Wintergeschichten - Rosamunde Pilcher - E-Book

Wintergeschichten E-Book

Rosamunde Pilcher

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Beschreibung

Es ist die Jahreszeit der Besinnung und Stille, der Lichter und Kaminfeuer. Eine Zeit, in der sich Sehnsucht und leise Melancholie ins Glück mischen und man die Kälte mit Gemütlichkeit bekämpft: der Winter mit seinen langen Schneespaziergängen, Weihnachtsfreuden und dem Zauber, der in der Zeit der Kälte und Gemütlichkeit liegt. Rosamunde Pilchers Erzählungen – warm, liebevoll und mit einem unbestechlichen Sinn für Humor – entführen den Leser in verschneite Landschaften unter einer kalten Wintersonne. Ein herzerwärmendes Winter- und Weihnachtsbuch zum Verschenken und Selberlesen für die kalte Jahreszeit.

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Seitenzahl: 205

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Rosamunde Pilcher

Wintergeschichten

Aus dem Englischen von Dorothee Asendorf und Margarete Längsfeld

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Es ist die Jahreszeit der Besinnung und Stille, der Lichter und Kaminfeuer. Eine Zeit, in der sich Sehnsucht und leise Melancholie ins Glück mischen und man die Kälte mit Gemütlichkeit bekämpft. Rosamunde Pilchers Erzählungen – warm, liebevoll und mit einem unbestechlichen Sinn für Humor – entführen den Leser in verschneite Landschaften unter einer kalten Wintersonne.

 

Über Rosamunde Pilcher

Rosamunde Pilcher wurde 1924 in Lelant/Cornwall geboren, arbeitete zunächst beim Foreign Office und trat während des Zweiten Weltkrieges dem Women’s Royal Naval Service bei. 1946 heiratete sie Graham Pilcher und zog nach Dundee/Schottland, wo sie seither wohnt. Rosamunde Pilcher schreibt seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr. Ihre Romane haben sie zu einer der erfolgreichsten Autorinnen der Gegenwart gemacht.

Die Schlittschuhe

Die zehnjährige Jenny Peters machte die Tür von Mr. Sims’ Haushaltswarengeschäft auf und trat ein. Es war vier Uhr nachmittags und schon dunkel und bitter kalt, aber in Mr. Sims’ Laden roch es so heimelig nach Ölofen, und er hatte überall weihnachtlich geschmückt. Auf seinem Tresen stand ein Schild – Nützliche und beliebte Geschenke zum Fest –, und um das unter Beweis zu stellen, hatte er den Griff eines gewaltigen Klauenhammers mit rotem Lametta verziert.

«Hallo, Mr. Sims.»

«Was kann ich für dich tun?»

Sie sagte ihm, was sie brauchte, war sich aber nicht sicher, ob er ihr helfen konnte. «… es müssen ganz kleine Lämpchen sein, so wie die im Kühlschrank. Und dann brauche ich was zum Festmachen. Klemmen oder so. Damit ich sie an der Kante von einem Kasten anbringen kann …»

Mr. Sims ließ sich das Problem durch den Kopf gehen und starrte Jenny dabei über den Rand seiner Brille an. «Brauchst du dafür Batterien?», fragte er.

«Nein. Ich nehme eine Strippe, die stecke ich in die Steckdose.»

«Hört sich an, als ob du dich umbringen willst.»

«Nein, das nicht.»

«Gut. Warte einen Augenblick …»

Er verschwand. Sie zog das Portemonnaie aus der Manteltasche und zählte die letzten Münzen ihres Weihnachtsgeldes auf den Tresen. Hoffentlich reichte es. Und wenn nicht, dann würde Mr. Sims sicherlich anschreiben, bis sie ihr nächstes Taschengeld erhielt.

Nach einem Weilchen kam er mit haarscharf den Zutaten zurück, die sie brauchte. Er öffnete die Schachteln und suchte die verschiedenen Teilchen zusammen: einen kleinen Adapter und ein paar Meter Kabel. Die Klemmen waren eigentlich für größere Lämpchen gedacht, aber das machte nichts.

«Genau das Richtige, Mr. Sims. Danke. Wie viel kostet das?»

Er lächelte, griff nach einer Packpapiertüte und verstaute ihre Einkäufe. «Bei Barzahlung zehn Prozent Rabatt. Das macht …» Er rechnete alles mit einem Bleistiftstummel auf dem Tütenrand zusammen. «Ein Pfund und fünfundachtzig Pence.»

Uff. Sie hatte genug. Sie gab ihm zwei Pfund und bekam das Wechselgeld feierlich zurückgereicht. Mr. Sims konnte jedoch seine Neugier nicht bezähmen. «Wofür brauchst du das alles?»

«Für Nataschas Weihnachtsgeschenk. Es ist ein Geheimnis.»

«Pssst. Bleibt ihr Weihnachten zu Haus?»

«Ja. Granny ist da. Dad hat sie gestern abend vom Bahnhof abgeholt.»

«Wie schön.» Er gab ihr die Tüte. «Hast wohl zu viel zu tun und keine Zeit zum Schlittschuhlaufen, was?»

Jenny sagte: «Ja.» Und dann rückte sie doch mit der Wahrheit heraus. «Ich kann nicht Schlittschuh laufen.»

«Wetten, du hast es noch nie probiert?»

«Oh, ja. Ich hab mir Nataschas alte Stiefel geborgt. Aber die waren zu groß, und ich bin dauernd hingefallen.»

«Wenn man den Dreh erst raus hat, geht’s», sagte Mr. Sims. «Genau wie beim Radfahren.»

«Ja», sagte Jenny. «Kann sein.» Sie nahm die prall gefüllte Tüte. «Danke, Mr. Sims, und schöne Weihnachten.»

Draußen überfiel sie die Kälte wie ein Schlag. Es war, als käme man in ein Kühlhaus. Aber es war nicht ganz dunkel, die Straßenlaternen brannten schon, dazu kam noch das Flutlicht, das Tommy Bright, der Geschäftsführer des Wappen von Bramley vor seinem Pub installiert hatte. Damit strahlte er die Eisbahn an, nämlich den überfluteten und gefrorenen Dorfplatz. Dieser kostenlose Service wurde auch belohnt; jeden Abend war es rappelvoll bei ihm, und die Kasse klingelte nur so.

Das Dorf lag in einer Mulde, die nach Süden hin durch eine Hügelkette abgeschlossen wurde. Häuser, Kirche, Läden und Pub drängten sich um den Dorfplatz und das Flüsschen, das eher ein Bach war. Und dieser Fluss war über die Ufer getreten. Fast den ganzen November hindurch hatte es geregnet, und Anfang Dezember gab es den ersten Schnee. Die Alten konnten sich nicht erinnern, je solch ein Wetter erlebt zu haben. Der Fluss war stetig angestiegen, hatte sein Bett verlassen und am Ende den Dorfplatz unter Wasser gesetzt. Dann war die Temperatur jäh gefallen, es hatte starke Nachtfröste gegeben, und nun war alles steinhart gefroren.

Eine Schlittschuhbahn. Seit einer Woche hielt das Eis, und heute war Heiligabend, und es würde weiter kalt bleiben, wenn man dem Wetterbericht trauen konnte.

Jenny blieb einen Augenblick vor Mr. Sims’ Laden stehen und sah sich das Volksfest an. Die Schlittschuhläufer, die Schlitten, die unbeholfenen Hockeyspieler. Gekreisch und Gelächter, denn alle hatten ihren Spaß, ganze Familien waren auf dem Eis, zogen eingemummelte Babys auf Schlitten hinter sich her oder liefen Hand in Hand Schlittschuh.

Sie hielt nach ihrer Schwester Natascha Ausschau und erblickte sie fast sofort, denn sie war in ihrem rosa Trainingsanzug gar nicht zu übersehen. Natascha lief Schlittschuh, wie sie auch sonst alles machte, mit spielender Leichtigkeit und Grazie. Sie war groß und schlank, hatte blondes Haar und endlos lange Beine, und alle sportlichen Aktivitäten fielen ihr leicht. In der Schule war sie Kapitän der Jugendmannschaft und der Gymnastikmannschaft, aber ihre große Leidenschaft galt dem Tanz. Seit ihrem fünften Lebensjahr bekam sie Ballettunterricht und hatte bereits eine Reihe von Medaillen und Preisen gewonnen. Sie hatte nur eins im Kopf, nämlich Ballerina werden.

Jenny, die kleiner und jünger und sehr viel pummeliger war, hinkte immer hinter ihrer Schwester her. Sie hatte auch Ballettunterricht, hatte es bislang jedoch nicht weiter als bis zum Seemannstanz und zu mitteleuropäischen Polkas gebracht. Sie konnte den linken und den rechten Fuß nicht auseinanderhalten. Im Sport ging es ihr auch nicht viel besser, wenn sie übers Pferd springen musste, landete sie fast immer auf der Seite, auf der sie angefangen hatte.

Sie ging nicht gern zum Ballettunterricht, fügte sich aber, weil es so ungefähr das Einzige war, was die beiden Schwestern gemeinsam machten. Manchmal träumte sie davon, mit ihren Energien etwas ganz anderes anzufangen. Zum Beispiel Klavier spielen. Im Speisezimmer zu Hause hatten sie ein Klavier, und der Gedanke, dass es dastand und voller Musik war, die sie ihm nicht entlocken konnte, der war einfach frustrierend. Es erinnerte sie dauernd daran, was sie alles nicht konnte. Aber Klavierstunden waren teuer. Viel teurer als der Tanzkurs in der Volkshochschule, und sie traute sich einfach nicht, ihre Eltern darum zu bitten. Vielleicht konnte sie sich ja zum Geburtstag Klavierunterricht wünschen. Aber sie hatte erst im Sommer Geburtstag. Es war alles sehr schwierig.

«Jenny!» Das war Natascha, die Hand in Hand mit einem anderen Mädchen vorbeischwebte. «Los, komm. Probier’s nochmal.»

Jenny winkte, aber da waren sie schon fort, glitten zum anderen Ende der Eisbahn. Es sah so leicht aus, aber sie hatte erlebt, dass es auf der ganzen Welt nichts Schwierigeres gab. Und sie hatte es wirklich versucht, mit Nataschas alten Stiefeln. Aber jeder Schritt war eine Qual, und ihre Füße und Beine waren in alle Richtungen auseinander gerutscht, und am Ende war sie gestürzt und hatte sich böse wehgetan. Doch das schmerzte weniger als die Erkenntnis, dass sie sich wieder einmal blamiert hatte.

Sie seufzte und ging nach Haus. Ein netter Spaziergang bei der weihnachtlichen Stimmung überall, Licht hinter allen Fenstern und Lichter an den Weihnachtsbäumen, die in gefrorene Gärten hinausstrahlten. Zu Hause hatten sie auch einen Weihnachtsbaum am Speisezimmerfenster, doch im Wohnzimmer waren die Vorhänge zugezogen. Sie machte die Wohnzimmertür auf und steckte den Kopf um die Ecke. Mum und Dad und Granny tranken Tee am Kamin, und Granny strickte. Alle blickten auf und lächelten.

«Möchtest du eine Tasse Tee, Kind? Oder soll ich dir eine heiße Schokolade machen?»

«Nein, danke. Ich will nur schnell in mein Zimmer.»

Oben knipste sie das Licht an und zog die Vorhänge zu. Ihr Zimmer war nicht sehr groß, aber es war ihr eigenes Reich. Ihr Arbeitstisch nahm viel Platz ein; hier machte sie Schularbeiten, zeichnete und baute ihre kleine Nähmaschine auf, wenn sie Lust hatte, etwas zu nähen. Jetzt allerdings lag er voller Schnipsel und Zutaten für Nataschas Geschenk. Farbtiegel und Klebstofftuben und Wattebäuschchen und Pfeifenreiniger und Bänder. Das Geschenk war mit einem Laken zugedeckt. So hatte es die ganze Zeit über gestanden, seit Jenny daran arbeitete, und sie wusste ganz genau, dass ihre Mutter auf gar keinen Fall heimlich nachsehen würde.

Sie hob das Laken hoch und betrachtete das Geschenk lange, versuchte es mit Nataschas kritischem Blick zu sehen.

Es war eine Miniaturballettbühne. Eine leere Holzkiste hatte sie auf die Idee gebracht, und ihr Vater hatte ihr dabei geholfen, sie so zurechtzusägen, dass sie einen Fußboden und drei Wände hatte. Zwei Wände hatte sie grün gestrichen, auf die hintere Wand jedoch hatte sie die Reproduktion eines alten Gemäldes geklebt, das sie in einem Trödelladen aufgetrieben und passend zurechtgeschnitten hatte. Eine idyllische Szene, winterlich und hell, mit Haustieren und mit einem Mann im roten Umhang, der einen holzbeladenen Schlitten zog.

Sie hatte den Boden mit Klebstoff bestrichen und mit Sägemehl bestreut und in die Mitte einen runden Spiegel aus einer alten Handtasche geklebt, der sollte einen gefrorenen See darstellen.

Bäume gab es auch, Immergrünzweige in alten Garnrollen, und die glitzerten frostig, weil sie mit Weihnachtsspray eingesprüht waren. Die Tänzerinnen waren winzige Figürchen aus Pfeifenreinigern und Watte, sie trugen Kleidchen aus leuchtenden Bänderschnipseln und weißen Tüllfetzen. Für die Tänzerinnen hatte sie ewig gebraucht, es war eine arge Fummelei gewesen, denn sie musste ihnen Gesichtchen malen und Haare ansetzen.

Aber jetzt war es geschafft. Fehlte nur noch das Licht. Sie öffnete die Tüte und holte behutsam die Teilchen heraus, die ihr Mr. Sims freundlicherweise zusammengesucht hatte. Das dauerte, und sie musste noch einmal nach unten und sich einen Schraubenzieher holen. Als schließlich alles fertig war, befestigte sie die Lämpchen mit den Klemmen an den drei Oberkanten der kleinen Bühne und steckte die lange Leitung in die Steckdose ihrer Nachttischlampe. Sie knipste den Schalter an, und die kleinen Lichter strahlten auf. Aber sie waren kaum zu sehen, also knipste sie die große Lampe aus und drehte sich im Dunkeln um, um die volle Wirkung zu prüfen.

Besser, als sie sich hätte träumen lassen. Umwerfend. So echt, dass die winzigen angestrahlten Figuren richtig lebendig wurden, so als wollten sie tanzen und auf dem Sägemehl des Bodens ihre Pirouetten drehen.

Nach einem Weilchen packte sie alles weg, deckte die Bühne mit dem Laken zu, setzte eine andere Miene auf und ging nach unten.

«Alles in Ordnung, Kind?», fragte ihre Mutter.

«Ja», erwiderte Jenny und schnitt sich so unbefangen wie möglich ein Stück Kuchen ab.

 

Das Beste an Weihnachten blieb sich immer gleich. Nach dem Abendessen an Heiligabend Weihnachtslieder mit Granny am Klavier, zu Bett gehen und die Strümpfe aufhängen und dann der Gedanke, dass man nie im Leben einschlafen würde. Und wenn man sich nicht länger darum bemühte, wurde man auf einmal wach, und die Uhr zeigte halb acht, und der Strumpf am Fußende des Bettes war prall gefüllt.

Weihnachten, das war der Duft von gepellten Mandarinen und Schinken und Eiern zum Frühstück. Das war der Kirchgang in der bitterkalten, frostigen Luft und Lieder wie ‹Vom Himmel hoch da komm ich her›, Jennys Lieblingslied. Und nach dem Gottesdienst ein Plausch vor der Kirche und dann der eilige Heimweg, und der Puter, und Feuer in allen Kaminen.

Und dann, wenn alles bereit war, sagte Dad: «Auf die Plätze, fertig, los!», und dann durften sie über die Päckchen herfallen, die sich unter dem Weihnachtsbaum häuften.

Nataschas Geschenk hatte ein Problem dargestellt. Wie wickelt man eine Bühne ein? Schließlich hatte Jenny eine Art Kaffeewärmer aus Weihnachtspapier konstruiert, hatte ihn über die Bühne gestülpt und sie behutsam nach unten getragen. Sie setzte sie auf der Anrichte ab, damit niemand darüber stolperte.

Doch jetzt war die Bühne in der Aufregung über ihre eigenen Geschenke vergessen. Eine neue Lampe für ihr Fahrrad, ein Shetlandpullover und ein Paar schwarze Lackschuhe, die sie sich sehnlichst gewünscht hatte. Von Natascha ein Buch. Von ihrer Patentante einen Porzellanbecher mit ihrem Namen in Gold. Und von Granny … ein großes viereckiges Paket in rot-weiß gestreiftem Geschenkpapier. Sie saß auf dem Fußboden inmitten von Bändern und Papier und Weihnachtskarten und machte es auf. Das Papier fiel herunter, eine weiße Schachtel kam zum Vorschein. Noch mehr Seidenpapier. Schlittschuhstiefel.

Schöne, neue weiße Schlittschuhstiefel mit blinkenden Stahlkufen, und genau die richtige Größe. Jenny starrte sie mit gemischten Gefühlen an, Entzücken, weil sie so phantastisch waren, und Bangigkeit bei dem Gedanken, was sie damit tun sollte.

«Oh, Granny.» Ihre Großmutter beobachtete sie. Jenny stand auf, lief zu ihr hin und drückte sie. «Sie sind … sie sind einfach super.»

Ihre Blicke trafen sich. Großmutters Augen waren alt, aber sie leuchteten. Ihnen entging nichts. Sie sagte: «In Stiefeln, die einem nicht passen, kann man unmöglich Schlittschuh laufen. Ich habe sie gestern gekauft. Du sollst dich doch nicht um den ganzen Spaß bringen.»

«Heute Nachmittag gehen wir Schlittschuh laufen», sagte Natascha bestimmt. «Du musst es einfach nochmal probieren.»

«Ja», sagte Jenny lammfromm. Und in diesem Augenblick fiel ihr die Bühne ein, das einzige Geschenk, das noch nicht geöffnet war. «Aber jetzt musst du mein Geschenk aufmachen.»

Die Erwachsenen setzten sich voller Vorfreude zurecht. In Wahrheit konnten sie es kaum noch erwarten, wollten unbedingt sehen, was Jenny die ganzen letzten Wochen heimlich in ihrem Zimmer getrieben hatte.

Jenny ging in die Hocke und steckte den Stecker in die Steckdose für die Wärmplatte. «Pass auf, Natascha, du musst das Papier genau in dem Augenblick abnehmen, wenn ich anknipse, sonst kann es Feuer fangen.»

«Lieber Himmel», sorgte sich Granny, «es ist doch nicht etwa ein Vulkan?»

«Jetzt!», sagte Jenny und knipste das Licht an. Rasch nahm Natascha den Kaffeewärmer ab, und da stand das Geschenk in seiner ganzen Pracht. Mit Lämpchen, die den Glitzer strahlen ließen, vom Spiegelteich zurückgeworfen wurden und die Röckchen aus Satinband der winzigen Ballerinen zum Schimmern brachten.

Eine gebührende Zeit herrschte völlige Stille. Dann sagte Natascha: «Einfach nicht zu fassen», und alle fielen lauthals ein.

«Oh, Kind! So was Ausgefallenes aber auch. Wirklich das Hübscheste …»

«Hat man je so was Bezauberndes gesehen …»

«Dafür wolltest du also die Weinkiste haben.»

Sie standen auf, wollten alles sehen, traten zurück und staunten und wunderten sich. Wirklich, ein dankbares Publikum. Und Natascha selber fand keine Worte. Schließlich drehte sie sich um und nahm ihre Schwester in den Arm. «… das gebe ich nie im Leben wieder her.»

«Es ist kein richtiges Ballett. Ich meine, nicht La fille mal gardée oder so.»

«Mir gefällt es so besser. Mein Winterballett, das mir ganz allein gehört. Einfach Spitze. Danke, Jenny. Danke.»

Gegen vier Uhr war das weihnachtliche Festmahl verspeist und die Küche in Ordnung gebracht. Weihnachten war vorbei – bis zum nächsten Jahr. Sie hatten die Knallbonbons gezogen, die Nüsse geknackt. Jennys Eltern und ihre Großmutter saßen im Wohnzimmer und tranken Kaffee, ehe sie sich ein wenig Bewegung in der frischen Luft verschafften, was auch nötig war. Natascha war schon mit ihren Schlittschuhen fort.

«Mach schon, Jenny. Ich bin fertig», hatte sie nach oben gerufen.

«Bin gleich da.»

«Was treibst du denn noch?»

Jenny hockte auf ihrem Bett. «Nur ein bisschen aufräumen.»

«Soll ich warten?»

«Nein. Bin gleich da.»

«Ehrenwort?»

«Ja. Ehrenwort. Ich komme.»

«Na gut. Bis gleich!»

Die Tür knallte zu, sie war weg, lief den Gartenweg entlang zur Pforte. Jenny war allein. Sie hatte Schlittschuhe geschenkt bekommen, aber die hätte sie am liebsten nicht gehabt, denn sie konnte nicht Schlittschuh laufen. Nicht dass sie nicht wollte, aber sie hatte Angst. Weniger vor dem Hinfallen und den blauen Flecken, sondern eher davor, dass sie sich blamierte, dass die anderen sie auslachten, dass sie nach Haus gehen und eingestehen müsste, sie wäre wie üblich eine totale Niete.

‹Ich möchte wie Natascha sein›, dachte sie. Wusste aber, das war nicht möglich, weil sie nie wie Natascha sein würde. ‹Ich möchte übers Eis schweben und langes blondes Haar und lange schlanke Beine haben, dann bewundern mich alle und wollen mit mir Schlittschuh laufen.›

Aber wenn sie wieder und wieder hinfiel, würden alle sagen Ach, Jenny, du Ärmste. So ein Pech aber auch. Probier’s doch nochmal.

Sie hätte ihre Seele verkauft, wenn sie hätte hier bleiben, sich auf dem Bett zusammenrollen und das neue Buch hätte lesen können, das ihr Natascha geschenkt hatte. Aber sie hatte ihr Ehrenwort gegeben. Sie nahm also die Schlittschuhe, verließ ihr Zimmer und ging die Treppe hinunter, ganz langsam, Stufe um Stufe, so als ob sie gerade das Gehen gelernt hätte.

Im Wohnzimmer unterhielt man sich. Grannys Stimme war ganz deutlich durch die geschlossene Tür zu hören.

«… so ein begabtes Kind. Wie viele Stunden sie wohl gebraucht hat, bis dieses kleine Meisterwerk fertig war. Und die Gedanken, die Phantasie, die sie hineingesteckt hat.»

«Sie war schon immer geschickt mit den Händen. Kreativ.» Das war Vater. Und man redete über sie. «Vielleicht wäre sie besser ein Junge geworden.»

«Also wirklich, John, wie kannst du nur so was sagen!» Granny hörte sich richtig ärgerlich an. «Dürfen Mädchen keine geschickten Hände haben?»

«Komisch …» Das war Jennys Mutter, sie hörte sich nachdenklich an, «dass zwei Töchter so verschieden sein können. Natascha fällt alles in den Schoß. Und Jenny …» Sie verstummte.

«Natascha fällt alles in den Schoß, was sie gern tut.» Wieder Granny, jetzt ganz lebhaft. «Jenny ist nicht Natascha. Sie ist ganz anders. Ich glaube, das solltet ihr respektieren und sie anders anfassen. Schließlich sind sie keine eineiigen Zwillinge. Warum muss Jenny tanzen, nur weil sich Natascha schon als künftige Ballerina sieht? Warum muss sie überhaupt Ballettunterricht haben? Ich finde, ihr solltet die Begabungen fördern, die sie wirklich hat.»

«Was meinst du damit, Mutter?»

«Ich habe ihr zugehört, als wir gestern Abend Weihnachtslieder gesungen haben. Da war kein falscher Ton dabei. Ich halte sie für musikalisch. Seltsam, dass sie in der Schule noch nicht darauf gekommen sind. Habt ihr mal an Klavierunterricht gedacht?»

Eine lange Pause, dann sagte Jennys Vater: «Nein.» Das klang nicht böse, sondern eher, als ob ihm die Idee noch nie gekommen wäre und er gar nicht wüsste, wieso eigentlich nicht.

«Beim Tanzen wird sie es nie weiter bringen, als mit einem Tamburin herumzuhopsen. Gebt ihr Klavierunterricht, und ihr werdet euer blaues Wunder erleben.»

«Und du meinst, das würde ihr Spaß machen? Du meinst, sie ist begabt?»

«Ein so begabtes Kind kann alles, wenn es mit dem Herzen bei der Sache ist. Sie braucht nur Zutrauen. Ich glaube, wenn ihr sie anders anfasst, wird sie uns noch alle in Erstaunen versetzen.»

Die Stimmen verstummten. Schweigen. Gleich würde ihre Mutter die leeren Kaffeetassen aufs Tablett stellen. Jenny wollte nicht entdeckt werden, und so schlich sie die letzten Stufen auf Zehenspitzen hinunter und schlüpfte geräuschlos aus der Haustür. Dann lief sie den Weg entlang und zur Pforte hinaus.

Sie blieb stehen.

Habt ihr mal an Klavierunterricht gedacht? Gebt ihr Klavierunterricht.

Kein Ballettunterricht mehr. Nur sie selbst, sie ganz allein, sie würde Musik machen.

Ein so begabtes Kind kann alles, wenn es mit dem Herzen bei der Sache ist.

Wenn Granny ihr das zutraute, dann schaffte sie es vielleicht auch. Und sie hatte für Jennys Schlittschuhe keine Mühe und Kosten gescheut. Da musste sie es wenigstens noch einmal versuchen.

Die Sonne wollte orangefarben hinter dem Hügelkamm untergehen. Von fern konnte sie in der frostigen Stille des Weihnachtstages das Lachen und die Stimmen auf dem Dorfplatz hören. Sie setzte sich in Bewegung.

Als sie hinkam, hielt sie nicht Ausschau nach Natascha. Sie wusste, was sie tun musste, und das wollte sie allein ausprobieren.

«Hallo, Jenny. Fröhliche Weihnachten!»

Eine Schulfreundin mit Schlitten. Jenny lieh sich den Schlitten von ihr und setzte sich. Sie zog die Gummistiefel aus und stieg in die schönen, neuen weißen Schlittschuhstiefel. Sie fühlten sich weich und schmiegsam an, und als sie sie zuschnürte, schmiegten sie sich um ihre Knöchel wie alte Freunde.

Sie stellte sich auf das gefrorene Gras und ging ein paar Schritte. Nichts wackelte. Sie betrat das Eis. Erinnerte sich an Nataschas Anweisungen: ‹Füße in die dritte Position und abstoßen.› Ein bisschen wacklig stand sie zwar, aber sie hielt das Gleichgewicht. Jetzt. Dritte Position. Tief Luft holen. Nur Mut. Sie konnte alles, wenn sie mit dem Herzen bei der Sache war. Abstoßen. Gut. Jetzt den anderen Fuß …

Es klappte! Sie glitt. Sie stürzte nicht, und sie musste auch nicht mit den Armen wedeln. Eins und zwei. Eins und zwei. Sie lief Schlittschuh.

«Es geht ja! Du hast es kapiert!» Auf einmal war Natascha neben ihr. «Nein, nicht mich ansehen, konzentrier dich. Nicht vornüberbeugen. Da, nimm meine Hand, wir laufen zusammen. Gut gemacht! Du weißt also noch, was ich dir gesagt habe. Ist doch ganz leicht. Der einzige Grund, warum es bislang nicht geklappt hat, waren die blöden alten Stiefel …»

Sie liefen zusammen. Zwei Schwestern, Hand in Hand, und die eisige Luft stach ihnen in die Wangen. Schwebten übers Eis. Ihr war zumute, als hätte sie Flügel an den Füßen. Die Sonne war untergegangen, doch weit im Osten hing schmal wie ein Lid die Sichel des Neumonds.

«Dein Geschenk war das beste von allen», sagte Natascha. «Was war dein bestes Geschenk?»

Aber das konnte Jenny ihr nicht erzählen. Zum einen fehlte ihr die Luft, zum anderen wusste sie es selber nicht so genau. Sie wusste nur, dass es nicht in einem Päckchen mit Weihnachtspapier gesteckt hatte und dass es etwas war, was sie ihr Leben lang behalten konnte.

Das Haus auf dem Hügel

Das Dorf war winzig klein. In den zehn Jahren seines Lebens hatte Oliver noch keine so klitzekleine Ortschaft gesehen. Sechs graue Häuser aus Granit, eine Wirtschaft, eine alte Kirche, ein Pfarrhaus und ein kleiner Laden. Vor diesem parkte ein verbeulter Lieferwagen, irgendwo bellte ein Hund, doch davon abgesehen schien alles wie ausgestorben.

Mit dem Korb und Sarahs Einkaufsliste in der Hand öffnete er die Ladentür, über der JAMES THOMAS, LEBENSMITTEL UND TABAKWAREN geschrieben stand, und ging hinein, zwei Stufen hinab. Die zwei Männer an der Theke, der eine davor, der andere dahinter, drehten sich nach ihm um.

Er schloss die Tür hinter sich. «Kleinen Moment», sagte der Mann hinter der Theke, vermutlich James Thomas, ein kleiner, glatzköpfiger Herr in einer braunen Strickjacke. Er sah wie ein ganz gewöhnlicher Mensch aus. Der andere Mann hingegen, der eingekauft und nun eine Unmenge Lebensmittel zu bezahlen hatte, war nicht im mindesten gewöhnlich, sondern so groß, dass er sich im Stehen leicht bücken musste, um nicht mit dem Kopf an die Deckenbalken zu stoßen. Er trug eine Lederjacke, geflickte Jeans und riesengroße Arbeiterstiefel, er hatte rote Haare und einen ebenso roten Bart. Oliver, der wusste, dass es sich nicht gehörte, Menschen anzustarren, starrte ihn an, und der Mann starrte aus einem Paar hellblauer, harter Augen ungerührt zurück. Es war verstörend: Oliver versuchte ein zaghaftes Lächeln, aber das wurde nicht erwidert, und der bärtige Mann sagte kein Wort. Kurz darauf wandte er sich zur Theke und holte ein Bündel Geldscheine aus seiner Gesäßtasche. Mr. Thomas tippte die Preise in die Kasse und gab ihm den Zettel.

«Sieben Pfund fünfzig, Ben.»

Sein Kunde bezahlte, stapelte dann zwei voll beladene Lebensmittelkartons übereinander, hob sie mühelos auf und Oliver hielt ihm die Tür auf. Auf der Schwelle sah der bärtige Mann auf ihn herunter. «Danke.» Seine Stimme war tief wie ein Gong. Ben. Man konnte ihn sich auf dem Achterdeck eines Piratenschiffes Befehle bellend oder als Angehörigen einer mörderischen Bande von Strandräubern vorstellen. Oliver sah zu, wie er seine Kartons durch die Hecktür in seinem Lieferwagen verstaute, dann auf den Fahrersitz kletterte und den Motor anließ. Mit dröhnendem Auspuff und unter Prasseln von Straßensplitt fuhr das ramponierte Vehikel los. Oliver schloss die Tür und ging in den Laden zurück.

«Womit kann ich dienen, junger Mann?»

Oliver gab ihm die Liste. «Das ist für Mrs. Rudd.»

Mr. Thomas sah ihn lächelnd an. «Dann musst du Sarahs kleiner Bruder sein. Sie hat gesagt, dass du sie besuchen kommst. Wann bist du angekommen?»

«Gestern Abend. Mit dem Zug. Ich bin am Blinddarm operiert, deshalb bleib ich zwei Wochen bei Sarah, bis ich wieder in die Schule muss.»

«Du wohnst in London, nicht?»

«Ja. In Putney.»

«Hier kommst du schnell wieder zu Kräften. Bist das erste Mal hier, wie? Wie gefällt dir das Tal?»

«Es ist schön. Ich bin vom Hof runtergelaufen.»

«Hast du Dachse gesehen?»

«Dachse?» Er wusste nicht, ob Mr. Thomas ihn auf den Arm nahm. «Nein.»

«Geh mal im Zwielicht ins Tal runter, dann kannst du Dachse sehen. Und wenn du die Klippen runtergehst, kannst du die Seehunde beobachten. Wie geht’s Sarah?»