Windgejammer - Roxane Bicker - E-Book

Windgejammer E-Book

Roxane Bicker

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Beschreibung

Die Nordseeinsel Medderoog bereitet sich auf den Höhepunkt des Jahres vor: das Windjammerfestival. Mittendrin Phillipa Berger, auf die Insel versetzte Großstadtpolizistin. Weil 5000 Gäste erwartet werden, bekommt die Polizeistation Verstärkung vom Festland, darunter zu ihrem Leidwesen ein ehemaliger Kollege. Während Spannungen Phils Beziehung zu ihrer Frau, der Sirene Harpo, überschatten und immer mehr Besucher die Insel überschwemmen, geschieht ein Mord …

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Ähnliche


 

HYBRID VERLAG

Vollständige elektronische Ausgabe

11/2022

 

Windgejammer – Gezeitenwechsel II

 

© by Roxane Bicker

© by Hybrid Verlag

Westring 1

66424 Homburg

 

Umschlaggestaltung: © 2022 by Juliane Buser – Grafikdesign(www.jb-grafikdesign.de)

Lektorat: Matthias Schlicke

Korrektorat: Petra Schütze

Buchsatz: Lena Widmann

Autorenfoto: Jens Bicker

 

Coverbild ›Die Herren des Schakals‹

@ 2020 by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Eiskalter Tod‹

@ 2020 by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Richter und die Schande der Familie‹

@ 2020 by Creativ Work Design, Homburg

 

ISBN 978-3-96741-167-6

 

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

 

Inhaltswarnungen / Content Notes zum Buch finden sich aufder Homepage www.roxanebicker.com

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

Printed in Germany

 

 

Roxane Bicker

 

 

 

WINDGEJAMMER

 

Gezeitenwechsel 2

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kriminalroman

 

Hinaus an den Strand will ich gehen,

Wenn keiner wacht

Das wilde Meer zu sehen

Und die heilige Nacht.

 

Und wieder faßt mich das alte Weh –

 

Am Strand tanzt ein Boot.

Das lockt mich hinaus in die tosende See,

Fort, fort für immer von Haß und Not,

In die See, in die Nacht, in das Glück, in den Tod.

 

Ich löse das Tau

Und die Freiheit lacht

Hinter Nebel und Grau.

Und ich fahre jubelnd hinaus in die Nacht,

Das Elend fliehend zu Tod und Glück.

 

Einmal nur blick ich zurück.

Da winkt am Land

Eine Freundeshand –

 

Und wie ich das seh,

Da hab ich vergessen all Haß und Not.

Es faßt mich wieder das alte Weh.

Ich wende das Boot

Zurück zum Land

Und küsse die treue Freundeshand.

 

Joachim Ringelnatz

 

PROLOG

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13.Kapitel

14. Kapitel

15.Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

EPILOG

Danksagung

Roxane Bicker

Hybrid Verlag

PROLOG

 

Sie legte auf und verharrte einen Moment unbeweglich. Er hatte ein lebendiges Exemplar gefunden. Langsam und bewusst atmete sie ein und aus. Wollte sie sich diesen kleinen Moment des Triumphes gönnen? Nein, lieber blieb sie zurückhaltend. Nach all der Zeit.

Bei Doktor Albrecht von Dinslack handelte es sich nicht um den zuverlässigsten Zeitgenossen. Ob sie ihm wirklich vertrauen konnte? Wieder machten sich Zweifel in ihr breit. Wieder verlosch der kleine Funke Hoffnung. Sie ließ es geschehen, ohne Mühe darauf zu verwenden, ihn am Glimmen zu halten.

Eine Träne rann ihr über die Wange und sie fing sie vorsichtig mit der Fingerspitze auf. Einen kurzen Moment hielt sie den funkelnden Tropfen, dann ließ sie ihn auf den menschlichen Zehenknochen fallen, der schon seit so langer Zeit auf ihrem Schreibtisch lag. Die Träne traf den Knochen und er begann sich zu wandeln. Es schien, als würde eine Welle schimmernden Lichts über ihn laufen, dann wurde er zu einem Schwanzendknochen.

Sie pustete darüber und als die Träne getrocknet war, verwandelte er sich zurück. Selbst nach all dieser Zeit beeindruckte sie diese Wandlung wie an jenem Tag, als der Knochen in der anatomischen Sammlung des Institutes in ihre Hände gefallen war. Wie sie sich geärgert hatte über diese Strafarbeit, die alten Knochen zu systematisieren und zu ordnen. Wie ihr, vor Wut und Zorn heulend, Tränen auf die Finger tropften und sie dann diesen kleinen Knochen nahm. Wie er sich in ihrer Hand verwandelte und so den Weg ihres Lebens festlegte. Noch immer wunderte es sie. Und wenn Dinslack jetzt wirklich ein lebendes Exemplar gefunden hatte, wenn sie die Wandlung am vollständigen Körper untersuchen konnte, dann …

Frau Prof. Dr. Sevasti Karakis, Leiterin des Instituts für Biomedizin, trat zum Fenster und sah auf die Stadt hinunter. Vielleicht würde sie das Institut einige Zeit verlassen müssen. Vielleicht sollte sie sich selbst um diese Angelegenheit kümmern.

Der Funke Hoffnung in ihrer Brust entzündete sich wieder und diesmal erstickte sie ihn nicht. Dieses Mal nährte sie ihn, bis er sich zu einer beständigen kleinen Flamme entwickelte.

 

1. Kapitel

 

»Und hiermit erkläre ich Sie zu … ähm.« Der Standesbeamte zögerte. Verunsicherung huschte über sein Gesicht. Seine Stimme wurde immer leiser. »Ähm. Zu Frau und … Frau?«

Phillipa musste grinsen, als sie neben sich zu Harpo schaute. Die erste gleichgeschlechtliche Heirat Medderoogs schien den guten Mann etwas zu überfordern. Aber was konnte man von einer kleinen Nordseeinsel mitten im Nirgendwo schon anderes erwarten? Sie blickte auf ihre verschlungenen Finger hinunter, auf die beiden schmalen Silberreifen, für die sie sich entschieden hatten, und hörte im Hintergrund ihre Mutter leise schnüffeln.

»Sie dürfen die Braut jetzt … ähm.« Der Mann räusperte sich und holte vernehmlich Luft. »Die Bräute dürfen sich jetzt küssen.« Sein gemurmeltes Meine Güte! ging im ergriffenen Schluchzen von Monika Berger fast unter. Harpo lächelte nachsichtig. Als sich ihre Lippen trafen, machte Phils Herz in ihrer Brust einen kleinen Sprung.

Eine ereignisreiche Zeit lag hinter ihnen. Noch vor einem Monat hätte sie es sich nicht träumen lassen, nur wenige Wochen später verheiratet zu sein. Mit einer Meerjungfrau.

Sirene, schalt sich Phil. Sie ist keine Meerjungfrau, sondern eine Sirene.

Noch vor einem Monat hätte sie sich auch nicht träumen lassen, dass es so etwas wie Sirenen überhaupt gab. Zögernd nur löste sich Phil aus dem Kuss und drückte noch kurz Harpos Hand, denn sie wusste, was sie gleich erwartete. Sie hörte bereits das Scharren des Stuhles hinter sich. Und kaum, dass sie sich umdrehte, fiel ihr schon ihre Mutter um den Hals. »Phillipa, mein Schatz!«

Sie zog Harpo in die Umarmung hinein und drückte ihr einen feuchten Kuss auf die Wange. »Liebste Harpo! Herzlichen Glückwunsch, ihr beiden! Ich wünsche euch nur das Allerbeste und viele glückliche gemeinsame Jahre! Ich hoffe, ihr stellt euch besser an als dein Vater und ich.« Sie gluckste, ließ die beiden Frauen los und tupfte sich vorsichtig die Augen sauber, um die Schminke nicht zu verwischen. »Aber Kind, du hättest dir schon etwas Hübscheres für diesen Anlass anziehen können.« Mit kritischem Blick musterte sie Phils Jeans und T-Shirt, über das sie sich immerhin noch einen Blazer geworfen hatte.

»Mam, es ist nur ein Termin beim Standesamt.«

»Nur. Nur! Kind, du hättest doch … nein, darüber sprechen wir später noch.«

Phil spürte, dass sich ihr Magen zusammenzog und atmete langsam ein und aus. Sie hatte schon zu viele dieser Predigten über sich ergehen lassen müssen. Unbeirrt fuhr ihre Mutter fort: »Es ist zu schade, dass es dein Vater nicht hierher geschafft hat. Na, andererseits ist es vielleicht auch besser so. Es ist ja schließlich euer Tag, nicht wahr? Und wo sind deine Eltern, meine Liebe?« Sie tätschelte Harpos Wange. »War es für sie auch zu knapp?«

Harpo nahm Monikas Hand von ihrer Wange und trat einen Schritt zurück. Außer Reichweite. »Meine Eltern sind vor langer Zeit gestorben.«

»Oh nein, meine Liebe. Das tut mir so leid.« Monika Berger schloss einen Schritt auf und Phil streckte schon die Hand aus, um sie zurückzuhalten, da tauchte Ahrends neben ihr auf. Wie ein rettender Engel in der Not. Die Polizei, dein Freund und Helfer.

»Phillipa, Harpo, meinen herzlichen Glückwunsch. Sie müssen Phillipas Mutter sein. Sören Ahrends, Polizeichef auf Medderoog. Freut mich sehr, Sie kennenzulernen.« Er schüttelte erst Phil, dann Harpo und schließlich Monika die Hand, bevor er den Arm um Harpo legte. »Ich bräuchte dich einen Moment.« Er begleitete sie nach draußen in den Eingangsbereich des kleinen Rathauses. Auf Medderoog lebten nur gut 1000 Menschen.

Und eine Sirene.

Entsprechend klein war die Verwaltung des Dorfes.

 

Eine interessante Beziehung hatte sich da in den letzten Wochen zwischen Phillipas Chef Sören Ahrends und Harpo entwickelt. Formal gesehen war Harpo die Schwester von Ahrends Mutter Dorothea und damit seine Tante. Wobei: Wie steht es um die wirkliche Blutsverwandtschaft der Sirenen einer … Herde, Schwarm — vielleicht besser Sippe, Gruppe, Clan?

Phil wusste es nicht. Waren sie wirklich Schwestern? Oder wurden sie dazu? Wie auch immer, man konnte sie mit gewisser Berechtigung seine Tante nennen. Ahrends aber sah in Harpo mehr eine verlorene Tochter. Dabei war sie viel älter als er. Viel, viel älter. Wie viel genau, das hatte Phil noch nicht direkt zu fragen gewagt und auch Harpo ließ nichts Diesbezügliches verlauten. Aber wenn man bedachte, dass die Angelegenheit mit den Sirenen Ende der Sechziger stattgefunden hatte, dass die anderen, sterblich gewordenen Schwestern inzwischen alles alte Damen waren, dann musste Harpo über siebzig sein. Mindestens. Und sie sah nicht viel älter aus als Ende zwanzig. Vielmehr alterslos. Phil schauderte ein wenig, wenn sie darüber nachdachte und so schob sie den Gedanken, wie jedes Mal, weit von sich. Es gab so vieles, was sie nicht über Harpo wusste. Was sie nicht über ihre Frau wusste.

 

Phil folgte Harpo und Ahrends langsam. Sie wusste sehr genau, was er mit ihr bereden wollte. Nämlich den eigentlichen Grund für diese Hochzeit. Doch davon musste ihre Mutter nichts wissen, deshalb hielt sie Monika auf Abstand zwischen den beiden. Und hoffte, dass sie beide das darüber müssen wir reden möglichst schnell hinter sich bringen könnten. Sie täuschte sich nicht, denn Monika Berger war nie eine geduldige Person gewesen. Sie hielt Phil am Arm zurück, bevor sie den Raum verlassen konnte.

»Meine liebe Phillipa, du weißt sehr genau, dass dein Vater heute gerne dabei gewesen wäre. Und auch ich wäre sehr froh gewesen, wenn du mich etwas früher über diesen Termin informiert hättest. So war der Aufbruch doch etwas hektisch und es ist sehr schade, dass es noch nicht einmal eine Feier zu diesem Tag gibt. Du weißt, mit ein wenig Vorlauf … aber könntest du mir bitte erklären, warum es überhaupt so eine überstürzte Heirat sein musste, Schatz?« Sie stemmte die Hände in die Hüften und sah Phil herausfordernd an.

Ich werde mich nicht rechtfertigen. Ich werde mich nicht rechtfertigen. Phil wiederholte die Worte wie ein Mantra und hoffte, dass sie nicht in alte Muster zurückfiel.

»Es hatte seine Gründe.«

»Bist du etwa schwanger?«

»Mam …«

»Stimmt. Eine Gefahr, die bei euch nicht besteht. Warum dann die Eile? Warum hast du nicht früher Bescheid gesagt? Ich meine, ihr wisst das Ganze doch auch nicht erst seit vorgestern! Dein Vater …«

Oh, wenn du wüsstest, wie recht du hast.

Doch laut sagte sie nur: »Mam …«

»Ist sie etwa illegal hier? Sie sieht gar nicht so aus … Musstet ihr deswegen …?«

»Mam … stell keine Fragen, deren Antworten du nicht hören willst.«

Ihre Mutter packte Phil bei den Schultern und sah sie durchdringend an. »Was verschweigst du mir, Kind?«

Phil löste sich aus dem Griff ihrer Mutter und nahm deren Hände in ihre. »Sie ist eine Sirene, Mam. Das, was man so landläufig als Meerjungfrau bezeichnet. Du weißt schon, Fischschwanz und so. Sie ist die Letzte ihrer Sippe.«

Nicht ganz. Da gab es noch Ahrends’ Mutter, die sie neulich auf dem Festland besucht hatten und die Mutter von Lola, die zurzeit irgendwo in Süd-Amerika weilte. Aber beide hatten Wandlungsfähigkeit und Unsterblichkeit dank ihrer Männer und der Schwangerschaften verloren. Aber im Prinzip stimmte ihre Aussage.

Phils Mutter stutze einen Moment, dann lachte sie und tätschelte Phil die Wange. »Ich verstehe. Behaltet eure Geheimnisse, Mädchen.«

 

Im Eingangsbereich steckten Ahrends und Harpo die Köpfe zusammen. Sie schauten auf, als Phil und ihre Mutter herauskamen. Ahrends und Monika waren in der Tat die einzigen Gäste bei ihrer Trauung gewesen. Einen kurzen Moment hatte Phil überlegt, auch ihrer Freundin Ruth Lawitzki Bescheid zu geben. Schließlich hatte die Gerichtsmedizinerin ihren Teil zur Aufklärung des Geheimnisses um das Skelett im Brombeerdickicht und die Medderooger Sirenen beigetragen. Doch Phil sah davon ab. Wahrscheinlich hätte Rudi zu viele Fragen gestellt und im Gegensatz zu Monika auch die richtigen Schlüsse gezogen.

Ihr Chef warf Phil einen bedeutungsvollen Blick zu, steuerte darauf ihre Mutter an und dirigierte sie sanft, aber energisch nach draußen.

»Eigentlich«, raunte er ihr im Vorbeigehen zu, »sind wir jetzt quitt, Phillipa. Doch für das jetzt schulden Sie mir wieder was.«

Laut sagte er zu Monika: »Und, haben Sie schon die Schönheiten unserer Insel kennengelernt, Frau Berger?«

Die Antwort ihrer Mutter hörte Phil nicht mehr, aber mit Sicherheit würde ihre Mutter sich auch bei Ahrends nochmal darüber beschweren, wie wenig sich ihre liebe Tochter um sie kümmere. Phil zog den Blazer aus und warf ihn über die Schulter. Harpo hatte von dem kurzen Austausch nichts mitbekommen. Sie hielt eine kleine Plastikkarte in der Hand und drehte sie in den Fingern hin und her. Als Phil sie an der Schulter berührte, sah sie auf und ein verwunderter Ausdruck lag auf ihren Zügen.

»Ihr Menschen seid so seltsam. Ich verstehe euch nicht. Wieso brauche ich dieses Ding?«

»Das ist ein Personalausweis. Er macht dich zu einer Bürgerin Medderoogs. Damit bist du jetzt offiziell ein Mensch. Einer der Gründe, warum wir gerade geheiratet haben.« Phil grinste entschuldigend und strich Harpo über die Wange. »Damit du einen Nachnamen hast, Frau Berger.«

Sie linste an Harpos Fingern vorbei auf die Karte. »Harriet-Polina? Das ist nicht sein Ernst, oder?«

»Sören sagte, ich brauche einen richtigen Vornamen. Und das wäre das einzige, was ihm sinnvoll erschien.«

»Damit hat er nicht ganz unrecht. Harriet-Polina Berger. Wann ist dein Geburtstag?«

Harpo schaute auf die Karte, hielt sie dann Phil hin. »Lies du.«

»23. September 1988. Wie freundlich von Ahrends. Wir können in ein paar Tagen deinen dreißigsten Geburtstag feiern.«

Harpo schob den Ausweis in die Tasche und schloss Phil in die Arme. »Manchmal«, murmelte sie an Phils Schulter, »manchmal frage ich mich, ob ich das alles kann. Ob dieses Leben nicht zu viel für mich ist. Ob ich nicht einfach wieder zurück ins Meer gehen sollte. Schließlich habe ich so auch meine Zeit verbracht, seit mir meine Schwestern genommen wurden.«

Phil löste sich von Harpo und nahm ihr Gesicht in die Hände. »Das stimmt, du hast deine Zeit verbracht. Fast sechzig Jahre allein. Aber hast du auch gelebt? Damit hast du doch erst an dem Tag wieder begonnen, als Frau Anderson im Meer stand.«

»An dem Tag, als ich meine Schwestern wiedergefunden habe. Menschlich, gealtert. Tot und ermordet. Und hier bin ich nun und binde mich selbst an einen Menschen.«

»An einen Menschen, der dich liebt. An einen Menschen, der immer auf deiner Seite ist. Bitte vergiss das nie.« Phil nahm Harpos Hand, an die sie kurz zuvor erst den Ring gesteckt hatte. »Es mag zunächst nur ein bürokratischer Akt gewesen sein, aber ich hätte dich nie geheiratet, wenn ich dich nicht lieben würde, Harpo, und wenn ich nicht mein Leben mit dir würde teilen wollen.«

»Und ich meins mit dir, Phil. Das haben wir uns gerade versprochen.«

»Das haben wir. Und bevor wir beide hier noch sentimentaler werden, sollten wir Ahrends vor meiner Mutter retten.«

 

Am Nachmittag begleitete Phil ihre Mutter zurück zur Fähre.

»Es tut mir so leid, dass ich nicht länger hierbleiben kann, Phillipa. Dies ist wirklich ein bezauberndes Fleckchen Erde, auf das es dich verschlagen hat. Aber hier auf der Insel war kein Zimmer mehr zu bekommen und ich wollte nicht jeden Tag vom Festland herüber fahren, das verstehst du sicher.«

»Mam, es ist Nachsaison. Das hier ist eine Ferieninsel. Da sollte es doch wohl noch mehr als genug freie Unterkünfte geben.«

Im Stillen dankte Phil dem Schicksal, dem Zufall und allen himmlischen Mächten. Sie liebte ihre Mutter, die aber etwas anstrengend war, und gerade jetzt fühlte sie keine Kraft und auch keine Lust, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Nicht umsonst hatten sie den Hochzeitstermin auf diesen letzten Tag ihrer freien Zeit gelegt und auch erst sehr kurzfristig bekannt gegeben.

Reine Berechnung.

Phil ließ das Geplauder ihrer Mutter über sich ergehen, warf an den passenden Stellen ein »Ah«, »Hmhm« oder »Wirklich?« ein, doch sie nahm de facto nicht wahr, worüber sie sprach.

Die Fähre wartete bereits. Da ihre Mutter erst am Morgen angekommen war, mussten sie kein Gepäck verstauen, für die guten Sachen reichte eine Tragetasche, die sich Monika Berger nun über die Schulter legte, um beide Arme frei zu haben und ihre Tochter in selbige zu schließen.

»Das nächste Mal bleibe ich länger«, verkündete sie nicht zum ersten Mal an diesem Tag und Phil befürchtete, dass sie sich dem nicht würde entziehen können.

»Wir telefonieren«, fuhr Phils Mutter fort. »Ruf deinen Vater an, hörst du? Und auch dein Bruder würde sich über ein Lebenszeichen freuen.«

Diese Lebenszeichen tauschten Phil und ihr Bruder Julian regelmäßig aus — alle halbe Jahre schrieb einer von beiden ein »Alles okay?«, worauf die Gegenseite mit einem »Alles okay.« antwortete. Das war ihnen beiden Familie genug.

»Ja, Mam«, sagte Phil um des lieben Friedens willen. »Ich melde mich bei Papa und auch bei Jules.«

Zwei letzte Küsschen rechts und links, dann strebte Monika Berger schnellen Schrittes der Fähre zu.

Phil blieb auf dem freien Platz stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr rechter Daumen spielte mit dem ungewohnten Silberreif am Ringfinger. Sie blickte ihrer Mutter nach, bis diese im Inneren des Schiffes verschwand, ignorierte den Kollegen Drechsler, der schon die ganze Zeit versuchte, ihre Aufmerksamkeit zu erhaschen, um ein belangloses Gespräch zu beginnen. Davon hatte sie mit ihrer Mutter schon genug gehabt. Heute war ihr letzter freier Tag und den würde sie genießen. Mit Harpo.

 

2. Kapitel

 

Am nächsten Morgen begann der Alltag in ihrem Leben. Der Insel-Arzt Doktor Albrecht von Dinslack hatte Phil nach den Ereignissen rund um Harpos Entführung für drei Wochen krankgeschrieben. Ihre geprellte Schulter brauchte die Ruhe, um zu heilen, Harpo die Zeit, um gemeinsam mit Phil das Haus von Frau Anderson leerzuräumen. Dankenswerterweise kam nach vielen Wochen des Wartens endlich der Container mit Phils Möbeln vom Festland und so nutzten sie die Gelegenheit, um endlich Phils Haus einzurichten. Harpo raffte ihre wenigen Habseligkeiten zusammen und zog ein. Zwar hatte Lola, die Wirtin des Austernfischers, angeboten, dass Harpo bei ihr wohnen könnte — schließlich war auch sie die Tochter einer der Schwestern von Harpo — aber da bereits feststand, dass Harpo und Phil heiraten würden, machten sie gleich Nägel mit Köpfen.

Phil kam es wie ein zweiter Neuanfang vor, als sie sich an diesem Morgen von Harpo verabschiedete und auf ihren rostigen Drahtesel stieg, um zur örtlichen Polizeistation am anderen Ende des kleinen Dorfes zu radeln.

Medderoog war nicht groß, weder die Insel noch das gleichnamige Dorf. Mit dem Rad konnte man die Insel in wenigen Stunden umrunden, das Dorf besaß nur eine zentrale Straße, Häuser rechts und links, einen Fähranleger und einen Jachthafen am Ostende der Insel. Ferienhäuser in den Dünen und ein Campingplatz vervollständigten das Bild eines Urlaubsparadieses. Das war Phils Einsatzgebiet und das ihrer Kollegen, die die kleine Polizeistation bemannten. Und bemannten war das richtige Wort, denn sie war die einzige Frau und dann auch noch die, die man kürzlich erst vom Festland hierher versetzt hatte. Unfreiwillig, sollte man hinzufügen. Ein zweiter Anfang also.

 

Sie schloss die Tür hinter sich und blieb einen Moment im Flur der Polizeistation stehen. Phil schaute auf die Tür zum Büro von Ahrends. Hier hatte alles begonnen und sie jenes verhängnisvolle Gespräch zwischen ihm und Bürgermeister Petersen mit angehört, das all die folgenden Ereignisse in Gang gesetzt und ihr Leben auf den Kopf gestellt hatte. Was sie mit Harpo zusammenbrachte.

»Willst du noch lange da rumstehen, Phil? Ich hab dich gesehen.« Das Klackern der Tastatur im Büro verstummte einen Moment, als ihr Kollege Alexander Gordon in seiner Arbeit innehielt. »Aber wenn du schon da bist, bring doch gleich Wasser mit. Der Kaffee ist alle.«

Phil schüttelte nur stumm den Kopf, aber sie tat, wie ihr geheißen.

»Was macht die Schulter?«, fragte Alex, als sie sich ihm gegenüber niederließ und demonstrativ die Kaffeekanne über den Schreibtisch schob.

»Besser. Irgendwas Neues? Hab ich was verpasst?«

»Wenig. Aber das Beste kommt ja erst noch.« Alex stand auf und ging zur Kaffeemaschine, um neues Gebräu aufzusetzen.

Irgendwie hatte Phil es vermisst. Und ihn. Und diese dämliche kleine Station.

»Wie meinst du das?«

Sie scrollte durch ihre E-Mails, aber als von Alex keine Antwort kam, schaute sie über die Schulter zu ihm. Er starrte sie an.

»Du weißt es nicht.«

»Ich weiß was nicht?«

»Klar. Du warst die letzten drei Wochen nicht da. Aber dass es so an dir vorbeigegangen ist. Unglaublich. Hast du die Plakate nicht gesehen? Wo warst du die letzten drei Wochen?«

Mit Harpo im Bett. Oder im Wasser.

»Was, Alex? Nun sag schon.«

»Der alljährliche Ausnahmezustand. Das Windjammer- Festival.« Er sprach es englisch aus und so sah ihn Phil zunächst verwirrt an.

»Das was?«

Doch nicht Alex antwortete ihr, sondern Chef Ahrends, der unbemerkt hineingekommen war. »Das Windjammer-Festival. Der offizielle Abschluss der Urlaubs-Saison auf der Insel. Ein mehrtägiges Festival mit Musik und Kunst.«

Alex schaltete die Kaffeemaschine ein, die sanft anfing zu blubbern. »Kommenden Donnerstag bis Sonntag. Auf der ganzen Insel. Es kommen etwa fünftausend Besucher.«

Phil schaute zwischen den beiden Männern hin und her. »Ihr wollt mich verarschen, oder? Fünftausend? Wo sollen die denn bleiben? Wie kommen die her? Und wie haltet ihr sie in Schach?«

»Leider ist das unser voller Ernst, Phillipa.« Ahrends strich sich nachdenklich über das Kinn. »Es tut mir sehr leid, ich hätte Sie schon längst darüber informieren sollen, aber mit der Hochzeit und allem …«

»Hochzeit? Hab ich was verpasst?«

»Nebensache, Alex«, würgte Phil ihn ab. Es reichte, dass ihre Mutter zu viele Fragen stellte. Das musste sie nicht auch noch im Kollegenkreis breittreten. Es würde sich schnell genug herumsprechen. »Hätten Sie, Ahrends. Was erwartet uns also?«

»Konzerte, Performances, Theater überall auf der Insel verteilt. Im Wald, am Strand, im Dorf, an Leuchtturm und Hafen. Überall. Die ersten Aufbauarbeiten haben schon begonnen. Die Besucher werden vorwiegend auf den Campingplätzen unterkommen, aber ich versichere Ihnen, dass auch jedes Ferienhaus bis auf den letzten Platz besetzt ist.«

Und deswegen hat Mam kein Zimmer mehr bekommen. Klaro.

»Kommen Sie mal mit.« Ahrends deutete auf sein Büro und Phil folgte ihm.

Er schloss die Tür hinter ihnen und deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Sie können sich denken, dass wir es nicht alleine mit den Besuchermassen aufnehmen können. Natürlich stellt das Festival Ordner und Security, aber für die öffentliche Ordnung werden wir zuständig sein. Phillipa …« Ihr Chef ließ sich in seinen Stuhl fallen, der bedenklich knarzte. Er verschränkte die Hände unter dem Kinn. Als er ihr erneut bedeutete, sich ebenfalls zu setzen, schüttelte Phil nur stumm den Kopf und verschränkte die Hände auf dem Rücken. Sie befürchtete, dass sie wusste, was jetzt kam.

»Phillipa, wir werden Verstärkung vom Festland bekommen. Ich kann nicht ausschließen, dass sich vielleicht einer Ihrer ehemaligen Kollegen darunter befinden wird. Ich werde bis spätestens morgen die Einsatzliste bekommen.«

Phil spürte, wie sich ihr Magen zu einem kompakten Ball formte. Das einzig Gute an der Versetzung war, dass sie all den Fratzen nicht mehr ins Gesicht schauen musste. Sie hatte die Auseinandersetzung nicht gescheut, in das Wespennest aus Korruption und Verschleierung hineingestochen, die Untersuchung losgetreten. Und dann mit den Folgen leben müssen, war geschnitten und ausgegrenzt worden, bis man sie, ja, entfernt hatte.

Sie drehte sich um, wandte ihrem Chef den Rücken zu und vergrub für einen Moment das Gesicht in den Händen.

»Na toll«, sagte sie schließlich. »Da freue ich mich ja richtig, wenn ich einige der Sackratten wiedersehe. Was wird das für eine Party werden.«

»Phillipa«, mahnte Ahrends.

Ja, fuck, ich muss an meiner Sprache arbeiten.

»Versuchen Sie, das Ganze professionell anzugehen, ja? Ich weiß, dass Sie impulsiv sind. Nicht umsonst hat man Sie aus der Schusslinie gebracht.«

»Man hat mich kaltgestellt, damit ich nicht weiterhin in dem Scheißhaufen rumwühlen kann.«

»Phillipa, verteufeln Sie nicht gleich alles. Ich kenne keine Details des Vorfalls, ich will sie, glaube ich, auch gar nicht kennen. Aber bedenken Sie, dass wir alle ab und an etwas tun, was nicht richtig ist und nicht den Vorschriften entspricht. Ich nehme mich da nicht aus. Und Sie haben auch nicht widersprochen, als ich Harpo Papiere besorgt habe.«

Phil musste an sich halten, nicht mit den Zähnen zu knirschen. »Das ist etwas ganz anderes.«

Fuck, ist es nicht und das weißt du ganz genau. Er hat recht.

»Ist das so? Weil es Sie und Ihre Frau betrifft?« Er hob die Hände. »Ich will von Ihnen keine Antwort. Ich weiß, dass es da keine Antwort gibt, aber denken Sie einmal darüber nach.«

Ahrends schwieg. Auch Phil sagte nichts. Was konnte sie auch darauf erwidern. Er hatte recht. Und sie Bauchweh bei der ganzen Sache. War es nicht immer ihr höchstes Ziel gewesen, das Richtige zu tun?

Tja. Shit. Hat mich ja schon mal auf die Nase fallen lassen.

»Was tun wir jetzt?«

Seltsam, dass der Chef das fragt.

»Wir warten ab. Wir warten einfach ab.«

 

Die Tür öffnete sich und Alex schaute herein.

»Sorry, Chef, will nicht stören, aber die Fähre …?«

»Ist es schon wieder soweit?« Ahrends stand auf und warf Phil noch einen letzten Blick zu, den sie nicht zu deuten wusste. »Ab mit Ihnen, Phil. Könnte sein, dass auch dieses Schiff schon voller als gewöhnlich ist. Aber wenn diese letzten anderthalb Wochen überstanden sind, dann können Sie sich auf einen ruhigen Herbst und Winter freuen.«

»Kann ich das, ja?«

Ich bezweifele das sehr.

Sie folgte Alex nach draußen, sie schwangen sich auf ihre Diensträder und fuhren hinunter zum Hafen. Medderoog hielt sich so gut wie autofrei. Natürlich nannten sie einen Streifenwagen ihr eigen, auch der Inselarzt besaß ein Auto. Der Lieferverkehr vom Festland geschah mit LKW — doch die Einheimischen bekamen nur auf besonderen Antrag ein Auto zugesprochen, Touristen durften ihre Fahrzeuge gar nicht mit auf die Insel nehmen. So bewegte sich auch die Polizei größtenteils mit dem Fahrrad.

Bis zum Fähranleger brauchten sie nur wenige Minuten, wie alle Entfernungen hier relativ waren. Dreimal am Tag kam das Schiff und brachte Menschen auf die Insel oder wieder fort.

So wie sie im Frühsommer. So lange schien es Phil noch gar nicht her und doch lag schon fast ein ganzes Leben dazwischen. Einer aber fehlte. Henk Oschkau. Henk, dessen Mutter auch eine der Sirenen gewesen war. Das Skelett, auf das Mara Wellrich im Brombeerdickicht stieß. Das Skelett, das Ahrends und Petersen am liebsten unter den Teppich gekehrt hätten, wäre Phil nicht aufmerksam geworden und der Sache nachgegangen. Aus eigenem Interesse hatte Henk versucht, sie einzuschüchtern und mundtot zu machen, schließlich in seiner Verzweiflung Harpo entführt und dafür letztendlich mit dem Leben bezahlt.

Wie bei so vielen Dingen hatte sich Ahrends auf unkonventionelle Weise um Henks Verschwinden gekümmert. Die Angelegenheit war für ihn damit erledigt.

Sie kamen recht knapp an, sodass das Fährschiff bereits die Spitze der Insel umrundete. Alex drängte sich durch die Absperrung, stellte sich zu den Reederei-Angestellten, tauschte sich mit ihnen über das Wetter oder die letzten Neuigkeiten aus. Smalltalk, den er perfekt beherrschte.

Phil angelte sich eine Zigarette aus der Hemdtasche und zündete sie an. Vielleicht sollte sie auch in das Gespräch mit einsteigen? Bisher war sie auf der Insel ein Fremdkörper geblieben, hatte sich immer von allen ferngehalten und diese Episode hier in Medderoog nur als etwas Vorübergehendes angesehen. Das war nun anders. Harpo war hier. Und so würde wohl auch sie selbst dauerhaft hierbleiben. Die Begegnung mit Harpo hatte sie zum Teil dieser Insel gemacht, ob sie es wollte oder nicht.

Shit, dachte Phil, ich kenne noch nicht einmal ihre Namen. Ich weiß nichts von ihnen. Wie soll ich denn da ein Gespräch führen?

Vorsichtig trat sie näher heran und erntete dafür einen erstaunten Blick von Alex. Phil zuckte nur mit den Schultern und lauschte, vielleicht ergab sich ja die Gelegenheit, etwas einzuwerfen.

 

 

 

3. Kapitel

 

Als sich das große Schiff dem Anleger näherte, sah Phil ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet — es war brechend voll.

»Und das ist noch nichts im Vergleich zu den kommenden Tagen.« Alex stützte sich neben sie auf den Metallzaun und grinste. »Die Reederei wird zusätzliche Schiffe einsetzen.«

Sie seufzte. »Kann ich nicht einfach für die Tage von der Insel verschwinden? Ich glaub, ich hab noch ganz dringend was auf dem Festland zu erledigen.«

»Urlaubssperre.«

»Fuck.«

Phil war nur noch mit halbem Kopf bei ihrem Austausch, denn unter den sich an der Reling drängelnden Passagieren vermeinte sie, ein bekanntes Gesicht ausgemacht zu haben. Wobei, es war nicht das Gesicht, das ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, sondern der Schopf grellpinker Haare darüber. Aber das konnte nicht sein. Oder konnte es doch?

Alex hob die Hand und auch die pinke Person an Bord begann zu winken. Ihr Kollege wandte sich zu Phil und sie sah ihn entgeistert an.

»Ist das …?«

»Jepp. Deine Freundin Ruth. Was meinst du, warum ich so gedrängt hab, dass wir pünktlich zum Schiff kommen?«

»Aber, ich, wie?«

»Wir haben getextet. Kamen auf das Festival zu sprechen. Dachten, dass es dich vielleicht freuen würde, wenn sie kommt. Sollte eine Überraschung sein.«

Phil drehte sich um und starrte Alex an. »Ihr habt getextet?«

Schokosahnetorte. So hatte sich Ruth bei ihrer ersten Begegnung über Alex geäußert. Fuck.

»Das ist alles, was dir dazu einfällt?«

»Weiß Antonia davon?« Alex und seine Frau waren in ihren Augen immer das perfekte Paar gewesen. In Gedanken malte sich Phil schon das Drama aus, das daraus entstehen konnte.

»Phil, mach nicht so eine Geschichte draus, ja? Wir haben nur geschrieben. Es sollte eine Überraschung für dich sein!«

»Ich kenne Rudi, sorry. Sie verbindet gerne das Angenehme mit dem Nützlichen. Und in dem Fall bin ich mit Sicherheit nur das Nützliche. Sieh dich vor, Alex, und lass dich bitte auf nichts ein, was du nachher bereust, ja?«

»Spielverderberin.« Alex schob seine Sonnenbrille vor die Augen, versenkte die Hände in den Hosentaschen und ging in Richtung der Fähre, die inzwischen angelegt hatte. Oben wurden gerade die Türen geöffnet, so dass die Passagiere den Landungssteg herabgehen konnten.

Die Absperrung öffnete sich und die wartenden Leute strömten Richtung Schiff, um ihre Freunde und Familien in Empfang zu nehmen. Die Wagen mit dem Gepäck wurden ausgeladen, umgeladen und verteilt, Fahrräder und Bollerwagen drängten sich durch die Menschen. Hunde bellten, Kinder brüllten.

Wie von selbst ging Phils Blick hinüber zu der hohen Düne mit dem Leuchtturm hinter dem Dorf. Dort hatte immer der Käptn gestanden und mit fernem Salut jedes einfahrende Schiff begrüßt. Nicht mehr. Sein Platz blieb leer und ihr Herz schmerzte.

Phil schüttelte den Kopf und versuchte, die düsteren Gedanken zu vertreiben. An ihrem ersten Diensttag nach der Krankschreibung sollte sie sich auf ihre Aufgaben konzentrieren und nicht Erinnerungen hinterherhängen. Auch wenn sich hier gerade Dienstliches und Privates zu vermischen drohte.

Sie blieb am Eingang des Fähranlegers stehen, musterte jeden Besucher, jede Urlauberin kritisch, wie es ihre Aufgabe war. Sie überließ es Alex, Ruth in Empfang zu nehmen. Küsschen rechts, Küsschen links, beobachtete sie und verzog das Gesicht.

Das wird ein ungutes Ende nehmen. Ich weiß das.

Seufzend löste sich Phil von der Absperrung und schlenderte hinüber. Zwischen Ruth und Alex sah sie eine Frau mittleren Alters im Rollstuhl, der ihr Kollege gerade die Hand schüttelte.

Noch eine neue Bekanntschaft?

»Hi, Rudi.« Sie zog ihre Freundin kurz an sich und schob sie dann wieder fort. »Was machst du denn hier?«

»Ich lieb dich auch, Phil!« Ruth grinste. »Erst beschwerst du dich, dass alle Welt dich hier auf deiner Insel vergisst, dann komm ich zu Besuch und du beschwerst dich auch. Dir kann man es echt nicht recht machen, oder?« Ruth drückte Phil einen schnellen Kuss auf die Wange. »Sei nicht so brummelig. Ich hab festgestellt, dass Medderoog nicht so tot ist, wie es schien. Dieses Festival hier, das verspricht interessant zu werden. Und da dachten Toula und ich …« Sie deutete auf die Frau im Rollstuhl, die Phil freundlich anlächelte und ihr die Hand reichte.

»Phil, hallo«, sagte sie. »Ich habe schon ganz viel von dir und dieser schönen Insel gehört. Wie schön, dass ich dich jetzt persönlich kennenlerne.«

Phil murmelte eine nichtssagende Antwort und schüttelte eine schlanke, aber kräftige Hand. Unauffällig musterte sie Toula. Kurze schwarze Haare, dunkle Augen. Die strengen Gesichtszüge wurden durch das Lächeln etwas abgemildert. Sie mochte Mitte vierzig sein. Phils Blick wanderte tiefer und blieb an den eingegipsten Beinen hängen.

»Ein Autounfall vor zwei Wochen«, gab Toula knapp zurück. »Glaub mir, ich hab mir den Besuch hier auch anders vorgestellt.«

Phil merkte, dass sie rot anlief und versuchte, die Situation zu überspielen. »Und woher kennt ihr euch?«

»Wir arbeiten zusammen«, fiel Ruth ein. »Toula lehrt in der Biomedizin und hat mir bei der Untersuchung … gewisser Knochenproben geholfen.«

Phil packte Ruth beim Arm und zog sie außer Hörweite. »Wir haben darüber gesprochen«, zischte sie. »Ich will nicht, dass die ganze Welt von den Sirenen erfährt, hörst du? Was hast du ihr gesagt? Warum ist sie hier?« Etwas zu fest gruben sich Phils Finger in Ruths Oberarm und sie sah, wie die Gerichtsmedizinerin das Gesicht verzog.

Mit einem gequälten Lächeln löste Ruth Phils Finger. »Etwas dünnhäutig heute, hm? Sie weiß nichts, ich hab sie nur bei den genetischen Untersuchungen hinzugezogen. Wir haben uns angefreundet. DU machst dich ja rar auf dem Festland.«

Dünnhäutig.

Damit hatte Ruth leider recht. Sie war dünnhäutig und sah gerade in allem nur das Schlimmste.

»Sorry«, murmelte sie. »Wo kommt ihr unter? Wieder bei Doc D?«

Toll. Themenwechsel kann ich gerade.

»Nein, diesmal nicht. Wir haben uns hier im Dorf eingemietet, Alex hat uns was vermittelt. Toula braucht ja nun gerade was Barrierefreies, da ist das wohl am besten, statt ihm auf die Nerven zu fallen. Aber du kannst davon ausgehen, dass ich Al einen Besuch abstatte. Und …« Sie warf einen Blick über die Schulter auf Alex, der neben Toula stand und mit ihr sprach.

»Lass die Finger von ihm, Rudi, ich warne dich.«

»Das, meine Liebe, liegt nicht in deinem Verantwortungsbereich.«

Ruth winkte den beiden anderen, ihr zu folgen, hakte sich dann bei Phil ein und zog sie in Richtung Dorfstraße.

»Was ist mit deinem Gepäck?«

»Das wird direkt in unsere Unterkunft geliefert, voll der Luxus. Man braucht sich um nichts zu kümmern. Komm, wenn wir schnell sind, sind wir vor den Massen der Leute unterwegs.«

Phil blieb stehen und warf Ruth einen bedeutungsvollen Blick zu. »Ich bin im Dienst, Schätzchen. Ich kann heut nicht einfach Reiseführerin spielen. Da musst du dich schon bis zum Nachmittag gedulden.«

»Spielverderberin.« Schmollend schob Ruth die Unterlippe vor. »Wann hast du Feierabend? Du kannst damit rechnen, dass ich auf die Minute genau vor der Tür stehe und dich abhole.« Sie legte die Hände um Phils Gesicht. »Du hast mir echt gefehlt, weißt du das? Und jetzt tummele dich und sorg für Ordnung auf der Insel. Wir sehen uns!

---ENDE DER LESEPROBE---