Wir in drei Worten - Mhairi McFarlane - E-Book + Hörbuch

Wir in drei Worten Hörbuch

Mhairi McFarlane

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Beschreibung

Der erste romantische, witzige und unterhaltsamen Liebes-Roman der Spiegel-Bestseller-Autorin von "Vielleicht mag ich dich Morgen" und "Es muss wohl an dir liegen", Mhairi McFarlane. Zu Unizeiten waren Rachel und Ben unzertrennlich. Beste Kumpels waren sie. Die Welt konnte ihnen nichts anhaben. Doch in der Nacht vor der Abschlussfeier ist etwas passiert. Seitdem haben sie sich weder gesehen, noch Kontakt gehabt – keine Telefonate, keine Mails, nicht einmal Facebook-Freunde. Zehn Jahre und 781 erfolglose Google-Suchen später stehen sie sich plötzlich gegenüber. Die vergangenen Jahre sind wie weggespült, und die alte Freundschaft ist sofort wieder spürbar. Und doch ist nichts mehr wie früher. "Perfektes Leseglück zum Träumen, Schmunzeln und Mitfiebern." Für Sie "Alle Leser werden ihre helle Freude an der Lektüre haben. Von der ersten Seite an." unicum.de

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Zeit:11 Std. 53 min

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Mhairi McFarlane

Wir in drei Worten

Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Ben und Rachel. Rachel und Ben. Zu Unizeiten waren sie unzertrennlich. Die Welt hätte ihnen nichts anhaben können. Beste Kumpels waren sie. Doch in der Nacht vor dem Abschlussball ist etwas passiert. Seitdem sind zehn Jahre vergangen, und die beiden haben sich nie mehr gesehen. Bis jetzt. Allerdings ist Ben heute verheiratet, und Rachel hat sich gerade von ihrem Verlobten getrennt.

Inhaltsübersicht

Widmung

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

Danksagung

Leseprobe »Du hast mir gerade noch gefehlt«

 

 

 

 

Für Jenny, die ich an der Universität gefunden habe

Prolog

Verdammter Mist, so ein Pech …«

»Was?«, fragte ich.

Ich schlug eine besonders aufdringliche und unbeirrbare Wespe von meiner Coladose weg. Ben versteckte sein Gesicht hinter der Hand, was ihn umso auffälliger machte.

»Professor McDonald. Du weißt schon, Egghead McMuffin. Ich hätte schon vor einer Woche einen Aufsatz über Keats bei ihm abgeben sollen. Hat er mich gesehen?«

Ich warf einen Blick hinüber. Auf der anderen Seite des von der Nachmittagssonne gesprenkelten Rasens war der Professor abrupt stehen geblieben, streckte wie Lord Kitchener den Zeigefinger aus und formte mit den Lippen das Wort »DU«.

»Äh. Ja.«

Ben schielte durch seine gespreizten Finger auf mich.

»Ja, vielleicht? Oder eher: ja, todsicher?«

»Ja, so sicher wie eine stattliche, tweedtragende, glatzköpfige schottische Scud-Rakete, die deine genauen Koordinaten kennt und über das Gras auf dich zugeschossen kommt, um dich zu vernichten.«

»Verstehe. Lass mich nachdenken …«, murmelte Ben und schaute hinauf zu den Blättern des Baums, unter dem wir saßen.

»Hast du vor, auf den Baum zu klettern? Professor McDonald sieht nämlich so aus, als würde er notfalls bis zur Abenddämmerung auf die Feuerwehr warten.«

Ben ließ seinen Blick über die Reste des Mittagessens und unsere Taschen auf dem Boden schweifen, als könnten sie ihm die Lösung eingeben. Ich war nicht davon überzeugt, dass es ihm helfen würde, einem angesehenen Universitätsprofessor den Rucksack ins Gesicht zu schleudern. Schließlich blieb sein Blick an meiner rechten Hand hängen.

»Kann ich mir deinen Ring ausleihen?«

»Klar, aber er hat keine magischen Kräfte.« Ich zog ihn vom Finger und reichte ihn ihm.

»Stehst du mal auf?«

»Was?«

»Steh. Auf.«

Ich sprang auf und klopfte mir das Gras von den Jeans. Ben balancierte vor mir auf einem Knie und streckte mir den klobigen Silberring, den ich für vier Pfund auf dem Flohmarkt gekauft hatte, entgegen.

Ich fing zu lachen an. »Oh … du Idiot.«

Professor McDonald hatte uns erreicht. »Ben Morgan …!«

»Entschuldigen Sie, Sir, ich stecke gerade mitten in einer sehr wichtigen Angelegenheit.« Er wandte sich wieder zu mir um. »Ich weiß, wir sind erst zwanzig Jahre alt, und der Zeitpunkt dieses Heiratsantrags mag vielleicht durch … äußere Umstände ein wenig Nachdruck erfahren haben. Aber ungeachtet dessen bist du einfach großartig. Ich weiß, ich werde für keine andere Frau jemals so empfinden wie für dich. Dieses Gefühl wird immer stärker und stärker und …«

Professor McDonald verschränkte die Arme vor der Brust, doch er lächelte. Kaum zu fassen. Bens Chuzpe hatte wieder einmal gesiegt.

»Bist du sicher, dass dieses Gefühl nicht die Rache der Tortilla mit Mais und Dosenwürstchen ist, die du mit Kev gestern Abend gemacht hast?«, fragte ich.

»Nein! Mein Gott – du hast mich erobert. Ich spüre es in meinem Kopf, in meinem Herzen, in meinem Bauch …«

»Vorsicht, junger Mann, ich würde mir den Rest dieser Aufzählung sparen«, meinte Professor McDonald. »Das Gewicht der Geschichte lastet auf Ihnen. Denken Sie an das Vermächtnis. Es sollte inspirieren.«

»Danke, Sir.«

»Du brauchst keine Frau, du brauchst ein Durchfallmittel«, sagte ich.

»Ich brauche dich. Was sagst du? Heirate mich. Eine einfache Zeremonie. Dann ziehst du zu mir. Ich besitze eine Luftmatratze und ein fleckiges Handtuch, das du zusammenrollen und als Kopfkissen benützen kannst. Und Kev arbeitet gerade an einem wunderbaren Rezept für Patatas bravas, bei dem man die Kartoffelstückchen in einer Tomatensuppe aus der Dose erhitzt.«

»Das ist ein tolles Angebot, Ben, aber nein danke.«

Ben wandte sich Professor McDonald zu. »Ich werde wohl Sonderurlaub wegen eines Trauerfalls brauchen.«

1

Ich komme ein wenig später als üblich nach Hause, und dieser spezielle Regen in Manchester, der gleichzeitig senkrecht und waagrecht fällt, schiebt mich zur Tür hinein. Ich trage so viel Wasser mit ins Haus, dass es sich anfühlt, als würde mich die Brandung wie einen Strang Seetang an den Fuß der Treppe spülen und dort hängen lassen.

Unser Haus ist freundlich und bescheiden, finde ich. Man erkennt innerhalb von Minuten, dass wir zwei kinderlose Berufstätige Anfang dreißig sind. Gerahmte Drucke von Rhys’ musikalischen Helden. Shabby Chic mit Betonung auf Ersterem. Und glänzend dunkelblau lackierte Fußbodenleisten, die meine Mum zu der abfälligen Bemerkung veranlassten: »Sieht ein bisschen so aus wie im Gemeindezentrum.«

Im Haus riecht es nach Abendessen, würzig und warm, und trotzdem liegt eine bestimmte Kälte in der Luft. Noch bevor ich ihn zu Gesicht bekomme, weiß ich, dass Rhys schlecht gelaunt ist. Als ich in die Küche gehe, werde ich durch die Spannung in seinen Schultern und durch die Art, wie er sich über den Herd beugt, bestätigt.

»Guten Abend, Schatz«, sage ich, ziehe mein durchnässtes Haar aus dem Kragen und nehme den Schal ab. Ich fröstle, aber die Aussicht auf das Wochenende gibt mir Auftrieb. An einem Freitag ist alles ein wenig leichter zu ertragen.

Er knurrt etwas Unverständliches. Es könnte ein Hallo sein, aber ich will es nicht hinterfragen, um keinen Streit zu provozieren.

»Hast du die Steuerplakette?«, fragt er.

»Oh, Mist, das habe ich vergessen.«

Rhys wirbelt mit einem Messer in der Hand herum. Es war ein Verbrechen aus Leidenschaft, Euer Ehren. Wenn es um die Unterlagen der Kfz-Zulassungsstelle ging, konnte er Versäumnisse nicht ertragen.

»Ich habe dich gestern daran erinnert! Jetzt ist sie schon einen Tag überfällig.«

»Es tut mir leid. Ich erledige es morgen.«

»Du bist ja nicht diejenige, die jetzt illegal Auto fahren muss.«

Ich bin auch nicht diejenige, die vergessen hat, sich letztes Wochenende darum zu kümmern, laut seiner handschriftlichen Notiz im Kalender. Ich erwähne das aber nicht. Einspruch: Unterstellung.

»Sie schleppen die Autos ab und bringen sie auf den Schrottplatz, selbst wenn man nur auf dem Gehsteig parkt. Ohne Gnade. Gib mir nicht die Schuld, wenn sie unseren Wagen zu einer Größe zusammenpressen wie bei Noddy im Spielzeugland und du dann mit dem Bus fahren musst.«

Vor meinem geistigen Auge sehe ich mich als Noddy mit blauer Zipfelmütze und Glöckchen an der Spitze.

»Morgen früh. Mach dir keine Sorgen.«

Er dreht sich wieder um und hackt auf eine Paprikaschote ein. Ob er mich in dieser Paprikaschote sieht oder nicht, lässt sich nicht sagen. Mir fällt ein, dass ich etwas zur Beschwichtigung dabeihabe, und ich ziehe rasch die Flasche Rotwein aus der tropfenden Einkaufstüte von Oddbins.

Ich schenke zwei große Gläser ein und sage: »Prost, Onkel Willy.«

»Onkel Willy?«

»Noddys Freund. Nicht so wichtig. Wie war dein Tag?«

»Alles wie immer.«

Rhys arbeitet als Grafikdesigner für ein Marketingunternehmen. Und er hasst seinen Job. Noch mehr hasst er es, darüber zu reden. Er hört sich jedoch gern exklusiv reißerische Geschichten aus dem Strafgericht Manchester an.

»Nun, heute hat ein Mann, der ›lebenslänglich‹ ohne Bewährung gekriegt hat, das Urteil mit den unsterblichen Worten kommentiert: ›Das bekackte Arschloch soll zur Hölle fahren!‹«

»Haha. Und hat er recht?«

»Du meinst, ob das Urteil ungerecht war? Nein. Der Kerl hat einige Leute um die Ecke gebracht.«

»Kannst du in den Manchester Evening News ›bekacktes Arschloch‹ schreiben?«

»Nur mit Sternchen. Und ich musste die Ausdrücke der Angehörigen beschönigend als ›erregte Rufe von der Zuschauergalerie‹ umschreiben. Das einzige Wort über den Richter, das kein Schimpfwort war, lautete ›alt‹.«

Rhys trägt leise lachend sein Glas ins Wohnzimmer. Ich folge ihm.

»Ich habe heute ein paar Nachforschungen wegen der Musik angestellt«, erkläre ich und setze mich. »Mum hat sich bei mir darüber beklagt, dass auf der Hochzeit des Neffen von Margaret Drummond aus der Backgruppe ein DJ mit Basketballkappe misstönende Musik mit unanständigen Texten spielte, und das, noch bevor für die Blumenmädchen und Schleppenträger Schlafenszeit war.«

»Das hört sich großartig an. Kann sie uns seine Telefonnummer geben? Die Kappe sollte er vielleicht zu Hause lassen.«

»Ich dachte, wir könnten einen Livesänger buchen. Jemand aus dem Büro hatte einen Elvis-Imitator engagiert. Er heißt Macclesfield Elvis und scheint richtig gut zu sein.«

Rhys’ Miene verdüstert sich. »Ich will keinen alten Fettsack mit Pomade im Haar, der Love Me Tender trällert. Wir heiraten im Rathaus von Manchester und nicht in einer schäbigen Hochzeitskapelle in Vegas.«

Ich schlucke das hinunter, obwohl es mir nicht leichtfällt. Entschuldige, dass ich versucht habe, ein wenig Spaß in die Sache zu bringen.

»Oh. Okay. Ich dachte, es könnte witzig sein. Um ein bisschen Stimmung zu machen, verstehst du. An was hast du gedacht?«

Er zuckt die Schultern. »Keine Ahnung.«

Seine trotzige Miene und sein vielsagender Blick lassen mich vermuten, dass ich etwas übersehen habe. »Außer … du möchtest selbst spielen?«

Er gibt vor, darüber nachzudenken. »Ja, ich schätze, das wäre eine Möglichkeit. Ich werde die Jungs fragen.«

Rhys’ Band. Nenn sie einen Oasis-Abklatsch, und er bringt dich um. Dabei tragen die Jungs auch Parkas und zoffen sich ständig. Er hatte immer gehofft, mit seiner früheren Band in Sheffield den großen Durchbruch zu schaffen. Das, was er jetzt macht, ist nur noch das Hobby eines Mittdreißigers. Das wissen wir beide, aber wir sprechen es nicht aus. Ich habe immer akzeptiert, Rhys mit seiner Musik teilen zu müssen. Allerdings war ich nicht darauf vorbereitet, das auch an meinem Hochzeitstag zu tun.

»Du könntest vielleicht die erste halbe Stunde spielen, und danach übernimmt der DJ.«

Rhys verzieht das Gesicht. »Ich kann von den anderen nicht verlangen, dass sie proben und alles aufbauen und dann nur so kurz spielen.«

»Na gut, dann eben etwas länger, aber es ist unsere Hochzeit und kein Gig.«

Ich spüre, wie Gewitterwolken aufziehen und sich drohend zusammenballen. Gleich wird es richtig donnern. Ich kenne sein Temperament und diese Art von Auseinandersetzung wie meine Westentasche.

»Und ich will keinen DJ«, sagt er.

»Warum nicht?«

»DJs sind bescheuert.«

»Willst du selbst für die gesamte Musik sorgen?«

»Wir stellen etwas auf dem iPod zusammen, mit Spotify oder wie auch immer. Und lassen den Mix laufen.«

»Okay.« Ich sollte das Thema auf sich beruhen lassen, bis er bessere Laune hat, aber ich tu es nicht. »Dann sollten wir aber auch Songs von den Beatles und Abba für die ältere Generation reinnehmen, oder? Die können mit dem Fuckyou-I-won’t-do-what-you-tell-me-Zeug und Verstärkergebrüll nichts anfangen.«

»Dancing Queen? Vergiss es. Selbst wenn dein Cousin Alan dazu ein Tänzchen aufs Parkett legt.« Er spitzt die Lippen und wedelt unnötig provokativ mit den Händen vor seinen Brustwarzen herum wie die Bauchrednerpuppe Orville the Duck.

»Warum machst du daraus so eine große Sache?«

»Ich dachte, du wolltest eine Hochzeit nach unseren eigenen Vorstellungen, so wie wir es uns wünschen. Da waren wir uns doch einig.«

»Ja, nach unseren Vorstellungen. Nicht nach deinen«, erwidere ich. »Ich möchte die Gelegenheit haben, mich mit unseren Freunden und Verwandten zu unterhalten. Es soll eine Party für alle sein.«

Mein Blick fällt auf den Verlobungsring. Warum wollten wir gleich noch mal heiraten? Vor ein paar Monaten feierten wir in einem griechischen Restaurant einen beträchtlichen Bonus, den Rhys bekommen hatte, und waren von den Verdauungsschnäpsen ein wenig beschwipst. Unter den vielen Ideen, wofür wir das Geld ausgeben könnten, tauchte auch die Hochzeit auf. Uns gefiel die Vorstellung, ein Fest zu feiern, und wir waren uns einig, dass es allmählich an der Zeit war. Es gab keinen Heiratsantrag. Rhys füllte lediglich mein Glas wieder auf, sagte »Verdammt, warum nicht?« und zwinkerte mir zu.

Diese Entscheidung fühlte sich an jenem Abend in dem warmen, lauten Lokal so sicher und richtig und naheliegend an. Wir sahen zu, wie die Bauchtänzerin ein paar Rentner von den Stühlen zog und sie dazu animierte, sich um sie zu drehen, und wir lachten, bis wir Bauchschmerzen bekamen. Ich liebte Rhys, und ich nehme an, dass in meiner Einwilligung der Gedanke mitschwang: Wen soll ich auch sonst heiraten? Zugegeben, wir führten eine Beziehung mit einer unterschwellig rumorenden Unzufriedenheit. Aber wie bei Schimmelflecken in einer feuchten Ecke des Badezimmers wäre ein großer Aufwand nötig, um etwas dagegen zu unternehmen, und irgendwie fanden wir nie die Zeit dafür.

Obwohl wir lange damit gewartet hatten, hatte ich nie daran gezweifelt, dass wir unsere Beziehung irgendwann amtlich machen würden. Rhys trug zwar immer noch seine wilde Mähne und die ewige Jugenduniform aus schmuddeligen T-Shirts mit aufgedruckten Bandnamen und abgewetzten Jeans und Chucks, aber ich wusste, darunter verbarg sich der Wunsch, vor dem Kinderkriegen einen Trauschein zu haben. Als wir nach Hause kamen, riefen wir beide unsere Eltern an, vorgeblich um unsere Freude mit ihnen zu teilen, vielleicht aber auch nur, um keinen Rückzieher mehr machen zu können, wenn wir wieder nüchtern waren. Kein Mondschein und keine Sonaten, aber, wie Rhys sagen würde, daraus besteht das Leben nicht.

Inzwischen verbinde ich mit diesem Tag, der der schönste unseres Lebens sein soll, etliche Kompromisse und unterdrückte Gereiztheit und befürchte, dass Rhys sich mit seinen Bandkollegen zusammenrotten und sich allen anderen gegenüber distanziert verhalten wird. Genauso wie er sich bei unserer ersten Begegnung gegeben hat, als mein unerfahrenes Herz nur von dem Wunsch erfüllt war, zu seiner Clique zu gehören.

»Wie lange noch wird die Band die dritte Person in dieser Beziehung sein? Wirst du ständig beim Proben sein, während ich mit einem schreienden Baby zu Hause sitze?«

Rhys nimmt das Weinglas von seinen Lippen. »Was soll das denn jetzt? Muss ich ein anderer Mensch werden, etwas aufgeben, das ich liebe, um gut genug für dich zu sein?«

»Das habe ich nicht gesagt. Ich bin nur der Meinung, dass die Musik mit deiner Band an unserem Hochzeitstag nicht wichtiger sein sollte als unser Zusammensein.«

»Ha. Wir werden danach noch unser ganzes Leben zusammen verbringen.«

Er sagt das so, als handle es sich um eine Gefängnisstrafe in Strangeways mit sexuellen Übergriffen in der Dusche, Hofdrill um sechs Uhr morgens und nach draußen geschmuggelten Botschaften. Lässt. Mich. Nicht. Ins. Pub.

Ich atme tief ein und spüre eine schwere Last in meinem Brustkorb, einen Schmerz, den ich vielleicht in Wein ertränken kann. In der Vergangenheit hat das funktioniert.

»Ich bin mir nicht sicher, ob diese Hochzeit eine gute Idee ist.«

Jetzt ist es raus. Der quälende Gedanke hat sich vom Unterbewusstsein ins Bewusstsein geschoben und sich weiter nach vorne gedrängt, bis er schließlich aus meinem Mund gesprudelt ist. Es überrascht mich, dass ich das nicht rückgängig machen will.

Rhys zuckt die Schultern. »Ich habe dir ja vorgeschlagen, ins Ausland abzuhauen. Du wolltest unbedingt hier heiraten.«

»Nein, ich meine, ich halte es für keine gute Idee, jetzt zu heiraten.«

»Tja, es wird verdammt komisch aussehen, wenn wir alles absagen.«

»Das ist kein Grund, es durchzuziehen.«

Gib mir einen Grund. Sende ich gerade verzweifelte verschlüsselte Botschaften aus? Mir wird klar, dass ich soeben etwas begriffen habe, aufgewacht bin und dass Rhys die Dringlichkeit der Sache nicht erkennt. Ich habe etwas gesagt, das zu den Dingen gehört, die wir normalerweise nicht ansprechen. Aber sich zu weigern, es zu hören, genügt nicht als Antwort.

Er seufzt übertrieben und drückt damit ohne Worte aus, wie ermüdend die schrecklichen Prüfungen des Lebens mit mir sind.

»Wie auch immer. Seit du nach Hause gekommen bist, suchst du Streit.«

»Nein, das ist nicht wahr!«

»Und jetzt schmollst du und zwingst mir einen DJ auf, der irgendeinen Mist für dich und deine bescheuerten Freunde auflegt, während ihr euch betrinkt. Gut. Buch ihn, mach alles so, wie du willst. Ich habe keine Lust, mich mit dir deswegen zu streiten.«

»Bescheuert?«

Rhys trinkt einen Schluck Wein und steht auf. »Ich werde mich weiter ums Abendessen kümmern.«

»Glaubst du nicht, es sollte uns zu denken geben, dass wir uns nicht einmal darüber einig werden können?«

Unwillig setzt er sich wieder. »Meine Güte, Rachel, mach doch kein Drama daraus. Ich habe eine anstrengende Woche hinter mir und keine Energie für einen Wutanfall.«

Ich bin auch müde, aber nicht von den fünf Tagen Arbeit. Ich bin erschöpft von dem ständigen Bemühen, so zu tun, als ob. Wir stehen kurz davor, Tausende Pfund für diese Heuchelei auszugeben, vor all den Leuten, die uns am besten kennen. Bei der Aussicht darauf wird mir furchtbar mulmig.

Das Dumme ist nur, dass Rhys’ Verständnislosigkeit nachvollziehbar ist. Er verhält sich wie üblich. Alles wie gehabt. Irgendetwas in mir ist gebrochen. Ein Teil meiner Maschinerie hat den Geist aufgegeben, so wie ein zuverlässiges Gerät, das läuft und läuft, bis es eines Tages ganz plötzlich streikt.

»Es ist keine gute Idee zu heiraten. Punkt«, sage ich. »Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es eine gute Idee ist, dass wir zusammen sind. Wir sind nicht glücklich.«

Rhys wirkt leicht verdutzt. Dann verschließt sich seine Miene, und er setzt seine Trotzmaske auf. »Du bist nicht glücklich?«

»Nein, ich bin nicht glücklich. Bist du es?«

Er schließt die Augen, seufzt und kneift sich in den Nasenrücken. »Im Augenblick nicht. Merkwürdigerweise.«

»Überhaupt?«, bohre ich nach.

»Was meinst du mit glücklich? Zugekifft in einer durchsichtigen Bluse über eine Wiese tanzen und Gänseblümchen pflücken? Nein, dann bin ich es nicht. Ich liebe dich, und ich dachte, du liebst mich genug, um dir ein wenig Mühe zu geben. Aber anscheinend habe ich mich getäuscht.«

»Es gibt einen Mittelweg zwischen bekifft Gänseblümchen pflücken und sich ständig zanken.«

»Werd endlich erwachsen, Rachel.«

Rhys’ Standardreaktion auf alle meine Zweifel ist ein schroffes »Werd endlich erwachsen« oder »Vergiss es einfach. Jeder weiß, dass Beziehungen nun mal so sind. Du hast unrealistische Erwartungen«. Ich mochte seine Bestimmtheit. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.

»Es reicht nicht«, sage ich.

»Was soll das heißen? Willst du etwa ausziehen?«

»Ja.«

»Das glaube ich dir nicht.«

Ich kann es auch nicht glauben. Nicht nach all den Jahren. Das nenne ich Geschwindigkeit – von null auf hundertachtzig, von nichts zur Trennung in wenigen Minuten. Von der Beschleunigungskraft habe ich schon Hamsterbacken. Wahrscheinlich haben wir deshalb so lange gebraucht, bis wir uns zur Planung unserer Hochzeit aufraffen konnten. Wir wussten, dass dabei bestimmte verschwommene Ahnungen plötzlich schärfere Konturen bekommen würden.

»Ich werde mich morgen auf die Suche nach einer Wohnung machen.«

»Ist das alles? Nach dreizehn Jahren?«, fragt er. »Du willst die Hochzeit nicht so haben wie ich – das war’s, leb wohl?«

»Es geht nicht wirklich um die Hochzeit.«

»Merkwürdig, dass du dir dieser Probleme in einem Moment bewusst wirst, in dem du deinen Willen nicht durchsetzen kannst. Ich kann mich nicht erinnern, dass du dein Verhalten so … ›kritisch hinterfragt‹ hast, als ich dir den Ring gekauft habe.«

Damit hat er nicht ganz unrecht. Habe ich diesen Streit provoziert, um einen Grund zu haben? Habe ich tatsächlich triftige Gründe? Ich werde unsicher. Vielleicht wache ich morgen auf und halte das alles für einen Fehler. Möglicherweise wird sich diese dunkle, apokalyptische Wolke der schrecklichen Klarheit verziehen wie der Regen, der draußen immer noch herunterprasselt. Vielleicht könnten wir morgen Mittag essen gehen, unsere gemeinsame Auswahl an Songs auf eine Serviette kritzeln und uns wieder dafür begeistern …

»Okay … wenn das alles funktionieren soll, müssen wir einiges ändern. Wir müssen aufhören, ständig aufeinander loszugehen. Wir sollten zu einem Paartherapeuten gehen oder so etwas.«

Wenn er mir nur einen Millimeter entgegenkommt, bleibe ich. So erbärmlich ist meine Entschlossenheit.

Rhys runzelt die Stirn. »Ich werde mich nicht hinsetzen und zuhören, wie du einem bebrillten Seelenklempner erzählst, dass ich dich mies behandle. Ich werde die Hochzeit nicht verschieben. Entweder ziehen wir das jetzt durch, oder wir vergessen es.«

»Ich spreche über unsere gemeinsame Zukunft und darüber, ob wir überhaupt eine haben, und du machst dir darüber Sorgen, was die Leute sagen werden, wenn wir die Hochzeit absagen?«

»Du bist nicht die Einzige, die Ultimaten stellen kann.«

»Ist das ein Spiel?«

»Wenn du dir nach dieser langen Zeit nicht sicher bist, wirst du es niemals sein. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«

»Wie du willst«, erwidere ich mit zittriger Stimme.

»Nein, wie du willst«, faucht er. »Wie immer. Nach allem, was ich für dich aufgegeben habe.«

Das bringt mich auf die Palme. In mir macht sich die Art von Zorn breit, bei dem man in die Luft schießt, als hätte man Raketenwerfer an den Füßen. »Du hast nichts für mich aufgegeben! Du hast selbst entschieden, nach Manchester zu ziehen. Du tust so, als stünde ich so verdammt tief in deiner Schuld und könne das nie wiedergutmachen. Das ist Schwachsinn! Eure Band hätte sich ohnehin aufgelöst! Gib mir nicht die Schuld daran, dass du es nicht geschafft hast!«

»Du bist eine selbstsüchtige, verzogene Göre«, brüllt er und steht ebenfalls auf, weil es weniger wirkungsvoll ist, im Sitzen herumzuschreien. »Es geht immer nur darum, was du willst, und du denkst dabei nie daran, was die anderen aufgeben müssen, um dir deine Wünsche zu erfüllen. Mit der Hochzeit machst du es genauso. Du gehörst zu der schlimmsten Sorte von Egoisten, weil du dich nicht dafür hältst. Und was die Band betrifft: Wie kannst du verdammt noch einmal behaupten, du wüsstest, wie sich die Dinge entwickelt hätten? Wenn ich noch mal von vorn anfangen und alles anders machen könnte …«

»Ach ja? Was dann?«, kreische ich.

Wir stehen beide heftig atmend da, ein aussichtsloser Zweikampf, in dem Worte als Waffen dienen.

»Gut. In Ordnung«, sagte Rhys schließlich. »Ich fahre über das Wochenende nach Hause – ich habe keine Lust, hierzubleiben und mir diesen Mist anzuhören. Schau dich nach einer anderen Wohnung um.«

Ich lasse mich auf das Sofa fallen und lege die Hände in den Schoß. Ich lausche den Geräuschen, während er oben herumstampft und seine Reisetasche packt. Tränen laufen mir über die Wangen und tropfen in den Ausschnitt meines T-Shirts, das gerade ein wenig getrocknet war. Ich höre Rhys in der Küche und begreife, dass er die Herdplatte unter dem Topf mit dem Chili ausmacht. Irgendwie ist dieser kleine Moment der Umsicht schlimmer als alles, was er noch sagen könnte. Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen.

Nach einigen Minuten schrecke ich durch seine Stimme direkt neben mir hoch.

»Gibt es einen anderen?«

Ich richte meinen Blick aus tränenverschleierten Augen auf ihn. »Was?«

»Du hast mich schon verstanden. Gibt es einen anderen?«

»Natürlich nicht.«

Rhys zögert und fügt dann hinzu: »Ich weiß nicht, warum du jetzt weinst. Das ist doch, was du wolltest.«

Er schlägt die Haustür so fest hinter sich zu, dass es wie ein Pistolenschuss klingt.

2

Der Schock meines plötzlichen Singledaseins ruft meine beste Freundin Caroline und unsere gemeinsamen Freunde Mindy und Ivor auf den Plan. Sie scharen sich um mich und stellen mir die eine Frage, die echtes Mitgefühl beweist: »Sollen wir ausgehen und uns richtig betrinken?«

Rhys fehlt ihnen dabei nicht. Er hat meine Freunde immer als meine Freunde betrachtet. Häufig hat er angemerkt, dass »Mindy und Ivor« sich anhört wie das Moderatorenteam einer Kindersendung. Mindy ist Inderin und heißt eigentlich Parminder. Sie sagt, die Abkürzung »Mindy« ist ihr Alias in der Welt der Weißen. »Damit kann ich mich unerkannt unter ihnen bewegen. Wenn man außer Acht lässt, dass meine Haut braun ist.«

Was Ivor betrifft – sein Dad hat eine Vorliebe für nordische Sagen. Wegen eines alten Zeichentrickfilms hatte er es mit diesem Namen nicht immer leicht. Die Rugbyspieler im Studentenwohnheim an der Uni nannten ihn »die Dampflokomotive« und behaupteten, dass er in bestimmten intimen Augenblicken »Tsch-tsch-pfft, tsch-tsch-pfft« mache. Dieselben Rugbyspieler tranken als Mutprobe den Urin und die Spucke der anderen und trieben Ivor auf das Stockwerk der Mädchen. So wurden wir zu einer gemischten Vierergruppe. Unsere platonische Freundschaft, verbunden mit seinem glattrasierten Schädel, der schwarzen Hornbrille und seiner Vorliebe für trendige Turnschuhe aus Japan, führte dazu, dass viele Leute mutmaßten, Ivor sei schwul. Mittlerweile programmiert er Computerspiele, und da in seinem Beruf kaum Frauen tätig sind, fürchtet er, dass ihn dieses Missverständnis um wertvolle Gelegenheiten bringt.

»Das widerspricht doch jeglicher Logik«, beklagt er sich häufig. »Warum sollte ein Mann, der sich mit Frauen umgibt, homosexuell sein? Bei Hugh Hefner vermutet man das doch auch nicht. Wahrscheinlich sollte ich den ganzen Tag in Morgenmantel und Hausschuhen herumlaufen.«

Wie auch immer, ich bin noch nicht bereit für eine gutbesuchte Cocktailbar, also plädiere ich für einen Abend in häuslicher Umgebung, obwohl der Alkoholkonsum dort meist verhängnisvoller ist.

Carolines Haus in Chorlton ist die beste Wahl für ein Treffen, denn im Gegensatz zu uns anderen ist sie verheiratet und im Besitz eines großartigen Objekts. (Ich meine das Haus, nicht den Ehemann – bei allem Respekt für Graeme. Er verbringt wie so oft ein Wochenende mit seinen Kumpels beim Golfen.) Caroline ist eine sehr gut bezahlte Buchhalterin für eine sehr große Supermarktkette und eine richtig erwachsene Frau. Aber das war sie eigentlich schon immer. Zu Unizeiten trug sie Steppwesten und war Mitglied im Ruderclub. Als ich mich den anderen gegenüber erstaunt darüber äußerte, dass sie es nach einer durchzechten Nacht schaffte, früh aufzustehen und zu trainieren, antwortete Ivor verkatert: »So sind die vornehmen Leute eben. Das sind die normannischen Gene. Sie muss losziehen und alles und jeden erobern.«

In Bezug auf ihre Vorfahren mochte er durchaus recht haben. Sie ist groß, blond und hat ein Profil, das man, glaube ich, aquilin nennt. Sie selbst findet, dass sie aussieht wie ein Ameisenbär. Wenn schon, dann handelt es sich allerdings um einen mit Grace Kelly verwandten Ameisenbären.

Ich habe die Aufgabe bekommen, auf Carolines fleckenloser, schwarz glänzender Arbeitsplatte aus Corian Limonen zu schneiden und die Ränder der Gläser in Salz zu tauchen, während Caroline Eis, Tequila und Cointreau in einem liebesapfelroten Mixer zu einer dickflüssigen Masse verrührt. In den Pausen zwischen den ohrenbetäubenden Ausbrüchen der Küchenmaschine bedenkt uns Mindy, die majestätisch auf dem Sofa thront, mit ihren üblichen Lebensweisheiten. »Der Unterschied zwischen dreißig und einunddreißig ist wie der Unterschied zwischen einem Begräbnis und der Trauerarbeit.«

Caroline löffelt die Margarita-Mischung in die Gläser. »Dreißig zu werden gleicht einem Begräbnis?«

»Dem Begräbnis deiner Jugend. Jede Menge Alkohol, Mitgefühl, Zuwendung und Blumen, und du triffst jeden, den du kennst.«

»Einen Moment lang haben wir uns wirklich Sorgen gemacht, dass der Vergleich geschmacklos sein könnte«, meint Ivor und schiebt seine Brille auf dem Nasenrücken zurecht. Er sitzt mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden, reckt den Arm in die Höhe und richtet eine Fernbedienung auf einen rautenförmigen Gegenstand, bei dem es sich anscheinend um die Stereoanlage handelt. »Hast du tatsächlich die Eagles aufgelegt, Caroline, oder ist das ein schlechter Scherz?«

»Einunddreißig ist wie Trauerarbeit«, fährt Mindy fort. »Es ist viel schlimmer, damit klarzukommen, und keiner rechnet mehr damit, dass du über deinen Verlust klagst.«

»Oh, wir rechnen bei dir schon damit, Mindy«, sage ich und reiche ihr vorsichtig ein flaches Glas, das aussieht wie eine Untertasse mit Stiel.

»Diese Modemagazine geben mir das Gefühl, alt und unwichtig zu sein und dass ich mir allenfalls noch Gedanken über den Kauf von TENA Lady machen sollte. Kann man das essen?« Mindy zieht die Limettenscheibe vom Rand ihres Glases und betrachtet sie kritisch.

Sie ist eine verblüffende Mischung aus erstaunlichen Fähigkeiten und Dämlichkeit. Mindy hat ein kaufmännisches Studium absolviert, dabei ständig betont, dass sie davon rein gar nichts verstehe und ganz sicher nie in das Textilunternehmen ihrer Familie in Rusholme einsteigen würde. Daraufhin bestand sie ihr Examen mit Auszeichnung, arbeitete einen Sommer lang im Geschäft ihrer Eltern, baute den Versandhandel und den Internetverkauf auf, vervierfachte den Umsatz und sah widerstrebend ein, dass sie Talent besaß und ihre berufliche Karriere begonnen hatte. Aber als sie vor kurzem im Zoo war und Ivor sie vor dem Affengehege fragte, ob sie die Makaken gesehen habe, rief Mindy: »Ich warte doch nicht, bis die mal kacken!«

»Limetten? Äh … eigentlich nicht, würde ich sagen.«

»Oh. Ich dachte, ihr hättet sie vielleicht mit etwas getränkt.«

Ich hole ein weiteres Glas und reiche es Ivor, dann tragen Caroline und ich unsere Gläser zum Sofa.

»Prost«, sage ich. »Auf meine gelöste Verlobung und eine Zukunft ohne Liebe.«

»Auf deine Zukunft«, erwidert Caroline tadelnd.

Wir erheben unsere Gläser, schlürfen und zucken leicht zusammen – man schmeckt den Tequila sehr stark heraus. Er macht meine Lippen taub und verströmt Wärme im Magen.

Single. Es ist lange her, dass ich das von mir sagen konnte, und ich habe es noch nicht verinnerlicht. Ich bin irgendetwas anderes, befinde mich in einer Art Schwebezustand. Ich schleiche auf Zehenspitzen durchs Haus, schlafe im Gästezimmer und gehe meinem Ex-Verlobten, seinem brodelnden Zorn und seiner Enttäuschung aus dem Weg. Er hat recht: Das ist es, was ich wollte, also habe ich viel weniger Grund als er, mich aufzuregen.

»Wie läuft euer Zusammenleben?«, fragt Caroline vorsichtig, als hätte sie meine Gedanken erraten.

»Noch spannen wir keinen Stahldraht auf Kopfhöhe zwischen den Türrahmen. Wir gehen uns aus dem Weg. Ich muss mich noch intensiver nach einer neuen Bleibe umschauen. Im Augenblick suche ich jeden Abend nach einem Anlass, das Haus zu verlassen.«

»Wie hat deine Mum es aufgenommen?« Mindy beißt sich auf die Lippe.

Als eine der beiden vorgesehenen Brautjungfern war Mindy ihrer Meinung nach die einzige Person, die ebenso aufgeregt war wie meine Mum.

»Nicht gut«, erwidere ich und beweise damit mein Talent für Untertreibungen.

Es war grauenhaft. Das Telefonat durchlief verschiedene Phasen. Beginnend mit dem Teil: »Lass diese dummen Witze.« Gefolgt von: »Es ist ganz normal, dass du kalte Füße bekommst.« Daraufhin kam der Vorschlag: »Lass ein paar Wochen verstreichen und schau, wie du dich dann fühlst.« Zorn, Nichtwahrhabenwollen, gutes Zureden und schließlich – wie ich hoffe – eine gewisse Akzeptanz. Dad kam an den Apparat und fragte mich, ob ich mir Sorgen wegen der Kosten mache. Sie würden doch alles übernehmen. In diesem Moment begann ich zu weinen.

»Macht es dir was aus, wenn ich danach frage? Du hast uns bisher nicht gesagt, warum …«, sagt Mindy. »Was war das denn für ein Streit, der dazu geführt hat, dass ihr Schluss gemacht habt?«

»Oh …«, erwidere ich. »Es ging um Macclesfield Elvis.«

Es folgt ein kurzes Schweigen. Unser standardisierter Schlagabtausch funktioniert nicht mehr. Da meine seit Urzeiten währende Beziehung erst vor einer Woche in die Brüche gegangen ist, weiß niemand so recht, was jetzt angemessen ist. Es ist wie nach jedem großen tragischen Ereignis: Ab wann darf man Witze darüber per E-Mail verschicken?

»Du hast es mit Macclesfield Elvis getrieben?«, sagt Ivor. »Wie war es, vom King flachgelegt zu werden?«

»Ivor!«, protestiert Mindy.

Ich lache.

»Oh!«, ruft Caroline plötzlich in einer für sie absolut unüblichen Weise.

»Was ist? Hast du dich auf was Spitzes gesetzt?«, fragt Mindy.

»Das habe ich ganz vergessen. Ratet mal, wen ich diese Woche getroffen habe?«

Ich überlege, welche berühmte Persönlichkeit ganz oben auf meiner Liste steht. Vielleicht ist es jemand, über den ich eine Story geschrieben habe. Ansonsten habe ich es den ganzen Tag nur mit Leuten zu tun, die aus den falschen Gründen bekannt werden. Ich bezweifle, dass ein Triebtäter auf der Flucht diese Begeisterung hervorrufen würde.

»Coronation Street oder Manchester United?«, fragt Mindy. Die TV-Serie und die Fußballmannschaft sind die beiden Hauptquellen berühmter Menschen in der Stadt, das ist wahr.

»Weder noch«, erwidert Caroline. »Das ist ein Rätsel für Rachel.«

Ich zucke die Schultern und zerkaue mit den Backenzähnen einen Eiswürfel. »Äh … Darren Day?«

»Nein.«

»Lembit Öpik?«

»Nein.«

»Meinen Dad?«

»Wie sollte ich deinem Dad begegnen?«

»Er könnte aus Sheffield angereist sein, weil er hinter dem Rücken meiner Mum eine Affäre hat.«

»Würde ich daraus ein lustiges Quiz machen?«

»Okay, ich gebe auf.«

Caroline lehnt sich mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck zurück. »Englisch-Ben.«

Mir wird gleichzeitig heiß und kalt, als hätte ich mir urplötzlich eine Grippe eingefangen. Direkt nach den Temperaturschwankungen überfällt mich eine leichte Übelkeit. Ja, der Vergleich passt.

Ivor dreht sich zu Caroline um. »Englisch-Ben? Was ist das für ein Spitzname? Im Gegensatz wozu?«

»Hat er irgendwas mit Big Ben zu tun?«, fragt Mindy.

»Englisch-Ben«, wiederholt Caroline. »Rachel weiß, wen ich meine.«

Ich fühle mich wie Alec Guinness in Krieg der Sterne, als Luke Skywalker vor seiner Höhle auftaucht und nach Obi-Wan Kenobi fragt. Diesen Namen habe ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gehört …

»Wo war er?«, frage ich.

»Er war auf dem Weg in die Zentralbibliothek.«

»Wie wäre es, wenn ihr dem alten Zweibein-Ivor sagt, um wen es hier geht?«, wirft Ivor ein.

»Ich könnte mich Hindi-Mindy nennen«, schlägt Mindy vor, und Ivor sieht so aus, als wolle er ihr etwas erklären, überlegt es sich dann jedoch anders.

»Er war ein Freund an der Uni, weißt du nicht mehr?« Ich hebe mein Glas vor den Mund für den Fall, dass meine Miene mehr verrät, als mir lieb ist. »Wir waren im gleichen Kurs. Daher Englisch. Und Ben.«

»Wenn er ein Freund von dir war, warum ist Caroline dann so … zappelig?«, erkundigt sich Mindy.

»Caroline hatte immer etwas für ihn übrig«, erwidere ich und bin froh, dass das die Wahrheit ist, wenn auch nicht die ganze Wahrheit, so wahr mir Gott helfe.

»Ah.« Mindy wirft mir einen abschätzenden Blick zu. »Dann kannst du nicht auf ihn scharf gewesen sein, denn du und Caroline hattet nie den gleichen Geschmack, was Männer betrifft.«

Ich könnte Mindy für diese Bemerkung küssen.

»Richtig«, stimme ich ihr nachdrücklich zu.

»Er sieht immer noch großartig aus«, erklärt Caroline, und mein Magen beginnt zu zucken wie ein Krustentier im China-Restaurant auf dem Weg in den Kochtopf. »Er trug einen schicken Anzug mit Krawatte.«

»Einen Anzug, sagst du? Ein faszinierender Mann«, sagt Ivor. »Was für ein toller Typ. Ich muss unbedingt mehr über ihn erfahren. Oh, warte – nein, lieber doch nicht.«

»Habt ihr jemals …?«, fragt Mindy Caroline. »Ich versuche gerade, ihn einzuordnen.«

»Gütiger Himmel, nein. Ich war ihm nicht glamourös genug. Das waren wir wohl alle nicht, oder, Rach? Er war ein kleiner Frauenheld. Aber trotzdem irgendwie nett.«

»Ja«, kiekse ich.

»Warte! Jetzt erinnere ich mich an Ben! Immer adrett, aufgeweckt und selbstbewusst?«, sagt Mindy. »Wir hielten ihn für reich, aber dann stellte sich heraus, dass er … sich einfach nur wusch.« Sie wirft Ivor einen Blick zu, der sofort anbeißt.

»Oh, das kommt mir irgendwie bekannt vor. Er war ein Angeber.« Ivor stellt seinen Kragen auf. »Sieht hier drin alles tatsächlich richtig gut aus, oder liegt das nur an mir?«

»So war er gar nicht!« Ich lache nervös.

»Hast du den Kontakt zu Ben ganz verloren?«, erkundigt sich Caroline. »Ihr seid keine Facebook-Freunde oder so?«

Der Kontakt ist abgerissen. In der Mitte durchtrennt wie das Band am Ende einer Rennstrecke.

»Nein. Ich meine, ja. Ich habe Ben seit der Uni nicht mehr gesehen.«

Und meine siebenhunderteinundachtzig Google-Suchen haben keine Ergebnisse gebracht.

»Ich habe ihn ein paarmal in der Bibliothek gesehen, aber erst jetzt hat es Klick gemacht, und ich habe kapiert, woher ich ihn kenne. Er lebt wohl in Manchester. Soll ich ihn von dir grüßen, falls ich ihn noch einmal treffe? Ihm deine Telefonnummer geben?«

»Nein!«, rufe ich, und in meiner Stimme klingt unterdrückte Panik durch. Ich habe das Gefühl, dass ich das erklären muss, also füge ich hinzu: »Es könnte so aussehen, als sei ich hinter ihm her.«

»Warum sollte er das denken? Ihr wart doch nur Freunde, oder?« Carolines Einwand klingt vernünftig.

»Ich bin nach so langer Zeit wieder Single. Ich weiß nicht, vielleicht könnte er das falsch verstehen. Und ich bin nicht auf der Suche nach … Ich will nicht, dass es so klingt wie: Meine Freundin ist Single und möchte, dass ich ihre Telefonnummer auf der Straße an Männer verteile«, stoße ich hervor.

»Nun, ich hatte nicht vor, deine Nummer auf eine Karte zu schreiben und sie in ein Telefonhäuschen zu legen«, sagt Caroline verschnupft.

»Ich weiß, ich weiß. Es tut mir leid.« Ich tätschle ihren Arm. »Ich bin nur einfach … total aus der Übung.«

Es folgt eine Pause, und Mindy und Caroline lächeln mich verständnisvoll an.

»Wenn du bereit bist, werde ich dich mit einem heißen Typen verkuppeln.« Mindy legt ihre Hand auf meinen Arm.

»Ach du Schande«, sagt Ivor.

»Was?«

»Wenn ich an die Männer denke, mit denen du dich verabredest, will ich mir gar nicht vorstellen, welche du dann weiterreichst. Mein Gehirn schickt mir dazu folgende Nachricht: Der Server hat Ihre Anfrage verstanden, weigert sich aber, sie auszuführen.«

»In Anbetracht deiner widerlichen Schlampen ist das wirklich lächerlich.«

»Nein, lächerlich war dieser unglaubliche Dummkopf Bruno. Erinnerst du dich an ihn?«

»Ähm, aber er hatte einen hübschen Po.«

»Na bitte«, wirft Caroline ein. »Haben wir dich aufgeheitert? Du strahlst schon deutlich mehr als zuvor.«

»Ja. Radioaktiv wahrscheinlich«, erwidere ich.

»Noch einen Cocktail?«, fragt Caroline.

Ich halte ihr mein Glas hin. »Immer her damit.«

3

Ich lernte Ben am Ende der ersten Woche an der Universität Manchester kennen. Zuerst glaubte ich, er wäre bereits im zweiten oder dritten Jahr, denn er stand bei einer Gruppe von Älteren, die in der Bar des Studentenwohnheims Tapeziertische aufgestellt hatten. Dort sollten wir unsere Wohnheimausweise bekommen. Tatsächlich war er genauso neu wie ich. Typisch Ben, war er auf die andere Seite der Tische gesprungen und hatte wortreich und großzügig angeboten zu helfen, als er hörte, dass Not am Mann war.

Ich wäre eigentlich noch gar nicht auf den Beinen gewesen, aber mein Kater hatte mich geweckt und mir mitgeteilt, dass er Schwarzen Johannisbeersaft bräuchte. Um neun Uhr morgens war das Gelände, auf dem sich das Studentenwohnheim befand, ebenso menschenleer wie in der Morgendämmerung. Ich schlenderte in der Herbstsonne von dem Laden zurück, leerte dabei die Flasche und entdeckte eine kleine Schlange vor den Doppeltüren der Bar. Als Britin und nervöse Erstsemesterstudentin beschloss ich, mich lieber dazuzustellen.

Als ich vorne angelangt war und vor Bens Tisch eine Lücke auftauchte, ging ich hin.

Seine leicht verwunderte, aber ganz und gar nicht unangenehm berührte Miene schien klar und deutlich zu sagen: »Oh, und wer bist du?«

Das verblüffte mich, zumal der Blick überhaupt nicht anzüglich war. An einem guten Tag (und das war keiner) konnte ich mich meiner Meinung nach durchaus sehen lassen, aber solche Blicke hatte man mir noch nicht oft zugeworfen. Es war beinahe so, als hätte jemand den Einsatz für die Musik gegeben, mein Haar aufgelockert, mich von oben beleuchtet und gerufen: »Achtung, Aufnahme!«

Ben war überhaupt nicht mein Typ. Ein bisschen zu dünn, zu augenfällig mit diesem braunen Rehblick und dem kantigen Kinn, ein bisschen spießig, wie Rhys sagen würde. (Er war vor kurzem in mein Leben getreten und hatte seine klar umrissene Weltanschauung mitgebracht, die ich nach und nach übernahm.) Ben trug Sportklamotten, und soweit ich aus der oberen Körperhälfte schließen konnte, trieb er darin tatsächlich Sport. Für mich als Achtzehnjährige mussten attraktive Männer Leadgitarre spielen, nicht Fußball. Sie waren abgerissen und finster, hatten Bartstoppeln und – das war ein neuer Zusatz nach entsprechender Feldstudie – Brusthaare, in denen sich eine Wüstenrennmaus verstecken konnte. Trotzdem war ich aufgeschlossen genug, um anzuerkennen, dass Ben dem Typ vieler Mädchen entsprach, und deshalb schmeichelte mir seine Aufmerksamkeit. Die erdrückenden Wolken meines Katers lösten sich langsam auf.

Ben sagte: »Hallo.«

»Hallo.«

Ein kurzer Moment verstrich, bevor wir uns daran erinnerten, warum wir hier waren.

»Name?«, fragte Ben.

»Rachel Woodford.«

»Woodford … W …« Er begann, einige Schachteln mit Karten zu durchforsten. »Hier haben wir es.«

Er zog eine rechteckige Karte aus Pappe hervor, auf der der Name unseres Studentenwohnheims stand. Daran war ein Foto befestigt. Ich hatte ganz vergessen, dass ich eine Handvoll wenig schmeichelhafter Passfotos aus einem Fotoautomaten im Einkaufszentrum eingeschickt hatte. Aufgenommen an einem wirklich miesen Tag in Meadowhall, kurz vor meiner Periode. Mein Gesicht sah aus, als wäre ich bei meiner eigenen Autopsie aufgewacht. Ich hätte wissen müssen, dass mich diese Bilder heimsuchen würden.

»Lach nicht über das Bild«, sagte ich hastig, was nicht gerade zielführend war.

Ben warf einen Blick darauf. »Da habe ich heute schon Schlimmeres gesehen.« Er spannte meine Karte in die Maschine ein, zog dann die in Plastik eingeschweißte Ausgabe heraus und betrachtete sie noch einmal.

»Ich weiß, das Bild ist grausig«, sagte ich und streckte die Hand aus. »Ich sehe aus, als würde ich eine Drachenfrucht herauspressen.«

»Ich weiß nicht, was eine Drachenfrucht ist. Wahrscheinlich eine Frucht, nehm ich an.«

»Sie ist stachelig.«

»Ah, okay. Ich verstehe. Das sticht dann wohl ein wenig.«

Na, das war ja super gelaufen. Verführungsregel Nr. 101: Bring den attraktiven jungen Mann dazu, sich vorzustellen, wie du dich auf der Toilette abplagst.

Das stammte geradewegs aus dem Katalog meiner besten Werke. Rachel ganz unverfälscht. Das Beste von Rachel. Einfach nur Rachel. Wenn ich unter Zugzwang stehe, verhält sich der für die Sprache zuständige Bereich meines Gehirns so unberechenbar wie ein einarmiger Bandit. Ich werfe das Ding an und warte gespannt, bis eine x-beliebige Wortkombination hervorsprudelt.

Ben grinste mich an und begann dann zu lachen. Ich erwiderte sein Lächeln.

Er hielt den Ausweis außerhalb meiner Reichweite in der Hand. »Studierst du auch Englisch?«

»Ja.«

»Ich auch. Ich habe keine Ahnung, wo ich morgen hinmuss. Weißt du es?«

Wir verabredeten, dass er mich am nächsten Morgen vor meinem Zimmer abholen würde, damit wir gemeinsam den Block für Geisteswissenschaften erkunden konnten. Er zog einen Stift hervor, und ich kritzelte meine Zimmernummer auf einen feuchten Bierdeckel, den Gegenstand, der am schnellsten zur Hand war. Ich wünschte, ich hätte mir am Abend zuvor nicht jeden Fingernagel in einer anderen Farbe lackiert. Bei Tageslicht sah das ziemlich albern aus. Ich malte feinsäuberlich »Rachel« in Großbuchstaben darunter, als würde ich in der Grundschule ein Schildchen für den Kleiderhaken beschriften.

»Was das Foto betrifft«, sagte er, während er den Bierdeckel entgegennahm. »Du siehst gut aus, aber beim nächsten Mal solltest du den Sitz höher stellen. So erinnert es ein wenig an den kleinen Komiker Ronnie Corbett.«

Ich holte den Ausweis noch einmal hervor und betrachtete ihn. Über meinem strubbeligen Kopf befand sich mindestens ein Meter weiße Fläche.

Ich errötete und begann zu lachen.

»Du musst ihn drehen«, formte Ben mit den Lippen und schraubte einen imaginären Hocker nach oben.

Meine Röte vertiefte sich, und ich lachte lauter.

»Ich heiße Ben. Wir sehen uns dann morgen.«

Wie ein Verkehrspolizist winkte mich Ben mit einer Hand weiter, während er mit der anderen die nächste Person gespielt gebieterisch aufforderte, zu ihm vorzutreten.

Als ich einen Bogen um den Rest der Schlange machte, fragte ich mich, ob das wortgewandte Mädchen im Zimmer neben meinem zu vornehm war, um sich gemeinsam mit mir ein bodenständiges Frühstück zu gönnen. Aus einem Impuls heraus drehte ich mich um und warf einen Blick auf Ben. Er schaute mir nach.

4

Manche Leute stellen sich am Arbeitsplatz eine Ansammlung gerahmter Familienfotos auf den Schreibtisch, neben den Becher mit diesen neumodischen Stiften mit Federbüscheln am Ende und der Kaffeetasse mit ihrem Namen darauf. Von Zeit zu Zeit weinen sie auf dem Klo und vertrauen sich einander an, und am nächsten Morgen sind die persönlichen Geschichten im ganzen Büro bekannt, noch bevor die zweite Kaffeekanne gefüllt ist. Wörter wie »Fibrom«, »Schmerzmittel Tramadol« oder Sätze wie »Ich habe ihn dabei erwischt, wie er eines meiner Kleider anprobiert hat« werden ausgetauscht, weil man offen und ehrlich miteinander umgehen will.

Mein Arbeitsplatz ist ganz anders. Im Strafgericht Manchester sieht man die Leute gezielt und entschlossen durch die Gänge laufen, Roben rascheln und wichtige Informationen werden flüsternd weitergegeben. Es herrscht eine eindeutig maskuline Atmosphäre – sie ermutigt nicht dazu, Vertraulichkeiten auszutauschen, die nichts mit aktuellen beruflichen Belangen zu tun haben. Daher habe ich die Indizien meiner inneren Turbulenzen mit einer Extraschicht Make-up überdeckt und ziehe mit gestrafften Schultern in den Kampf, wobei ich mir selbst zu dem hauchdünnen Anstrich von kompetentem und sicherem Auftreten gratuliere.

Ich hole mir gerade aus einem der Automaten im Gerichtsgebäude den berühmten Instantkaffee mit Dung-Aroma in einem Plastikbecher, der so dünn ist, dass man sich an der heißen Flüssigkeit die Fingerspitzen verbrennt, als ich plötzlich höre: »Das Wochenende muss ja großartig gewesen sein, was, Woodford? Du siehst total geschafft aus!«

Ahhh, Gretton. Ich hätte mir denken können, dass er meine Seifenblase platzen lassen würde.

Pete Gretton ist ein Freiberufler, ein freier Korrespondent für alle möglichen Agenturen, ohne sich an eine davon gebunden zu fühlen. Er durchforstet die Listen, sucht sich die unerfreulichsten oder lächerlichsten Fälle aus und verkauft den niedrigsten gemeinsamen Nenner an den höchsten Bieter, wobei er mir oft nachstellt und jegliche Hoffnung auf einen Exklusivbericht zunichtemacht. Verbrechen und Elend sind sein Broterwerb. Fairerweise muss ich zugeben, dass das auf alle Beschäftigten in diesem Gebäude zutrifft, aber die meisten von uns besitzen den Anstand, nicht darin zu schwelgen. Gretton hingegen hat sich noch nie mit einem grausigen Mehrfachmord beschäftigt, von dem er nicht begeistert gewesen wäre.

Ich drehe mich um und werfe ihm einen angemessen lustlosen Blick zu.

»Guten Morgen, Pete«, sage ich kurz angebunden.

Er ist sehr bleich und wirkt so, als wäre Tageslicht ein Schock für ihn. Irgendwie erinnert er mich immer an den gespenstischen Fisch mit rosa Kiemen, den mein Dad im schwarzen Schlamm am Grund des Gartenteichs entdeckte. Gretton hat sich evolutionär der Umgebung im Gerichtsgebäude angepasst, ernährt sich ausschließlich von Kaffee, Zigaretten und in Zellophan gewickelten Pasteten und braucht kein vom Sonnenlicht erzeugtes Vitamin D.

»War nur ein Scherz, Schätzchen. Du bist immer noch die schönste Frau in diesem Gebäude.«

Nach einer Unterhaltung mit Gretton sehnt man sich danach, sich mit einer harten Wurzelbürste unter kochend heißem Wasser abzuschrubben.

»Was war los?«, fährt er fort. »Zu viel billiger Wein? Hat dein Freund dich zu hart rangenommen?« Er zwinkert auf eine Weise, bei der sich mir der Magen umdreht.

Ich trinke einen großen Schluck von dem Kaffee mit dem frischen Röstaroma von Bauernhof und Landwirtschaft. »Ich habe mich letzten Monat von meinem Verlobten getrennt.«

Seine kleinen runden Triefaugen richten sich auf mich. Er wartet auf eine Pointe, und als keine kommt, sagt er: »Ach du meine Güte, tut mir leid, das zu hören.«

»Danke.«

Ich habe keine Ahnung, ob Gretton ein Privatleben im konventionellen Sinn hat oder ob ihm um siebzehn Uhr dreißig ein Schweif wächst und er sich, gehüllt in eine Wolke knallgrüner Spezialeffekte, in einen offenen Kanalschacht schlängelt. Dieses Gesprächsthema ist unbekanntes Terrain für uns. Das Wissen über unser Privatleben erstreckt sich darauf, dass a) ich verlobt bin, was nun Vergangenheit ist, und b) er aus Carlisle stammt. Und damit sind wir beide zufrieden.

Er scharrt mit den Füßen.

»Hast du schon von dem Heroinschmuggel am Flughafen gehört, der ab heute in 9 verhandelt wird? Wie es heißt, haben sie das Zeug in Kolostomiebeuteln versteckt.«

Ich schüttle den Kopf. »Diesmal können sie also tatsächlich behaupten, dass das guter Shit war!«

Er amüsiert sich über den Witz und hat die gelöste Verlobung längst vergessen.

»Ich werde bei dem Ehrenmord in Saal 1 bleiben«, sage ich, ohne zu lächeln. »Wenn du dich um die Drogensache kümmerst, werde ich mich mit dem Mord beschäftigen, und in der Halbzeit können wir unsere Notizen austauschen.«

Pete beäugt mich misstrauisch und fragt sich, welche verschlagene Taktik sich hinter dieser für beide Seiten nutzbringenden Diplomatie verstecken könnte.

»Ja, in Ordnung.«

Obwohl mich die düstere Thematik manchmal runterzieht, mache ich meinen Job sehr gern. Es gefällt mir, dass es klar definierte Regeln und Rollen gibt. Auch wenn es in der Beweisführung Grauzonen gibt, ist ein Prozess immer schwarz und weiß. Ich habe gelernt, die Sprache im Gerichtssaal zu verstehen, Windstille und aufkommende Böen vorherzusagen und das freimaurerische Geflüster der Verteidiger zu deuten. Zu bestimmten Anwälten habe ich einen guten Draht. Ich habe mir die Fähigkeit angeeignet, in den Gesichtern der Jurymitglieder zu lesen, und es gelingt mir, schnell genug aus dem Saal zu schlüpfen, bevor mir wütende Zuschauer von der Galerie folgen und fordern, dass sie nichts davon in einer verdammten Zeitung lesen wollen.

Ich trinke den Rest des grässlichen Kaffees, werfe den Becher in den Mülleimer und mache mich auf den Weg zum Gerichtssaal 1, als ich eine schüchterne Frauenstimme hinter mir höre.

»Entschuldigung? Sind Sie Rachel Woodford?«

Ich drehe mich um und sehe ein Mädchen mit einem strohfarbenen Wuschelkopf, einer leicht gekrümmten Nase und einem unsicheren Gesichtsausdruck. In einer Schuluniform könnte man sie leicht für zwölf halten.

»Ich bin die neue Reporterin, die Sie heute begleiten soll«, erklärt sie.

»Ah ja.« Ich zermartere mir das Gehirn nach ihrem Namen und erinnere mich an ein Gespräch mit den Leuten in der Redaktion, das in einer anderen, längst vergangenen geologischen Ära stattgefunden zu haben scheint.

»Zoe Clarke«, sagt sie rasch.

»Zoe, natürlich. Es tut mir leid, ich bin heute Morgen noch nicht ganz wach. Ich kümmere mich heute um den Mordprozess. Willst du mitkommen?«

»Ja, danke!« Sie strahlt mich so begeistert an, als hätte ich sie zu einem Wanderwochenende im Lake District eingeladen.

»Dann wollen wir mal zuhören, wie sich ein paar Perückenträger miteinander streiten«, sage ich. Ich deute auf Gretton, der sich schon auf den Weg gemacht hat. »Und nimm dich in Acht vor dem verschwitzten Mann, der in Freundschaft kommt und dann mit deiner Story verschwindet.«

Zoe lacht. Sie wird noch viel lernen müssen.

5

In der Mittagspause klappe ich im Presseraum meinen Laptop auf. Presseraum ist eine etwas hochtrabende Bezeichnung für das fensterlose, nikotinverfärbte Verlies in den Tiefen des Strafgerichtsgebäudes, in dem ein furnierter Schreibtisch, ein paar Stühle und ein verbeulter Aktenschrank stehen. Gerade als ich meinen E-Mail-Eingang überprüfe, kommt eine Nachricht von Mindy.

Kannst du reden?

Ich tippe ja und drücke auf Senden.

Mindy schreibt nicht gerne E-Mails, wenn sie stattdessen telefonieren kann. Sie redet gern, außerdem ist ihre Rechtschreibung phonetisch. In E-Mails an mich und Caroline schrieb sie öfter »woalah!«. Wir hielten es für ein indisches Wort, bis wir herausfanden, dass sie »voilà« meinte.

Mein Telefon klingelt.

»Hi, Mind«, melde ich mich. Ich stehe auf, verlasse den Presseraum und stelle mich vor die Tür.

»Hast du schon eine Wohnung gefunden?«

»Nein.« Ich seufze. »Ich schaue mich ständig auf den entsprechenden Websites um und hoffe, dass es auf wundersame Weise einen plötzlichen Einbruch am Immobilienmarkt gibt und die Preise in den Keller fallen.«

»Du willst in die Innenstadt, richtig? Und es darf auch zur Miete sein?«

Rhys will mir meine Hälfte des Hauses ausbezahlen, und ich habe beschlossen, das Geld in eine Wohnung zu investieren. Eigentlich dachte ich an eine Wohnung im Stadtzentrum, von wo aus ich das Leben eines weltgewandten Singles führen könnte, aber die Preise sind ernüchternd. Mindy ist der Ansicht, dass ich mir für sechs Monate etwas mieten und erst einmal wieder zu mir finden sollte. Caroline hält Mieten für Geldverschwendung. Ivor hat mir sein Gästezimmer angeboten und hofft, damit endlich seine unzuverlässige, laute Untermieterin Katya loszuwerden. Wie Mindy sagt, sollte er sie auf jeden Fall rausschmeißen – er müsste nur seinen Mut zusammennehmen und sich wie ein Mann benehmen.

»Jaaa …?«, erwidere ich argwöhnisch.

Mindy beginnt manchmal mit einer vernünftigen Feststellung und weitet sie dann zu einer vollkommen verrückten Idee aus.

»Du kannst deine Suche einstellen. Eine stinkreiche Kundin von mir wird die nächsten sechs Monate in Bombay verbringen. Sie besitzt eine Wohnung im Northern Quarter. Ich glaube, es handelt sich um eine umgebaute Baumwollspinnerei oder etwas Ähnliches, und anscheinend ist es einfach umwerfend. Sie braucht einen zuverlässigen Wohnungssitter, und ich habe ihr gesagt, dass du die verlässlichste Person auf dieser Welt bist, und sie meinte, wenn das so wäre, würde sie dir einen guten Deal anbieten.«

»Ähm …«

Mindy nennt mir eine monatliche Summe, die nicht gerade gering ist. Sie ist allerdings machbar und für eine Wohnung, wie sie sie beschreibt, sicher nicht zu hoch. Aber bei Mindy muss man immer mit etwas Verrücktem rechnen. Wahrscheinlich gehört zu der Wohnung ein Maltipoo mit Blasenschwäche und dem Namen Colonel Gad-Faffy, der nur Thunfisch in Sushi-Qualität frisst und viermal am Tag Gassi geführt werden muss.

»Sollen wir zwei uns die Wohnung nach der Arbeit anschauen?«, fährt Mindy fort. »Sie fliegt am Freitag, und einer ihrer Cousins hätte Interesse. Sie sagt, er sei ein kleines Chang-Monster und deshalb vertraue sie ihm nicht. Du bist also die Spitzenkandidatin, aber du musst rasch zuschlagen.«

»Chang-Monster?«

»Du weißt schon. Koks. Der Schnee für Bekloppte.«

»Verstehe.«

Ich denke darüber nach. Eigentlich war ich auf der Suche nach einer Bleibe für einen längeren Zeitraum als sechs Monate. Ein halbes Jahr mit Option auf Verlängerung. Aber vielleicht wäre das eine Möglichkeit, einen Traum zu leben, während ich mich nach etwas Realistischerem umsah.

»Klar, ich schau mir die Wohnung gern an.«

»Großartig! Treffen wir uns um halb sechs bei Afflecks?«

»In Ordnung. Bis dann.«

Als ich in den Presseraum zurückgehe, wird mir klar, warum ich meinen Auszug so lange hinausgezögert habe, so unangenehm das auch ist. Meine Entscheidung, Rhys zu verlassen, geht nun von Worten in Taten über. Sie wird zur Tatsache. Dazu gehört es, das Kapital aufzuteilen, unsere weltlichen Güter zu trennen, abends in eine leere Wohnung zu kommen und in den gähnenden Schlund einer einsamen Zukunft zu blicken. Ein Teil von mir, ein schrill kreischender, feiger Teil, will schreien: »Warte! Halt! Ich habe es nicht so gemeint! Ich will aussteigen!« Reisekrankheit setzt ein.

Aber ich erinnere mich auch an die SMS, die ich vor ein paar Tagen von Rhys bekommen habe und die sich ebenso traurig wie wütend anhörte: Ich hoffe, du bemühst dich rasch um eine Wohnung, denn ich kann das Ende dieses Zusammenlebens kaum erwarten.

Ich öffne mein Notebook wieder und überlege, ob ich noch einen nach Kuhscheiße schmeckenden Kaffee trinken soll.

Zoe kommt herein und bleibt unschlüssig stehen. Man hört praktisch ihre elektrostatisch aufgeladenen Nerven summen.

»Du kannst dir gern etwas zu essen holen. Deine Sachen kannst du hier lassen, wenn du willst«, sage ich.

»Danke.« Sie legt den Mantel und ihre Tasche ab und stellt ihr Notebook vorsichtig auf den Tisch.

»Oder hast du Lust, im Pub zu Mittag zu essen?«, fahre ich fort. Ich bin mir nicht sicher, woher diese Großherzigkeit kommt. Wahrscheinlich versuche ich wiedergutzumachen, was ich Rhys angetan habe. Aber die Einträge in der Sparte für gute Taten im großen Buch des Lebens werden niemals reichen, um das aufzuwiegen.

»Das wäre großartig!«

»Gib mir fünf Minuten, dann zeige ich dir, warum The Castle sich als das Pub, das dem Gericht am nächsten liegt, ausgezeichnet hat.«

Zoe nickt und setzt sich, um ihre Notizen in Langschrift zu übertragen. Ich werfe einen Blick hinüber, während ich tippe. Ich habe es geahnt – ihre Stenozeichen sind so perfekt, dass man sie fotokopieren und als Beispiele in ein Lehrbuch setzen könnte.

Gretton schlendert herein und lässt seinen Blick zwischen Zoe und mir hin und her wandern.

»Was ist los? Sollten wir heute unsere Töchter mit zur Arbeit bringen?«

Zoe schaut verdutzt auf.

»Willkommen in der Familie«, sage ich zu Zoe. »Betrachte Gretton als den Onkel, der mit dir Hoppe, hoppe, Reiter spielen möchte.«

6

Im Pub entschuldige ich mich bei Zoe dafür, dass ich keinen Alkohol trinke. In solchen Momenten habe ich das Gefühl, meinen Berufszweig zu verraten. In jeder Zeitungsredaktion hört man Geschichten von den mythischen, ganz großen Kämpfern aus alten Zeiten, die Mengen trinken konnten, mit denen sie Schlachtschiffe hätten versenken können, trotzdem ihre Abgabetermine einhielten, am nächsten Tag im Morgengrauen aufstanden und wieder von vorne begannen. Sie sind Legenden, weil sie in ihren Fünfzigern gestorben sind.

»Selbst bei interessanten Fällen wirken die Heizung und das lange Gerede im Gerichtssaal einschläfernd. Wenn ich dann Alkohol intus hätte, würde ich auch noch laut schnarchen«, erkläre ich.

»Oh, das ist schon in Ordnung. Ich vertrage ohnehin nichts«, meint Zoe. »Ich werde auch eine Cola light nehmen.«

Beim Lesen der beschichteten Speisekarten wird uns mulmig. Die Menüauswahl des Castle wurde offenkundig von Marketingmanagern verfasst, die davon überzeugt sind, die Fremdsprache »Humor« zu beherrschen. Um unsere Würde zu bewahren, versuchen wir, unsere Auswahl mit bloßem Deuten auf bestimmte Gerichte kundzutun. Der mürrische Barkeeper kennt jedoch keine Gnade.

»Ich leide an Astigmatismus«, erklärt er, als ob wir das wissen müssten.

»Oh«, erwidere ich nervös und suche rasch nach einem Ausweg. »Dann nehmen wir beide den Bauernteller.«

»Nackt, schweinisch oder extra sauer?«

Verdammt. Ich gebe mich geschlagen. »Schweinisch«, murmle ich. »Nackt für sie.«

»Mit Käse überbacken?«, fragt er, und sein Seufzen weist uns darauf hin, dass die meisten Probleme dieser Welt auf Leute wie uns, die Käse verlangen, zurückzuführen sind. Wir entscheiden uns beide dafür, verzichten aber auf den Spritzer der besonderen Sauce des Küchenchefs. Schließlich kennen wir den Kerl nicht einmal.

Wir plaudern ein wenig und diskutieren über Mariah Careys Oktavspektrum und etliche Fernsehsendungen, während wir zwei mikrowellenwarme Teller vor die Nase gesetzt bekommen.

Sobald Zoe ihre Portion aufgegessen hat, sagt sie: »Das habe ich heute geschrieben.« Sie wischt sich die Krümel von den Händen, zieht einen Spiralblock aus ihrer Tasche und schlägt die entsprechende Seite auf. »Ich habe es in Langschrift übertragen.«

Ich spüre einen Anflug von Verärgerung, weil sie von mir Mentordienste erwartet, während ich noch esse, aber das schlucke ich zusammen mit einem Mundvoll gummiartigen Käse hinunter. Ich überfliege ihre Story und mache mich auf einen Unfall mit Blechschaden, wenn nicht sogar auf eine schwere Massenkarambolage gefasst. Aber sie ist gut. Tatsächlich ist der Bericht für einen ersten Versuch sehr flüssig und souverän.

»Das ist gut.« Ich nicke, und Zoe strahlt. »Du hast den richtigen Ansatz gewählt – dass der Vater und der Onkel nicht leugnen, den Freund aufgesucht zu haben.«

»Und wenn nun heute Nachmittag etwas Besseres auftaucht? Bleibst du bei deinem ersten instinktiven Gefühl?«

»Es ist möglich, aber unwahrscheinlich, dass sich etwas grundlegend Neues ergibt. Die Mühlen mahlen ziemlich langsam. Wahrscheinlich werden wir heute Nachmittag nicht mehr zur Zeugenaussage des Freundes kommen.« Ich gebe Zoe ihren Notizblock zurück.

»Wie lange bist du schon hier?«, erkundigt sie sich.

»Zu lange. Ich habe hier an der Uni studiert, meine Ausbildung in Sheffield gemacht und danach bei den Evening News als Praktikantin angefangen.«

»Gefällt es dir am Gericht?«

»Ja, der Job gefällt mir. Ich konnte schon immer besser Geschichten schreiben als sie finden, also liegt mir diese Arbeit. Und die Fälle sind meistens interessant.« Ich zögere und befürchte, mich anzuhören wie diese makaberen Typen, die Gedenktafeln am Straßenrand betrachten. »Natürlich sind sie manchmal auch scheußlich.«

»Und wie ist es in der Redaktion?«, will Zoe wissen. »Der Chef wirkt ein wenig furchteinflößend.«

»Oh, ja.« Ich schiebe mit der stumpfen Seite meines Messers ein Häufchen klebrigen Krautsalat zur Seite, der offensichtlich vor dem Erhitzen auf den Teller gelegt wurde. »Mit Ken fertigzuwerden kommt dem Kampf mit einem Krokodil gleich. Wir alle haben uns dabei schon Bisswunden eingehandelt. Hat er dir schon die Frage mit den Achtlingen gestellt?«

Zoe schüttelt den Kopf.

»Eine Frau hat Achtlinge, Neunlinge, wie auch immer, bekommen. Du darfst an ihrem Bett das erste Interview führen, während sie noch von den Medikamenten benommen ist. Welche Frage musst du ihr auf jeden Fall stellen?«

»Äh … Hatten Sie große Schmerzen?«

»Wollen Sie noch mehr Kinder haben? Sie wird wahrscheinlich versuchen, dir die Schale mit den Weintrauben an den Kopf zu werfen, aber das ist sein Standpunkt. Du bist Journalistin, also musst du wie eine Journalistin denken. Hab immer die Schlagzeile im Blick.«

»Ich verstehe.« Zoe runzelt die Stirn. »Das werde ich mir merken.«

Ich verspüre das hoffnungslose Bedürfnis, jemandem die eine Million Schnitzer zu ersparen, die ich gemacht habe, als ich neu war, obwohl ich weiß, dass jeder seine eigenen Fehler macht und man niemanden davor bewahren kann.

»Tritt selbstbewusst, aber nicht zu großspurig auf, und wenn du Mist baust und es kommt heraus, dann gib es zu. Ken wird dich zur Schnecke machen, aber er wird dir auch glauben, wenn du beim nächsten Mal sagst, dass es nicht deine Schuld war. Lügen sind ein absolut rotes Tuch für ihn.«

»Verstehe.«