Inepu - Roxane Bicker - E-Book

Inepu E-Book

Roxane Bicker

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Beschreibung

München, 1889: In der Glyptothek wird eine mysteriöse Maske entwendet, die den Totengott Anubis darstellt, der Kurator ermordet und wie eine altägyptische Mumie drapiert. Der Direktor des Museums betraut Rosa und Daisy mit diesem Fall, zwei private Ermittlerinnen, ohne die Gendarmerie zu informieren. Um kein Aufsehen zu erregen, sollen sie den Mord aufklären und vor allem die Maske zurückholen. In fünf Tagen findet eine wichtige Ausstellung statt. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, in dem die zwei Frauen schauerliche und überraschende Entdeckungen erwarten - und ein Ritual, das Opfer fordert. Ein mystischer Detektiv-Krimi im München des 19. Jahrhunderts.

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Prolog
Rosa von Arnhem – Glyptothek
Rosa von Arnhem – Haus der Familie von Arnhem
Daisy Grace – Praxis von Dr. Gattenbrink
Rosa von Arnhem – Akademie der Wissenschaften
Daisy Grace – Glyptothek
Rosa von Arnhem – Haus der Familie von Arnhem
Rosa von Arnhem – Wohnung von Paul Kury
Rosa von Arnhem – Glyptothek
Daisy Grace – Haus der Familie Delamar
Rosa von Arnhem – Haus der Familie von Arnhem
Rosa von Arnhem – Glaspalast
Rosa von Arnhem – Glaspalast
Rosa von Arnhem – Löwenbräukeller
Rosa von Arnhem – Wohnung der Familie Karmann
Rosa von Arnhem – Haus der Familie von Arnhem
Franz Gattenbrink – Anatomie
Franz Gattenbrink – Haus der Familie von Arnhem
Daisy Grace – Münchner Innenstadt
Franz Gattenbrink – Akademie der Wissenschaften
Rosa von Arnhem – Haus der Familie von Arnhem
Daisy Grace – Münchner Innenstadt
Rosa von Arnhem – Haus der Familie Delamar
Daisy Grace – Anatomie
Rosa von Arnhem – Haus der Familie von Arnhem
Rosa von Arnhem – Haus der Familie von Arnhem
Daisy Grace – Haus der Familie von Arnhem
Daisy Grace – Haus der Familie von Arnhem
Rosa von Arnhem – Haus der Familie von Arnhem
Rosa von Arnhem – Haus der Familie von Arnhem
Daisy Grace – Glaspalast
Rosa von Arnhem – Glaspalast
Daisy Grace – Glaspalast
Franz Gattenbrink – Glaspalast
Daisy Grace – Glaspalast
Carl Wilhelmi – Glaspalast
Rosa von Arnhem – Glaspalast
Carl Wilhelmi – Wohnung Wilhelmi
Rosa von Arnhem – Haus der Familie von Arnhem
Daisy Grace – Irgendwo
Rosa von Arnhem – Haus der Familie von Arnhem
Rosa von Arnhem – Haus der Familie von Arnhem
Rosa von Arnhem – Lenbachvilla
Rosa von Arnhem – Lenbachvilla
Rosa von Arnhem – Lenbachvilla
Rosa von Arnhem – Haus der Familie von Arnhem
Epilog
Nachwort der Autorin
Danksagung

INEPU – Herren des Schakals

ISBN 978-3-96741-024-2

 

Hybrid Verlag

 

© by Hybrid Verlag,

Westring 1

66424 Homburg

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

1.Auflage 2020

 

Autor: Roxane Bicker

Umschlaggestaltung: © 2020 by Creativ Work Design, Homburg

Illustrationen: © by Barbara Schulze Frenking

Lektorat: Donatha Czichy, Paul Lung

Korrektorat: Petra Schütze

Buchsatz: Sylvia Kaml

Autorenfoto: Jens Bicker

 

Inhaltswarnungen / Content Notices zum Buch finden sich auf der Homepage der Autorin: www.roxane-bicker.de

 

Coverbild ›Spiel der Mächte‹

© Magical Cover Design,Giuseppa Lo Coco

 

Coverbild ›Shevon‹

© Andrea Gunschera; magi digitalis | media production; www.magi-digitalis.de

 

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

 

 

 

Roxane Bicker

 

 

 

INEPU

Herren des Schakals

 

 

 

 

 

 

 

 

Fantasy

 

 

 

 

 

»Abenteurer, wo willst du hin?«

Quer in die Gefahren,

Wo ich vor tausend Jahren

Im Traume gewesen bin.

 

Ich will mich treiben lassen

In Welten, die nur ein Fremder sieht.

Ich möchte erkämpfen, erfassen,

erleben, was anders geschieht.

 

Ein Glück ist niemals erreicht.

Mich lockt ein fernstes Gefunkel,

Mich lockt ein raunendes Dunkel

Ins nebelhafte Vielleicht.

 

Was ich zuvor besessen,

Was ich zuvor gewusst,

Das will ich verlieren, vergessen. –

Ich reise durch meine eigene Brust.

 

Joachim Ringelnatz

 

 

 

 

 

 

 

 

 

München

 

Im frühen Sommer 1889

Prolog

 

 

Ein ausgeklügeltes System von Gaslampen und Spiegeln setzte die Maske ins rechte Licht. Die Augen aus Bergkristall funkelten und schienen dem Betrachter durch den Raum zu folgen. Ihre pechschwarze Oberfläche saugte das Licht auf und verlieh dem Stück trotz der Beleuchtung eine dem Gott des Jenseits angemessene Düsternis.

Museumskurator Hans Karmann strich über die bemalte Stuck-Oberfläche der Anubismaske. Einzig der Ägyptische Saal hier in der Glyptothek stellte einen gebührenden Ort dar für die Präsentation dieser spektakulären Neuerwerbung. Seine Finger glitten über die aufgestellten Ohren des Schakalskopfes, über die lange Schnauze und den unverhältnismäßig breiten Hals mit den Gucklöchern, in dem bei den altägyptischen Zeremonien der Kopf eines Priesters gesteckt hatte. Wie er sich wohl gefühlt haben mochte, wenn er bei der Mumifizierung eines Verstorbenen in die Rolle des Gottes Anubis schlüpfte?

Die Maske stellte ein außergewöhnlich schönes und seltenes Stück altägyptischer Kunst dar. Karmann bedauerte, dass sie nicht hier ihren endgültigen Standort finden würde. Direktor Kirch wollte sie nach der feierlichen Präsentation zu den anderen Aegyptiaca in das Antiquarium in der Residenz überführen lassen. Dort sollte sie zwischen den Särgen ausgestellt werden. Durchaus nachvollziehbar, fand Karmann. Die Ausstellung in der Glyptothek konzentrierte sich auf die steinerne Rundplastik der antiken Kulturen. Aber er hätte dieses neue Objekt viel lieber in seiner unmittelbaren Nähe behalten.

Noch einmal schritt er um die Maske, kontrollierte ihren Sitz auf dem eigens angefertigten Sockel, prüfte und korrigierte ein letztes Mal die Einstellung der Lichter, bis er mit einem zufriedenen Lächeln das Gesamtwerk betrachtete.

Die feierliche Enthüllung, zu der sich auch Prinzregent Luitpold persönlich angekündigt hatte, sollte in vier Tagen stattfinden. Bis dahin gehörte Anubis, Inepu, wie er im alten Ägypten genannt worden war, nur ihm und würde wieder Platz auf seinem Schreibtisch nehmen. So lange blieb ihm noch Zeit, die kleine Begleitpublikation fertigzustellen, die er dem Prinzregenten höchstpersönlich überreichen würde. Diese Ehre konnte er sich nicht entgehen lassen.

Karmann hob das Artefakt vorsichtig vom Sockel. Ein eisiger Schauer rann ihm über den Rücken, als er in die kristallenen Augen der Maske schaute. Aber war es nur der Blick des Schakals oder hatte er einen Lufthauch gespürt? Die Tür? Nein, er hatte doch sicher abgeschlossen. Wie ihm seine Frau immer sagte: »Arbeite nicht so lange, Hans, sonst siehst du irgendwann noch Gespenster.« Gespenster! Karmann lachte laut auf und sein Lachen hallte in den hohen Räumen wider.

Und doch fuhr ihm der Schreck in die Glieder, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. Er zuckte zusammen, ließ dabei fast die kostbare Maske fallen. Dann hüllte ihn die Finsternis ein.

Rosa von Arnhem – Glyptothek

 

 

»Bitte setzen Sie sich, meine Damen.«

Heinrich Kirch, der Direktor der Münchner Glyptothek, wies auf die beiden gepolsterten Stühle, die vor seinem ausladenden Schreibtisch standen. »Frau von Arnhem, Miss Grace, ich freue mich, dass Sie es so kurzfristig einrichten konnten, hier vorbeizukommen. In gewissen Kreisen hört man ja vielversprechende Dinge von Ihnen und Ihrem … Blumenladen. Ich hoffe inständig, dass es nicht nur Gerede ohne Substanz ist.«

Rosa von Arnhem entging das leichte Zögern in der Stimme des alten Herrn nicht, auch nicht der abschätzige Blick, den er ihr verstohlen zuwarf. Sie nickte kurz und schaute ihn direkt an. Es war nichts Neues für sie, dass sie mit ihrer Erscheinung aneckte. Die kurzen Haare, Jacke und Hose wie ein Mann, das fiel auf und passte nicht jedem. Sie hatte sich an diese Ablehnung gewöhnt.

»Wir hoffen, dass wir Ihren Erwartungen entsprechen, Herr Direktor.« Sie klemmte ihren Gehstock unter die Armlehne und nahm mühsam auf dem angebotenen Stuhl Platz. Die Hüfte schmerzte heute mehr als sonst, aber sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. »Was können wir für Sie tun?«

Kirch lehnte sich in seinem Sessel zurück und schob nachdenklich einige Blätter auf dem Schreibtisch von rechts nach links. »Ich habe die Ehre, mit ihrem Vater bekannt zu sein, Frau von Arnhem. Wir trafen uns immer, wenn er hier in München weilte. Unsere Zusammenkunft ist jedoch schon etliche Jahre her. Sie …«, er strich sich durch den eisgrauen Bart, runzelte die Stirn, »… dienten wohl das letzte Mal, als er hier war, wenn ich es recht verstanden habe.«

Rosa lehnte sich ebenfalls zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und zog eine Augenbraue in die Höhe. Ebenso wie ihre Erscheinung zog auch ihre Dienstzeit in der französischen Fremdenlegion oftmals Unverständnis auf sich. Frauen als Soldaten, mit dieser Vorstellung konnten sich nur wenige anfreunden. Schweigend wartete Rosa.

Der Direktor räusperte sich. »Nun, wie auch immer, ich setze auf Ihre Diskretion in dieser Angelegenheit. Sie ist delikat und wir haben nur wenig Zeit.«

»Mein lieber Herr Direktor«, warf Daisy Grace mit sanfter Stimme ein. Sie beugte sich etwas vor und lächelte den alten Herrn an. »Sie bekommen so viel von unserer Diskretion wie Sie möchten, wenn Sie einfach sagen, worum es geht!« Daisy war das genaue Gegenteil von Rosa. Klein und adrett, die langen, braunen Haare ordentlich frisiert, ein dunkles Kleid schmiegte sich um ihre wohlproportionierte Figur.

Kirch stand auf, drehte den beiden Frauen den Rücken zu und sah auf das Porträt, das an der Wand hinter seinem Schreibtisch hing. Es zeigte Ludwig I., der die Glyptothek vor über fünfzig Jahren hatte erbauen lassen.

»Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass wir das Museum heute geschlossen haben. Es gab einen bedauerlichen Zwischenfall in der Nacht. Einer meiner Mitarbeiter, Herr Kurator Hans Karmann, wurde ermordet.« Kirch schwieg einen Moment. »Als wir heute Morgen vor Öffnung durch die Ausstellungsräume gingen, fanden wir seine Leiche im Ägyptischen Saal. Drapiert geradezu, in ungewöhnlichster Art und Weise. Der rückwärtige Zugang zum Museum war aufgebrochen.« Er drehte sich um und schaute Rosa und Daisy an.

»Mord!« Rosa zog einen kleinen Block aus ihrer Hemdtasche und machte sich einige Notizen. Sie sah nicht auf, als sie sprach. »Warum haben Sie sich nicht an die Gendarmerie gewandt? Stattdessen kontaktieren Sie uns? Wir werden sonst nur zu Hilfe gerufen, wenn die offiziellen Stellen sich nicht zuständig fühlen.«

Direktor Kirch hüstelte. »Mein Vertrauen in das Wirken unserer Gendarmen ist, gelinde gesagt, nicht besonders hoch und die Angelegenheit, wie ich erwähnte, sehr heikel, so dass ich das Ganze lieber entrenous, unter uns, abwickeln würde, Sie verstehen? Ich kann es mir nicht leisten, dass diese Geschichte an die Öffentlichkeit dringt. Können Sie sich vorstellen, was passiert, wenn die Presse Wind von der Sache bekommt und ich dann Scharen von Reportern vor meiner Tür habe und von ihnen auf Schritt und Tritt verfolgt werde? Nein!« Er schüttelte vehement den Kopf. »Es verhält sich nämlich so, dass nicht nur Karmann zu Tode kam, sondern auch ein wertvolles und unersetzliches Objekt aus unserer Sammlung verschwunden ist. Ein Objekt, das in wenigen Tagen im Rahmen einer feierlichen Veranstaltung hochrangigen Gästen präsentiert werden sollte. Zu diesem Abend haben sich die höchsten Würdenträger angekündigt, Sie verstehen? Ich bin also etwas unter Zeitdruck und würde die Öffentlichkeit gerne so gut es geht heraushalten. Sie können sich nicht vorstellen, was geschieht, wenn die Leute erfahren, was hier passiert ist!«

Rosa schwieg einen Moment und versuchte, sich zu sammeln. Diplomatie gehörte nicht zu ihren Stärken.

»Herr Direktor«, begann sie zögerlich. »Ich weiß es zu schätzen, dass Sie sich unter diesen Umständen an uns wenden. Aber glauben Sie mir, Sie sollten sich an die Gendarmerie wenden.«

»Nein!« Kirch hieb mit der flachen Hand auf den Tisch. Daisy zuckte zusammen, aber Rosa irritierte es nicht im Geringsten. Sie kannte ihren Vater und sein sehr ähnliches Verhalten. Sie kannte den grimmigen Blick, mit dem Kirch sie anfunkelte. »Nehmen Sie den Auftrag an, Frau von Arnhem, Miss Grace?«

»Ihre Ansichten in allen Ehren, aber …«, setzte Rosa an, doch sie unterbrach sich, als sie Daisys Hand an ihrem Arm spürte und ihr leichtes Kopfschütteln sah. So schwieg sie und überließ es Daisy, zu antworten.

»Natürlich nehmen wir den Auftrag an und bedanken uns bei Ihnen für das Vertrauen, dass Sie in uns setzen.« Daisy ließ Rosas Arm los und faltete die Hände im Schoß. »Können wir den Tatort in Augenschein nehmen? Ich hoffe, dass sich die Leiche noch unten befindet? Und Sie haben nichts am Fundort verändert?«

Kirch nickte zufrieden. »Ich habe sofort alles absperren lassen. Der Körper liegt, wie ich ihn vorgefunden habe. Ich bitte Sie, sich schnellstmöglich ein Bild der Lage zu machen, so dass ich das Museum nicht länger als nötig geschlossen halten muss. Das Gerede, Sie verstehen? Ich habe einen Ruf zu wahren.«

Rosa tippte mit der Spitze ihres Bleistiftes auf ihren Notizblock. Die Sache gefiel ihr nicht. Warum befanden sie beide sich hier und nicht die Gendarmerie? »Einen Moment, Herr Direktor. Ich möchte Ihnen zuvor noch ein paar Fragen stellen. Und auch einige ganz praktische Dinge sind zu klären.«

Kirch stützte die Fäuste auf die Platte seines Schreibtisches. »Kann das nicht warten, bis Sie sich ein Bild vor Ort gemacht haben? Ich habe ein Museum zu öffnen!«

»Meinen Sie wirklich, dass so früh am Morgen schon Ströme von Besuchern an ihre Tür klopfen? Die Stadt war leer und ausgestorben, als wir hierher gefahren sind. Hängen Sie einen Zettel an den Eingang, dass sich die Öffnung heute verzögert. Wenn Sie unsere Hilfe brauchen, Direktor Kirch, dann läuft diese Ermittlung nach unseren Regeln.«

Rosa suchte den Blick des alten Herrn und sah ihm fest in die Augen. Sie kannte das Spiel gut. Es passte dem Direktor nicht, dass er die Hilfe von zwei Frauen benötigte, dass sie ihm sagten, wo es langging. So war es auch in der Legion gewesen. Den Respekt und das Vertrauen der anderen Soldaten hatte sie sich erst verdienen müssen.

Sie sah, wie die Muskeln in seinem Kiefer arbeiteten. Dann setzte er sich und faltete die Hände. »Nun gut. Was wollen Sie wissen?«

»Ist es nicht ungewöhnlich, dass Herr Karmann in der Nacht noch im Museum war?«

»Viele Dinge in diesem Haus können nur erledigt werden, wenn keine Besucher da sind. Karmann hat die Aufstellung der Maske geplant. Das war ein solcher Fall. Weiter.«

»Wie konnte denn jemand so spät in das Museum gelangen? Es war doch sicher geschlossen.«

»Der Täter hat den rückwärtigen Zugang zum Haus aufgebrochen. So hat er sich Einlass verschafft. Ich werde es heute sofort reparieren lassen.«

»Er?«

Kirch strich sich durch die langen grauen Haare. »Ich bitte Sie, Frau von Arnhem. Sie wollen doch nicht ernsthaft eine Frau als Mörderin in Betracht ziehen? Nein. Es war mit Sicherheit ein Mann, der dies begangen hat. Sie werden sehen.«

»Wir werden sehen«, entgegnete Rosa. »Was können Sie mir denn noch über Herrn Karmann berichten. Hatte er Familie?«

»Er war ein fleißiger und unauffälliger Mitarbeiter und wird uns sehr fehlen. Seine privaten Angelegenheiten tun hier nichts zur Sache. Danach zu fragen, ist genauso abwegig, wie … Nun, Sie werden verstehen, wenn Sie sich den Körper angeschaut haben. Und das machen Sie jetzt bitte, um nicht noch mehr Zeit zu verschwenden.« Kirch schob seinen Sessel zurück und stand auf. Er schritt an Rosa und Daisy vorbei und öffnete die schwere Holztür.

Rosa seufzte. Vielleicht würde sich am Tatort die Gelegenheit zu weiteren Fragen ergeben.

Daisy erhob sich und hakte sich beim Direktor unter. Wohlwollend tätschelte er ihre Hand. Über die Schulter warf Daisy Rosa einen schnellen Blick zu und zwinkerte.

»Wenn Sie immer so auf die Dringlichkeit hinweisen, mein lieber Herr Direktor«, sagte sie, »wie viel Zeit bleibt uns denn für die Lösung des Falles?«

»Fünf Tage. Die Präsentation der Maske ist für den Samstagabend geplant. Sie haben fünf Tage.«

Rosa erhob sich schwerfällig, griff nach ihrem Gehstock und wies zur Tür. »Worauf warten wir dann noch? Bitte nach Ihnen, Herr Direktor.«

 

Der Leichnam von Hans Karmann lag friedlich auf dem Marmorfußboden des Ägyptischen Saales. Alte Götter und Könige schauten regungslos und leise lächelnd auf ihn herab. Geradezu anklagend wartete dagegen der leere Sockel über ihm.

Ein Mann stand im Hintergrund. Immer wieder warf er verstohlene Blicke auf den Toten. Rosa erkannte in ihm den Boten, den Kirch geschickt hatte.

Der Direktor machte eine weit ausholende Bewegung über den Raum. »Bitteschön!«, sagte er, dann begab er sich zu dem Mann und sprach leise mit ihm.

Daisy eilte zu Karmanns Körper, ließ sich neben ihm auf den Boden nieder und begann, ihn vorsichtig zu untersuchen. Rosa nahm den Raum in Augenschein. Natürlich war sie mit ihrem Vater bei ihren Besuchen in München in der Glyptothek gewesen, um sich die altägyptischen Stücke anzuschauen. Deswegen erschienen sie ihr wie alte Bekannte. Bekenchons, der Hohepriester, der majestätisch die Räumlichkeiten überblickte. Antinoos, der schöne Jüngling, der Kaiser Hadrian nach Ägypten begleitet hatte, nur um dort tragisch im Nil zu ertrinken. Ein falkenköpfiger Gott, der auf die anderen Statuen zuzuschreiten schien. Sphingen, Könige, Götter und alles überragend der Obelisk aus Rosengranit, der mit seiner Spitze das Zentrum der hohen Saaldecke zu erreichen suchte. Einen Großteil der Stücke, hatte ihr Vater spöttisch bemerkt, hätte man auch gleich ein paar Räume weiter bei den klassischen Antiken aufstellen können, denn sie seien ja gar nicht altägyptisch, sondern in Rom hergestellt und deswegen, so seine Meinung, nur billige Kopien der eigentlichen Originale. Und gerade der Obelisk: Wenn man nur genau hinschaute, hatte ihr Vater gesagt, dann sah man doch in den Inschriften, dass er für einen gewissen Titus Sextius Africanus, einen römischen Feldherrn geschaffen worden war. Mit dem Reich der Pharaonen hatte das, laut Heinrich von Arnhem, nicht mehr viel zu tun.

Trotzdem. Trotzdem strahlten die Statuen Ruhe und Würde aus, eine wissende Erhabenheit, und Rosa war immer gerne hierhergekommen. Eilig war sie damals als Mädchen die Straße herabgerannt, begierig, die alten Stücke zu betrachten, während ihr Vater ihr gemessenen Schrittes gefolgt war. Heute aber?

Sie riss sich vom Anblick der Statuen los und wanderte langsam durch den Raum. Ihr Gehstock hinterließ ein rhythmisches Klicken in der Stille des Museums. Alles befand sich an seinem Platz, auch die kleineren Stücke in der Nähe des leeren Sockels standen an Ort und Stelle. Nichts war heruntergerissen oder zerbrochen. Der Boden aus Fliesen von grauem, schwarzem, weißem und braunem Marmor, die rotweiß gebänderten Steinpodeste, die gelblichen Wände, all dies machte die Suche nach Spuren nicht leichter. Blutspritzer wären von den Musterungen des Gesteines einfach verschluckt worden.

Rosa wandte sich der Leiche in der Raummitte zu. Karmann war ein Mann mittleren Alters, schmal gebaut. Seine dunkelblonden Haare gaben bereits eine hohe Stirn frei. Eine kleine, goldumrandete Brille saß auf der Nase, ein dünner Schnauzbart zierte die Oberlippe. Er lag ausgestreckt auf dem Rücken, die Arme über der Brust gekreuzt. Die linke Hand ruhte flach auf seinem Oberkörper, die rechte lag in Höhe des Herzens zur Faust geballt. Auch hier erkannte Rosa auf den ersten Blick keine Kampfspuren oder sonstige Verletzungen. Und nirgendwo fand sich Blut.

»Daisy?«, fragte Rosa. »Was gibt es zu berichten?«

Ihre Freundin beendete die oberflächliche Untersuchung des Toten, nahm ihre Hände von ihm und hockte sich hin. Sie strich die Falten ihres Kleides glatt. »Die Leichenstarre hat schon eingesetzt, er ist seit mehreren Stunden tot«, antwortete sie nachdenklich und strich sich eine dunkle Locke hinter das Ohr. »Ich denke, bereits seit gestern Abend. Keine auf den ersten Blick erkennbaren Verletzungen, keine Brüche, aber der Körper fühlt sich … ungewöhnlich an.«

»Ungewöhnlich?« Rosa ließ sich vorsichtig auf ein Knie nieder und verzog das Gesicht, als ihre Hüfte wieder einmal gegen die Bewegung protestierte.

»Ich kann es noch nicht genauer sagen, aber der Bauchraum fühlt sich nicht so an, wie er sollte. Ich müsste ihn zumindest entkleiden und am besten sogar weitere … Maßnahmen treffen. Du weißt, dass das nicht gern gesehen ist.«

Rosa senkte ihre Stimme. »Sollen wir Doktor Gattenbrink hinzuziehen?«

»Das wird wahrscheinlich das Beste sein. Er kann die nötigen Räumlichkeiten stellen.« Auch Daisy antwortete nur flüsternd. »Muss er davon erfahren?« Kurz zuckte ihr Kopf in Richtung des Direktors im Hintergrund.

»Diskretion, Miss Grace.« Rosa lächelte ein wenig. »Er braucht nicht alles zu wissen.«

Daisy nickte und fuhr dann etwas lauter fort: »Was meinst du zu Karmanns Körperhaltung?«

»Präsentiert wie eine altägyptische Mumie. Du erinnerst dich an die Särge, die wir neulich im Antiquarium angeschaut haben? Gerade ausgestreckt, Arme überkreuzt, Blick nach oben. So ist er mit Sicherheit nicht gestorben. Der Tatort wurde geradezu inszeniert.« Sie hielt kurz inne und betrachtete den Körper nachdenklich. »Mich stört nur diese asymmetrische Haltung.« Rosa legte ihren Gehstock neben sich und griff nach der linken Hand Karmanns. Die Finger waren fest verkrampft. Sie schienen etwas zu umschließen. Rosa zog den Bleistift aus der Hemdtasche, um mit seiner Hilfe die Finger aufzubiegen. Sie schob das Ende des Stiftes in Karmanns Faust, hebelte nach außen. Mit einem Knacken löste sich der starre Griff. Das Geräusch klang laut durch die stillen Museumsräume. Kirch und sein Mitarbeiter schauten fragend zu ihnen herüber.

Entschuldigend zuckte Rosa mit den Schultern, dann wandte sie sich der Hand zu, bog die Finger weiter zurück und angelte heraus, was Karmann festgehalten hatte.

Ein aus Stein gefertigter Käfer von dunkelgrüner Farbe kam zum Vorschein. Präzise Schnitzereien auf der Oberfläche zeigten Kopf und Flügel. Rosa hielt die kleine Figur ins Licht und betrachtete ihre Unterseite, auf der sie eine Inschrift in Hieroglyphen erkannte.

Daisy schaute über ihre Schulter. »Was ist das?«

»Ein Skarabäus, besser bekannt als Mistkäfer. Die alten Ägypter hielten ihn für ein Tier des Sonnengottes, für ein Symbol der Wiederauferstehung. Man findet ihn in den Leinenbinden der Mumien in Höhe des Herzens.«

»Kannst du lesen, was darauf steht?«

»Nicht auf die Schnelle. Wahrscheinlich brauche ich sogar Unterstützung. Meine Kenntnis der Hieroglyphen ist nicht die Beste. Ich habe damals für meinen Vater auf den Ausgrabungen nur Inschriften kopiert, nicht selbst gelesen. Und auch das ist lange her.«

»Sie haben etwas gefunden?« Direktor Kirch kam mit eiligen Schritten zu ihnen herüber.

Mit einer fließenden Bewegung erhob sich Daisy und streckte die Hand aus, um Rosa hoch zu helfen.

Dankbar nickte diese ihr zu.

»Vielleicht«, entgegnete Rosa dem Direktor. Sie hielt ihm auf ihrer Handfläche den Skarabäus entgegen. »Das hat Karmann in der Faust gehalten. Die ungewöhnliche Präsentation des Leichnams ist Ihnen ja schon selbst aufgefallen.«

Kirch senkte zustimmend den Kopf und nahm den Käfer entgegen. Er betrachtete ihn flüchtig und gab ihn Rosa unbeeindruckt zurück. »Keines von unseren Stücken«, sagte er. »Behalten Sie es.«

Rosa ließ den Skarabäus in ihrer Jackentasche verschwinden. »Wir würden auch den Körper gerne mitnehmen, um ihn genauer untersuchen zu lassen. Wenn hier alles weggeschafft ist, können Sie das Museum wieder öffnen.«

»Tun Sie das, aber bitte, denken Sie an äußerste Diskretion und daran, dass wir uns unter einem gewissen Zeitdruck befinden.« Kirch verschränkte die Arme hinter dem Rücken.

»Das ist uns durchaus bewusst, Herr Direktor.« Daisy neigte graziös den Kopf und ihre dunklen Locken wippten.

Rosa stützte sich auf ihren Gehstock. »Wir werden schnell arbeiten müssen. Und wir haben Ausgaben …«

Kirch winkte ab. »Über die Bezahlung machen Sie sich keine Sorgen. Ich komme für Ihre Unkosten natürlich auf und werde mich auch darüber hinaus erkenntlich zeigen – wenn Sie mir die Maske rechtzeitig zurückbringen. Wie wollen Sie weiter vorgehen?« Der Direktor zog eine Taschenuhr hervor und warf einen bedeutungsvollen Blick darauf.

Daisy griff nach seiner Hand. »Wir wären Ihnen äußerst verbunden, wenn uns Ihr Mitarbeiter helfen könnte, den Körper zu verladen und zu transportieren. Uns stehen Räumlichkeiten zur Verfügung und ich würde gerne selbst die notwendigen Untersuchungen vornehmen.«

»Was bleibt mir anderes übrig, als in Ihre Fähigkeiten zu vertrauen, Miss Grace?« Kirch winkte den Mann im Hintergrund herbei. »Prangermeier, kommen Sie her. Ich habe noch einen Auftrag für Sie …«

Rosa von Arnhem – Haus der Familie von Arnhem

 

 

Der Blumenladen, den Direktor Kirch in der Begrüßung so zögerlich genannt hatte, war genau das, was der Name versprach: Ein kleines, alteingesessenes Geschäft, das sich bereits seit Generationen im Besitz von Rosas Familie befand und im Erdgeschoss ihres Hauses in der Nymphenburger Straße unweit des Stiglmaierplatzes lag. Zwei verglaste Arkaden gaben den Blick ins Innere des Ladens frei. Eine rot-gelb-gestreifte Markise überschattete die Auslage von Gestecken, Blumensträußen und Kränzen.

Nicht, dass Rosa ein wirkliches Interesse an der Floristik gehabt hätte, doch als Deckmantel für ihre Tätigkeiten funktionierte der kleine Laden ganz vorzüglich. Es hatte sich inzwischen herumgesprochen, dass man einen Strauß Rosen und Gänseblümchen erfragen musste, um ins Haupthaus geführt zu werden, wo sich das zweite Standbein des Blumenladens befand. Trotz aller Fortschrittlichkeit des modernen München − einer Ermittleragentur unter der Leitung von zwei unverheirateten Damen wäre kaum Erfolg beschieden gewesen.

Rosa nickte ihrem Hausmädchen Ida kurz zu, die geschäftig zwischen den ausgestellten Gestecken hin und her eilte.

Dann ging sie über den geschotterten Vorhof zum Haupthaus.

Im Flur entledigte sie sich ihres schwarzen Fedoras, warf den Hut auf eine nahe Kommode und strich sich die kurzen dunklen Haare glatt. Sie angelte den Skarabäus aus der Tasche. Den Blick fest auf die Inschrift geheftet, begab sie sich in das Arbeitszimmer, das sie ihr Eigen nannte. Zentral im Raum stand der große, schwere Schreibtisch aus rötlichem Mahagoniholz, an dem ihr Vater immer gesessen hatte. Damals war der Tisch übersät gewesen mit Objekten altägyptischer Kleinkunst, Fundzetteln, Pinseln und Papierseiten, bedeckt mit seiner feinsäuberlichen Handschrift. Heute hielt sie ihn spärlich dekoriert. Eine Schreibunterlage, ein Block, Bleistift und Füllfederhalter daneben. Eine Lampe, die sie kaum benutzte. Tagsüber ließen die großen Fenster genug Licht in den Raum.

Rosa stellte ihren Gehstock in den Schirmständer neben der Tür und hinkte hinüber zum Schreibtisch. Das linke Bein entlastete sie dabei so gut wie möglich, um den dauerhaften Schmerz in ihrer Hüfte nicht übermächtig werden zu lassen. Die Ordnung auf der dunklen Holzoberfläche des Möbels war nicht, wie sie erwartet hatte. Ein Brief lag dort. Gestochen scharf standen ihr Name und die Adresse auf dem Umschlag. Die Worte Persönlich und Vertraulich prangten Rosa doppelt unterstrichen entgegen.

Da war er also nun. Lang erwartet und doch wieder nicht. Gebangt. Gefürchtet. Sie starrte auf den Brief herunter, erwartungsvoll blickte er zurück.

Mit zitternden Fingern legte sie den Skarabäus ab, ergriff den blütenweißen Umschlag, drehte und wendete ihn. Ein Absender befand sich nicht darauf. Wozu auch? Sie wusste, woher er kam. Doch wollte sie wirklich wissen, was darin stand? Wollte sie, dass die Ungewissheit, der Verdacht, den sie schon länger hegte, bestätigt und zum Faktum wurde?

Kurz zögerte Rosa noch, dann griff sie nach dem Brieföffner und trennte das Kuvert sorgsam auf.

 

In dem Schreiben stand nicht viel, aber genug. Sorgfältig faltete Rosa das Blatt, steckte es wieder in den Umschlag und legte diesen in die oberste Schublade des Schreibtisches in eine unauffällige Mappe. Ihre Finger strichen über die zwei Fläschchen mit klarer Flüssigkeit, die daneben lagen. Nur kurz, dann verschloss sie die Schublade und steckte den kleinen Schlüssel in ihre Hemdtasche. Diesem Problem würde sie sich später zuwenden. Hier wartete etwas Dringenderes und weniger Beängstigendes auf sie.

Sie zog den Stuhl heran, setzte sich und atmete einige Male tief ein und aus. Ihre Hände legte sie nebeneinander auf die Arbeitsfläche und wartete, bis das leichte Zittern nachließ. Dann erst nahm sie Bleistift und Block zur Hand und begann, die Inschrift auf der Unterseite des Käfers zu kopieren − oder zumindest das, was sie meinte zu erkennen.

Sie hatte auf den Ausgrabungen ihres Vaters in Ägypten schon als junges Mädchen mitgeholfen, Inschriften abzuzeichnen und dabei eine gewisse Grundkenntnis der Hieroglyphen erworben. Über mehr aber ging ihr Wissen nicht hinaus, zumal sie sich in den letzten Jahren wenig mit Altägypten beschäftigt hatte. Ihr Blick wanderte über die in den Stein eingeritzte Schrift. Sie drehte und wendete den Skarabäus, um im Lichteinfall mehr Details erkennen zu können. Deutlich sah sie das Zeichen im unteren Bereich, das eine Waage darstellte. Die Waage, auf der das Herz des Verstorbenen beim Totengericht aufgewogen wurde. Folglich hielt sie hier einen Herzskarabäus in den Händen. Die alten Ägypter hatten ihn auf das Herz eines Verstorbenen gelegt, genau wie Karmann den Käfer in der rechten Hand gehalten hatte, die auf seiner Brust ruhte.

Auch ein Herz konnte sie in der Inschrift erkennen, weiterhin das Zeichen für den Himmel und eine Barke, wie die, in der der Sonnengott über das Firmament gerudert wurde. Einen Sinn jedoch brachte sie nicht zusammen. Um die Inschrift zu entziffern, brauchte sie die Hilfe eines Fachmannes. Rosa legte das Blatt mit der Zeichnung vor sich hin und betrachtete es kritisch.

Hast du auch wirklich sorgfältig gearbeitet, Tochter?, hörte sie im Geiste ihren Vater fragen. Hast du genau hingeschaut und nichts übersehen? Die Details sind es, die den Unterschied machen! Es mag dir wie eine langweilige Arbeit erscheinen, aber sie ist unumgänglich und wichtig, denn nur aus den Inschriften erfahren wir mehr über das Leben der frühen Ägypter.

Wie oft war sie daraufhin zurückgetrottet in das Grab, in den Tempel, wo auch immer sie gerade arbeiteten, und hatte nochmals alles überprüft und ausgebessert, bis es den Ansprüchen des alten Mannes genügte.

Mit einem energischen Kopfschütteln verwies Rosa die Erinnerungen dorthin, wo sie hingehörten − in die Vergangenheit. Ihr Vater befand sich nicht hier, er weilte in Ägypten. Er würde ihre Arbeit nicht beurteilen und für diesen Zweck reichte eine schnelle Skizze aus. Rosa legte Skarabäus und Block beiseite, griff zum Briefpapier und verfasste ein kurzes Anschreiben, in dem sie ihr Problem schilderte und um Unterstützung bat. Zusammen mit ihrer schnellen Zeichnung der Inschrift steckte sie den Brief in einen Umschlag, den sie versiegelte.

Rosa trat zum Fenster, öffnete es und sah auf die Straße hinaus.

»Samuel!«, rief sie mit lauter Stimme. Nur Momente später kam ein schlaksiger Junge angerannt, der mit schiefem Grinsen im Gesicht unter ihrem Fenster stehen blieb.

Samuel, der Sohn von Ida, erledigte immer gerne kleinere Aufträge. Er schob sich die Schiebermütze ins Genick und salutierte halbherzig. »Frau General hat gerufen, Ihr treuer Soldat is’ bereit!«

Rosa lächelte schwach. »Ich habe einen Auftrag für dich, Samuel. Begib dich zur Akademie der Wissenschaften in der Neuhauser Straße und frage dort an der Pforte, ob es in der Akademie zurzeit einen Ägyptologen gibt oder zumindest jemanden, der sich mit Hieroglyphen auskennt. Gib diesen Brief ab«, sie reichte dem Jungen den Umschlag herunter, »und bitte um einen Gesprächstermin, wenn möglich noch heute im Laufe des Tages. Es ist dringend.«

Samuel verbeugte sich. »Euer Wunsch is’ mir Befehl, Frau General. Ich werd’ zurück sein, noch eh Ihr mich erwartet.« Kaum ausgesprochen, flitzte er davon.

Daisy Grace – Praxis von Dr. Gattenbrink

 

 

Der Oberanger lag etwas abseits des geschäftigen Treibens der Münchner Innenstadt, was Daisy gerade recht war. Sie und Herr Prangermeier kamen mit einem Transportwagen des Museums, auf der Ladefläche eine schmucklose Holzkiste mit dem Leichnam Karmanns. Diskretion. Wie Direktor Kirch es wünschte.

Daisy kletterte vorsichtig vom Bock des Wagens herunter, während der Mann das Gefährt an den Straßenrand fuhr. Sie hob ihren Rock hoch, damit der Saum nicht im Dreck der Straße schleifte, besann sich dann aber eines Besseren. Wenn Doktor Gattenbrink und sie mit dem Körper Karmanns fertig waren, müsste sie sich sowieso umkleiden. Es war schön, einen vertrauenswürdigen Arzt wie Herrn Gattenbrink zu kennen − im Gegensatz zu ihrer Heimatstadt London war München in dieser Beziehung geradezu provinziell und eine Frau, die Obduktionen vornahm, etwas Unvorstellbares.

»Bitte hinten herum, in den Innenhof mit dem Wagen«, rief Daisy über die Schulter Herrn Prangermeier zu. »Laden Sie die Kiste dort ab, ich werde in Kürze wieder bei Ihnen sein.«

Der Mann folgte grummelnd ihrer Anweisung und verschwand in der Durchfahrt. Daisy nahm die drei Stufen zum Vordereingang der Praxis und schellte. Nur Momente später öffnete ihr der Doktor die Tür. Er bot eine ansehnliche Erscheinung, hochgewachsen, mit breiten Schultern, die kurzen dunklen Haare mit viel Pomade zurückgekämmt, ein sorgfältig gestutzter dünner Schnauzbart zierte seine Oberlippe.

Ein Mann in den besten Jahren.

»Miss Grace«, sagte er lächelnd mit seiner tiefen Stimme. »Welch eine Freude, Sie zu sehen. Kommen Sie bitte herein!« Er ergriff ihre Hand und führte sie in den Flur.

»Die Freude ist ganz meinerseits, Doktor«, flötete Daisy und hakte sich bei ihm unter. »Wer hätte gedacht, dass wir uns sobald wiedersehen? Ich muss sagen, Sie haben mich bei unserem Lesekreis gestern sehr beeindruckt und tief bewegt. Und nicht nur mich, wenn ich das so sagen darf. Das ganze Café Luitpold hielt inne bei Ihrer gestrigen Rezitation der Hymnen an die Nacht. Ich habe noch lange darüber nachgedacht. Vielleicht werde ich zu unserer Runde das nächste Mal etwas von Lord Byron mitbringen. Seine Gedanken sind nicht ganz so schwermütig wie die von Ihrem Novalis, aber ich denke, sie werden Ihnen gefallen.«

Der Doktor führte sie in sein kleines Arbeitszimmer. »Ich freue mich darauf, Miss Grace. Aber was verschafft mir denn die Ehre dieses überraschenden Besuches? Möchten Sie sich nicht setzen?« Er zog ihr einen Stuhl zurecht, doch Daisy winkte ab.

»Leider bin ich heute nicht zum Vergnügen hier, mein lieber Doktor. Ich habe uns, wie soll ich sagen, etwas Arbeit mitgebracht.«

Gattenbrink hob fragend die Augenbrauen und Daisy faltete die Hände vor dem Körper. »Ich durfte Ihnen schon des Öfteren bei Ihrer Arbeit zur Hand gehen und Sie haben mir auch bereits freundlicherweise Ihr Labor zur Verfügung gestellt, aber …« Sie lächelte entschuldigend und hob hilflos die Hände.

»Aber?«, fragte der Doktor.

»Nun, ich weiß nicht recht, wo ich anfangen soll.« Wieder faltete sie ihre Finger ineinander, dann holte Daisy tief Luft und straffte die Schultern. »Im Hinterhof liegt eine Leiche, sorgsam in einer Holzkiste verwahrt.«

Gattenbrink schaute sie aus großen Augen an und brach in lautes Gelächter aus. »Sie haben uns eine Leiche mitgebracht, Miss Grace?«

»Nun, ja. Und ich wollte Sie bei der Untersuchung des Körpers um Ihre medizinische Expertise und natürlich auch um Räumlichkeiten bitten.«

Mit einer Hand strich sich Gattenbrink nachdenklich über die Haare. »Ich nehme an, der gute … Mann?«, er sah sie fragend an. »Er ist nicht friedlich im Bett gestorben?«

»Nein, das ist er nicht. Er wurde ermordet.«

»Ermordet, soso. Und Sie wollen ihn obduzieren.«

»Das war mein Plan. Kann ich mit Ihrer Unterstützung rechnen, Doktor?«

Er nickte. »Natürlich, Miss Grace. Lassen Sie mich nur schnell die Praxis schließen, dann machen wir uns an die Arbeit und lassen ihn nicht weiter warten.«

Während Gattenbrink seine Vorbereitungen traf, trat Daisy durch eine doppelflügelige Tür im Flur, die den Zugang zum Innenhof bildete. Prangermeier war ihren Anweisungen gefolgt. Die Kiste stand unauffällig auf dem Pflaster. Eine Lieferung wie jede andere auch. Mann und Wagen befanden sich sicher schon auf dem Rückweg zur Glyptothek, um Direktor Kirch Bericht zu erstatten. Diskretion. Ein kleines Lächeln huschte über Daisys Gesicht.

»Das ist er?«, erklang die tiefe Stimme des Doktors hinter ihr. Sie nickte und Gattenbrink öffnete den Verschluss der Holzkiste. Normalerweise wurde sie zum Transport von Statuen verwendet, doch die Holzwolle, die das Innere auspolsterte, diente nun als Bett für Karmanns Körper. Obwohl ein großes Tuch den Leichnam verhüllte, schaute der Doktor sich rasch nach rechts und links um.

»Würden Sie mir helfen, ihn hineinzubringen, Miss Grace?« Der Doktor trat ans Kopfende der Kiste und deutete auf die Füße Karmanns.

»Natürlich.« Ohne zu zögern, schloss Daisy die Hände um die Knöchel des Mannes, um einen stabilen Griff zu haben, während Gattenbrink ihn unter den Schultern fasste. Gemeinsam hoben sie die Leiche heraus.

Der Doktor ging voran, aber nicht in die Behandlungsräume, sondern er stieß mit dem Fuß eine schmale Holztür auf, hinter der eine Treppe in den Keller führte. Vorsichtig balancierte er die enge Stiege hinab. Langsam folgte ihm Daisy in den düsteren Untergrund. Sie tastete sich über die finsteren Stufen, Karmanns Füße immer fest im Griff. Sie mochte sich nicht ausmalen, was passieren würde, wenn sie den Halt verlöre. Ein kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht und verschwand. »Wo führen Sie uns denn hin? Ich dachte, wir nutzen Ihren Behandlungsraum oben …« Daisy verstummte, als Gattenbrink anhielt und ein Klicken erklang. Eine Reihe strahlender Gaslampen erhellte den Raum.

»Doktor!«, rief Daisy aus. »Ich wusste ja gar nicht, was für einen Schatz Sie hier in der Tiefe verstecken!«

Wände und Boden des niedrigen Kellers waren vollständig gekachelt. Im hinteren Bereich fand sich ein Arbeitsplatz. Sie konnte ein Mikroskop erkennen, Ständer mit Reagenzgläsern und sauber nebeneinander aufgereihte chirurgische Instrumente. In der Mitte des Raumes stand ein metallener Arbeitstisch, auf den sie Karmanns Körper legten. Ein Abfluss darunter sorgte dafür, dass Flüssigkeiten jeglicher Art verschwinden konnten.

»Ich habe schon seit jeher eine Leidenschaft für die Pathologie gehegt«, erklärte Gattenbrink und begann, den Leichnam auszuwickeln. »So makaber es klingen mag, aber ein toter Patient war mir immer der liebste. Um aber die lebendigen nicht zu verschrecken, musste ich notgedrungen das Kellergeschoß für diese Tätigkeiten herrichten.«

Daisy entledigte sich währenddessen ihrer Straßenkleidung, die sie über das Treppengeländer legte. Sie band ihre dunklen Locken mit einem Tuch zurück und schlüpfte in einen der Kittel, die an Haken an der Wand hingen. Sie musste das Kleid ja nicht über Gebühr strapazieren.

»Wen haben Sie uns denn mitgebracht, Miss Grace?« fragte Gattenbrink, während er den Körper auf dem Tisch betrachtete.

»Bevor wir beginnen, muss ich Sie zur Verschwiegenheit verpflichten, Doktor. Wir haben es hier mit einem etwas delikaten Fall zu tun, unser Auftraggeber drängt auf äußerste Diskretion.« Daisy zog das Tuch unter dem Leichnam hervor und faltete es zusammen.

»Das ist in meinem Beruf eine Selbstverständlichkeit, das wissen Sie, Miss Grace.«

Daisy lächelte den Doktor an. »Ich weiß. Ich musste es nur noch einmal betonen.« Sie legte das Stoffbündel beiseite und rieb die Handflächen aneinander. »Darf ich vorstellen? Hans Karmann, Kurator an der Glyptothek und im Laufe des gestrigen Abends zu Tode gekommen. Wir fanden in den Museumsräumen keine Kampfspuren, keine Hinweise auf die Todesursache. Der Körper zeigt auf den ersten Blick keine Verletzungen. Beim Abtasten kam mir der Bauchraum seltsam vor. Die gesamte Körperhaltung ist ungewöhnlich.« Sie wies auf Karmanns über der Brust gekreuzte Arme, dann auf seine halbgeöffnete Faust mit den aufgebogenen Fingern. »Dies ist postmortem. Keine Verletzung, die mit dem Mord zusammenhängt. Er hielt einen Skarabäus in der Hand, den wir nachträglich entfernt haben.«

»Dann werden wir doch einmal einen tieferen Blick wagen. Helfen Sie mir, ihn zu entkleiden? Leider macht er es uns in dieser Position nicht einfach.«

Der Doktor reichte Daisy eine Schere und sie begann, die Ärmel von Karmanns Jackett aufzuschneiden, und folgte dann den Nähten an der Körperseite.

Ebenso erging es der darunter liegenden Weste und dem blütenweißen Hemd.

Während Daisy schnitt, entfernte Doktor Gattenbrink die Kleidungsstücke, faltete sie sorgfältig und legte sie zur weiteren Untersuchung beiseite.

Als Daisy das Hemd an Karmanns linker Seite auftrennte, fiel ihr die erste Anomalie auf. Als sie den Stoff fortschob, zeigte sich ein etwa fingerlanger Schnitt, der sich zwischen unterem Rippenbogen und Hüftknochen erstreckte.

Einige grob mit dunklem Faden ausgeführte Stiche verschlossen den Schnitt.

»Schauen Sie, Doktor«, Daisy trat einen Schritt zurück und gab den Blick auf den Körper frei.

Gattenbrink strich über die Wunde und die Naht. »Interessant, doch an sich erst einmal nicht tödlich. Sie sagten, Sie haben keinerlei Blutspuren am Tatort gefunden?«

»Keine«, bestätigte Daisy. »Aber ein Schnitt von diesem Ausmaß müsste stark geblutet haben. Und warum hat man ihn verschlossen?«

»Später. Entfernen wir zunächst den Rest der Kleidung.«

Als Karmanns nackter Körper vor ihnen lag, betrachteten die beiden ihn aufmerksam.

Bis auf den seitlichen Schnitt konnten sie keine weitere äußerliche Verletzung erkennen.

»Abgesehen davon, dass Karmann kein besonders kräftiger Mann war, finden Sie nicht, dass der Bauchraum ungewöhnlich eingefallen aussieht, Doktor?« Daisy kam einen Schritt näher. Der untere Rippenbogen des Leibes trat stark hervor.

»Da haben Sie recht, Miss Grace. Doch bevor wir uns sein Inneres anschauen, drehen wir ihn um und betrachten den Körper von hinten.«

Die beiden wendeten Karmann und platzierten ihn auf dem Bauch.

---ENDE DER LESEPROBE---