Wir Schlaflosen - Ralph Gerstenberg - E-Book

Wir Schlaflosen E-Book

Ralph Gerstenberg

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Beschreibung

Schlaflos in den Abgrund? "Vier Stunden müssen genügen." Das soll Barack Obama im Hinblick auf sein tägliches Schlafkontingent einmal gesagt haben. Mit dieser Haltung glauben nicht nur Präsidenten gesellschaftlichen Anforderungen, Erwartungen und Entwicklungen entsprechen zu müssen. Inzwischen leiden viele Menschen an und unter Schlafmangel, Schlaflosigkeit oder Schlafstörungen. Mit ihnen nehmen auch Ängste zu: Abstiegsängste, Angst vor Altersarmut, vor Einsamkeit, Scheitern, Krieg und Klimaveränderungen – eine sich selbst verstärkende Spirale. Ralph Gerstenberg deckt auf, wie sich diese Spirale immer weiter dreht, und er spürt den Folgen dieser Entwicklung nach. Sie ist Symptom einer Gesellschaft, die sich keine Ruhe gönnt, Grundbedürfnisse ignoriert, natürliche Rhythmen außer Kraft setzt, keine Zeit zum Regenerieren und Träumen mehr findet und dadurch immer mehr ins Taumeln gerät. Digitalisierung und Homeoffice haben den Tag-und-Nacht-Rhythmus endgültig außer Kraft gesetzt. Gereiztheit, Nervosität und Erregbarkeit sind Symptome eines individuellen Schlafmangels, aber auch eines Zustands, in dem sich unsere stets und ständig unter Druck stehende Übermüdungsgesellschaft befindet. Ralph Gerstenbergs Essay diagnostiziert hellwach. Gibt es Wege aus der Schlaflosigkeit? Der Autor: Ralph Gerstenberg ist Autor und Journalist. Er hat Kriminalromane, Erzählungen und Hörbücher veröffentlicht. In Radiofeatures (vor allem für den SWR und den Deutschlandfunk) setzte er sich u. a. mit Hypochondrie, Political Correctness, ostdeutschen Identitäten und der Generation der Babyboomer auseinander.

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Seitenzahl: 75

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Carl-Auer

Ralph Gerstenberg

WIRSCHLAFLOSEN

Kritik der Übermüdungsgesellschaft

2024

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Dr. h. c. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Dresden)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer † (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin † (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Dallgow-Döberitz)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Reihe »update gesellschaft«

hrsg. von Matthias Eckoldt

Umschlagentwurf: B. Charlotte Ulrich

Redaktion: Alexander Eckerlin

Layout und Satz: Melanie Szeifert

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2024

ISBN 978-3-8497-0555-8 (Printversion)

ISBN 978-3-8497-8508-6 (ePub)

© 2024 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 · 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438-0 · Fax +49 6221 6438-22

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Inhalt

Prolog

Schlafstörung, tatsächlich?!

Schlafmangel

Nachtaktive Alphatiere

Augen auf bei der Berufswahl!

Ängste

Die große Gereiztheit

Der schlaflose Soldat

Schlafökonomie

Produktive Nachtgestalten

Mut zur Müdigkeit

Prolog

Schlaflosigkeit kommt nicht über Nacht. Es ist ein schleichender Prozess, der bei jedem anders verläuft. Beruflicher Stress, Mails nach Feierabend, ausufernde Internetrecherchen, unerledigte Dinge, die Zeitumstellung, nicht durchschlafende Kinder, Beziehungskrisen, der Espresso nach dem ohnehin zu üppigen Abendessen, ein ungeplanter Serien-Marathon ... Die Ursachen für durchwachte Nächte sind schnell gefunden. Klar, man wird ein bisschen kürzertreten, früher ins Bett gehen, auf eine bessere Schlafhygiene achten, möglicherweise eine gerechtere Verteilung der familiären Aufgaben zur Sprache bringen, Lösungen finden. Dann wird sich der natürliche Schlafrhythmus ganz von allein wieder herstellen. Guter Schlaf war ja bislang nie ein Problem gewesen. Im Gegenteil. Wie oft ist man abends völlig erledigt ins Bett gefallen und am nächsten Morgen viel zu früh aus tiefsten Träumen gerissen worden? Man hätte stets noch etwas länger schlafen können und wollen, hat Schul- und Bürozeiten verflucht, die einen wochentags in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett trieben. Warum sollte sich daran auf einmal etwas geändert haben?

Doch irgendwann merkt man, dass es nicht mehr so leicht ist, das benötigte Schlafpensum zu halten, um einigermaßen ausgeruht seine täglichen Aufgaben zu bewältigen und Spaß an einem aktiven Lebensstil zu haben. Das Melatonin-Spray ist zum unübersehbaren Nachttisch-Requisit geworden, der Baldrian-Tee zum Schlummertrunk. Immer häufiger wird man mitten in der Nacht wach und es dauert Stunden, bis man wieder wegdämmert, wenn überhaupt. Allzu oft hofft man, erschöpft und zermürbt, in frühen Morgenstunden auf etwas Restschlaf, während die Zeiger des Weckers sich erbarmungslos der Aufstehzeit nähern.

Bei mir begannen die Schlafstörungen während der Corona-Pandemie. Zumindest war das die Zeit, in der sich die Nächte, in denen ich wach lag und sorgenvoll ins Morgengrauen anbrechender Tage starrte, zu häufen begannen. Die eingetakteten Rhythmen und Abläufe des Alltags waren durch Lockdowns, Homeschooling und Präventionsmaßnahmen weitgehend außer Kraft gesetzt. Die Tage verloren ihre Struktur. Öffentliche Einrichtungen und Rundfunkanstalten, für die ich arbeitete, durften nicht mehr betreten werden, Interviews wurden via Videochat geführt, Mails beantwortet, wenn gerade Zeit war, manchmal auch nachts. Hinzu kamen berufliche Unsicherheiten sowie gut gemeinte, aber schlecht gemachte Soforthilfeprogramme, die den Bedürfnissen der »Solo-Selbständigen«, zu denen ich, wie ich erfuhr, gehörte, nicht entsprachen und dadurch ohnehin vorhandene Existenzängste noch verstärkten. Soziale Kontakte beschränkten sich auf Telefonate und Messages. Das gelegentliche Bier mit Freunden wurde zum Glas Wein allein. An die Stelle von Theater-, Konzert- und Kinobesuchen traten die rund um die Uhr verfügbaren Angebote internationaler Streamingdienste.

Mit Hilfe meines Notebooks und Smartphones holte ich mir die Welt ins Bett. Es wurde zum Büro, zur Kommunikationszentrale. Als Ort der Ruhe, der Intimität, des Zu-sich-Findens und Abschaltens hatte es damit jedoch ausgedient. Aus der einstigen Schlafstätte ist ein vernetzter Mehrzweckbereich geworden.

Nicht selten wurde ich in dieser Zeit auch zum Opfer der Cliffhanger-Dramaturgie gewiefter Serienprofis. Die Folge vor dem Einschlafen geriet zum nächtlichen Staffelstreaming. Ingo Fietze, Leiter des Interdisziplinären Schlafmedizinischen Zentrums an der Berliner Charité, der selbst in durchwachten Nächten gelegentlich den Fernseher einschaltet, um wieder müde zu werden, warnt ausdrücklich vor dem Serienkonsum in Abend- und Nachtstunden. Das schlafverhindernde Suchtpotenzial gehört zum Konzept der Serien-Produzenten. Die begrenzte Freizeit der Hauptzielgruppe verhindert eine weitere Profitmaximierung von Netflix & Co. Also wird alles darangesetzt, die für den Serienkonsum nutzbare Zeit auszudehnen. Da Arbeitszeiten, zumindest bei nicht selbständigen Erwerbstätigen, die rund neunzig Prozent der Beschäftigten ausmachen, vertraglich festgelegt sind, bleibt nur die Expansion in die Nächte. Insofern ist es nicht übertrieben, von TV-Serien als gezielten Angriff auf den Schlaf und damit auf die Gesundheit der Konsumenten zu sprechen. Wenn vor Gewalt, Nacktheit, Drogenkonsum, Schimpfwörtern oder sexuellen Inhalten in den Produktionen der Streaminganbieter gewarnt wird, sollte auch – wie auf Zigarettenschachteln – vor deren süchtig machender und gesundheitsschädigender Wirkung gewarnt werden.

Natürlich war mir klar, dass das, was ich tat, nicht gut für mich war. Doch wenn ich mich abends mit dem Laptop ins Bett legte, um Serien zu schauen und zu entspannen, schlug ich – wie ein Raucher, der sich eine Zigarette anzündete – alle Bedenken in den Wind. Manchmal wurde ich mitten in der Nacht vom Signalton einer eingehenden WhatsApp-Nachricht geweckt und stellte fest, dass der Bildschirm des Notebooks noch immer das Zimmer erhellte. Hin und wieder, wenn ich nicht sofort wieder einschlafen konnte, schaute ich einfach weiter. Eine katastrophale Schlafhygiene, das war mir durchaus bewusst, aber es waren ja auch besondere Zeiten, durch die man irgendwie kommen musste. Wenn die Welt da draußen wieder normal zu werden begann, würde auch in meinem Schlafzimmer wieder Normalität einkehren. So der Plan.

Heute, drei, vier schlaflose Jahre später, erscheint mir die Corona-Krise wie ein Katalysator. Die Welt wurde nicht mehr »normal«. Sie war es auch zuvor nicht gewesen. Zumindest nicht in dem Sinne, dass natürliche Lebensrhythmen, das menschliche Bedürfnis nach Regeneration und eine tatsächliche Balance zwischen Leben und Arbeit darin einen festen Platz gehabt hätten. Die Übermüdung ist zu einem Dauerzustand einer auf Ökonomisierung und Optimierung ausgerichteten Gesellschaft geworden. Digitalisierung und Homeoffice haben den Tag-und-Nacht-Rhythmus endgültig außer Kraft gesetzt und die Grenzen zwischen Berufs- und Privatleben immer durchlässiger gemacht. Wokeness, Cleverness, Geistesgegenwart, Schnelligkeit gehören zu den positiv bewerteten Eigenschaften unserer Zeit. Wer schläft, verpasst etwas, ist nicht am Ball, gerät ins Hintertreffen. Wir Schlaflosen sind ein wachsender Teil dieser stets und ständig unter Druck stehenden Gesellschaft. Unsere permanente Übermüdung ist Ausdruck einer Nonstop-Betriebsamkeit, die allenthalben unser Leben bestimmt. Wir sind immerzu ansprechbar, können jederzeit mit der Welt in Kontakt treten, Fotos und Ansichten posten, Mails beantworten, Nachrichten empfangen – möglicherweise Nachrichten über Kriege und Krisen, die uns den Schlaf rauben. Gereiztheit, Nervosität, Erregbarkeit sind die Symptome eines individuellen Schlafmangels, aber auch eines Zustands, in dem wir uns alle befinden.

Wer einen Monat lang dreimal pro Woche eine halbe Stunde zum Einschlafen benötigt, nach nächtlichem Aufwachen länger als 30 Minuten wach liegt oder nach nur fünf Stunden frühmorgens erwacht und keinen Schlaf mehr findet, hat bereits eine chronische Insomnie, also eine langanhaltende oder in Abständen immer wiederkehrende Schlafstörung. So die Pi-mal-Daumen-Regel der Schlafmedizin. In Deutschland suchten 2022 etwa sechs Millionen Menschen aus diesem Grund einen Arzt auf. Die Dunkelziffer der Insomniker ist jedoch hoch. Viele nehmen Schlafstörungen nicht besonders ernst: Unruhige Nächte kennt doch jeder, das wird sich schon wieder geben, sind halt stressige Zeiten!

Laut einem Gesundheitsreport der Krankenkasse DAK von 2017 klagen rund 80% aller deutschen Erwerbstätigen über Schlafstörungen. Damit ist die Zahl der 35- bis 65-Jährigen, die einen Beruf ausüben und schlecht schlafen, innerhalb von sieben Jahren um 66% gestiegen.

Wie verändert es unser Leben, dauerhaft unter Schlafmangel zu leiden? Warum schlafen wir schlecht und wenig und welche Auswirkungen hat das auf unsere körperliche und psychische Gesundheit, auf unsere Entscheidungskraft? In diesem Essay betrachte ich Schlaflosigkeit als Symptom einer Gesellschaft, die sich keine Ruhe gönnt, Grundbedürfnisse ignoriert und keine Zeit zum Träumen findet. Und natürlich geht die Diagnose einer permanenten Übermüdung wie jedes Krankheitsbild auch mit einem Wunsch nach Heilung einher, mit der Frage: Wie können wir einen Weg aus der Schlaflosigkeit finden – persönlich und gesellschaftlich?

Schlafstörung, tatsächlich?!