Winternacht - Miriam Kröger - E-Book

Winternacht E-Book

Miriam Kröger

4,9

Beschreibung

Der gestresste George flüchtet sich in die winterliche Abgeschiedenheit der Berge, um in Ruhe über sein Leben nachzudenken. Doch dort stolpert er über Sarah, die ihm einen Strich durch seine Einsamkeit zieht. Sie begleitet ihn auf der Reise zu seinem wahren Glück und erklärt ihm eindrucksvoll, dass alles im Leben von unseren Erwartungen abhängt.

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Für Mike

Du hast die Geschichte zum Leben erweckt

Es war eine klare Winternacht, und George saß in seiner dicken Winterjacke auf der Bank vor der Hütte. Er hatte sich seinen warmen Schal und seine Handschuhe angezogen, was er eigentlich nie tat. Aber heute wollte er den klaren Sternenhimmel genießen. Er brauchte Zeit für sich und hatte somit alles für die kommenden Stunden auf der Bank vorbereitet. Im Ofen der Hütte knisterte ein Feuer, das ihn später wieder aufwärmen würde. Ansonsten brannte kein einziges Licht um ihn herum.

Lange hatte er auf diesen Tag gewartet. Er wollte fliehen, aus seinem Leben ausbrechen. Aber zuerst brauchte er Klarheit über das, was er wirklich wollte, was er brauchte, um glücklich zu sein.

Ein Freund hatte ihm diese Hütte empfohlen. Er selbst war bereits dort gewesen, als es ihm in seinem Leben zu viel wurde. Sie war sehr gut ausgestattet mit allem, was man für eine Woche Einsamkeit benötigte. Die Eigentümer kümmerten sich liebevoll und mit einem guten Gespür für Details um die Vorbereitung. Der Kühlschrank war mit Lebensmitteln gefüllt, ebenso die kleine Vorratskammer. Man hatte George vor seiner Abreise gefragt, welche Speisen er am liebsten essen würde - und genau dafür war eingekauft worden. Der Wassertank war gefüllt, sodass er gleich nach seiner Ankunft eine entspannende heiße Dusche nehmen konnte. George sollte zwei Stunden vor seinem Eintreffen bei den Vermietern anrufen, und als er ankam, wusste er auch, aus welchem Grund. Es war bereits jemand vor ihm da gewesen, um ein Feuer im Ofen anzuzünden, damit die Hütte bereits wohlig warm war, als er eintraf. Es war sehr behaglich, zwar klein, aber doch zum Wohlfühlen. Und was brauchte er schon? Er war gekommen, um in der Einsamkeit zu sich selbst zu finden.

Die Ruhe tat ihm jetzt gut. Wieder blickte George hinauf in den Sternenhimmel und freute sich, dass der Mond noch nicht aufgegangen war. Normalerweise liebte er es, die große leuchtende Scheibe zu sehen, die immer höher an den Himmel stieg. Doch heute würde das Licht nur vom Funkeln der Sterne ablenken. Ihm kam plötzlich ein Gedanke: Wann hatte er das letzte Mal einfach nur dagesessen und den Himmel betrachtet? Wann hatte er überhaupt einfach nur dagesessen und nichts getan? Die letzten Monate, ja sogar die letzten Jahre war er getrieben worden von einer Suche und von der Hektik des Alltags. Er konnte die Stille um sich herum nicht ertragen. Noch weniger konnte er ertragen, nichts zu tun. Wenigstens Musik hören - besser noch, die Laufschuhe anziehen und draußen eine große Runde drehen.

Doch in letzter Zeit verspürte George immer mehr den Wunsch nach Ruhe. Er wollte endlich wissen, wie es tief in seinem Innern aussehen würde, wenn alles still wird. Er wollte seine eigene innere Stimme kennenlernen. Und das ging nur, wenn die Stimmen im Außen endlich ruhig würden. Die Stimmen, die immer so genau wussten, was für ihn gut wäre - was er besser tun oder auch nicht tun sollte. Die Stimmen, die ihn analysierten, die mit aller Macht zu seinem Herzen vordringen wollten. Dabei wusste er doch selbst nicht einmal genau, was in seinem Herzen vorging. Die meiste Zeit des Tages hielt er es verschlossen - für sich und die Menschen um ihn herum.

Und nun wollte George es endlich kennenlernen. Aber dafür musste er allein sein. Diese Erfahrung wollte er allein machen. Er konnte sie nachher immer noch mit anderen teilen, davon erzählen; nur jetzt brauchte er die Einsamkeit. Wer wusste, was er finden würde? Ohne einen anderen Menschen konnte er in dieser Situation sein, wie er wirklich war. Er musste sich nicht verstellen, um zu gefallen. Mit diesen Gedanken blickte George noch einmal in den leuchtenden und funkelnden Sternenhimmel.

Auf einmal merkte er, dass die Kälte trotz warmer Kleidung nun doch in seinen Körper gekrochen war und er sehr fror. Somit ging er ins Haus und setzte sich vor den Ofen. Da er mehrere Stunden draußen verbracht hatte, war nur noch ein Haufen Glut übrig. Er legte neues Holz nach bis die Flammen wieder loderten und das Feuer im Ofen knackte.

Es war Zeit, ins Bett zu gehen, und George fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Am nächsten Morgen erwachte er sehr früh, legte Holz nach und schaute aus dem Fenster. Was er dort sah, verschlug ihm den Atem. Als die Sonne langsam über die Bergkuppen stieg, färbte sich der schwarze Himmel am Horizont glutrot. In eine Decke gehüllt trat George vor die Tür, um die Schönheit dieses Augenblicks zu genießen. Es hatte etwas Mystisches, wie sich das Rot und Orange immer weiter ausbreitete, und der Himmel von Tiefschwarz, über Dunkelblau zu einem hellen Türkis wechselte.

Ganz erfüllt von diesem Anblick bereitete George sein Frühstück zu und überlegte, was er bei dem herrlichen Tag tun sollte. Sein Handy lag ausgeschaltet in der Kommode, und er wusste auch gar nicht, ob er hier oben Empfang haben würde. Somit schob er den Gedanken beiseite, noch einmal schnell zu hören, ob zuhause alles in Ordnung war. Er war schließlich hier, um sich nur um sich selbst zu kümmern. Sollte ein Notfall eintreten, wüssten seine Vermieter, wo er zu finden war. Also blieb ihm nur noch, das Buch zu lesen, das er mitgebracht hatte und vorher schon seit Jahren unberührt zuhause im Schrank stand oder nach draußen zu gehen, um die Natur zu genießen. Er entschied sich für einen Spaziergang im Schnee. Lesen konnte er auch noch am Abend, wenn es dunkel war und er gemütlich vor dem Kamin saß.

Sorgfältig packte George seinen Rucksack und ging noch einmal in Gedanken durch, ob er auch nichts vergessen hatte: eine Kanne Tee zum Aufwärmen, Brote, etwas Obst und - ganz wichtig - eine Karte mit Kompass, falls er sich verlaufen sollte. So ausgestattet stapfte er durch den Schnee. Die Sonne tat ihm gut, als sie ihm wärmend ins Gesicht schien. Der Schnee glitzerte und funkelte, und die Luft war herrlich klar. George schaute sich um und überlegte kurz, welche Richtung er einschlagen sollte. Direkt vor ihm fiel der Weg ab und führte an verschneiten Wiesen und Feldern vorbei; doch George zog es in Richtung Wald. Also folgte er diesem Impuls und ging los. Er sog die Energie der Landschaft förmlich in sich auf. Es war schön, zu sehen, wie das Licht der Sonne durch die kargen Bäume fiel. Hin und wieder sah er ein paar Vögel und frische Spuren von Rehen oder Hirschen im Schnee; so genau wusste George es nicht.

Nach einer Weile kam er auf eine Lichtung und suchte sich einen schönen Platz zum Ausruhen. Er setzte sich auf einen umgekippten Baum und genoss sein Mittagessen. Die belegten Brote taten ihm nun richtig gut.

Plötzlich hörte er ein Knacken hinter sich und drehte sich erschrocken um. Dabei sprang er auf und warf seinen Teebecher um. Etwa zwanzig Meter von ihm entfernt stand eine Frau, die entschuldigend ihre Hände hob und ihn offen anlächelte.

„Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken. Eigentlich wollte ich Sie gar nicht stören und mich an Ihnen vorbei schleichen“, sagte sie lachend.

George konnte nicht anders und musste ebenfalls lachen, obwohl er auch verärgert darüber war, in diesem besonderen Augenblick gestört zu werden.

„Na, das ist Ihnen nicht wirklich gelungen“, erwiderte er, nun grinsend.

Die Frau kam auf ihn zu, zog ihren rechten Handschuh aus und streckte ihm die Hand entgegen.

„Ich bin Sarah. Und Sie?“

Hastig zog auch George seinen Handschuh aus und schüttelte ihre Hand.

„Ich bin George… Ähm, was machen Sie eigentlich hier, wenn ich fragen darf?!“

„Außer arglose Menschen erschrecken, die in der Gegend herumträumen? Na, spazieren gehen, was dachten Sie denn?“

„Ja schon, aber wie kommen Sie denn hierher? Ich dachte, die Hütte, in der ich wohne, ist die einzige in der Gegend. So einsam, dass man keinen Menschen trifft.“

Da lachte Sarah erneut.

„Das stimmt. Die Hütte ist einsam, aber doch sehr gut mit dem Auto zu erreichen. Finden Sie nicht?“

George wusste nicht, was er von der fremden Frau halten sollte. Offenbar machte sie sich über ihn lustig. Und vor allem sorgte sie dafür, dass er nun nicht mehr allein war. Genervt setzte er sich wieder auf seinen Baumstamm. Vielleicht würde sie dann merken, dass sie unerwünscht war, ihren Spaziergang fortsetzen und ihn in Ruhe lassen. Doch das tat sie nicht. Im Gegenteil. Sarah verstand seine Geste offenbar als Einladung und setzte sich zu ihm. Sie packte ihr eigenes Mittagessen aus und schien es sich neben ihm gemütlich machen zu wollen.

‚Na dann‘, dachte George bei sich. ‚Was soll ich mir den schönen Tag verderben, indem ich mich über diese Frau aufrege? Besser ich sage nichts und bleibe höflich, dann wird sie schon wieder gehen.‘

Auch Sarah sagte kein Wort. Schweigend saßen sie nebeneinander, aßen ihre Brote, tranken Tee und betrachteten die Landschaft. George begann, sich wieder zu entspannen; er empfand Sarahs Anwesenheit nicht mehr ganz so aufdringlich, wie am Anfang. Irgendwie war es nett, neben jemandem zu sitzen und etwas Alltägliches zu tun, wie essen, und dabei nicht gezwungen zu sein, ständig zu sprechen. Er sah Sarah an, und sie erwiderte seinen Blick. Beide lächelten und schauten wieder auf den glitzernden Schnee.

Nach einer Weile hatten sie aufgegessen und packten ihre Rücksäcke zusammen. Sie standen auf, und George merkte, dass ihm unbehaglich wurde.

„Na dann“, war alles, was ihm nun einfiel.

„Na dann“, sagte auch Sarah.

So standen sie voreinander und sahen sich in die Augen. Schließlich wandte Sarah den Blick ab und drehte sich zum Gehen.

Doch sie zögerte, drehte sich wieder um und fragte: „Darf ich Ihnen einen schönen Weg zeigen, den ein normaler Besucher niemals findet, weil er Angst hat, sich zu verlaufen?“

George grinste, irgendwie erleichtert über diese Frage und die Aussicht, noch ein wenig Zeit mit dieser interessanten Frau zu verbringen.

„Na klar“, meinte er, „aber nur, wenn wir das förmliche Sie vergessen.“

„In Ordnung“, sagte sie und lachte.

Dann deutete sie auf einen kleinen Weg schräg rechts vor ihnen, der George gar nicht aufgefallen wäre.

„Wir müssen dort entlang. Dann bekommen wir einen traumhaften Ausblick aufs benachbarte Tal.“

George hob fragen die Augenbrauen. „Da lang?“

Er konnte kaum erkennen, wie es nach den ersten Metern weitergehen sollte. Der Pfad schlang sich direkt um eine Kurve und verschwand hinter den Bäumen. Doch falls die Frau ihn reinlegen wollte, hatte er ja immer noch seine Karte und den Kompass; er würde schon zur Hütte zurückfinden.

„Also gut“, meinte er und folgte der wartenden Sarah den schmalen Weg entlang.

Unterwegs schwiegen sie wieder, und George nahm die gesamte Landschaft in sich auf. Er fühlte sich irgendwie lebendig; ob das mit der Natur oder eher mit der Frau zusammenhing, die vor ihm herlief, vermochte er nicht zu sagen. Jedenfalls genoss er es, durch das Dickicht und über den gewundenen Pfad geführt zu werden ohne ständig auf seine Karte schauen zu müssen.

Ganz unvermittelt sagte Sarah: „George - weshalb hast du diesen Namen?“

George war verwirrt. „Ich verstehe nicht, worauf du hinaus willst.“

„Naja, wirklich englisch siehst du nicht aus, und du sprichst akzentfrei Deutsch. Daher wundert es mich.“

Da musste George schmunzeln.

„Ach so. Wie soll ich sagen, mein Vater ist ein großer England-Fan. Keine Ahnung, wieso. Und als ich geboren wurde, hat er Mutters schwachen Moment genutzt und mich George genannt. Sie wollte mich eigentlich David nennen. Aber du siehst, wer schlussendlich gewonnen hat.“

Sarah begann, herzhaft zu lachen, und auch George lachte und wunderte sich, weshalb er dieser Frau so private Dinge erzählte. Er hatte schon lange nicht mehr an diese Geschichte gedacht. Und obwohl er seinen Namen als Kind wenig mochte, fand er ihn inzwischen recht gut. Er machte ihn zu etwas Besonderem.

Wieder gingen sie wortlos hintereinander her, bis Sarah abrupt stehen blieb und einen Finger auf die Lippen legte. Dabei fasste sie Georges Arm und zog ihn näher zu sich heran. Nicht weit entfernt standen am Rande einer Lichtung ein paar Rehe, die an einer Futterstelle fraßen. Sie hatten George und Sarah offenbar noch nicht bemerkt und fraßen in aller Ruhe weiter. Sie beobachteten die Tiere eine Weile bis diese schließlich - eins nach dem anderen - von der Futterstelle verschwanden.

Nach ein paar Gehminuten lichteten sich die Bäume, und George befand sich an einem steilen Abhang, der den Blick auf eine atemberaubende Natur freigab. In weiter Ferne konnte er ein paar Häuser im Talkessel erkennen, und auf der gegenüberliegenden Seite ragten erneut schneebedeckte Berge in die Höhe, deren Spitzen in den Wolken verschwanden. George kam sich auf einmal ziemlich klein und unbedeutend vor, wie er so vor den riesigen Bergen stand. Und zugleich hatte er das Gefühl, ein Teil des Ganzen zu sein. Sarah setzte sich auf eine Bank in der Nähe und bedeutete George, neben ihr Platz zu nehmen. Dann holte sie ihren Tee samt Tasse aus dem Rucksack, und George tat es ihr gleich.

„Woher kennst du diesen Platz, Sarah?“, fragte er.

„Es ist wunderschön hier, nicht wahr?!“, erwiderte sie.

Ja, es stimmte. Es war wirklich wunderschön hier.

Sie schwiegen eine Weile, dann fragte Sarah: „Was ist deine zentrale Frage im Leben, auf die du hier eine Antwort suchst?“

George blickte sie verwundert an, denn er hatte gerade wirklich an sein dringendstes Problem gedacht: wie wollte er in Zukunft weiterleben? Dennoch konnte Sarah unmöglich seine Gedanken erraten haben - oder konnte sie doch?