sich in Schichten ab und hatten ein einfaches System eingeführt: Ein Pfiff bedeutete Schauermänner. Zwei Pfiffe hieß Hunde. Wenn Schauermänner auftauchten, wurde schnell ein Trupp ausgeschickt, um die Patrouille vom Lagerhaus wegzulocken. Wenn zwei Pfiffe ertönten, mussten sie sich einigeln, alle Türen sichern und abwarten, bis die marodierenden Hunde sich einen anderen Ort suchten, an dem sie Angst und Schrecken verbreiten konnten. Die rostige Machete, die die Kinder Excalibur getauft hatten, hatte mehr symbolischen Wert: Sie machte ihnen Mut, wenn auch die Vorstellung, sie wirklich einzusetzen, etwas beängstigend für die Kinder war. Doch mit jedem drohenden Angriff, mit jeder Übung wurden sie stolzer auf das Zuhause, das sie da verteidigten. Das Zuhause, das Martha Song sich erträumt hatte. Nur, dass Martha nicht dabei war.

Diese Sache ließ Elsie keine Ruhe: Zwei Mitglieder ihrer Familie, Martha und Carol Grod, befanden sich noch immer in der Gewalt der Schauermänner. Sie waren beim Waisenhausaufstand gefangen genommen worden, und alle rätselten seither über ihren Aufenthaltsort. Für Rachel war diese Angelegenheit sogar noch wichtiger geworden; jedes Mal, wenn sie das Gefühl hatte, die übrigen Kinder hätten sich zu sehr an ihre neue Lage gewöhnt, musste sie sie daran erinnern.

Und deshalb war Rachel, als die abendliche Versammlung offiziell eröffnet wurde, angriffslustig. Michael, der die Machete hielt, bat um Ruhe: Dreiundsiebzig Kinder im Alter von acht bis achtzehn Jahren, die um das Feuer in der Blechtonne saßen, wurden still. »Unadoptierbare«, sagte er. »Versammelt euch.« Obwohl die meisten Kinder nie zu Unadoptierbaren erklärt worden waren, hatten sie diesen Titel angenommen, als Zeichen der Solidarität mit jenen, die von Joffrey Unthank losgeschickt worden waren, um in der Peripherie zu vermodern.

»Zuerst«, sagte Michael, »sollten wir alle einem Mitglied unserer Familie zum Geburtstag gratulieren. Rachel Mehlberg wird heute – wie alt – fünfzehn?«

Die Menge murmelte Glückwünsche.

Sofort ergriff Rachel die Gelegenheit. »Danke. Also, was ist mit Martha und Carol?«

Michael lächelte schwach. »Dazu kommen wir später.«

»Wann?«, rief Rachel herausfordernd. »Seit zwei Monaten heißt es jetzt schon ›später‹.«

»Na ja, das dauert eben …«

»Es hat lange genug gedauert. Wir sitzen hier wie ein Haufen, ach, was weiß ich, was, während diese Holzköpfe mit unseren Freunden – unseren Geschwistern! – keine Ahnung was anstellen. Ich finde, es ist ziemlich einfach: Wir sollten–« Sie wurde von Michael, der die Machete Excalibur schwenkte, unterbrochen.

»Ich habe das Schwert«, sagte er. »Also bist du nicht dran.«

»Genau genommen ist es kein Schwert«, sagte einer der Jungen zu Michaels Füßen. »Es ist eher eine Machete.«

»Ist doch egal«, entgegnete Michael. »Wer sie in der Hand hält, hat das Wort.«

Das sorgte für Ruhe im Raum. Michael räusperte sich und fuhr fort.

»Glaubt mir, Carol und Martha sind mir wirklich wichtig. Martha war eine gute Freundin. Sie war eine der Ersten, die ich im Unthank-Heim kennengelernt habe.« An dieser Stelle wandte er sich an Rachel. »Denk dran, ich habe dich Carol vorgestellt, Rachel.« Er machte eine Pause und ließ die Totenstille im Raum auf sich wirken. »Man könnte sogar sagen, dass wir jetzt nicht in dieser Lage wären, wenn es nach mir gegangen wäre. Wir wären alle zufrieden und sicher in dem Häuschen in der Peripherie.«

»Und ich hätte nicht Geburtstag«, warf Rachel ein. Einige andere Kinder nickten weise. In der Peripherie, der schützenden Grenze um die Undurchdringliche Wildnis, stand die Zeit buchstäblich still, und keines der Kinder war gealtert, während sie dort lebten. Das war damals Marthas Argument für den Aufbruch gewesen: Scharfsinnig hatte sie die Vorteile des Nichtalterns infrage gestellt.

»Wir leben uns immer noch ein«, sagte Michael, ohne Rachels Entgegnung zu beachten. »Es wird eine Weile dauern. Sobald wir stark genug sind, handeln wir.«

»Wir sind jetzt schon stark«, sagte Rachel. »Und wir haben lange genug gewartet.«

Michael wollte sie unterbrechen, wollte darauf beharren, dass er immer noch die Machete hatte, doch der Rest der Versammlung unterstützte Rachel lautstark: »Gib ihr Excalibur!«, »Lass sie mal!«, »Sie soll auch was sagen dürfen!« Mit widerwilligem Gesichtsausdruck ging Michael zu Rachel und reichte ihr die Machete.

Elsie beobachtete, wie ihre Schwester die Machete nahm, sie in der Hand wog und nach vorn ging. Menschen veränderten sich langsam und schrittweise, überlegte Elsie. Doch seit sie die Peripherie verlassen hatten und sich gezeigt hatte, dass die Mehlberg-Schwestern problemlos die Grenze passieren konnten, war Rachel ein neuer, ein stärkerer Mensch geworden. Verschwunden war das Mädchen, das mit vor der Brust verschränkten Armen dasaß, sich hinter den langen glatten Haaren versteckte und das Kinn in das fadenscheinige schwarze T-Shirt bohrte. Dass Rachel heute Geburtstag hatte, unterstrich nur, dass ihre Schwester gerade eine riesige Verwandlung durchlebte, die Elsie kaum fassen konnte.

»Also, passt auf«, sagte Rachel, als sie vor die Versammlung trat. »Wir haben hier was Gutes geschaffen, wir haben ein System aufgebaut. Aber meiner Meinung nach lassen wir Martha und Carol im Stich, wenn wir noch länger warten. Die Schauermänner halten sie gefangen. Wer weiß, was sie gerade mit ihnen machen. Wir sind es den beiden schuldig, alles zu geben, um sie aufzuspüren und zu retten. Es ist ja total einfach. Wir sind jetzt seit zwei Monaten hier. Wir können uns nicht leisten, noch zwei Monate rumzusitzen.«

Einige der Kinder nickten. Michael stand mit den Händen in den Taschen da und beobachtete abwechselnd Rachel und ihr Publikum.

»Ich finde, wir sollten abstimmen. Wer ist dafür, jetzt gleich einen Suchtrupp loszuschicken? Hm? Schluss mit der Warterei.« Rachel hatte beim Sprechen den Kopf hoch erhoben und hielt die Machete so entspannt in der Hand, als wäre sie damit zur Welt gekommen.

Elsie wollte gerade den Arm heben, um dafür zu stimmen – sie hatte das Gefühl, die Mehrheit auf ihrer Seite zu haben –, als der Alarm ertönte: ein einzelner durchdringender Pfiff vom Ausguck. Er kam eindeutig von Cynthia Schmidt, die eine geübte Pfeiferin war, und klang wie der Ruf eines Zaunkönigs. Plötzlich erstarrte der Raum unter einer fast greifbaren Furcht.

Die Schauermänner kamen.

VIER

Die Spirale im Wald ·Ein Finger auf einem Spiegel

Sie waren seit Tagen unterwegs, über Bergpässe, die noch verschneit waren, und durch zerklüftete Täler, wo an den unerreichbarsten Stellen Bäume wuchsen. Sie schritten über Abhänge und durchquerten weite Äcker, auf denen die Kinder der Bauern ihre Feldarbeit im Stich ließen und der kleinen, doch sofort erkennbaren Prozession entgegenliefen. Es waren vier Wanderer: zwei Menschen, ein Fuchs und ein Kojote. Einer der Menschen war eine Frau mittleren Alters, der andere ein Junge von vielleicht zehn Jahren. Sie alle waren Mystiker aus dem Nordwald und trugen die gleichen Gewänder aus Sackleinen. Sie befanden sich auf einer Reise, die sie mitten ins Herz von Wildwald führte.

Der Kleinste, der Junge, hielt ein buntes Fähnchen in der Hand.

Beim Gehen sprachen sie nicht, sondern verbrachten die langen Zeiträume lieber in Meditation, nahmen die unterschiedlichen Sprachen der Pflanzen und Bäume um sich herum auf. Das war ihre Gabe: sich mit der stummen Flora des Waldes verständigen zu können. Diese unfassbare Fähigkeit trugen sie mit Ernst und Würde, nutzten sie nicht wie einen aufsehenerregenden Zaubertrick, sondern auf eine zurückhaltende und umsichtige Art, sodass ihre Beziehung zu den Pflanzen als Vorbild für die Bürger des Waldes dienen, sodass sie alle in perfekter Harmonie mit der organischen Welt um sich herum leben konnten. Aus diesem Grund verehrten die Bewohner von Nordwald sie.

Am Fuße der Berge veränderte sich ihre Umgebung unvermittelt. Fort waren die kleinen Hütten und die Bauernhöfe und Gasthäuser. Stattdessen wurde das Grün am Rande der einzigen, kurvigen Straße dichter, der Bewuchs wilder, der auf dem unebenen Gelände um die Vorherrschaft kämpfte. Selbst die Sprache der Pflanzen wandelte sich, sie wurde uneinheitlich und vereinzelt, ein Rauschen von unverständlichem Geschrei, das auf die stillen Gemüter der Mystiker einprasselte. Sie mussten häufiger Pause machen, denn die Last der streitlustigen Stimmen des Waldes zu tragen, war Bürde genug.

Immer brachen sie früh auf und wanderten den ganzen Tag. Am letzten Morgen ihrer Reise setzte sich der Junge auf den rissigen Stumpf einer umgestürzten Tanne und starrte ins Leere. Die ältere Frau kam zu ihm und legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter.

»Nicht mehr lange«, sagte sie. »Wir sind nicht weit entfernt.«

Er schenkte ihr ein mattes Lächeln. »Ich kann es spüren. Aber da ist noch etwas anderes.«

Neugierig musterte ihn die Frau. »Was denn?«

»Das weiß ich nicht«, sagte der Junge. Mit dem Finger zeichnete er langsam eine Spirale auf die Maserung des Baumstumpfs. »Ich habe geträumt.«

»Vom Baum?«

Der Junge räusperte sich, der Finger zog weiter sein Muster. »Nein. Ich kann es nicht sagen. Ich kann es nicht richtig sehen.«

Mittlerweile waren die anderen beiden Mystiker aufgestanden und bauten ihre Zelte ab. Die frühe Morgensonne brach durch die Baumkronen, und ein Dunst hatte sich auf die unteren Äste gelegt. Der Finger des Jungen hatte endlich das Zentrum der Spirale erreicht, die er gemalt hatte, und verharrte dort. Er blickte auf seine Fingerspitze hinab und beobachtete sie, wie man eine reglose Spinne in der Mitte eines kunstvollen Netzes betrachtete.

»Gehen wir«, sagte er.

Wortlos folgten ihm die anderen drei. Niemals hätten sie seine Führerschaft angezweifelt, auch wenn noch nie zuvor jemand wie er zum Ältesten Mystiker bestimmt worden war, einer Position, die einst tatsächlich dem jeweils Ältesten vorbehalten gewesen war. Doch nach dem Tod seiner Vorgängerin Iphigenia wählte der Baum zur Überraschung aller diesen Jungen aus, einen Jährling.

Seit die Geschichtsbücher geführt wurden, war nie anderes berichtet worden, als dass der oder die Älteste diese höchste Verantwortung übernahm. Diese Veränderung nun genügte, um Verwirrung selbst unter den Weisesten und Gelehrtesten der Mystiker zu stiften. Doch, wie aus der Lehre des Baumes klar hervorging, alles war im Fluss; nichts war fest bestimmt oder für immer. Veränderung war die einzige Gewissheit im Leben.

Vielleicht, so die Schlussfolgerung der Mystiker, bezog sich der Titel »Ältester« weniger auf das körperliche als auf das geistige Alter. Und so wurde der Junge vom Jährling zum Ältesten Mystiker erhoben, und er selbst wirkte weder überrascht noch geschmeichelt durch seine Wahl. Er schien der Aufgabe gewachsen.

Und dies war sein erster Auftrag: die Pilgerreise zum Beinhaus-Baum, tief in Wildwald, wo gefährliche Tiere frei herumliefen und der arglose Wanderer leichte Beute für Räuber war. Um dort zum Gedenken an die verstorbene Älteste Mystikerin Iphigenia ein Fähnchen an einen Zweig zu hängen. Da diese Reise nur anlässlich des Todes eines Ältesten unternommen wurde, war jede Generation von Schülern und Mystikern gezwungen, sie aus den Schriften der Ahnen und deren Anleitung durch die Bäume neu zu erforschen. Der Langen Straße konnten sie nur eine Zeit lang folgen, irgendwann mussten sie davon abzweigen und mitten durch Wildwald wandern.

Hier gab es keine Straßen, keine Wege. Hin und wieder stießen sie auf einen Wildwechsel, doch oft entschieden sie sich stattdessen, sich von den Bäumen und den Pflanzen führen zu lassen und sich vorsichtig durch das Labyrinth von Ästen und Dornenzweigen, das der Wald schuf, zu schlängeln.

Nun, am achten Tag ihrer Wallfahrt, erreichten sie ihr Ziel auf einer weiten Lichtung hinter einem dichten Ring von Brombeersträuchern. In der Mitte dieser Lichtung stand der Beinhaus-Baum.

Dieser Baum, einer der drei großen Bäume des Waldes, war weder lebendig noch tot. Er schien in einem Zwischenzustand zu schweben, er hatte kein Laub, doch die Rinde war von einem tiefen, gesunden Braun, und die Zweige strebten himmelwärts, und er war um mehrere Längen höher als jeder andere Baum in seiner Nähe. An die Enden seiner knorrigen Äste waren kleine bunte Fähnchen gebunden; jedes davon in Gedenken an einen der früheren Ältesten Mystiker. Manche dieser Stoffstückchen waren Jahrhunderte alt, und trotz der harschen Witterung blieben sie dabei unversehrt wie am ersten Tag. Mit der Zeit waren sie zum Laub des Beinhaus-Baumes geworden und wurden von seinem Leben durchdrungen.

Schweigend stellten die vier Mystiker ihre Taschen ab. Sie setzten sich einen Moment lang unter den Baum, bestaunten seine Höhe und schüttelten einander freundlich die Hände zur Feier einer gelungenen Reise. Die Sonne schien nun, es war deutlich erkennbar, dass diese Jahreszeit gerade in die nächste überging, und der Mai fühlte sich frisch und lebendig an.