Winterleuchten am Liliensee - Elisabeth Büchle - E-Book
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Winterleuchten am Liliensee E-Book

Elisabeth Büchle

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Beschreibung

Schwarzwald, 1965: Lisa hatte es nie leicht im Leben und wird von Selbstzweifeln geplagt. Als sie von der Försterfamilie Vogel an den reizvollen Liliensee eingeladen wird, hofft sie, dort zur Ruhe zu kommen und die Vergangenheit hinter sich lassen zu können. Charlotte Vogel nutzt die Gunst der Stunde, um einen ihrer Söhne mit Lisa zu verkuppeln. Und tatsächlich: Lisa unternimmt eine Bergtour mit Charlottes ältestem Sohn Robert, doch schon bald schweben die beiden in Gefahr ... Eine spannend-romantische Geschichte, die aufzeigt, dass Gott auch auf krummen Linien gerade schreiben kann.

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Seitenzahl: 278

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Elisabeth Büchle

Winterleuchten am Liliensee

Über die Autorin

Elisabeth Büchle hat zahlreiche Bücher veröffentlicht und wurde für ihre Arbeit schon mehrfach ausgezeichnet. Ihr Markenzeichen ist die fesselnde Mischung aus gründlich recherchiertem historischem Hintergrund, abwechslungsreicher Handlung und einem guten Schuss Romantik. Sie ist verheiratet, Mutter von

fünf Kindern und lebt im süddeutschen Raum.

www.elisabeth-buechle.de

Kapitel 1

1965

Charlotte Vogel betrachtete kritisch den Briefumschlag. Er sah aus, als hätte er nicht nur den Weg von Füssen bis hierher an den Liliensee hinter sich, sondern eine halbe Weltreise. „Schicken sie die Post neuerdings über die Salomonen?“, fragte sie und prüfte mit einer Hand, ob ihre Hochsteckfrisur noch richtig saß.

„Nein, Mama. Nur über Liechtenstein“, erwiderte Robert, der sein Frühstück mit einem letzten Schluck Kaffee hinuntergespült hatte und sich nun erhob.

„Na, so was! Und weshalb das?“

„Ach, meine liebe kleine Mama!“ Ihr ältester Sohn lachte, zog sie im Vorbeigehen kurz an sich, wobei die Knöpfe seines Uniformhemdes ihr in die Seite drückten, und verließ die Küche.

Charlotte folgte ihm und lehnte sich an den Türrahmen. Wieder war sie viel zu gutgläubig gewesen, etwas, wofür ihr Ehemann sie seit dreißig Jahren liebte und ihre drei Söhne sie seit gut zwanzig neckten.

„Du weißt ja nicht einmal, wo die Salomonen liegen“, rief sie Robert zu. Er saß auf einer Holztruhe im Flur, wo sich eine gewaltige Anzahl Schuhe und Stiefel ein Stelldichein gaben, Jacken hingen, Hüte thronten und sechs Gewehre in der abschließbaren Vitrine auf ihre Nutzung warteten.

Robert, der einmal mehr auf die Krawatte verzichtet hatte, die eigentlich zu seiner Forstuniform dazugehörte, war dabei, sich seine schweren Arbeitsschuhe zuzuschnüren. Wie sein Vater und dessen Vater – und Generationen vor ihnen – arbeitete er als Förster in diesem Teil des Schwarzwaldes. Entsprechend muskulös war er gebaut, oft allein unterwegs und trotz seiner inzwischen neunundzwanzig Jahre noch immer nicht verheiratet. Und dabei wollte Charlotte so gern eine weitere Frau im Haus haben und viele Enkelkinder um sich scharen.

„Vermutlich sind die Salomonen auf Seite fünfundzwanzig in deinem Roman zu finden?“, mutmaßte Robert, ergriff seine grüne Jacke mit den geflochtenen Schulterstücken, lächelte sie an und stapfte durch die offen stehende Tür davon.

„Seite neun“, rief Charlotte ihm noch nach, obwohl er sie sicher nicht mehr hören konnte. Sie drehte sich in ihre große, hellblau geflieste Küche hinein und setzte sich auf die Eckbank an dem wuchtigen Esstisch.

Georg, ihr zweitältester Sohn, hatte bereits mehrmals angeboten, die Tischplatte für sie abzuschmirgeln, damit sie wieder wie neu aussah, doch Charlotte weigerte sich vehement, ihm die Erlaubnis dafür zu geben. Viel zu sehr liebte sie jede einzelne Kerbe, jedes Brandloch, jeden Farbklecks auf der Holzplatte, erzählten all diese Makel doch ihre eigene Geschichte. Sie waren für sie wie wertvolle Perlen der Erinnerung an die Anfangszeit ihrer Ehe, an die Kinder, die hier gegessen, für die Schule gelernt, gescherzt und gelacht, so manches Mal aber auch geweint hatten. Oder zornig gewesen waren.

Mit dem Zeigefinger fuhr sie über eine tiefe Kerbe. Robert hatte sie mit seiner Axt hineingetrieben. An jenem Tag, als er erfahren hatte, dass das Mädchen, das er liebte, nur mit seinen Gefühlen spielte. Irmgard war schwanger gewesen. Von einem anderen. Dennoch hatte Robert ihr angeboten, sie zu heiraten. Daraufhin hatte sie ihn schallend ausgelacht und dabei sein Herz in Fetzen gerissen.

Zwei Wochen später war Irmgard tot gewesen. Gestorben, weil irgendein Pfuscher das Baby hatte ungeschehen machen wollen. Und Robert hatte getrauert. Um Irmgard, um das tote Kind, um eine verlorene Liebe und den Verlust seines Vertrauens in die Menschheit.

Charlotte seufzte leise und griff nach dem unbenutzten Messer auf dem Tisch. Vermutlich hatte Georg es wie so oft eilig gehabt, zu seinem nächsten Bauprojekt zu kommen, sodass er lediglich ein trockenes Brot hinuntergeschlungen hatte. Vorsichtig ritzte sie den zerknitterten und mit Flecken verunzierten Umschlag auf und entnahm ihm ein weiteres Schreiben des Füssener Bürgermeisteramtes.

Vor einigen Wochen hatte sie von einer früheren Nachbarin einen Brief erhalten, in dem die alte Dame ihr mitteilte, dass Charlottes Kindheitsfreundin Gerda gestorben war. Nachdem der erste Schock über diese Nachricht verflogen war, hatte Charlotte voller Schmerz an Gerdas sechsjährige Tochter gedacht, deren Patentante sie war. Gerda und sie hatten seit Charlottes Umzug hierher in den Schwarzwald nur mehr sporadisch Kontakt gehalten, umso erfreuter war sie damals gewesen, dass ihre Freundin von einst offenbar doch noch ihr Glück gefunden hatte. Ebenso über die Einladung zur Tauffeier und die ihr zuteilwerdende Ehre, die Patentante des Kindes zu werden. Erst am Tauftag hatte sie erfahren, dass der Vater des Mädchens nicht mehr an Gerdas Seite war.

Gerda war schon immer wie ein schillernder Schmetterling gewesen, der von einer Blüte zur nächsten flatterte, ohne sich Gedanken über das Leben zu machen oder sich daran zu stören, was andere von ihm dachten. Nun flog und schillerte sie nicht mehr. Traurig schüttelte Charlotte den Kopf.

Kaum dass die Nachricht sie erreicht hatte, hatte Charlotte zuerst einen und dann etliche weitere Briefe an das zuständige Amt geschrieben, bis ihr endlich zugesagt worden war, dass man Trudi zu ihr schicken würde. Als Patentante, so fand sie, stand es ihr zu, das nun elternlose Kind bei sich aufzunehmen, zumal Gerda keine Geschwister gehabt hatte.

Erwartungsvoll überflog sie die Zeilen, und bald schon legte sich ein fröhliches Lächeln auf ihr Gesicht. Gerdas Tochter war unterwegs zu ihr und durfte hier bei ihnen im Forsthaus leben. Zwar unter Vorbehalt, falls sich doch ein Verwandter oder gar der Vater melden würde, aber das erschien Charlotte äußerst unwahrscheinlich.

Nun würde also doch noch ein Mädchen in dieses Haus einziehen. Voller Vorfreude betrachtete Charlotte den Esstisch, plante bereits, wo sie von nun an ein weiteres Gedeck auflegen würde, hörte schon das helle Lachen des Kindes in diesem Raum. Ein zweites Mal, diesmal weniger flüchtig, las sie die Zeilen und schrak zusammen. Trudi sollte bereits heute am Bahnhof von Schiltach eintreffen, und zwar in etwa zwei Stunden.

Charlotte sprang auf und stieß sich die Oberschenkel heftig am Tisch. Das schmutzige Geschirr klapperte und übertönte ihren verhaltenen Schmerzensschrei. Mit dem Briefbogen in der Hand eilte sie aus der Küche. Ihre Schritte polterten über den Holzboden des Flurs, klackerten über die Fliesen im Eingangsbereich und auf die abgenutzten Stufen, die sie zu dem gekiesten Innenhof führten.

„Robert?“, rief sie laut, in der Hoffnung, dass er noch in der Nähe war. Der gegenüberliegende Berg, der den Liliensee wie eine schützende Wand vom nächstgelegenen Tal abschirmte, warf den Ruf zurück.

Lisa Schwaiger sah zu, wie der Zug an Geschwindigkeit gewann und stampfend, ratternd und bekrönt mit einer grauen Rauchwolke allmählich aus ihrem Blickfeld verschwand. Als sie sich umwandte, war auch der Stationsbeamte verschwunden. Die Dreiundzwanzigjährige stellte ihren Koffer ab, strich sich eine ihrer hellblonden Strähnen aus dem Gesicht, die unter ihrem grauen Hut hervorgerutscht war, der wie eine Mütze wirkte, aber weit hinten am Kopf getragen wurde. Er passte farblich perfekt zu dem breiten, asymmetrischen Revers ihres ansonsten blauen Wollmantels.

Prüfend sah sie sich um. Sie war allein. Anders, als man ihr gesagt hatte, wurde sie nicht am Bahnhof dieser kleinen Ortschaft erwartet, die in bewaldete Hügel eingebettet war.

„Ich habe das bereits befürchtet“, sagte sie auf Französisch zu ihrem Koffer, dessen Verschlussschnallen sie mitfühlend anschauten, wie sie fand. „Es ist ja auch zu komisch, dass plötzlich eine Freundin von … Gerda Interesse an mir zeigt. Warum also sollte sie mich einladen, bei ihr zu wohnen?“ Diese Frage stellte sich Lisa nicht zum ersten Mal. Gespannt schaute sie das Gepäckstück an, das sich weiterhin in Schweigen hüllte. „War es also doch die falsche Entscheidung, hierherzukommen?“

Die seltsam anmutende Eigenart, sich mit allem Möglichen und Unmöglichen zu unterhalten, hatte sich Lisa bereits im Kindesalter angeeignet. Sie war oft einsam gewesen, da war es von Vorteil, solche Gesprächspartner zu haben. Auch wenn die meist sehr verschwiegen waren – was manchmal durchaus praktisch war.

Da die Novembersonne nicht sonderlich wärmte und sie keine Ahnung hatte, was sie jetzt tun sollte, knöpfte Lisa den Mantel über ihrem A-Linien-Kleid zu. Sie setzte sich auf den Koffer und ließ ihren Blick über die Schienen zu dem wuchernden Buschwerk gegenüber des Bahnhofgebäudes gleiten, weiter zu herbstlich verfärbtem Gehölz und schließlich hinauf zu den Bergen, die von im Wind schwankenden Bäumen bevölkert waren. Ein Bussard flog über den Taleinschnitt, und im Gebüsch neben ihr raschelte es. Lisa vermutete, dass eine neugierige Maus die seltsame Erscheinung vor ihrem Zuhause begutachten wollte. Wäre Lisa nicht völlig allein auf diesem verwaisten, ihr fremden Bahnhofsgelände, würde sie sich sicher an der guten Luft erfreuen, an der Stille und den hübschen Herbstfarben. So fühlte sie sich eher … verlassen. Wieder einmal.

„So sieht man aus, wenn man noch Urlaub übrig hat und meint, seiner Neugierde folgen zu müssen“, erklärte Lisa dem Nager in seinem Versteck. Und wenn man die Sehnsucht nach einem Zuhause in sich trägt und dieses dann seltsamerweise von einer Fremden angeboten bekommt.

Lisa ignorierte den ziehenden Schmerz in ihrer Herzgegend. Sie hatte Gerda – ihre Mutter – nicht erst jetzt verloren, sondern bereits vor vielen Jahren. Ihre Mutter hatte es nie lange mit einem Mann ausgehalten, einigen ihrer Verehrer war Lisa lästig gefallen. Nun war Gerda gestorben, was anscheinend eine Freundin von ihr auf den Plan gerufen hatte.

Lisas linker Mundwinkel zuckte. Offenbar war diese Bekannte ebenso unzuverlässig, wie ihre Mutter es zeitlebens gewesen war. Wenn die Frau es nicht einmal für nötig hielt, sie abzuholen …

Sie zog den Mantelkragen enger um ihren Hals. Inzwischen fror sie. Vielleicht wäre es besser, sich auf den Weg in den Stadtkern von Schiltach zu begeben, bevor sie hier festfror. Ergeben erhob sich Lisa.

Im selben Moment hörte sie ein Motorgeräusch. Sie neigte leicht den Kopf und war sich sicher, dass es sich ihr näherte. Also wartete sie ab und sah bald darauf ein Fahrzeug mit offenem Verdeck, das an einen Militärjeep erinnerte, aber Türen und eine kleine Ladefläche hatte, um eine Kurve biegen. Es verschwand kurz hinter Buschwerk und einigen Laubbäumen mit gold verfärbten Blättern, ehe es wieder in Sicht kam und nur wenig später quietschend vor ihr stoppte. Ein groß gewachsener, breitschultriger Mann in einer Art Uniform sprang heraus und sah sich suchend um, wobei sein Blick Lisa lediglich streifte, als sei sie gänzlich uninteressant für ihn. Schließlich fuhr er sich mit beiden Händen durch das dunkelblonde Haar.

Enttäuscht wandte Lisa sich ab. Ihre Hoffnung, endlich abgeholt zu werden, war dahin. Wobei sie zugeben musste, dass der stattliche Mann nur wenig Ähnlichkeit mit einer Frau hatte, die eine Freundin von Gerda gewesen sein sollte.

„Entschuldigen Sie bitte, Fräulein.“ Seine Stimme war sehr tief und klang besorgt. Lisa drehte sich um und hob fragend die Augenbrauen. Es war ihr unangenehm, mit einem wildfremden Mann allein auf diesem abgelegenen Bahnhof zu sein.

„Sind Sie vorhin aus dem Zug gestiegen?“

Ihr lag die Frage auf der Zunge, ob er annehme, sie sei vom Himmel gefallen, das unruhige Flackern in seinen blauen Augen hielt sie jedoch davon ab. „Ja, das bin ich.“

„Haben Sie ein sechsjähriges Mädchen und dessen Begleitung gesehen? Die beiden müssten mit Ihnen hier angekommen sein.“

„Tut mir leid, ich war die einzige Reisende, die sich getraut hat, hier auszusteigen.“ Mit einer Handbewegung erfasste sie das einsame Gebäude, die Schienen und die Bäume in ihrer unmittelbaren Nähe.

Der Mann runzelte die Stirn und besah sich dann die bewaldeten Berge, als überlege er, ob das Kind dort hinaufgestiegen sein könnte. Sein Blick glitt zurück zu ihr, wanderte über ihren Mantel, der dem gängigen französischen Chic entsprach, und hinunter bis zu ihren silbernen Ballerinas. „Danke“, murmelte er und öffnete dieses Mal die Tür, um einzusteigen.

Offenbar hatte das Fehlen des kleinen Mädchens ihm einiges an Energie aus dem Körper gezogen. Ob sie seine Tochter war? Lisa schüttelte den Kopf. Dafür schien er viel zu jung zu sein.

Der Motor sprang knatternd an, verstummte aber gleich darauf wieder. Lisa sah zu, wie der Mann den rechten Arm auf die Rückenlehne des Beifahrersitzes legte und sich leicht zu ihr hinüberbeugte. „Werden Sie denn abgeholt?“

„Ich bin davon ausgegangen. Allerdings –“ Sie zuckte vielsagend mit den Schultern.

„Wenn Sie möchten, nehme ich Sie ein Stück mit. Ich muss ohnehin nach Schiltach oder kann auch einen Umweg fahren, falls sie woanders hinwollen.“

Lisa biss sich auf die Unterlippe. Durfte sie das freundlich klingende Angebot annehmen? Sie könnte durchaus zu Fuß gehen, zumindest bis ins Zentrum der kleinen Schwarzwaldstadt – wo auch immer das lag, denn von hier aus konnte sie nur die Dächer von zwei weiteren Häusern sehen. Dort könnte sie sich nach einer Busverbindung in Richtung Vierbrücken erkundigen. Allerdings war ihr Koffer unangenehm schwer.

„Wo müssen Sie denn hin?“, erkundigte sich der Mann nicht mehr ganz so freundlich, wohl weil ihr anhaltendes Zögern ihn ungeduldig werden ließ.

Lisa kramte den Zettel mit der Adresse hervor, die sie aus Füssen übermittelt bekommen hatte. Sie beugte sich über die Beifahrertür und reichte ihn dem Fremden. Der warf einen Blick darauf und schaute sie dann mit misstrauisch zusammengekniffenen Augen an. Unwillkürlich trat Lisa einen Schritt zurück. Was stimmte mit der Adresse nicht? Verbarg sich dahinter etwa ein Freudenhaus? Ein Friedhof?

„Sie wollen zu uns?“

„Zu … Ihnen?“ Lisa riss die Augen auf. „Sie sehen aber nicht wie eine Frau namens Charlotte aus.“

„Ich bin auch nicht Charlotte. Aber ihr Sohn.“

„Dann werde ich ja doch abgeholt!“

„Falsch. Ich soll ein sechsjähriges Mädchen namens Trudi abholen. Heißen Sie Trudi?“

„Nein. Lisa. Und sechs bin ich schon seit ein paar Tagen nicht mehr.“

Sein Blick glitt an ihr entlang, von ihrem Gesicht bis zu ihren Füßen und wieder zurück. Es lag allerdings nichts Anzügliches darin, eher etwas Neugieriges. Und Bewunderndes?

„Das verstehe ich nicht“, verriet er leise.

„Ich auch nicht“, stimmte sie ihm zu.

„Sie sind die Tochter der Freundin meiner Mutter? Gerda Schwaiger?“

Lisa nickte. Ihre Mutter war demnach unverheiratet gestorben. Offenbar hatte sie bis zu ihrem Tod das Leben auf ihre unverbindliche Art ausgekostet.

Der Mann stieg wieder aus, packte ihren mit Stoff bezogenen grauen Koffer, als wäre er lediglich mit Federn gefüllt, und legte ihn auf die freie Fläche hinter den Sitzen, ehe er ihr die Beifahrertür öffnete.

Noch immer zögernd kletterte Lisa in den Wagen. Wenn das mal kein Fehler ist … Sie beruhigte sich damit, dass der Fremde den Namen ihrer Mutter gewusst hatte. Dies war doch Beweis genug, dass er sie zu der Frau bringen würde, die darauf gedrungen hatte, sie kennenzulernen, oder nicht?

Kapitel 2

Robert steuerte den Jeep über die enge, in Serpentinen den Berg hinaufführende Straße und warf dabei immer wieder einen Blick auf seine schweigsame Beifahrerin, die unübersehbar fror. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, wie das Patenkind seiner Mutter rund fünfzehn Jahre hatte überspringen können und weshalb es sich einen anderen Vornamen zugelegt hatte. Allerdings war die junge Frau hübsch anzusehen, mit ihrem im Fahrtwind wehenden hellen Haar, den ebenmäßigen Gesichtszügen, der kleinen geraden Nase und dem zauberhaften Schmollmund. Sie besaß an den richtigen Stellen Rundungen, und wenn sie sprach, klang das hinreißend, mischte sich in ihr Deutsch doch ein leichter bayrischer, vorrangig aber ein französischer Akzent.

Kurze Zeit später fuhren sie durch Vierbrücken, jene Ortschaft, zu der die wenigen Häuser am Liliensee offiziell gehörten und durch die der Fluss sprudelte, der den See speiste. Seit das kleine Hotel am See eröffnet worden war und Roberts Bruder Georg den Campingplatz baute, waren einige Bewohner von Vierbrücken nicht mehr so gut auf die Leute vom Liliensee zu sprechen, weil diese, so behaupteten sie, ihnen die Touristen wegnahmen.

Sie passierten eine der Brücken im Dorf und gelangten schließlich über die ebenfalls kurvige Straße des nächsten, jedoch deutlich niedrigeren Berges ins benachbarte Tal. Auf dieser natürlichen Grenze zwischen Vierbrücken und dem Liliensee stand das Forsthaus der Familie Vogel, allerdings auf der dem See zugewandten Seite.

Die Novembersonne brachte die Wasseroberfläche zum Glitzern, als hätte des Nachts jemand die Sterne vom Himmel gepflückt und sie auf den See gestreut. Die Wolken zogen träge dahin, ihre Spiegelbilder auf dem Gewässer taten es ihnen gleich.

Roberts Passagier beugte sich weit vornüber und betrachtete lächelnd das Blau, das, umschmeichelt von den vielfältigen Grüntönen der Vegetation, zu ihnen heraufleuchtete. Die wenigen Häuser am breiteren Ende des Sees wirkten, als hätte ein Kind beim Aufräumen ein paar seiner Holzklötze vergessen. Das älteste Gebäude zählte nicht mehr als sieben Jahre. Das Forsthaus, das aus rustikalen Holzbalken und grauem Stein erbaut worden war, thronte bereits seit einigen Jahrzehnten oberhalb des Sees. Allerdings hatte Georg inzwischen das Reet des tief gezogenen Walmdaches durch pflegeleichtere Schindeln ersetzt.

Robert bog in die Auffahrt zu seinem Zuhause ein. Für einen Moment verdeckten hohe Fichten den Blick ins Tal, doch vor dem Forsthaus gaben sie erneut den Blick auf den See frei. Das Fachwerkhaus thronte auf einer Ebene, die jenseits der großen Holzterrasse steil abfiel. Die Terrasse war durch ein leicht abfallendes Dach geschützt, das von schlanken Holzsäulen getragen wurde, die sich harmonisch in das Gesamtbild einfügten. Dieser Vorbau war das Zimmermanns-Meisterstück von Georg.

Robert fuhr am Anbau vorbei auf die dem Hang zugewandte Seite und in den U-förmigen Innenhof. Als er den Motor ausschaltete, kam bereits Artemis, die braune Labrador Retriever-Hündin seines Vaters, angerannt, im Hintergrund, dort, wo die kleine Streuobstwiese lag, vernahm er das Gegacker der Hühner.

„Hier wohnen Sie also?“ Faszination lag in Lisas Stimme, die zuerst die große Holzterrasse und den Blick auf den See bewundert hatte und nun das zweistöckige Gebäude mit den grünen Fensterläden und der einladend offen stehenden zweiflügeligen Tür bestaunte.

Robert wandte sich um und schaute die junge Frau prüfend an, die ihren Blick lächelnd über die bewaldeten Höhenzüge und die herbstlichen Wiesen wandern ließ. Ihre Begeisterung stimmte ihn misstrauisch. Er fragte sich, seit er ihren Koffer in den Jeep gehoben hatte, wer diese Person war und was sie dazu veranlasst hatte hierherzureisen. Die kleine Trudi war diese Erscheinung, die aussah, als wäre sie einem Modemagazin entsprungen, jedenfalls nicht.

Ob sie sich einfach nur irgendwelche Vorteile von seiner Mutter erhoffte? Wie aber sollte sie davon erfahren haben, dass Charlotte sich um die Tochter ihrer verstorbenen Freundin bemühte? Und wie wollte sie erklären, dass sie – und nicht das kleine Mädchen, das Charlotte vor sechs Jahren über das Taufbecken gehalten hatte – einen Anspruch auf … ja, auf was hatte? Auf die Zuneigung seiner Mutter?

Robert stieg aus und fing gerade noch Ellen auf, die herbeigelaufen kam und über eine der sich über den Parkplatz windenden Baumwurzeln stolperte. Seine einundzwanzigjährige Cousine trug sogar jetzt im Winter eine dieser Hosen, die an den Waden endeten und die sie so „vorzüglich“ fand. Dazu einen Wollpullover, in dem sie beinahe ertrank.

„Langsam mit den jungen Kiefern“, murmelte er.

„Es heißt Pferden“, korrigierte Ellen ihn prompt.

„Kürzlich hast du mich geschimpft, weil ich dich ein wildes Fohlen genannt habe. Du wolltest nicht mit einem Tier verglichen werden, erinnerst du dich?“

„Grundsätzlich stimmt das. Aber deshalb –“ Sie winkte ab und warf einen irritierten Blick auf die etwa gleichaltrige Frau im Wagen. Artemis saß vor der Beifahrertür und schaute den Neuankömmling nicht weniger neugierig an.

„Wen bringst du denn da? Kannst du eine Sechsjährige nicht von einer erwachsenen Frau unterscheiden? Bring sie schleunigst zurück und hol das Kind, ehe es verloren geht!“

Robert grinste und ergriff Lisas Koffer. Ellen wandte sich der Eingangstür zu und rief laut: „Tante Lotti, du hättest nicht immer auf eine Schwiegertochter drängen sollen.“ Ihre zwei geflochtenen rotblonden Zöpfe wippten nicht weniger spöttisch auf Ellens Schultern, als diese klang, während sie fortfuhr: „Jetzt hat Robert einfach eine wildfremde Frau –“

Robert schaute Ellen so böse an, dass sie verstummte. Inzwischen war Lisa ausgestiegen, hatte der erstaunlich zahmen Artemis den Kopf getätschelt und gesellte sich nun zu ihnen. Neben der stämmigen Ellen in ihrem nachlässigen Aufzug und den derben Wanderschuhen wirkte sie wie ein zartes Reh, wobei sie längst nicht so mager aussah wie jenes britische Model, das weithin als Twiggy bekannt war. Das Braun von Lisas Augen passte jedenfalls perfekt zu Roberts Fantasie mit dem Reh.

Charlotte trat in die Tür, stutzte kurz und kam dann über den weißen Kies herbeigeeilt, während sie ihre Hände an einem Handtuch abtrocknete. Vermutlich hatte sie gerade eines der sonst leer stehenden Zimmer auf Hochglanz poliert. „Charlotte Vogel“, stellte sie sich vor und reichte der Fremden die Rechte.

„Lisa Schwaiger. Und ich habe keine Ahnung, warum hier alle annehmen, dass ich sechs Jahre alt sein und Trudi heißen müsste.“

„Weil meine Freundin Gerda Schwaiger eine sechsjährige Tochter namens Trudi hinterlassen hat, deren Patentante ich bin“, klärte Charlotte sie sachlich auf. „Ich habe mich darum bemüht, dass Trudi zu uns ziehen kann, und heute sollte sie hier ankommen.“

Robert sah seine Mutter bewundernd an. Sie war, obwohl sie ihm und seinen Brüdern oft den albernsten Schabernack glaubte, in der Lage, diese verworrene Geschichte deutlich besser auf den Punkt zu bringen, als er das hätte tun können. Aber ob sie die junge Frau auch durchschaute?

Lisa war blass geworden und taumelte einen Schritt zurück. Mit einer Hand hielt sie sich am Jeep fest und schien einen Augenblick lang um Atem zu ringen. Sie zitterte, aber das hatte sie während der Fahrt auch schon getan. Nachdem sie sich wieder gefangen hatte, waren ihre Worte kaum zu verstehen, so tonlos brachte sie sie hervor. „Ich habe eine kleine Schwester?“

Robert starrte sie verdutzt an. Wie konnte jemand nichts von seiner Schwester wissen? Seine Mutter jedoch schnappte nach Luft, trat dann vor und schloss die Fremde auf ihre bewährt mütterliche Art fest in die Arme. Robert hob die Augenbrauen. Manchmal verstand Charlotte eindeutig schneller als er, was Sache war, und in diesen Momenten fühlte er sich immer seltsam alt.

Lisa war Charlotte unendlich dankbar dafür, dass sie sie sogleich in das Zimmer geführt hatte, das sie eigentlich für Trudi vorbereitet hatte. Für … ihre Schwester?

Kaum dass die freundliche Frau die Tür hinter sich geschlossen hatte, ließ Lisa ihren Koffer einfach fallen. Polternd kam er auf dem dunklen Holzboden auf, kippte und fiel auf den hübschen orangefarbenen Teppich, der vor dem rustikalen Bett lag. Sie ballte die Hände zu Fäusten. Wut flammte in ihr auf, raste wie ein Sturmwind durch ihre Adern und ließ kleine Schweißperlen auf ihrer Stirn entstehen. Ihre Mutter hatte nach ihr noch eine Tochter zur Welt gebracht?!

Bitter lachte Lisa auf. Gerda war nie der mütterliche Typ Frau gewesen; Lisa war praktisch ohne Mutter aufgewachsen. War das bei Trudi anders gewesen? Hatte sie Gerdas Mutterinstinkte geweckt, weil sie braver gewesen war? War dieses andere Mädchen geliebt worden?

Lisa wusste nicht, was sie denken oder fühlen sollte. Dem Zorn nachgeben, der in ihr schwelte? Dem altbekannten Gefühl, falsch oder gar wertlos zu sein? Oder sollte sie vielmehr eifersüchtig auf eine Schwester sein, die bei ihrer Mutter hatte aufwachsen dürfen? Vielleicht aber musste sie das Mädchen dafür eher bemitleiden.

Minutenlang stand Lisa einfach nur da, atmete unruhig und versuchte, sich wieder zu fangen. Schließlich taxierte sie das Bett mit den vier emporragenden Bettpfosten, auf denen je eine mit Schnitzereien verzierte Kugel thronte. Gleichzeitig betete sie, verzweifelt und zutiefst verletzt.

Ihre Großtante Camille hatte ihr beigebracht, ihre Gefühle nicht für sich zu behalten, sich ihnen nicht allein zu stellen, nicht zu versuchen, die Angriffe auf ihr Herz selbst abzuwehren. Bei der älteren Dame hatte es keine wohlformulierten Gebete gegeben, die irgendjemand einmal aufgeschrieben hatte und die man ablesen konnte. Camille hatte mit Gott geredet, wie es ihr gerade in den Sinn kam. Immer dann, wenn etwas sie besonders aufgewühlt hatte, war sie dabei sogar richtiggehend laut geworden.

Lisa löste langsam ihre zu Fäusten geballten Hände. Ihre Großtante hatte sich nie darüber lustig gemacht, dass Lisa mit Steinen sprach. Mit im Wind wispernden Bäumen und umherflatternden Schmetterlingen, mit dahinjagenden Wolken oder einem vor sich hin knatternden Auto. Einmal hatte Lisa einem verletzten Hund erklärt, dass es körperliche und seelische Schmerzen gab, und dass die körperlichen meist gut heilten, die seelischen jedoch blieben. Und wie sehr sie wehtaten! Camille hatte ihr „Gespräch“ mitangehört, Lisa über den Kopf gestreichelt und gesagt: „Gott hört dich.“

Im Grunde hatte Camille Lisa das Leben gerettet, dessen war sie sich bewusst. Denn sie war ein verstörtes Kind gewesen; mit dem beginnenden Hang, sich selbst Leid zuzufügen. Erst sehr spät hatte Lisa durchschaut, dass ihre Großtante nicht nur in direkter Nachbarschaft des Klosters gewohnt, sondern einst als Nonne darin gelebt hatte. Camille hatte die Glaubensgemeinschaft jedoch der Liebe wegen wieder verlassen. Ihr Ehemann war nur vier Wochen nach der Trauung im Ersten Weltkrieg gefallen.

Heute hatte Lisa ihre Gefühle und ihr Leben im Griff. Zumindest an den meisten Tagen. Sie hatte in den vergangenen zwei Jahren für einen älteren Herrn, der Werbeprospekte herstellte, gezeichnet und damit gutes Geld verdient. Doch manchmal warf das Leben noch immer mit Steinen nach ihr. So wie heute. Dann duckte sie sich, wollte sich instinktiv verkriechen. Oder die Steine aufheben und zurückwerfen. Selbstzerstörung und Wut waren keine gute Kombination, das war ihr durchaus bewusst.

Der Brief eines Beamten aus dem bayrischen Füssen hatte sie aus der Bahn geworfen. Darin war sie über den Tod ihrer Mutter informiert worden – und Lisa hatte nichts empfunden.

Sie schüttelte den Kopf und trat an das Fenster mit den sonnengelben Vorhängen. Das stimmte so nicht ganz. Sie hatte einfach nicht gewusst, was sie empfinden sollte. Vor allem, als es am Ende des Briefes geheißen hatte, dass ihre Patentante sie zu sehen wünsche, ja sie sogar einlade, bei ihr zu wohnen, bis ihre Zukunft geregelt sei.

Lisa lehnte sich mit der Stirn an das aus dunklem Holz gefertigte Fensterkreuz. Natürlich hatte sie sich darüber gewundert, weshalb eine wildfremde Frau – angeblich ihre Patentante – meinte, sie müsste ihr helfen, ihr Leben zu organisieren. Und das nur, weil Gerda verstorben war. Immerhin hatte Lisa ihr Leben von Kindesbeinen an selbst regeln müssen. Trotzdem hatte sie Urlaub genommen. Weil sie neugierig war. Und weil das Interesse an ihrer Person ihre Seele streichelte. Der tief in ihr verwurzelte Wunsch, sich jemandem zugehörig zu fühlen, war dabei sicher ebenso treibend. Und nun das. Sie war gar nicht gemeint.

Lisa hob den Kopf und betrachtete die ins Sonnenlicht getauchte Landschaft vor dem Fenster. Sie sah bewaldete Höhenzüge, in unterschiedliche Blautöne getaucht, die immer milchiger wurden, je weiter entfernt die Berge lagen. Dazu dunkle Nadelbäume, saftige Heuwiesen an gelegentlich mit grauen Felsbrocken gesprenkelten steilen Hängen, vereinzelt auch Laubbäume, die jetzt in ihren bunten Herbstfarben wirkten wie willkürlich aufgetragene Farbtupfer auf einer grünen Leinwand.

Ihr Blick wanderte zu dem im Tal gelegenen See. Er präsentierte sich silberblau schillernd, wie mit glitzernden Diamanten bestreut und … Lisa öffnete einen der Fensterflügel und beugte sich weit hinaus. Die Form des Sees – oben spitz und leicht gebogen, dann zunehmend breiter und unten geschwungen bauchig – glich der eines Tropfens, wie Lisa ihn malte. Sogar der Lichtreflex, den sie daraufsetzte, war zu sehen – als ein dunkler Fleck auf der Wasseroberfläche. War das eine kleine Insel? Der See erinnerte sie … an eine Träne.

Lisa besann sich und stellte sich wieder aufrecht hin, damit sie nicht aus dem Fenster stürzte. Sie hatte sich so weit beruhigt, dass sie eilig ihren Koffer auspackte, wobei ihr erstmals die interessante Mischung aus rustikalen Eichenholzmöbeln, Stoffen in warmen Sommerfarben und einer freundlichen hellgelben Tapete mit aufgedruckten weißen Ranken auffiel. Die Hausherrin hatte ein Händchen dafür, das alte Forsthaus hell und wohnlich zu gestalten, ohne dabei einem gerade angesagten, damit aber auch vergänglichen Einrichtungsideal nachzueifern.

Nachdem Lisa ausgepackt hatte, stellte sie den Koffer neben die Tür. Es wirkte, als sei sie jederzeit bereit zur Flucht. Vielleicht war das auch gut so. Immerhin war sie nicht Trudi, die hier erwartet worden war. Sie war … die Falsche.

Dennoch öffnete sie die Tür, trat hinaus in den Flur und ging zu der abgenutzten Holztreppe mit dem geschwungenen Treppengeländer, dessen gedrechselte Sprossen mit hübschen Ranken verziert waren. Sie stieg die ersten Stufen hinunter und verharrte auf dem Absatz, an dem die Treppe einen Knick machte. Die kräftige Stimme des Mannes, der sie abgeholt hatte und von dem sie nicht einmal den Namen wusste, drang zu ihr herauf. Er klang besorgt. Oder aufgebracht?

In der gleichen Intensität, wie Charlotte Verständnis und Herzlichkeit ausgestrahlt hatte, als Lisa klar geworden war, dass sie eine kleine Schwester hatte, verströmte er Vorsicht und Misstrauen. Vielleicht sollte Lisa es ihm hoch anrechnen, dass er sie nicht einfach auf diesem abgeschiedenen Bahnhof hatte stehen lassen.

„Du bist zu leichtgläubig, Mama, und das weißt du auch“, hörte sie ihn prompt poltern. „Denk an Liechtenstein.“

„Der zuständige Beamte hat mir nie einen Namen genannt, immer nur von dem Kind der Verstorbenen gesprochen. Ich weiß doch auch nicht, warum Gerda mir nichts von Lisa erzählt hat. Oder wo Trudi sein könnte, denn eigentlich wäre es für den Anwalt ja viel einfacher gewesen, das jüngere Mädchen ausfindig zu machen, das bei Gerda gewohnt hat.“ Charlotte schwieg einen Moment, ehe sie nachdenklich hinzufügte: „Davon gehe ich zumindest aus.“

Lisa hörte den jungen Mann etwas brummen und konnte seine Reaktion durchaus nachvollziehen. Denn sie in Frankreich zu benachrichtigen, war eindeutig aufwendiger gewesen, als ein Mädchen zu informieren, das nach dem Tod der Mutter womöglich von Nachbarn aufgenommen oder in ein Heim gesteckt worden war. Oder hieß das etwa, dass Trudi ebenfalls nicht bei Gerda gewohnt hatte?

„Du glaubst ihr also?“ Wieder war der misstrauische Unterton in der tiefen Stimme zu hören. Lisa umgriff das hölzerne Treppengeländer noch fester. Mit Ablehnung kam sie einfach nicht klar. Die Kälte, die ihr seit der Fahrt in den Knochen steckte, weitete sich auf ihr Herz aus.

„Natürlich glaube ich ihr. Sie ist ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Bis auf die Augen, die sind vermutlich ein Erbe ihres Vaters.“

„Und was machen wir jetzt mir ihr?“

„Das ist nicht unsere Entscheidung, Robert, sondern ihre.“

Lisa neigte leicht den Kopf. Der misstrauische Brummbär hieß also Robert.

„Ich gehe davon aus, dass sie ein eigenes Leben führt. Vermutlich hat sie ein paar Tage Urlaub genommen, um hierherzukommen. Den darf sie natürlich gern bei uns verbringen. Und da ich vorhabe, nach Trudi forschen zu lassen, möchte sie vielleicht dabei sein, wenn wir sie gefunden haben, um dann ihre Schwester kennenzulernen.“

„Was für eine seltsame Familie.“

Lisa presste die Lippen zusammen. Hörte sie da bei Robert tatsächlich Mitgefühl heraus?

„Gerda war schon als Kind unglaublich freiheitsliebend. Ihr Elternhaus war … schwierig.“ Jetzt klang auch Charlotte mitfühlend. „Sie war eine wilde, rebellische Jugendliche und dem noch nicht entwachsen, als ich deinen Vater kennenlernte, ihn heiratete und mit ihm hierherzog. Danach hielten wir nur noch sporadisch Briefkontakt, was sicher der Grund ist, warum ich nichts von Gerdas älterer Tochter wusste. Weshalb sie mich dann viele Jahre später als Patentante für Trudi auserkoren hat, erschließt sich mir bis heute nicht. Aber ich habe mich damals sehr über diesen Vertrauensbeweis gefreut und gehofft, fortan wieder mehr Kontakt zu ihr zu haben. Das war allerdings ein Trugschluss. Ich habe Trudi zum Geburtstag, zu jedem Tauftag, zu Ostern und zu Weihnachten Päckchen geschickt. Anfangs bekam ich noch Fotos von ihr zugesandt, dann nur noch eine Dankeskarte ihrer Mutter.“

Lisa schloss gequält die Augen. Sie war sich sicher, dass Trudi in dem Jahr, als keine Fotos mehr in den Schwarzwald verschickt wurden, ebenfalls aus Gerdas Leben verbannt worden war. Nur – wohin? Warum hatte ihre Mutter Trudi nicht auch zu Camille geschickt? Und zu ihr? Dann hätte sie wenigstens eine Schwester gehabt, die sie hätte lieben und versorgen und der sie sich hätte zugehörig fühlen können.

War das nicht geschehen, da Camille zu diesem Zeitpunkt bereits gestorben war? Aber Lisa war schon volljährig gewesen. Sie hätte sich um Trudi kümmern können. Sie … hätte eine Familie gehabt!

Tränen füllten Lisas Augen, und sie wandte sich ab, um wieder hinauf ins Gästezimmer zu flüchten. Im selben Moment ging die Haustür auf und ein großer, stämmiger Mann trat ein, der schwerlich Roberts Vater sein konnte. Dafür war er entschieden zu alt.

Der weißhaarige Mann mit dem struppigen Vollbart warf ihr einen irritierten Blick aus zusammengekniffenen Augen zu. „Lotti, da steht eine potenzielle Schwiegertochter auf der Treppe. Schnapp sie dir, bevor sie flüchtet!“, brüllte er durchs Haus. Der Neuankömmling zwinkerte ihr vergnügt zu, zog Mantel und Schuhe aus und verschwand durch eine Tür, die, so vermutete Lisa, in den Anbau führte.

Lisa war zuerst erschrocken zusammengezuckt, lachte nun aber belustigt auf. Während Robert der erklärte Brummbär in der Familie war, schien dieser Mann, vermutlich Charlottes Vater oder Schwiegervater, eine wahre Frohnatur zu sein.

Robert erschien im Türrahmen und schaute zu Lisa herauf. Interessiert betrachtete er sie, weshalb sie schnell wieder eine ernste Miene aufsetzte. Sie hoffte, dass Robert das mit der zukünftigen Schwiegertochter nicht wirklich ernst nahm.

„Auf meinen Großvater hören Sie besser nicht. Aber ich denke, Sie können einige unserer Fragen beantworten, Fräulein Lisa?“

Diesmal unterdrückte sie ein Schmunzeln. Robert klang schrecklich förmlich. Auch wenn Lisa keine große Lust verspürte, ihm und Charlotte ihren Lebenslauf darzulegen, schuldete sie der Familie Vogel dennoch eine Erklärung. Was sie alles erzählen würde und was sie lieber für sich behielt, vor allem da sie nicht an den hässlichen Erinnerungen rühren wollte, die sie mit einer gut deckenden, freundlich gelben Farbe übermalt hatte, entschied sie in dem Moment, als sie auf den jungen Mann zuging, der ihr einen düsteren Blick zuwarf. Sie musste ihr Herz schützen und pinselte deshalb mit jedem Schritt eine weitere Farbschicht darauf. Um ihr Herz herum zog sie einen Graben und flutete ihn. Mit geweinten und nicht geweinten Tränen …