Wir werden fliegen - Susanne Gregor - E-Book

Wir werden fliegen E-Book

Susanne Gregor

0,0

Beschreibung

Als Alan verschwindet, stellt seine Schwester Miša fest, wie wenig sie über das neue Leben ihres Bruder weiß. Eines aber ist ihr sehr wohl bekannt: Bereits einmal war Alan plötzlich verschwunden, kurz vor der Wende floh er bei Nacht und Nebel aus dem tschechoslowakischen Žilina in den Westen. Jahre später fand die Familie über Umwege in Wien wieder zusammen. Doch Miša und Alan sind nicht mehr dieselben. Alan, der ehemalige Rebell, ist zu einem überangepassten, strebsamen Arzt geworden, und Miša, die ehemals brave Leseratte, schwebt nach abgebrochenem Studium ufer- und ankerlos von einer europäischen Stadt zur nächsten. Erst als sie den Engländer Joe trifft, fühlt sie sich vorübergehend angekommen. Alan wiederum verliebt sich in die Diplomatentochter Nora, die an seiner Seite ein Zuhause sucht – bis sie auch diesem wieder überdrüssig wird. Miša und Alan sehnen sich nach Zugehörigkeit und driften dabei immer weiter auseinander. Nun, da Alan erneut aus seinem und damit auch aus Mišas Leben geflohen ist, stellt sich für sie die Frage: Werden sie sich selbst, werden sie einander wiederfinden? Wir werden fliegen erzählt vom Wandel, der Zeiten und der Menschen, von Verlust und Neuerfinden, von denen, die mit einem Ziel aufbrechen und doch auf Durchreise bleiben. Aus wechselnder Perspektive entwirft Susanne Gregor ein einfühlsames Porträt zweier Geschwister, die auf der Suche nach sich selbst in unterschiedliche Richtungen aufbrechen und doch umeinanderkreisen – ein warmer, ein hoffnungsvoller Roman.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 292

Veröffentlichungsjahr: 2023

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

Als Alan verschwindet, stellt seine Schwester Miša fest, wie wenig sie über das neue Leben ihres Bruder weiß. Eines aber ist ihr sehr wohl bekannt: Bereits einmal war Alan plötzlich verschwunden, kurz vor der Wende floh er bei Nacht und Nebel aus dem tschechoslowakischen Žilina in den Westen. Jahre später fand die Familie über Umwege in Wien wieder zusammen. Doch Miša und Alan sind nicht mehr dieselben. Alan, der ehemalige Rebell, ist zu einem überangepassten, strebsamen Arzt geworden, und Miša, die ehemals brave Leseratte, schwebt nach abgebrochenem Studium ufer- und ankerlos von einer europäischen Stadt zur nächsten. Erst als sie den Engländer Joe trifft, fühlt sie sich vorübergehend angekommen. Alan wiederum verliebt sich in die Diplomatentochter Nora, die an seiner Seite ein Zuhause sucht – bis sie auch diesem wieder überdrüssig wird. Miša und Alan sehnen sich nach Zugehörigkeit und driften dabei immer weiter auseinander. Nun, da Alan erneut aus seinem und damit auch aus Mišas Leben geflohen ist, stellt sich für sie die Frage: Werden sie sich selbst, werden sie einander wiederfinden?

Wir werden fliegen erzählt vom Wandel, der Zeiten und der Menschen, von Verlust und Neuerfinden, von denen, die mit einem Ziel aufbrechen und doch auf Durchreise bleiben. Aus wechselnder Perspektive entwirft Susanne Gregor ein einfühlsames Porträt zweier Geschwister, die auf der Suche nach sich selbst in unterschiedliche Richtungen aufbrechen und doch umeinanderkreisen – ein warmer, ein hoffnungsvoller Roman.

 

 

Inhalt

Er ist verschwunden, sagt Nora …

Teil 1

Teil 2

Teil 3

Teil 4

 

Für Isabel

 

Er ist verschwunden, sagt Nora statt einer Begrüßung, als sie die Tür öffnet, und sogleich wendet sie sich ab, geht in Richtung Küche, ohne eine Antwort abzuwarten. Miša betritt die Wohnung ihres Bruders und stellt fest, sein Leben ist für sie unbekannt. Regale voller Turnschuhe, die er zum Joggen benutzt haben könnte oder einfach gern bei der Arbeit trug. Eine silberne Armbanduhr auf der Kommode, wo er doch früher Uhren gehasst hat. Ob die Tablettenschachteln, die im Regal aufgereiht stehen wie kleine Soldaten, seine oder Noras sind, wagt sie nicht zu fragen. Sie folgt Nora in den dunklen Flur, an dessen Ende die Tür zu einem kleinen Schlafzimmer halb geöffnet ist, erkennt darin ein ungemachtes Bett und einen Bücherstapel auf dem Nachtschrank, hier hat er also gelesen, hier hat er geschlafen, denkt sie und betritt die moderne, sterile Küche, in der Nora auf sie wartet, auf ihn wartet. Hier hat er gekocht, hier hat er gegessen, von diesem Fenster aus auf die Straße geschaut. Sie versucht, sich jedes Detail seines Lebens vorzustellen, als würde er, wenn sie es nur richtig rekonstruiert, gleich wieder auftauchen.

Zögernd setzt sie sich an den Esstisch, während Nora sofort Besteck aus der Lade holt und ihr ein wirres Mittagessen serviert. Salat, Reis, Käse, Milch, wahllos nimmt sie alles aus dem Kühlschrank und stellt es vor Miša hin, erst als auf dem runden weißen Esstisch fast kein Platz mehr ist, hört sie auf und setzt sich ihr gegenüber. Aber statt zu essen, sieht sie aus dem Fenster. Auf dem gegenüberliegenden Gebäude wird ein Dachgeschoss ausgebaut, Miša folgt ihrem Blick, bemerkt einen Arbeiter, der auf dem Rand des Daches balanciert, mit einem Fuß etwas abrutscht, sich wieder fängt und weitergeht. Mit angehaltenem Atem sehen sie ihm eine Weile zu, als wäre Miša nur hergekommen, um diesen spektakulären Balanceakt zu beobachten, als Noras Handy mit einem dumpfen Ton zu vibrieren beginnt. Sie wirft einen schnellen Blick auf das Display, hebt nicht ab. Deine Mutter, sagt Nora, schon wieder will sie etwas wissen, dabei habe ich ihr schon alles gesagt, mehr weiß ich nicht. Alan ist in der Früh zur Arbeit gefahren, genau wie jeden Tag, hat geduscht, gefrühstückt, den Autoschlüssel von der Kommode genommen und ist zur Tür raus. Nur die Uhr hat er vergessen, das ist ungewöhnlich, nicht wahr, die vergisst er doch nie. Ich habe im Krankenhaus nachgefragt, sie sagten mir, er arbeite dort nicht mehr. Stell dir mal vor, das hatte er mir gar nicht erzählt. Ich hätte mir wirklich denken können, dass etwas arg im Groben lag, er hatte abgenommen, es ging ihm nicht gut. Ich weiß auch nicht, wo ich meinen Kopf hatte. Wenn er zurückkommt, wird er mir sicher alles erzählen, dann will ich ihm besser zuhören, sagt sie und richtet mit einer Hand immer wieder das Besteck auf dem Tisch, als käme er gleich zur Tür rein. Er kommt doch zurück, denkst du nicht?, fragt sie leise.

Miša nickt und denkt: Die Frage ist nur, als wer. Den Alan, mit dem Nora zusammengelebt hat, kannte sie zu wenig. Sie kannte einen Alan, der in einer Band spielte und von zu Hause weglief, um im Westen zu leben. Der andere Alan, der er später geworden war, war ihr immer fremd geblieben. Nora hingegen kannte nur diesen verlässlichen Menschen, der seine Turnschuhe in der Garderobe nach Farben sortierte. Sie sehen sich über den Tisch und das unberührte Essen hinweg an. Er kommt bestimmt bald zurück, sagt Nora plötzlich entschlossen, er braucht bloß eine Auszeit.

Natürlich, sagt Miša, so wird es sein.

Es war ihre Mutter, die sie angerufen hat. Ob Alan bei ihr in Berlin sei? Die Frage klang so abwegig und die Stimme ihrer Mutter so dringlich, dass ihr sofort klar war, ihr Bruder war in Schwierigkeiten. Sie nahm den ersten Zug nach Wien, doch bereits während der Fahrt war ihr nicht mehr ganz klar, woraus die Panik ihrer Mutter sich eigentlich speiste, und welchen Unterschied ihre Anwesenheit in Wien überhaupt machen sollte. War er nicht ein erwachsener Mann? Überrascht stellte sie fest, dass sie selbst sich keine Sorgen um ihn machte. Im Weglaufen war er geübt, genauso aber im Zurückkehren. Bloß: Wenn er Probleme gehabt hatte, warum wusste sie nichts davon?

Im Zug träumte sie, jemand klopfe an die Tür. Als sie aufmachte, war er es, als zweijähriges Kind. Er weinte und sie hob ihn auf und wiegte ihn, aber egal, was sie tat, er ließ sich nicht beruhigen. Er war schwer und feucht vom Weinen, und sie hatte keine Ahnung, was er brauchte. Müde setzte sie ihn auf dem Boden ab, machte einen Schritt zurück, sah ihn an, das kleine Bruderkind. Es ergibt keinen Sinn, denkt sie jetzt, er war doch bereits vier, als ich geboren wurde.

Er kann doch nicht einfach so verschwinden, sagt ihre Mutter immer wieder, und Miša schweigt, denn sie wissen beide, dass es nicht stimmt. Als hätten sie das alles nicht schon einmal erlebt. Nur für Nora ist es neu: Für sie ist er der Arzt, der mit ernstem Gesicht durch den Krankenhausflur schreitet, im weißen Kittel, seine hellen Haare raspelkurz geschnitten, sein slowakischer Familienname auf dem Namensschild, Novák, den Titel davor statt des Vornamens. Und, wenn man genau hinsieht, eine Schulter immer ein bisschen tiefer als die andere, seit seinem Unfall, über den er immer so beiläufig spricht, als wäre er nichts Besonderes gewesen.

 

Teil 1

Hamburg, 1990: Der Unfall passierte kurz nach Mitternacht, ein paar Tage nach Alans neunzehntem Geburtstag. Er hatte sich gerade eine Zigarette angezündet und auf den Zug mit der Lieferung von Betonblöcken gewartet. Es war seine Aufgabe, beim Entladen zu helfen, die Ketten um die Blöcke zu schlingen und dem Fahrer ein Handzeichen zu geben, wenn sie zum Heben bereit waren. Als der Zug eingefahren war, zertrat Alan die frisch angezündete Zigarette mit der Ferse, um den ersten Lieferwaggon zu öffnen, als dessen Tor aus der Fassung fiel und ihn mit voller Wucht zu Boden riss. Obwohl augenblicklich drei Männer zur Stelle waren, um das schwere Eisenteil hochzuheben und Alan zu befreien, fühlte er, dass er weder sein Genick noch seinen linken Arm bewegen konnte. Der Abteilungsleiter, der die Anweisung hatte, die Unfallrate niedrig zu halten, fuhr ihn ins Krankenhaus und ließ sich die ganze Fahrt lang den genauen Unfallhergang wiederholen. Alan versuchte es unter Schmerzen und in seinem brüchigen Deutsch, das er noch vor ein paar Wochen für makellos gehalten hatte, bevor er hier in Deutschland ankam und merkte, dass es löchriger war als gedacht, dass es kaum für mehr reichte als Hilfsarbeit, wobei das vielleicht die am wenigsten schmerzhafte Feststellung war, die er innerhalb weniger Wochen machen musste – viel schlimmer war die Einsicht, dass seine Flucht aus der ČSSR praktisch umsonst gewesen war, dass es nämlich schon kurz danach keine ČSSR mehr gab und dass der einzige Mensch, den er hier in Hamburg hatte, seine Freundin, im Begriff war, ihn zu verlassen.

Im Krankenhaus ließ das Röntgenbild sofort erkennen: Es handelte sich um mehrere Brüche des Schulter- und Oberarmknochens. Alans starrte auf die weißen Knochenteile auf dem schwarzen Hintergrund und auf die zusammengezogenen Brauen des Arztes, der sie betrachtete. Inmitten der Männer (Arzt, Krankenpfleger und des Abteilungsleiters) fühlte Alan sich bloßgestellt, auf seinen Schaden reduziert, der lange vor dem eigentlichen Unfall seinen Ausgang genommen hatte: der Irrtum, zu denken, dass man es nur im Westen zu was bringen konnte.

Hierher hatte er es also gebracht, in die Notaufnahme, auf den kühlen metallenen Röntgentisch, wo sogleich eine Operation beschlossen wurde, und das alles ohne Aufenthaltsgenehmigung, Versicherung und weiterer Details, was den Abteilungsleiter sichtlich nervös machte. Es sei ungewöhnlich, sagte der Arzt nachdenklich, dass alle vier Fragmente des Schultergelenks ausgesprengt würden. In einer Operation müsse der Oberarmkopf mit Knochenersatzmaterial aufgefüllt werden, damit die Bruchfragmente wieder eine stabile Unterlage erhielten. Dann werde alles mit zwei Metallplatten und mehreren Schrauben wieder fixiert. Er empfehle sechs bis zwölf Monate lang Physiotherapie. Von alldem verstand Alan wenig und nickte dennoch, soweit es sein Kopf zuließ, während der Arzt das Gesicht unangenehm nahe an das seine hielt, um ihn an Augen, Ohren und Mund zu untersuchen. Der Abteilungsleiter stieg von einem Bein auf das andere, seine Aufgabe, die Unfallstatistik möglichst niedrig zu halten, hatte sich als unmöglicher Auftrag herausgestellt, seit die ersten Arbeiter aus dem Osten im Unternehmen eingetroffen waren. Ihm war es gleich aufgefallen: Wie leichtfertig sie mit Maschinen umgingen, ohne Respekt, als wäre ihnen ihr Leben nicht viel wert, sie schlugen Warnungen in die Luft oder verstanden sie nicht, sie arbeiteten wie Tiere, schliefen oft auf der Baustelle, aßen kaum. Und nun hatten sie die erste ernste Verletzung, die Krankenhausrechnung würde sie ein Vielfaches davon kosten, was dieser schlaksige Tschechoslowake ihnen bisher eingebracht hatte. Er füllte widerwillig ein paar Formulare für Alan aus und verabschiedete sich. Alan wurde von einem jungen rundlichen Krankenpfleger in einen anderen Raum geschoben und auf die Operation vorbereitet. Alles halb so schlimm, sagte dieser, ihm auf die gesunde Schulter klopfend, die paar Brüche, war doch Glück im Unglück, nicht? Es war der Oberarzt, der ihn operieren würde, so viel bekam er noch mit, bevor ihm die Maske aufgesetzt wurde und man ihn bat, von zehn rückwärts zu zählen. Am nächsten Tag spazierte dieser bei der Visite mit erhobenem Kinn über die Schwelle seines Zimmers, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, ein Mann wie ein Sportlehrer, der keine Niederlagen gelten lässt. Novák, sagte er, alles gut verlaufen, kein Grund zur Sorge, Sie werden wieder wie neu.

Als Alan vier Tage später vom Abteilungsleiter abgeholt wurde, lag auf der Hand, dass sein Arbeitsverhältnis beendet war. Er war schon froh, dass ihn jemand vom Krankenhaus abholte und nach Hause fuhr, oder was immer Alan zu der Zeit so nannte: ein abbruchreifes Haus am Stadtrand, wo Rita noch schlief und wahrscheinlich dachte, er wäre abgehauen, so wie sie es in ihrem letzten Streit von ihm gefordert hatte. Der Abteilungsleiter überreichte ihm einen bunten Geschenkkorb mit Wein, Honig und ein paar Südfrüchten, hielt ihm ein Blatt Papier unter die Nase und bat um eine Unterschrift. Keine große Sache, sagte er, einfach hier unten ein Autogramm bitte. Alan überflog den Text, den er nicht verstehen konnte, und zögerte. Wir wollen einander keine Unannehmlichkeiten machen, nicht wahr, erklärte der Abteilungsleiter lächelnd, dafür kümmern wir uns um die Krankenhausrechnung. Alles gut? Alan nickte und unterschrieb. Keine Unannehmlichkeiten. Der Gedanke, dass er Geld hätte verlangen können, kam ihm erst später, nachdem er aus dem dunkelgrünen Golf Country ausgestiegen war und sich bedankt hatte, und das Auto im Staub der Schotterstraße verschwunden war. Mit der gesunden Hand griff er sich an die Stirn. Idiot, dachte er, und wusste nicht, ob er den Abteilungsleiter oder sich selbst meinte. Er fühlte Wut in sich aufsteigen und den pochenden Schmerz in seiner Schulter. Vielleicht bin ich einfach kein Hilfsarbeiter, dachte er. Vielleicht bin ich eher der Typ Oberarzt. Es war ein merkwürdig klarer Gedanke.

Die Details und das Ausmaß seiner Verletzungen enthüllten sich ihm erst später, während seines Medizinstudiums, das er mit großem Eifer betrieb, um das verlorene Jahr aufzuholen: die Anatomie unserer Knochen. Später würde er seinen Patienten immer wieder beschreiben, wie die Wirbelsäule funktioniert, würde mit den Fingern über die Vertebrae des Skeletts in seiner Praxis gleiten und erklären, wo das Problem des Patienten liege. Er würde oft sagen: Die Wirbelsäule sagt mir alles über den Menschen, wie er steht, zeigt, wie er lebt. Es war eines der ersten Dinge, die ihm aufgefallen waren, dass Menschen hier aufrechter gingen als im Osten. An der Uni saß er in der ersten Reihe und machte sich Notizen. Knochendichte variiert nach Alter und Gesundheitszustand, aber auch nach Geschlecht und Herkunft. Asiaten tendieren zu weniger Knochendichte als Europäer, die wiederum mit den Südamerikanern gleichauf sind, die höchste Knochendichte findet sich bei Afrikanern, und generell tendieren Männer zu höherer Knochendichte als Frauen. Ebenso lässt sich durch Studien belegen, dass ängstliche und depressive Menschen öfter an brüchigen Knochen und Rückenschmerzen leiden, las er im Oxford Academic Journal, im Licht der grünen Tischlampe der Unibibliothek, während seine Kommilitonen in der Bar gegenüber Ottakringer Bier für acht Schilling bestellten. Er notierte es in seinen Unterlagen, vermerkte es mit einem Stern und einem Fragezeichen, kritzelte etwas dazu, was er später nicht mehr entziffern konnte: Knochendichte ist kein Zufall.

Alan selbst störte die lange dicke Narbe auf seiner Schulter nicht, nur anfangs erinnerten ihn die Schmerzen oft an Rita, an die Flucht über die Grenze, die betrunkenen Nachtsoldaten, an die in geraden Linien gepflanzten Bäume der österreichischen Wälder im ersten Morgengrauen, an den Zug nach Hamburg. Mit den Jahren war die Erinnerung immer blasser geworden, mit jedem Mal, wenn er sie erzählte, so lange, bis sie fremd klang, als wäre sie eigentlich jemand anderem passiert. Nur beim ersten Mal war sie lebhaft, als er sie Miša erzählte, 1990, als seine Eltern und Miša nach Wien gezogen waren, und er selbst, um einige Kilos leichter, mit hängenden Schultern und einem bandagierten Arm Hamburg verlassen hatte und bei ihnen eingezogen war. Er saß mit Miša in der neuen Einzimmer-Kellerwohnung, die sie jetzt zu viert bewohnten und durch deren Fenster den ganzen Tag die Waden der Passanten zu sehen waren. Er lehnte sich mit dem Rücken an das ausziehbare Bett und sein Gesicht lief beim Sprechen immer wieder rot an. Das ganze Unglück habe bereits mit der Flucht aus Žilina nach Hamburg seinen Lauf genommen, in der Nacht im ungarischen Wald, nein, später, am ungarisch-österreichischen Grenzübergang, wo er aus Angst vor Landminen fast umgedreht wäre, oder nein, noch später. Kurz stutzte er, wie leichtsinnig es von ihm gewesen war, die damals erst fünfzehnjährige Rita auf diese Reise mitzunehmen, dann ging er zur genauen Beschreibung seiner ersten Momente in Österreich über. Das weite, grüne Land des Grenzgebiets, so flach, dass man meinte, man bewege sich unter dem riesigen Himmel beim Gehen kaum von der Stelle. Die ungeteerte Straße, kilometerweite Felder, eine kleine Böschung, dahinter die Enthüllung: österreichisches Staatsgebiet. Weiß-rote Verkehrstafeln, ein Schild mit einem deutschen Ortsnamen, obwohl weit und breit kein Ort zu sehen war. Die quadratischen Felder feuchtbrauner Erde. Etwas, das immer schon dagewesen war und doch erst in dem Moment zu existieren begann. Der Ortsname war ihm bereits wieder entfallen, dafür konnte er jedes Detail der weiteren Zugfahrt nach Hamburg abrufen, wo er nur einmal die Toilette benutzt hatte, doch die paar Minuten hatten ausgereicht, ein einziger unachtsamer Moment, in dem Rita schlief und er kurz das Abteil verließ, und ihr Koffer war verschwunden. Sie hatten zusammen den ganzen Zug danach abgesucht, erfolglos, und waren mit leeren Händen in Hamburg angekommen, was ihn erneut zur Weißglut brachte, während er es Miša erzählte. Ausgerechnet in Deutschland wird uns etwas gestohlen, verstehst du? Seiner Meinung nach hatte es damit begonnen, mit diesem Ereignis, das völlig unbedeutend hätte sein können, für das sie sich aber noch wochenlang gegenseitig die Schuld zuschoben, im Moment der Krise zeige jeder sein wahres Gesicht, sagte er mit Überzeugung. Das von Rita sei ein zutiefst gleichgültiges, sagte er, alle Stationen ihrer gemeinsamen Reise haben das nur bestätigt – von ihrem kühlen, steifen Körper, der sich ihm nicht mehr hingeben wollte, sobald sie die Grenze passierten, über ihre Weigerung, in einem überfüllten Flüchtlingslager unterzukommen (wer hätte gedacht, dass sie sich plötzlich zu fein wäre), bis zu dem polnischen Hippie mit Filzhaarfrisur, der sich gemeinsam mit ihnen in ein abbruchreifes Haus am Stadtrand einquartiert und für den sie ihn schließlich verlassen hatte.

Miša hörte ihm zu, erstaunt über sein Staunen, das hättest du dir wirklich denken können, sagte sie und rückte ihre Brille zurecht. Trotzig trug sie noch immer die gleichen Sachen, die sie in Žilina getragen hatte, ihre braune, an den Knien ausgebeulte Cordhose, das ausgewaschene Hemd, sie sah noch immer aus wie ein Junge mit ihren dünnen, kurzen Haaren. Sie wusste nicht, dass man sich hier mit so was keine Freunde machte, oder vielleicht wollte sie es nicht wissen, oder es war ihr egal. Sie erinnerte ihn an Rita. Wenn er mit Miša sprach, war ihm, als würde er bis zu Rita vordringen.

Mišas Wirbelsäule ist eine der frühesten Erinnerungen, die er an sie hat. Wie sie sich nach vorne beugte, um den glitschigen schwarzen Karpfen anzufassen, der in der Badewanne schwamm. Es war Weihnachten, und sein Vater schleppte einen Baum an, ohne Jacke kam er aus dem Schnee herein, und Mutter ärgerte sich über die vielen Nadeln, die im Teppich steckenblieben. Ihre Stimme schloss an einen Streit an, den die beiden seit Tagen auskämpften, es ging um eine Reise, die Vater machen wollte und Mutter nicht. In Alans Erinnerung wollte Vater immer fahren und Mutter immer bleiben, wohin sein Vater fahren wollte, war Alan unklar, es war ein altes Tauziehen, das oft plötzlich einsetzte, beim Essen, beim Fernsehen, vorm Schlafengehen. Eine Reise, die nie gemacht werden sollte und die es ihnen doch wert war, sich ewig im Kreis zu drehen. Alan erinnerte sich an die Explosionen in Vaters Gesicht, sein Schimpfen, Drängen, Schreien, während Mutter kaum vom Herd aufsah, er erinnerte sich an Türenknallen und an seine Schwester, nackt bis auf die Windel, die sich über den Wannenrand zum Karpfen beugte, bis ihre Füße kaum noch den Boden berührten, und an ihre Wirbelknochen, die wie kleine weiche Hügel aus ihrem Rücken ragten. Ein ähnlicher Anblick, Jahre später, als sie an einem Schwimmwettbewerb teilnahm, den sie nicht gewann: Miša, vornübergebeugt am Rand des Schwimmbeckens, der Pfiff des Schiedsrichters, ihr Rücken angespannt, ihr Körper, der absprang, ihr Kopf von einer engen, roten Schwimmhaube bedeckt. Miša, die Letzte wurde. Miša, die er nach seiner Rückkehr aus Hamburg jeden Abend über das Waschbecken gebeugt sah, mit rundem Rücken, wie sie sich die Zähne putzte, in der Wiener Einzimmerwohnung, in der man einander nicht aus dem Weg gehen konnte.

Miša, wie sie ihn ansah und sagte: Das hättest du dir wirklich denken können.

Miša, die Rita kennt.

Du bist ein Idiot, sagte sie. Rita hat nie vorgehabt, bei dir zu bleiben.

Miša, die voranging, wenn sie im Wiener Wald wandern gingen, wie Österreicher das taten. Ihr blondes Haar unter einer Mütze versteckt, ihr dünner Körper, der dem Erwachsenwerden noch immer ein Stück Trotz entgegenhielt. Sie war größer geworden in dem Jahr, in dem er sie nicht gesehen hatte, aber auch nur das. Sie war fünfzehn, aber ihr Gesicht war das eines Kindes, wenn sie staunte, über das Grün der österreichischen Wälder, das viel dunkler war als daheim. Er erinnerte sich an den Park neben der Wohnbausiedlung, in der sie in Žilina gewohnt hatten, an die staubgraue Plattenbaulandschaft und die Bäume im Wald am Stadtrand und ihr helles Staubgrün. Ihr Vater erklärte, das blasse Grün der slowakischen Wälder wäre ein Zeichen von Schädlingsbefall. Und dass jeder Wald Schädlinge habe: Insekten, oder sogar andere Pflanzen, dass das ganz normal sei, problematisch würde es nur, wenn diese Schädlinge sich übermäßig stark ausbreiteten. In Österreich habe man die Schädlinge gut im Griff, schloss er.

War es der Körper, der seine Psyche lahmlegte, oder verhielt es sich bereits umgekehrt? Fakt war, statt weniger brauchte Alan zunehmend mehr Medikamente. Jedes Mal, wenn er versuchte, sie abzusetzen, kehrten die Schmerzen zurück, und die Ärzte stellten ihm weitere Rezepte aus. Insgeheim hatte Alan damit begonnen, seine Dosen zu verdoppeln und, weniger geheim, ganze Tage lang auf der Couch zu liegen und an die Wand zu starren. Seine Mutter ließ ihn, sie umsorgte ihn, als wäre er ein von einer Pilgerreise erschöpfter Rückkehrer, was Miša nervte, die neben der Schule auch im Haushalt mithelfen musste und seine Lethargie satthatte. Sie war es, die ihn mit Tabletten versorgte, die Apotheke lag auf ihrem Schulweg, und sie war es, die eines Tages vor Wut sein Rezept in den Müll schmiss und später behauptete, sie müsse es verloren haben, worauf eine fieberhafte Suche danach losbrach, bei der ein kreidebleicher Alan ein derartiges Chaos anstellte, schwitzend in der Wohnung auf und ab lief und allen, auch ihm selbst, klar wurde, dass hier etwas aus dem Lot geraten war.

Alan ging wieder zum Orthopäden, wurde eingehender untersucht und der Arzt erklärte ihm, dass die eingesetzten Metallteile in seiner Schulter nicht korrekt lägen und Nerven irritierten. Nichts, was man nicht beheben könne, sagte er und zeigte ihm mithilfe des Plastikskeletts in seiner Praxis, wie die Schrauben in die Knochen eingesetzt worden waren und wieder entfernt werden müssten, wie das Schultergelenk funktionierte und welche Sehnen, Muskeln und Nerven von seiner Verletzung betroffen waren. Und während die Finger des Arztes über die Plastikknochen glitten und er ihm die Zusammenhänge der einzelnen Teile erklärte, wurde Alan weit mehr bewusst als die Quelle seiner Schmerzen. Es war, als wären es seine eigenen Worte, die durch den Mund des Arztes kamen, und er würde seine eigene Diagnose treffen und gleichzeitig, als wäre es sein eigenes Skelett, das leblos an dem Metallstab der Ordination hing. Eine neue Matrix tat sich vor ihm auf, das perfekte Gefüge aus Knochen, Muskeln, Sehnen und Bändern, die Vollkommenheit des menschlichen Bewegungsapparates. Am liebsten hätte er bei seiner eigenen Operation zugesehen, die mehrmals verschoben und schließlich an einem warmen Aprilmorgen durchgeführt wurde. Danach wurden Alans Schmerzen erträglicher, auch wenn sie noch jahrelang ab und zu wieder aufflammten, unerwartet und an unterschiedlichen Stellen, mal im Arm, mal im Nacken, mal in den Fingerspitzen. Wie ein alter Mann war er davon überzeugt, dass es am Wetter lag, bei Fön und Temperaturwechsel schlimmer wurde. Tatsächlich war es so, als hätte diese Zeit seine Jugend besiegelt, er betrat die Erwachsenenwelt wie ein Veteran, der aus dem Krieg heimkehrt, ab jetzt sollte nur noch Frieden und Ordnung herrschen.

Kurz nachdem er sein Medizinstudium begonnen hatte, lernte er ein neues Mädchen kennen, eine amerikanische Austauschstudentin mit tiefschwarzem Haar, schwarzem Lippenstift, schweren, schwarzen Stiefeln und dem Namen Stacey. Stacey redete ununterbrochen auf Englisch, nahm immer an, sie würde verstanden, und nickte sich notfalls selbst zu. Alan stellte sie seiner Familie an Mišas sechzehntem Geburtstag in einem Wiener Restaurant vor, in dem sie über den unsagbar großen Portionen saßen, die man in diesem Land servierte, als wäre nichts einfacher, als Essen stehen zu lassen und es wegzuschmeißen. Eine Weile hatte Alans Mutter sich fürchterlich darüber aufgeregt, wozu diese Maßlosigkeit, schnaubte sie, die durch den Umzug arbeitslos geworden war und sich nun übertrieben penibel auf die Führung des Haushalts versteift hatte, was sie kritisch und reizbar machte, egal wie sehr alle sich bemühten, Ordnung zu halten. Nini, seit einem Jahr nur Ehefrau und Mutter, auf einem Stuhl in der Küche sitzend, das heißt in der Zimmerecke mit dem Herd und der Spüle an der Wand, gleich neben der Badewanne, ein feuchtes Geschirrtuch über die Schulter geworfen, ihr Blick verloren auf den Teppichboden gerichtet – so sahen Alan und Miša sie in dieser Zeit, wenn sie an sie dachten, dabei hatte sie dort vielleicht nie gesessen.

Es gehört dazu, dass es einem anfangs schwerfällt, philosophierte ihr Mann. Aber Milan hatte leicht reden, er war schon etliche Male in Wien gewesen, ging morgens zur Arbeit und kam spätabends nach Hause, er begriff nicht, was in seiner Frau vorging. Sie schimpfte über den unnötigen Überfluss in den Regalen der Supermärkte. Warum musste alles in drei Ausführungen von verschiedenen Firmen angeboten werden, woher sollte man den Unterschied kennen, fragte sie und hielt Miša drei Butterpackungen unter die Nase. Milan hatte sich längst an das Angebot an Farben, Geschäften, Schaufenstern, Kleidung und Essen gewöhnt, während ein einfacher Spaziergang durch die Mariahilfer Straße bei Nini zu Kopfschmerzen führte und Miša gereizt machte. Nicht, dass Miša etwas hätte kaufen wollen, sie hätte gar nicht gewusst, was. Die glänzenden Leggins und bunten Strickpullover, die die Mädchen hier trugen, die Turnschuhe, als würden sie gleich zum Sport gehen – sie verstand nicht, wie man das einfach nur so für die Schule anzog. Der ganze Markencode ihrer Mitschüler war ihr fremd, dass es hier auf alles ankam, sogar auf die Farbe und Form der Schuhe, die man in der Schule trug. Ihr Verstand sträubte sich dagegen, etwas zu verstehen, an dem sie ohnehin nicht hätte teilhaben können, sich den Regeln einer Gruppe zu beugen, zu der sie nicht gehörte. Sie, die zu jeder Zeit nur ein paar Münzen bei sich hatte, zusammen mit der Telefonnummer der neuen Wohnung, die ihr Vater ihr aufgeschrieben hatte, sollte sie sich in der Stadt verlaufen. Zwischen der neuen Schule und der Wohnung lag die Mariahilfer Straße, und einmal ließ sie sich doch verführen, als sie in einer Passage einen kleinen Süßigkeitenstand entdeckte, der mit Schokolade überzogene Erdbeeren, Bananen, Orangenstücke und glasierte Äpfel verkaufte, wie sie sie früher nur im Fernsehen gesehen hatte. Sie kramte nach den Münzen, die in ihrer Hosentasche lagen, zeigte mit dem Finger auf einen glasierten Apfel, der ihr mit einer Serviette übergeben wurde. Sie besah ihn von allen Seiten, stellte fest, dass er eigentlich zu schön aussah, um gegessen zu werden, drehte ihn eine Weile unsicher hin und her, überzeugt, dass sich im Inneren eine Delikatesse aus Rosinen, Honig und Nüssen befinden müsste, doch als sie hineinbiss, entpuppte er sich als ein stinknormaler Apfel, den man mit Zucker übergossen hatte, er brach sofort auseinander und landete in zwei Hälften auf dem Gehsteig.

Nini fand es irrelevant, als Miša ihr davon erzählte. Ein Apfel ist ein Apfel, sagte sie, öffnete den Herd, aus dem heiße Luft herausschoss, und holte einen Auflauf heraus, aber ihre Tochter ließ nicht locker. Ein normaler Apfel koste doch nicht fünfzehn Schilling, tobte sie. Nini blieb unbeeindruckt, auf das Mittagessen konzentriert. Es war in diesem Herbst, dass Nini schwanger wurde. Und das mit zweiundvierzig, unfassbar, ungeplant und für alle unangenehm. Als das Baby starb, noch in Ninis Bauch, blieb sie ein paar Tage im Krankenhaus, obwohl es nicht nötig gewesen wäre. Später würde sie sagen, in diesem Jahr sind wir alle ein wenig gestorben.

Alan machte sich daran, das Leben zu studieren, den Körper und wie dieser am besten bei Gesundheit blieb, wie man am längsten leben konnte und die wenigsten Tode zu sterben hätte. Um das Baby machten sie nicht viel Aufhebens, so hatte Milan es beschlossen. Als Nini aus dem Krankenhaus zurückkehrte, war sie eine Weile gelassener, was den Haushalt betraf, bevor sie sich noch stärker aufzuregen begann, wenn man etwas liegen ließ. Man sah eine Ader auf ihrer Stirn, die davor niemandem aufgefallen war, wie eine blaue Schlange unter ihrer Gesichtshaut, wenn sie sich ärgerte. Milan nahm seine Geschäftsreisen wieder auf, so wie er früher in den Westen gereist war und begehrte Lederjacken und Bravo-Zeitschriften mitgebracht hatte, wurde er nun oft in den Osten geschickt. In Österreich machte man sich sein Russisch zunutze und er brachte nun hässliche, selbstgewebte Teppichvorleger aus Moskau mit, für die in der kleinen Wohnung kein Platz war, sodass er sie bald selbst entsorgte.

Es war eine Zeit, in der das Wegschmeißen leichtfiel. Kleidung, stapelweise Schulbücher, altes Spielzeug, Dekoration, Mitbringsel aus Österreich, kitschige Souvenirs, Schönbrunn in der Glaskugel, ein hölzernes Männchen in Lederhose, Milan warf alles in die Mülltonne unten im Hof. Das alte Gemälde, das in Žilina über ihrem Ehebett gehangen hatte, ein Ölgemälde von einem Bach, der durch eine Berglandschaft floss – in der neuen Umgebung kam es Milan vor wie ein Fossil. Als es nicht mehr in die Mülltonne passte, stellte er es einfach daneben, vielleicht würde es jemandem gefallen, dachte er, jemandem mit Sinn für Retro-Schnickschnack. Wenn Nini aus dem Krankenhaus kam, sollte sie es schön haben, nichts mehr sollte an früher erinnern, das hier musste der Wendepunkt sein, von hier aus sollte es nur noch aufwärtsgehen. Er stellte fest, dass er erleichtert war angesichts der Fehlgeburt, Alan und Miša waren bald aus dem Haus, es war Zeit für einen neuen Lebensabschnitt, er hatte keine Lust, noch einmal von vorne anzufangen.

Nini, die im Krankenhaus lag, wusste nichts von diesem Neuanfang. Ihr war mitgeteilt worden, man hätte in ihrer Gebärmutter mehrere Tumore gefunden, die gutartig, aber zahlreich waren, und ihr dazu geraten, die gesamte Gebärmutter entfernen zu lassen. Eine tschechische Krankenschwester war aus der Kinderabteilung geholt worden, um zu übersetzen, was der Arzt erklärte: Die Entfernung werde zu einer Menopause führen, darüber hinaus wäre aber mit keinen gesundheitlichen Folgen zu rechnen. Nini sah die Krankenschwester an, eine ältere Frau mit strohigem Kurzhaarschnitt, die ihr freundlich zunickte, dann den Arzt, einen schmächtigen Mann mittleren Alters mit aschfahlem Gesicht und wässrigen Augen. Sie sah zwischen ihnen hin und her und ihr kam der unsinnige Gedanke, dass sie gerne mit ihrem slowakischen Frauenarzt in Žilina gesprochen hätte, dass er bestimmt eine andere Diagnose gestellt hätte, eine weniger schlimme. Dass das Gesundheitssystem hier auf einem viel besseren Niveau war, bedeutete wohl, dass man Krankheiten erkannte, bevor sie einen umbrachten, dachte Nini, aber was war mit dem Leben, das bleibt? Menopause mit zweiundvierzig? Sie dachte an ihre Mutter, Anikó, die immer eine alte Frau gewesen war, seit sie sich erinnern konnte. Auf keinen Fall würde sie so enden wie sie. Aber dafür gibt es Tabletten, beruhigte sie die Krankenschwester, willkommen in Österreich. Sie selbst sei bereits 1969 während des Prager Frühlings geflohen, erzählte sie ihr später, als der Arzt gegangen war, und hätte ihre Eltern nie wiedergesehen. So ist das eben, sagte sie mit einem Lächeln, während sie ihre Infusion überprüfte.

Als Nini aus dem Krankenhaus entlassen wurde, embryolos, gebärmutterlos, war die kleine Wohnung aufgeräumt, die Wände neu gestrichen und es roch nach Bleiche. Milan hatte gekocht, Miša geputzt, Alan aufgeräumt und zusammen überreichten sie ihr eine Schachtel, aus der Winseln kam. Rufus war ein ängstlicher Windhundwelpe mit eingezogenem dünnen Schwanz, er wuchs heran zu einem Hund, der auch im Sommer fror, ständig kränkelte und nie von Ninis Seite wich. Sie hatte Hunde immer geliebt, aber Milan war stets gegen Haustiere gewesen, es war sein Zugeständnis an sie, ein Dank, eine Bitte, hier Fuß zu fassen. Ein Grund für sie, morgens aufzustehen, an die frische Luft zu gehen, ein Grund, um nach vorne zu blicken. Ein Grund, so mager wie Rufus selbst. Und doch: Während Alan sich in sein Studium stürzte und kurz darauf auszog, und Miša sich immer weiter in ihre eigene Welt flüchtete, bestand Ninis Alltag nicht mehr nur aus Haushalt und Deutschkurs, sondern wurde um Spaziergänge mit Rufus erweitert. Sie setzte sich mit Hundeerziehung auseinander, las Bücher, und Rufus verstand seine Rolle als Therapiehund auf Anhieb. Er machte die Tage erträglicher, die Fahrten nach Žilina seltener, die Gespräche mit Fremden trotz Sprachbarriere leichter: Rüde? Hündin? Kastriert? Brav, ja? Man lief sich täglich über den Weg, winkte, grüßte, plauderte über das Wetter. Hannes, der eigenbrötlerische Nachbar aus dem dritten Stock, und sein Pudel Fanny wurden Rufus’ beste Freunde, irgendwann holte man einander zu längeren Spaziergängen ab, fuhr an die Donau oder in den Prater, ließ die Hunde ohne Leine laufen. Hannes machte es nichts aus, wenn Nini sich Slowakisch-Deutsch, mit Händen und Füßen ausdrückte, er antwortete auf Deutsch und sie verstand. Er kannte Milan aus dem Treppenhaus, die Fronten waren klar, bis auf einen kurzen Moment, der eigentlich ein Missverständnis war. Einmal klopfte Nini an seine Tür, um ihn zum Spazierengehen abzuholen, und er bat sie herein, wollte sich aber noch rasch umziehen. Als sie sich derweil im Flur umsah und ihren Blick schweifen ließ, über die Wände, durch die halboffenen Türen in die Küche, ins Wohnzimmer und schließlich ins Schlafzimmer, sah sie Hannes, der in Unterhose auf einem Bein balancierte, um seine Jeans anzuziehen. Ihre Blicke trafen sich. Sie ließ die Hundeleine fallen und kam langsam, wie hypnotisiert, auf ihn zu, während er in seiner Bewegung einfror, unentschlossen, was er nun tun sollte, bis er begriff, dass ihr Blick gar nicht ihm galt, sondern über seinen Kopf hinweg zu dem Gemälde ging, das er vor ein paar Monaten neben der Mülltonne im Hof gefunden hatte.

Später würde Alan sagen, sein Erfolg als Arzt gründe darauf, die Ganzheit der Dinge zu sehen und Zusammenhänge herzustellen, wo andere keine sähen. Er bitte seine Patienten, Schuhe und Socken auszuziehen, und verwirrt würden sie seinen Anweisungen folgen, lagen ihre Schmerzen doch eher im oberen Rücken. Er erkläre ihnen dann, wie dieses Leiden mit dem rechten Fuß zusammenhinge und welche Rolle die Hüfte dabei spiele. Es gibt immer einen Grund, sagte er, wenn seine Patienten klagten, ihre Schmerzen seien plötzlich und grundlos aufgetreten. Er würde den Grund meist schon kennen, wenn sie noch nicht einmal mit dem Schildern ihrer Symptome fertig wären, und es würde kaum einen Orthopäden im Krankenhaus geben, der schneller und treffender Diagnosen stellte. Bei seiner eigenen Physiotherapie war ihm aufgefallen, dass gewisse Übungen nicht nur seinen Schulterbereich unterstützten, sondern auch seine Kopfschmerzen linderten, dass Laufen nicht nur seine Muskeln, sondern Knochen stärkte, und er fand den traditionellen orthopädischen Ansatz der bloßen Behandlung von Symptomen oft zu kurz gegriffen. Er hatte alles über die in Amerika bereits weithin praktizierte Chiropraktik gelesen und arbeitete enger mit Physiotherapeuten zusammen als seine Kollegen. Sein eigentliches Interesse galt dennoch den chirurgischen Eingriffen und der Verwendung unterschiedlicher Prothesen im Hüftbereich. In seiner Freizeit sah er bei Operationen zu und führte Buch über jeden interessanten Fall, er hatte Stapel an Notizbüchern vollgeschrieben, die neben Vorlesungsmitschriften, Medizinbüchern und internationalen Fachzeitschriften seine Regale und seine Gedankenwelt füllten. Er machte seinen Abschluss in Mindeststudiendauer mit Auszeichnung und bekam eine Stelle an der Orthopädie des Wiener AKHs. Ein Etappensieg, dem früher oder später das nächste Ziel folgen sollte, Oberarzt zu werden. Im Moment stand dem noch seine mangelnde Erfahrung im Weg, ein Hindernis, das sich mit der Zeit selbst aus dem Weg räumen würde. Der einzige Ausländer in der Abteilung zu sein war eine andere Sache.