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Ein spannendes Drama zwischen Liebe und Selbstverwirklichung in der tropischen Hitze Nicaraguas: Ein nächtlicher Telefonanruf ändert alles: Als ihr Schwiegervater stirbt, fliegt Emma, im fünften Monat schwanger, mit ihrem nicaraguanischen Mann Samuel zum Begräbnis nach Managua, wo ihn eine problematische Erbschaft erwartet. Emma steht vor der Entscheidung, ihr bisheriges Leben und ihre Arbeit an der Universität aufzugeben und ein ungesichertes Leben im Kreis von Samuels Familie zu führen – oder ihre Ehe aufzugeben, nach Wien zurückzukehren und ihr Kind allein zu bekommen. Immer aussichtsloser scheint, dass sich die verschiedenen Lebensziele der beiden treffen, so wie einst ihre Füße unter der Bettdecke. Was sich in der tropischen Hitze Nicaraguas in den letzten Monaten von Emmas Schwangerschaft abspielt, ist mehr als eine dramatische Beziehungskrise. Und doch, in "Territorien" wird weder ein Kampf der Geschlechter noch einer der Kulturen ausgetragen, sondern der des modernen Ichs um Autonomie und Selbstbestimmung. Eine bis dahin fast idyllische interkulturelle Partnerschaft zeigt sich auf einmal mit all ihren Abgründen, und Susanne Gregor zeichnet die allmähliche Entfremdung des Paares minutiös und detailgenau nach, mit großer Empathie und mit Sätzen, deren Suggestivkraft man sich nicht entziehen kann.
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Seitenzahl: 298
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Susanne Gregor
Territorien
Roman
Literaturverlag Droschl
Für Sonja und Angelika
1
Wie friedlich wir bis eben geschlafen haben, Samuel und ich, in unserem Bett, jeder auf seiner Hälfte, in die warme Decke gehüllt, nur unsere nackten Füße berührten sich, als uns das Telefonklingeln aus dem Schlaf riss und ich schwer liegen blieb, benebelt vom Traum, der mich gerade noch getragen hatte, während Samuel aus dem Bett sprang und zum Telefon eilte, und ich wäre fast wieder eingeschlafen, hörte seinem leisen spanischen Murmeln aus dem Nebenzimmer zu, bis er mit schnellem Schritt ins Schlafzimmer zurückkam, das Licht anmachte, mein Vater ist tot, sagte er mit bleichem Gesicht, und mir schien, die Nachricht würde unsere ruhige Nacht verbrennen, unsere Wohnung, mitsamt uns beiden darin, wir sahen uns stumm an, während er reglos im Zimmer stand und die Lampe einen langen Schatten hinter ihn warf, bis ich mich verwirrt aufsetze, was meinst du damit, er ist tot, stelle ich die dümmste aller Fragen und reibe mir den Schlaf aus dem Gesicht, was ist passiert, frage ich, und er sagt, Herzinfarkt, und dabei hebt er seine Brille vom Nachttisch auf, setzt sie auf und sieht sich im Zimmer um. Dann zieht er den Koffer aus dem Schrank, lässt ihn mit lautem Krachen zu Boden fallen, schmeißt seine Kleidung hinein, T-Shirts, Hosen, Hemden, drei Paar Schuhe, nur die dicken Pullover lässt er alle hängen, und ich sehe ihm zu und verstehe sofort. Wann fliegen wir, frage ich ihn und schließe mich gleich mit ein, damit er mich hier nicht alleine zurücklässt, damit er erst gar nicht auf den Gedanken kommt, und als ich ohne Antwort bleibe, strecke ich unsicher ein Bein aus dem Bett, dann das zweite, richte mich umständlich auf, als wäre mein Bauch bereits im Weg, dabei merkt man selbst jetzt, im fünften Monat, noch immer kaum etwas, ich komme mit, sage ich, und er nickt nur und reicht mir den zweiten Koffer, und ich nehme ein paar Sachen und falte sie hinein. War das eben Marta am Telefon, frage ich und nenne sie nun selbst bei ihrem Vornamen, so wie er es immer tut, statt sie mit Mutter anzusprechen, und er nickt und verschließt seinen Koffer, seine schwarzen Haare noch vom Schlaf zerzaust, doch die Augen hellwach, nur sein Rücken ist wie immer ein bisschen gebeugt, schnell suche ich ihn nach Dingen ab, die mir vertraut sind, um mich an ihnen festzuhalten, die glatte, haarlose Haut seiner Arme, die immer ein bisschen nach Seife riecht, seine dünne Gestalt, die so hart und eckig wirkt, doch bei jeder Berührung gleich nachgibt, sein weißes T-Shirt, das er im Winter nachts trägt, seine Pyjamahose und seine nackten Füße. Ich wünsche mir die Nacht zurück, so wie sie bis eben noch war, wie sie uns inmitten des Winters in unserer Wohnung, unserem Bett umschloss, wünsche mich ins Gestern zurück, in die letzte Woche, als könnten wir noch irgendwie um dieses Ereignis herum manövrieren, wage es kaum, weitere Fragen zu stellen, wie lange bleiben wir, liegt mir auf der Zunge, aber mir kommt nur ein leises Es-tut-mir-so-leid über die Lippen, so leise, dass ich es selbst kaum hören kann, aber er schüttelt den Kopf, lässt nicht zu, dass ich ihn umarme, schiebt meine Arme von sich, nein, nicht jetzt, sagt er, weicht mir aus, und ich bleibe mit meinem Mitleid allein und weiß nicht, wohin damit, stolpere über meinen halbleeren Koffer in die Toilette, setze mich auf den heruntergeklappten Klodeckel, wo mir plötzlich Tränen kommen, Tränen um den Schwiegervater mit dem ernsten Gesicht, den ich nur einmal getroffen hatte, oder vielleicht über Samuel und seinen Schmerz, den ich so gut kenne, oder über Georg, oder nur über den Tod an sich. Ich reibe meine kalten Füße aneinander und versuche mich zu beruhigen, damit er meine Tränen nicht sieht, wenn er selbst nicht weint, sage ich mir, hast du schon gar keinen Grund dazu, ich reibe mein Gesicht im Handtuch trocken und gehe zurück zu meinem Koffer, versuche mich darauf zu besinnen, was ich mitnehmen muss, während ich das Prasseln der Dusche höre.
Erst nach und nach erfahre ich mehr, während er immer wieder mit Marta telefoniert, wir können übermorgen da sein, sagt er ihr, wir sitzen im Taxi, wir warten auf unseren Flug, wir steigen gleich ein, über jeden Schritt hält er sie einzeln auf dem Laufenden, als könnte das unsere Ankunft beschleunigen, und sie verschiebt das Begräbnis um einen Tag, damit wir dabei sein können. Wir werden vom Flughafen gleich zum Begräbnis fahren, sagt Samuel dann, zum ersten Mal wieder mir zugewandt, und ich nicke, natürlich, und greife nach seiner Hand, die schlaff neben seinem Körper hängt, und er hält meine, nur kurz, bevor er sie wieder fallen lässt. In der Flughafenhalle versuche ich mit ihm Schritt zu halten, laufe schwerfällig hinter ihm her, am Schalter fällt meine Handtasche auf den Boden und ich sammle alles wieder ein, dann kann ich meinen Pass nicht finden, durchsuche meinen ganzen Koffer, in den ich ihn in der Eile hineingepackt habe, ich erkenne mich nicht wieder, sonst bin ich es doch immer, die genau weiß, wo alles liegt, die vorangeht, und er der, dessen Schritt etwas langsamer ist, den man an Termine erinnern muss, als wäre die Zukunft ein Mythos, an den man eigentlich nicht glauben muss. Erst als wir ins Flugzeug nach Frankfurt steigen, kann ich mich etwas beruhigen, als Samuel seinen Kopf zur Seite dreht und plötzlich einschläft, erleichtert beobachte ich seine nun friedlichen Gesichtszüge und atme tief durch, wie eine Mutter, deren krankes Kind endlich eingeschlafen ist, will über seine Hand streichen, die auf seinem Oberschenkel liegt, und schrecke vor der Kälte seiner Finger zurück, nie möchte er Handschuhe tragen, ganz egal, wie kalt es ist, selbst zu Haube und Schal kann ich ihn nicht überreden, ihm reiche sein dicker Pullover, sagt er immer, als könnte er damit der Kälte trotzen, die er so hasst. Ich hebe meinen Rucksack hoch und hole mein Buch heraus, in dem ich nur wenige Stunden vor Martas Anruf noch gelesen habe, selbst heute habe ich offenbar an meine Dissertation gedacht und Arbeit eingepackt, meine Finger blättern durch die Seiten, aber ich kann mich nicht konzentrieren, schließe das Buch und stecke es zurück in den Rucksack, versuche zu schlafen, doch meine Augen bleiben offen, beobachten den Himmel, der mir in tiefstem Blau entgegenblickt und unter uns ein Meer aus Wolken aufspannt, als würden wir in Watte landen. Doch der Schein trügt, als wir mit lautem Rütteln durch die Wolkendecke brechen, erwartet uns darunter ein Schneesturm, und mich befällt sofort eine leise Angst, die sich gleich am Schalter bestätigt, der Flug nach Managua ist wegen Schlechtwetters gestrichen. Samuel sieht fassungslos auf die digitale Anzeigetafel, dann auf die Menschenmenge vor dem Umbuchungsschalter, wir werden es nicht schaffen, sagt er, und dann noch einmal, kopfschüttelnd, wir schaffen es nicht. Später wiederholt er es noch einmal, sagt es Marta ins Telefon, auf Spanisch, während er seinen Kopf an die kalte Glasscheibe des großen Fensters lehnt, durch das man auf die eingeschneiten Flugzeuge hinaussieht, wir schaffen es nicht, sagt er immer wieder, und ich stehe hinter ihm, will ihm über den Rücken streicheln, und tue es dann doch nicht. Marta versichert, sie werde das Begräbnis verschieben, und er beruhigt sich ein wenig, nickt in den Hörer, okay, dann morgen, sagt er, morgen Abend sind wir bestimmt schon da, jetzt kann nichts mehr dazwischenkommen, verspricht er ihr und uns, morgen werden wir da sein. Dann legt er auf und setzt sich, und sein Blick wandert langsam von einer Seite zur anderen, als würde er die Stunden zählen, die wir brauchen, die Zeit, die uns bleibt, die ihnen bleibt, hast du keinen Hunger, frage ich ihn, und er nickt und steht auf und folgt mir stumm in ein Café, wo wir Frühstück bestellen, und ich denke, dass ich sein Gesicht noch nie so gesehen habe, so bleich und versteinert, als hätte er innerhalb von ein paar Stunden abgenommen, stehen seine Nase und seine Wangenknochen plötzlich hervor, und doch isst er, viel mehr als gewöhnlich, köpft schweigend zwei Eier und streicht die Brötchen mit Butter, schiebt sie sich Stück für Stück in den Mund, während ich kaum einen Bissen hinunterwürgen kann, so wie damals, als Georg starb, während ich mich damals kaum bewegen konnte, bringt Samuel der Tod seines Vater in Bewegung, er nimmt mich kaum wahr, nur einmal hebt er seinen Blick zu mir und meinem Bauch, ist alles in Ordnung, fragt er, und ich nicke und starre in den dunkelgrauen Morgenhimmel, aus dem es immer weiterschneit.
2
Erst am nächsten Morgen können wir endlich weiterfliegen, nach einer schlaflosen Nacht im Flughafenhotel, in einem Zimmer mit grünen Vorhängen und einem zu kleinen Doppelbett, in das wir uns abends erschöpft legten und unsere Füße zusammensteckten so wie immer, ich vergrub mich in Samuels Armen, oder er sich in meinen, und wartete leise auf seine Tränen, die nicht kamen, stattdessen schlief er sofort ein, ich atmete tief und sog noch den Duft seines schlafenden Körpers in mich auf, bevor ich mich vorsichtig aus seinen schlaffen, schweren Armen wand und leise zum Fenster schlich, vor dem es endlich aufgehört hatte zu schneien. Große gelbe Wägen räumten den Schnee von den Straßen, der von der Nachtbeleuchtung orange erschien, und ich versuchte mich an Salvador zu erinnern, als ich ihn das erste Mal auf einem Foto gesehen hatte, ohne dass Samuel es mir gezeigt hätte, das mir durch Zufall in die Hände gefallen war, bei unserem Umzug, ein breiter, kleiner Mann mit erschreckend ernstem Blick. Samuel riss es mir aus den Händen, seit Jahren hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen, seit der Scheidung, erzählte er, und ich drängte ihn immer wieder dazu, ihn anzurufen, fünfzehn Jahre sind doch lang genug, sagte ich, in fünfzehn Jahren kann man verzeihen, doch er blieb hart, du hast keine Ahnung, sagte er, du denkst, er wird sich freuen, wenn ich am Telefon bin, aber du liegst völlig falsch, erklärte er mir, er interessiert sich überhaupt nicht für mich, so etwas verstehst du nicht, dein Vater ist ganz anders, und ich fühlte mich plötzlich schlecht und ließ das Thema fallen. Erst als wir das erste Mal zusammen in Managua waren, erfuhr ich, dass es einen neuen Mann an Martas Seite gab, José, einen älteren, gut aussehenden Mann, der viel besser zu ihr passte und sich sehr um Samuel bemühte, der es ihm überhaupt erst ermöglicht hatte, nach Österreich zu ziehen, doch Samuel betonte stets, dass er ja nicht sein Vater war, und klammerte sich so noch mehr an Salvadors Abwesenheit, immer wieder bestand er auf der Ungerechtigkeit, die ihm mit dessen Ablehnung widerfahren war, hielt an seinen Wunden fest, als würde er auseinanderbrechen, wenn er seinen Groll aufgäbe. Aber ich bestand darauf, immer wieder fing ich damit an, vielleicht mehr eigener Neugier als ihrer Beziehung zuliebe, ruf ihn doch zumindest einmal kurz an, vielleicht hat er sich geändert, bestimmt hat er dich vermisst, bist du denn nicht selbst gespannt, was er dir zu sagen hat, fragte ich ihn, und am dritten Tag meines Drängens griff er schließlich zum Telefon und rief ihn tatsächlich an und schlug ein Abendessen im Restaurant vor, wo ich nervös viel zu viele verschiedene Gerichte bestellte und viel Zeit damit verbrachte, sie zu loben und zwischen uns aufzuteilen, die Zutaten zu erraten, denn zwischen den beiden herrschte Stille, für die ich allein verantwortlich war, Salvador blieb ernst und machte den Mund beim Essen viel zu weit auf, wie mir schien, allein Samuel machte ein paar Anläufe, ihm etwas über sein Leben zu erzählen, doch Salvador rang sich höchstens einmal ein Nicken ab, also stimmte ich in Samuels Erzählungen mit ein, ja, dein Vertrag mit der Universität wird bestimmt verlängert, sagte ich, als er von seinem Job erzählte, und ja, unsere Wohnung liegt direkt an der Donau, Sie sollten uns einmal besuchen kommen, rutschte mir unbekümmert heraus, nur da hob er einmal seine Augen zu mir, und ich weiß nicht, ob Staunen oder Verachtung darin lag, und so blieben wir für den Rest des Abends beim Thema Essen und verabschiedeten uns so schnell wie möglich. Die ganze Heimfahrt lang spürte ich Samuels Vorwurf zwischen uns stehen, ich habe es dir doch gesagt, wozu war das jetzt nötig, hätte er sagen können, aber er hielt an sich und als wir später in Martas Haus ankamen, fiel ich so erschöpft ins Bett, dass ich den Rest des Tages verschlief. Seit Martas Anruf liegt mir die Frage auf der Zunge, weshalb diese Eile, zum Begräbnis zu kommen, doch ich wage sie nicht zu stellen, sehe in die blinkenden Leuchten der Räumungsmaschinen, höre Samuels leises Schnarchen und mache mich daran, in meinem Rucksack wieder nach dem Buch zu suchen, das ich mitgenommen hatte, weil es Udo so wichtig war, die Untersuchungen zum historischen Wandel von Textsorten in Printmedien, hatte er gesagt und mit dem Zeigefinger auf den altmodischen Umschlag geklopft, ein älteres Exemplar, es wird nicht mehr aufgelegt, bring es mir ja zurück, drohte er, und ich ließ es bereits auf dem Nachhauseweg in der Straßenbahn liegen, als ich ausstieg, starrte ich fassungslos auf meine leeren Hände und harrte so lange an der Haltestelle aus, bis die gleiche Straßenbahn zurückkam, und fand es unberührt auf dem gleichen Sitz, eilte damit nach Hause und begann sofort mit dem Lesen, konnte mich aber kaum noch konzentrieren, auch jetzt nehme ich die Zeilen kaum wahr, während ich durch die Seiten blättere und es vor dem Hotelfenster langsam hell wird und mir einfällt, dass Udo noch gar nichts von der Reise weiß. Schnell wähle ich seine Nummer, berichte vom Tod Salvadors, Udo ärgert sich, was soll ich jetzt mit deinen Seminaren machen, du weißt doch, wie schwer es ist, eine Vertretung zu finden, und dann seufzt er, sei so bald wie möglich wieder hier, hörst du, und ich versichere ihm, dass ich mein Bestes tun werde, und als ich auflege, denke ich an mein Büro, in dem ich jetzt bereits sitzen sollte, und an all die Unterlagen, die unbearbeitet bleiben werden, all die Anrufe und Anfragen, die jetzt niemand beantworten wird, und wundere mich, warum es mir so leicht fiel zu packen, warum ich keine Sekunde gezögert habe, alles stehen zu lassen, und es gelingt mir nicht mehr, einzuschlafen, sodass mir dann, als wir endlich im Überseeflieger Platz nehmen, sofort die Augen zufallen.
Erst kurz bevor wir landen, werde ich wach, sehe verwirrt aus dem kleinen Fenster, sehe den Flügel, der im Wind zittert, und den hellblauen Himmel, der nach oben hin immer dunkler wird, und ich kann nicht glauben, dass es die gleiche Sonne ist, die in Wien über uns aufging an diesem Tag, der ganz anders hätte werden sollen, ich hätte zu meiner Uni fahren sollen und Samuel zu der seinen, so wie jeden Tag, und am Abend hätte ich ihn von der Arbeit abgeholt, oder er mich, und wir wären zusammen nach Hause gefahren und hätten überlegt, was wir zu Abend essen wollen, und beim Kochen hätte er über seine Arbeit geschimpft und dann hätten wir uns einen Film angesehen und eine Decke über unsere Körper gezogen und nicht gewusst, wie spät es ist, weil es bereits am Nachmittag dunkel geworden wäre, stattdessen sind wir der Sonne um die halbe Erdkugel gefolgt, wo sie jetzt endlich langsam untergeht. Verwirrt sehe ich auf die Uhr, die Reise hat die Zeit wild durcheinandergeschüttelt und Tag und Nacht miteinander vermischt, ich weiß gar nicht, ob ich müde sein soll oder wach bleiben muss, wie spät ist es, frage ich Samuel, der nur mit den Schultern zuckt und sich nach vorne beugt, um einen Blick auf Managua zu erhaschen, das sich unter uns abzuzeichnen beginnt, unter Bäumen begraben, als läge es mitten im Dschungel. Zwei Jahre ist es her, seit wir das letzte Mal hier zu Besuch waren, acht Jahre, seit er von hier weggezogen ist, ich versuche ihn mir vorzustellen, wie er damals ausgesehen haben mag, als er in das Flugzeug stieg, sicher, es müsse überall auf der Welt besser sein als hier, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen, mit der Adresse von Alicia, Josés Nichte, in der Hosentasche, so oft hat er es mir erzählt, wie er die Straßennamen verwechselte, als er ankam und vor der falschen Tür stand, aber nur mit Alicia konnte er darüber lachen, wenn er es mir erzählte, blieb sein Gesicht stets ernst, man fühlt sich wie ein Taubstummer, sagte er, man sucht nach Zeichen, Mimik, Gesten, und ich hörte ihm zu und brachte all das Verständnis auf, auf das er so lange gewartet hatte, obwohl er bereits gut Deutsch sprach, als wir uns kennenlernten, und auf der Uni arbeitete, ein kleiner Aushilfsjob, wie er immer wieder betonte, denn eigentlich wollte er eine richtige Arbeit, und ich setzte mich sofort an den Computer und half ihm, Bewerbungen zu schreiben, und für kurze Zeit sah es so aus, als würde es aufwärts gehen, aufgeregt holte er samstags die Zeitung, um die Stellenanzeigen durchzugehen, strich sie mit Leuchtstift an und schickte gleich die Bewerbungen ab, doch als ein Jahr verging, und dann ein zweites, und seine Bewerbungen unbeantwortet blieben, hörte er auf, Stellenanzeigen zu lesen, er hörte überhaupt auf, Zeitung zu lesen, nichts interessierte ihn mehr, und ich versuchte vergeblich, ihn mit allerlei Unternehmungen aufzuheitern. Auf einmal hatte er all die österreichischen Speisen satt und die dunklen, langen Winter, den ihm unverständlichen Dialekt, selbst die chronische Pünktlichkeit ging ihm auf die Nerven, die er anfangs noch so gelobt hatte, auf die er den gesamten wirtschaftlichen Fortschritt schob, immer öfter hatte er in der letzten Zeit davon gesprochen, dass es vielleicht leichter gewesen wäre, wenn er in Nicaragua geblieben wäre, bestimmt hätte er mittlerweile einen guten Job, ein Haus vielleicht, auf jeden Fall hätte er noch seine alten Freunde, die er jederzeit anrufen könnte, um mit ihnen Squash zu spielen, ohne Wochen vorher einen Termin zu vereinbaren, und ich, die ich ihn in Österreich kennengelernt hatte, spürte, wie sich sein Land plötzlich zwischen uns zu schieben begann, wie eine alte Liebschaft aus seiner Vergangenheit. Zwei Mal waren wir bereits zu Besuch hier gewesen, und immer stieg vor der Landung die gleiche Unruhe in ihm hoch, und auch jetzt, kommt mir vor, wischt die Freude über die Rückkehr die Trauer aus seinem Gesicht, sieh mal, von oben siehst du nur Bäume, sagt er aufgeregt, als hätten wir nicht bereits dutzende Male darüber gesprochen, kannst du es glauben, dass darunter eine Stadt liegt, mit angespanntem Gesicht beobachtet er, wie wir uns dem Boden nähern, und als die Maschine mit einem Ruck aufsetzt, löst er schnell seinen Sicherheitsgurt.
Bei der Gepäckausgabe legt er seinen Arm um mich und drückt mich an sich, während wir auf unsere Koffer warten, streicht mir über den Rücken, und ich sehe ihn zum ersten Mal wieder lächeln, als er mir in die Augen sieht, auch wenn ich weiß, dass dieses Lächeln nicht mir gilt, sondern seinem Land, küsse ich ihn auf die Wange, und wir bleiben eine Weile stehen, bis er sich von mir löst, um unsere Koffer vom Fließband zu heben, und ich meine Weste ausziehe, in Erwartung der Hitze. Dann gehen wir zum Ausgang, zur Glastür, hinter der seine Familie auf uns wartet, da dreht er sich noch einmal um und drückt meine Hand, die auf dem Koffer liegt, wie zum Abschied, die Glastür öffnet sich und wir stehen vor einem Haufen Fremder, doch irgendwo zwischen ihnen quetscht sich schließlich seine Familie hervor, zuerst Marta, dann seine Schwester Celia und schließlich ihre zwei Kinder, die unsicher hinter den Frauen stehen bleiben, als Marta zuerst Samuel umarmt und ihr kleiner, knochiger Körper fast hinter dem seinen verschwindet, nur ihre Lippen flüstern etwas in sein Ohr, und für einen kurzen Augenblick glaube ich, Tränen in ihren Augen zu sehen, doch als sie ihn loslässt, kann ich sie schon nicht mehr entdecken. Es ist Celia, deren Begrüßung wie immer die lauteste ist, als sie Samuel fest an sich drückt und ihn dann genauso schnell wieder loslässt, und ich weiß nicht, ob sie lacht oder schluchzt, während sie miteinander reden, trete einen Schritt zurück und lasse sie einen Kreis bilden, der mich ausschließt, für einige Augenblicke, immer wieder sehe ich zurück zur Gepäckausgabe, wo sich die Glastür öffnet und schließt, und kurz wünsche ich mir, ich könnte gleich wieder umkehren, als hätte ich ihnen Samuel bloß zurückgebracht, da wendet sich mir Marta zu, mustert mich mit ihrem schnellen Blick und legt vorsichtig die Arme um mich, und statt einer Begrüßung sage ich gleich, es tut mir so leid, Marta, aber sie schüttelt den Kopf, so wie Samuel, und sieht lächelnd auf meinen flachen Bauch, und dann drängt sich Celia zwischen uns und umarmt mich auf die gleiche Weise, es tut mir so leid, wiederhole ich in ihre kurzen Haare hinein, die nach Frittiertem riechen, und sie lässt mich los und lächelt mit roten Augen, auch die Kinder begrüßen mich unsicher, können sich kaum noch an unseren letzten Besuch erinnern, nehmen ihre Mutter je an einer Hand, während wir uns auf den Weg zum Parkplatz machen, und Samuel ihnen folgt, dahinter Marta, und ich beobachte, wie Salvadors Tod sie wieder zusammennäht, sie mit hängenden Köpfen hintereinander aufreiht wie eine Kette, die gerissen war, und dabei drücke ich alles an mich, meine Dokumente, meinen kleinen Koffer, die Strickweste, die mir immer wieder vom Arm rutscht. Draußen fallen die ersten paar Atemzüge schwer, bis man sich an die Feuchtigkeit gewöhnt, ich greife an meinen Hals und höre Marta über José erzählen, der nicht kommen konnte, weil er verreist ist, er wird erst in ein paar Tagen zurückkehren, erklärt sie, während wir die Koffer ins Auto legen und einsteigen, so gut wir zu sechst Platz nehmen können, ich auf dem Beifahrersitz, und zu meiner Überraschung setzt sich Samuel sofort ans Steuer. Ich will fahren, sagt er und nimmt Marta die Schlüssel aus der Hand, und sie nimmt mit Celia auf dem Rücksitz Platz, jede ein Kind auf dem Schoß, und plötzlich ist es ganz still, während wir durch die inzwischen nächtliche Stadt fahren, die es von oben nicht zu geben scheint, die nur vom Boden aus erkennbar ist, und ich sehe zu Samuel, der jedes Licht in sich aufsaugt, jedes vorbeirasende Haus und selbst jedes Schlagloch, dem wir ausweichen, beobachte, wie sich sein Blick aufhellt, und beneide ihn ein bisschen, um diese Liebe zu einem Ort, die man nur aufbringt, wenn man lange Zeit von ihm getrennt lebt. Vor Müdigkeit schließe ich immer wieder die Augen und lehne mich an das Fenster, vor dem die Häuser vorbeiziehen, mit ihren vergitterten Toren und den offenen Fenstern und den bewaffneten Nachtwächtern an jeder Straßenecke, bis wir in unsere Straße einbiegen, wo uns Martas gelbes Haus erwartet.
3
Der Priester hat leider einen Sprachfehler, meinte Marta noch am Morgen zu mir, ich hoffe wirklich, du verstehst ihn trotzdem, denn er hält so schöne Ansprachen, und tatsächlich verstehe ich kein einziges Wort, doch alle anderen scheinen sehr gerührt, als wir um den Sarg versammelt am Friedhof stehen, zu meiner Linken Marta, Celia und ihre zwei Kinder, und zu meiner Rechten Samuel, den ich am Arm gefasst habe, um mich bei dem langen Stehen an ihm zu halten, doch in Wirklichkeit bin ich es, die ihn stützt, mit gebeugtem Rücken und gesenktem Kopf starrt er auf den Sarg, und mit jeder weiteren Minute fühle ich ihn an meiner Seite schwerer werden und habe Angst, er könnte umfallen und mich mit sich zu Boden reißen, angestrengt versuche ich, genau so still zu stehen, wie alle anderen, nur die Kinder zappeln, wann sind wir hier fertig, fragt Sofia halblaut, ich muss aufs Klo, und der etwas größere Carlos zieht immer wieder sein Handy aus der Hosentasche, bis Celia es ihm aus der Hand reißt, es in ihrer Handtasche verschwinden lässt und ihre Nase mit einem Taschentuch abwischt, doch ihre Augen bleiben trocken. Überhaupt weint hier niemand, fällt mir auf, und ich versuche mir vorzustellen, ob bei Georgs Begräbnis geweint wurde, ob es jemanden gab, der vielleicht sogar laut geschluchzt hat, und ob ich selbst weinen hätte können, während alle Blicke auf mich gerichtet gewesen wären, aber ich werde es nie wissen, weil ich nicht hinging, mich stattdessen in meinem Zimmer verbarrikadierte und mich bereitwillig meinem Schmerz hingab, als würde ich nur so seinem Tod gerecht werden, später bereute ich es, nicht dabei gewesen zu sein. Umso mehr bemühe ich mich jetzt, niemanden zu enttäuschen, lausche dem Nuscheln des Pfarrers, wie viele Worte müssen noch aus seinem Mund kommen, bevor wir gehen können, wie viele noch, bevor ich mich setzen kann, ich fühle meine Beine schwerer werden, als würden sie gleich in den Boden sinken, erschöpft lasse ich Samuel los, und er bleibt zu meiner Verwunderung stehen, gebeugt, wackelig, den Blick in die Erde gebohrt. Er ist für mich gestorben, hat er mir gesagt, als ich ihn das erste Mal nach seinem Vater fragte, an einem sonnigen Nachmittag an der Donau, und ich habe mich gewundert, dass er kaum den Mund aufbrachte, als er darüber sprach, seine Lippen schienen sich nicht zu bewegen, und auf jede meiner weiteren Fragen erhielt ich nur ein Schulterzucken, bis er das Thema beendete, lassen wir das, sagte er, und sein Blick verschwand irgendwo im Gras. Schließlich war es Celia, die mich aufklärte, bei unserer ersten Nicaragua-Reise, in einem Moment, in dem wir allein waren, mit einer Bierflasche in der Hand, er hatte eine Affäre nach der anderen, da gibt es nicht viel zu erzählen, und doch sprach sie nach ein paar Schluck Bier weiter, ich kann gar nicht zählen, wie oft Marta sich scheiden lassen wollte, und immer wieder schaffte er es, sie zu überzeugen, dass es nie wieder vorkommen würde, lud uns zum Essen ein und kaufte uns Eiscreme, und Marta ließ sich immer wieder überzeugen, jahrelang, bis sie eines Morgens all seine Sachen packte und sie in drei Koffern vor das Haus in den Regen stellte, und als Salvador nach Hause kam, waren sie bereits halb im Schlamm versunken und die Schlösser ausgetauscht, und wir warteten mit angehaltenem Atem hinter den Vorhängen, während er reglos vor seinen Sachen stand und sie schließlich einfach ins Auto packte und davonfuhr und sich auch in den Tagen danach nicht mehr meldete, später hörten wir, er hätte irgendwo ein Haus gemietet und lebte allein, es schien, er akzeptierte ihre Entscheidung,
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