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Ein sensibler, literarischer Roman über die Zerrissenheit der Frauen zwischen Beruf und Familie – Susanne Gregor »beleuchtet psychologisch scharfsichtig Fremdheit und Entfremdung«. (Katja Gasser, ORF)
Klara ist tot, beim Wandern abgestürzt. Bei ihr war nur Paulína, eine Slowakin, die Klara nach dem Schlaganfall ihrer Mutter eingestellt hat. Endlich war die Mutter versorgt gewesen. Klara konnte sich wieder ihrer Karriere widmen, ihr Mann seine Freiheit genießen. Paulínas eigene Kinder wurden in der Zwischenzeit in der Slowakei von der Schwiegermutter betreut. Alles wunderbar organisiert, alles ganz einfach. Alle mochten Paulína, dankten ihr mit großzügigen Geschenken für Dienste und Extradienste. War man nicht eigentlich sogar schon befreundet?
In einer klaren, unprätentiösen Sprache widmet sich Susanne Gregor den großen Themen, die uns alle betreffen, und erzählt von der Ungleichheit – zwischen zwei Frauen, zwischen zwei Leben.
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Seitenzahl: 267
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Klara ist tot, beim Wandern abgestürzt. Bei ihr war nur Paulína, eine Slowakin, die Klara nach dem Schlaganfall ihrer Mutter eingestellt hat.Endlich war die Mutter versorgt gewesen. Klara konnte sich wieder ihrer Karriere widmen, ihr Mann seine Freiheit genießen. Paulínas eigene Kinder wurden in der Zwischenzeit in der Slowakei von der Schwiegermutter betreut. Alles wunderbar organisiert, alles ganz einfach. Alle mochten Paulína, dankten ihr mit großzügigen Geschenken für Dienste und Extradienste. War man nicht eigentlich sogar schon befreundet?In einer klaren, unprätentiösen Sprache widmet sich Susanne Gregor den großen Themen, die uns alle betreffen, und erzählt von der Ungleichheit — zwischen zwei Frauen, zwischen zwei Leben.
Susanne Gregor
Halbe Leben
Roman
Paul Zsolnay Verlag
Ein Haushalt sind
diejenigen, die den gleichen Rauch einatmen.
Juliana Sokolová
Es ist ein stiller Tod. An einem sonnigen Mainachnachmittag um vierzehn Uhr siebenunddreißig stürzt Klara an einer unscheinbaren Böschung fünfzig Meter in die Tiefe. Sie gibt keinen Laut von sich, zu hören ist nur ein schnelles Rascheln der Blätter, es könnte auch ein Reh sein, das davonläuft. Unten ein dumpfer Aufprall, dann Stille. An der Stelle, an der sie bis eben noch stand, nichts als ein paar dünne Zweige, brauner Boden, ein Baumstumpf, darauf Ringe, die nach außen hin immer heller werden. Wie ruhig Klaras Gesicht gewesen ist in diesem letzten Moment, wie angstlos, wird Paulína später denken.
Aber noch hält sie sich an einem mit Moos bedeckten Baum fest, beugt sich über den Abhang, von dem sie weiß, wie steil er ist. Ruft ein paar Mal Klaras Namen, wartet auf eine Antwort, holt ihr Handy aus der Tasche, sieht, dass es keinen Empfang hat, kann sich aber an eine Lichtung erinnern, die sie vorhin passiert haben und an der sie ihr Display gecheckt hat. Sie lässt den Baum los, reibt ihre feuchte Hand ab und macht ein paar Schritte in die Richtung, aus der sie eben gekommen sind. Sie weiß, dass jetzt womöglich jede Sekunde zählt, dass sie eigentlich laufen sollte, aber sie kann nicht. Ihre Beine sind schwer, ihr Gang ist langsam, die Bäume hier sehen alle gleich aus, es ist, als würde sie auf der Stelle treten. Die knackenden Äste unter ihren Füßen, das Zwitschern der Vögel, das entfernte Rauschen der Autobahn, all die Geräusche, die sie vorhin noch kaum wahrgenommen hat, kommen ihr jetzt unerträglich laut vor. Sie hält sich die Ohren zu und hört nur noch ihren stockenden Atem, konzentriert sich auf ihre Füße, die Spuren, die sie hinterlässt. Ich bin zu einem Tier geworden, denkt sie, einem Fuchs, aus dessen Pfotenabdrücken man lesen wird, aber es wird kein Förster sein, der ein Urteil darüber fällt, was sie bedeuten. Vielleicht kann sie sich hier mit ihren bloßen Händen ein Loch graben, irgendwo an einem Baum, der sich dafür eignet, ein kühles dunkles Zuhause für sie allein. Von dort aus wird sie die Suchtrupps beobachten, die hier entlangkommen werden, im Laufschritt, angeführt von Jakob, der den Wanderweg seiner Frau gut kennt. Mit seinem langen Zeigefinger wird er ihnen den ausgetretenen Pfad zeigen, und Paulína wird in ihrem Fuchsbau sitzen und auf den Schrei warten, den Jakob beim Anblick seiner Frau ausstoßen wird. Und es wird sein Schmerz sein, der Paulína so schwer machen wird, dass sie immer tiefer in das Erdloch sinken wird, entlang der Wurzeln eines Baumes, der seit Jahrzehnten ein und dasselbe Stück Land bewohnt und jede Höhle kennt, jeden Stein und jeden Samen. Von nun an wird sie ein Fuchs sein und sich auf ihr ursprüngliches Terrain zurückziehen, von dem sie sich ohnehin bereits zu weit entfernt hat. Zu lange war sie von zu Hause weg gewesen, und das war ein Fehler, sie hat sich furchtbar geirrt, aber jetzt kann sie sich wieder an die Ordnung der Dinge erinnern, und an den Weg. Ihre Instinkte melden sich, sie beschleunigt ihren Schritt, kann spüren, wo die Lichtung ist, dort drüben, in der Ferne, wo die Sonne zuerst in dünnen Streifen den kühlen Schatten der Bäume durchbricht, dort springt das kleine Symbol an ihrem Handy an, dort findet sie ihre Stimme wieder, zuerst rau, dann immer klarer. Können Sie mich hören? Wir brauchen Hilfe.
Warum sie eine Dreiviertelstunde gebraucht hat, um den kurzen Weg zur Lichtung zu laufen und den Anruf zu tätigen, kann sie der Polizei später nicht erklären, sie hätte einfach den Weg nicht gefunden, ihre Fußspuren beweisen es, in Verzweiflung sei sie eine Weile im Kreis gelaufen. Das komme vor, bemerken die Sanitäter, Desorientierung als Folge eines Schockzustands. Sie bringen ihr Wasser und legen ihr eine Decke um die Schultern, obwohl sie schwitzt. Unentwegt fragt sie nach Klara, aber die Sanitäter rücken nur zaghaft mit Informationen heraus. Sie wird erst später erfahren, dass Klara noch am Leben war, als sie gefunden wurde, aber bereits im Krankenwagen ihren Verletzungen erlag. Die achtunddreißigjährige Ehefrau und Mutter, heißt es später in der Lokalzeitung, im vierten Monat schwanger, hinterlässt eine elfjährige Tochter. Aber da ist Paulína bereits abgereist, hat erklärt, dass sie zu ihren Kindern muss, und man hat es verstanden. Jakob versucht am nächsten Tag, sie zu erreichen, aber sie möchte ihn nicht sprechen, nur noch der Polizei antwortet sie auf die zunächst nicht abreißen wollenden Fragen, die aber immer wieder an dieselben Stellen führen und schließlich weniger werden. Es liegt kein Motiv vor, man lässt den Tod als Unfall gelten. Niemand zweifelt an dieser Version der Geschichte.
Es ist Klaras Idee gewesen, den Frühlingstag für eine Wanderung zu nutzen. Sie wachte an diesem Tag früh auf, stieg mit unruhigen Beinen die Treppe ins Wohnzimmer hinab und öffnete alle Fenster. Der Luftzug brachte ein paar Unterlagen auf ihrem Schreibtisch durcheinander, und sie hielt sie mit einer Hand fest, legte sie geordnet zurück, beschwerte sie mit der leeren Kaffeetasse, die sie vor einigen Tagen dort vergessen hatte. Früher hätte Paulína sie weggeräumt, fiel ihr ein, aber in der letzten Zeit machte sie das nicht mehr. Dann fiel ihr Blick durch das offene Fenster zum Magdalenaberg, dessen Umrisse sich klar gegen den blauen Himmel abgrenzten, und sie dachte, dass dort oben, auf der Spitze des Berges, der einen so schönen Ausblick auf die Umgebung bot, vielleicht der richtige Ort war, um diesen Riss zu kitten, dessen Entstehung sie sich eigentlich nicht erklären konnte. Nur die kleine Strecke Richtung Gebersdorf, etwa sechs Kilometer, sie würden ungefähr eineinhalb Stunden brauchen, Zeit genug für ein gutes Gespräch. Aber Jakob wachte mit Rückenschmerzen auf, und Ada war nicht mehr in einem Alter, in dem sie sich leicht zu solchen Unternehmungen überreden ließ. Bleiben nur noch wir beide, sagte sie lächelnd zu Paulína, die gerade über einer Pfanne mit angebranntem Fleisch stand. Gleich nach dem Mittagessen gingen die beiden los. Jakob fuhr sie noch zum Waldrand, überredete auch Ada, ihn zu begleiten, sie würden sich danach ein Eis holen. Das Mädchen, das lieber fernsehen wollte, gab nur widerwillig nach. Mit finsterem Blick nahm es schließlich auf der Rückbank Platz, drückte sich Kopfhörer in die Ohren und verabschiedete sich, als die beiden Frauen am Fuße des Berges ausstiegen, mit einem müden Winken von seiner Mutter.
Es ist ein ebenso sonniger Maivormittag, ein Jahr zuvor, als Paulína Klara zum ersten Mal gegenübersitzt. Mit einem schnellen Handgriff holt sie die Unterlagen aus ihrem kleinen, penibel gepackten Koffer, der Stapel säuberlich gefalteter Kleidung enthält. Klara beobachtet, wie Paulína die Papiere sorgfältig sortiert, bevor sie die unterschriebenen und gestempelten Dokumente auf den Tisch legt und zu ihr hinüberschiebt, beschwert durch ihre Hand, die viel älter wirkt als ihr Gesicht. Klara tut so, als würde sie die Schriftstücke überfliegen, in Wahrheit verschwimmen die Zahlen und Worte vor ihren Augen, alles, was sie herauslesen kann, ist, dass sie gleich alt sind, obwohl sie Paulína jünger geschätzt hätte. Paulína lächelt sie an, ihre vollen Wangen lassen ihre Augen kleiner werden, die dünnen Augenbrauen verschwinden unter dem etwas zu langen Pony. Ihre braunen Haare glänzen in dem Streifen Morgensonne, der vom Fenster auf ihren Kopf fällt, ihre Hände liegen ineinander verschränkt auf dem Tisch, und Klara muss feststellen, dass sie eigentlich keine Fragen hat. Etwas an der Beherrschtheit der Slowakin hat eine beruhigende Wirkung auf sie. Die Agentur sagt, Ihr Deutsch sei sehr gut, bemerkt sie, und Paulína erklärt, ich habe in der Schule gelernt, auch später an der Universität, ein paar Semester, aber dann ist erster Sohn gekommen, sagt sie und legt eine Hand auf den weichen Bauch, als wäre er noch immer da drin. Jetzt ist er sechzehn, aber ich habe nicht vergessen. Ihr Akzent gefällt Klara, stellt den Worten nicht das Bein, macht ihr Deutsch zu ihrer ganz eigenen Sprache, in der kein Fehler ganz falsch ist. Und wo sind Ihre beiden Kinder, will Klara wissen, während Sie wochenlang bei uns sind? Schwiegermutter passt auf, sagt Paulína und steckt sich eine Haarsträhne hinters Ohr, und sie sind große, keine Babys mehr, zwei Wochen ohne mich, kein Problem, wir telefonieren, sagt sie. Das ist gut, nickt Klara und wischt mit einer Handbewegung die Unterlagen vom Tisch. Kommen Sie doch einfach und treffen meine Mutter, schlägt sie vor. Doch schon als Klara vom Tisch aufsteht, beschleicht sie die Angst, ihre Mutter könnte ihr jetzt noch alles verderben, wenn sie schlechte Laune hat. Während sie Paulína die Treppe hinauf vorausgeht, möchte sie fast laufen, ein paar Sekunden vor Paulína oben ankommen, allein mit ihrer Mutter sein, ihr ins Ohr flüstern, sei ein bisschen nett, Mutter, ich bitte dich. Aber Irene sieht nicht einmal auf, als die beiden das Zimmer betreten, in dem sie sitzt und fernsieht. Nach den vorangegangenen zwei Versuchen möchte sie nichts mehr von einer Pflegerin hören, aber bevor Klara etwas sagen kann, legt Paulína den Zeigefinger auf die Lippen und schüttelt den Kopf. Ich mach das schon, flüstert sie und geht allein weiter. Klara bleibt an der Türschwelle stehen und sieht zu, wie Paulína sich vorsichtig neben Irene setzt, die mit Spannung eine Quizsendung verfolgt. Ein Bein über das andere geschlagen, darüber ihr weites, dünnes Nachthemd, ein Arm über der Brust verschränkt, mit der zweiten Hand stützt sie ihr Kinn ab, ein Fuß wippt leicht und balanciert den daran hängenden Hausschuh. Ihre Lippen bewegen sich, als würde sie mitraten, oder vielleicht spricht sie mit dem blonden Moderator mit, dessen Phrasen sie auswendig kennt. Ein Team aus Vater und Sohn stellt sich seinen mit dramatischer Musik untermalten Fragen, die eigentlich nicht besonders schwer sind. Mit welcher Einheit misst man elektrische Leistung, Watt oder Volt? Wolt, schreibt der erwachsene Sohn auf sein Tablet, und die beiden Frauen lachen gleichzeitig auf, Irene heiser und rau, Paulína spöttisch verhalten. Sohn ist nicht besonders schlau, sagt Paulína, und Irene schüttelt den Kopf, Sie würden sich wundern, was die Leute alles nicht wissen. Sie sagt es in den Fernseher hinein, ohne sich der Pflegerin zuzuwenden, und doch weiß Klara, die sie von der Türschwelle aus beobachtet, dass das Eis gebrochen ist, dass Paulína sich zurechtfinden wird. Sie weiß es einfach, Paulína wird bleiben. Lautlos macht sie einen Schritt nach hinten, lässt die beiden allein, nimmt die Treppe nach unten, setzt Teewasser auf und sieht aus dem Fenster in den Garten, wo Ada auf dem Trampolin in einen Handstand springt. Komm raus, schreit das Mädchen, das durch das Glas seine Mutter erkennt, und zum ersten Mal seit Monaten hat Klara endlich wieder Zeit und Lust dazu, sie schaltet den Wasserkocher aus, öffnet die Terrassentür, durchquert den Garten und klettert zu ihrer Tochter.
Schwarz wollten sie niemanden beschäftigen, darin waren Klara und Jakob sich einig. Eine Agentur soll sich um alle nötigen Unterlagen kümmern, und überhaupt, am Geld soll es nicht scheitern, ihre Mutter hatte es schwer genug gehabt, wenigstens jetzt soll sich jemand richtig gut um sie kümmern. Seit dem Schlaganfall ist sie manchmal orientierungslos und vergisst, wo sie ist, was zu Problemen führt, wenn sie etwa allein losgeht, um einzukaufen. Ganz einfache Dinge wie Kochen, Spazierengehen, ein Bad nehmen sollte sie nicht mehr allein machen, was sie nicht einsieht. Die ständige Überwachung macht sie gereizt, es kann sein, dass sie unwirsch reagiert, wir suchen also jemanden, der, na ja, resilient ist, erzählt Klara der Agenturchefin, die mit einem hochfrisierten blonden Zopf vor ihr sitzt und sich nickend Notizen macht. Mit dem Stift zwischen ihren langen bunten Nägeln schreibt sie die Wörter vergesslich, launisch, resilient auf, und Klara möchte jetzt, wo sie es geschrieben sieht, alles zurücknehmen. Nein, so schlimm ist es nicht, korrigiert sie, sie ist im Kern ein guter Mensch, es ist bloß eine Komplikation als Folge des Schlaganfalls, ein sogenanntes Delir, bestimmt haben Sie schon davon gehört, oder vielleicht auch nicht, die Ärzte sagen auf jeden Fall, es sei durchaus reversibel, es gibt also Aussicht auf Besserung, sagt sie, und die Frau sieht lächelnd von ihrem Block auf, hatten wir alles schon, beruhigt sie Klara, machen Sie sich keine Sorgen.
Der Satz lullt sie ein und klingt noch eine Weile in ihr nach. Während sie zu Hause Gurken für den Salat schneidet, fühlt sie, wie sich etwas in ihrem Brustkorb öffnet. Sie werden jemanden finden, der sich mit sowas auskennt, und sie wird wieder in ihre alte Rolle als Tochter zurückkehren können, die einmal am Tag ins Zimmer der Mutter lugt, sie am Arm tätschelt und ihr Mut macht. So, wie es sein soll und wie die Natur es vorgesehen hat. Sie wird wieder mehr Stunden und Aufträge annehmen und Reinhard schon noch beweisen, dass er sie zur Teilhaberin machen muss. Und sie wird mehr Zeit mit Jakob haben, der sich seit Jahren nach einem zweiten Kind sehnt, ein Wunsch, den Klara bisher erfolgreich abzuwehren wusste. Selbst das kommt ihr an diesem Tag möglich vor, warum eigentlich nicht, sagt sie sich, warum nicht Ada ein Geschwisterchen schenken. Oder vielleicht werden sie endlich wieder verreisen. Reinhard hatte so begeistert von Japan erzählt, dass in Klara eine Sehnsucht erwacht ist, nach einem langen Flug, irgendwohin, wo nichts mit ihr und dem Kremstal zu tun hat. Diese Person, die ihnen von der Agentur vermittelt werden wird, wer immer es ist, wird ihr ihr Leben zurückgeben, und sie wird es nicht einfach wieder aufnehmen, wo es mit dem Schlaganfall ihrer Mutter aufgehört hat. Nein. Jetzt, da sie gesehen hat, wie schnell alles zu Ende gehen kann, wird sie keine Chance mehr vorbeiziehen lassen, denkt sie und säubert das Schneidebrett, wischt das feuchte Messer ab, holt eine Gabel aus der Bestecklade und setzt sich mit dem Gurkensalat an den Tisch. Sie wird noch einmal von vorne anfangen.
Drei Monate lang hat sie es allein versucht. Hat ihre Stunden im Büro reduziert, auf die gefürchteten dreißig Stunden, mit denen man nicht mehr ernst genommen wird. Die Aufträge, die ihr ab diesem Moment zugeteilt wurden, bekamen sonst nur halbkonzentrierte Jungmütter, die jede zweite Woche Pflegeurlaub brauchen, aber sie erklärte ihrem Chef, dass das nur vorübergehend nötig sei, bestimmt gehe es ihrer Mutter bald wieder besser. Reinhard nahm es mit einem schiefen Kopfnicken zur Kenntnis, es ist deine Entscheidung, sagte er, aber du kennst den Markt. Sie kannte den Markt. Als sie vor mehr als zwölf Jahren bei Reinhard angefangen hatte, waren sie nur zu zweit gewesen und eine Handvoll Kunden mit unrealistischen Wünschen. Voll verglaste Wohnzimmerdecke, verschnörkelte Hausfassaden mit Türmchen und Erkern, Kaminplätze im Badezimmer. Reinhard hatte früh begriffen, dass es nicht darum ging, den Kunden realistisch zu stimmen, sondern im Gegenteil, Gesetze und Verordnungen gekonnt zu umschiffen, um jeden noch so verrückten Einfall umsetzen zu können. Womit er schnell zum Geheimtipp geworden war und sich Zutritt in die Kreise verschafft hatte, die er bedienen wollte. Bald konnte er es sich leisten, mehrere Architekten anzustellen und sich Aufträge auszusuchen. Mittlerweile macht Reinhard selbst nur noch in Ausnahmefällen kreativ mit. Er ist mit der Geschäftsführung beschäftigt und reist auf Messen und Kongresse. Klara hält für ihn im Büro die Stellung, sie schult ein, sucht neue Mitarbeiter aus, sie fordert Gehaltserhöhungen und bekommt sie. All diese Leute, hat Reinhard einmal halbtrunken bei einer Weihnachtsfeier zu ihr gesagt und auf seine Angestellten gezeigt, machen nicht einmal eine halbe Klara aus. Klara hat das nicht missverstanden. Sie wusste, dass sie auf dem besten Weg zur Teilhaberin war und dass es hier um viel Geld ging.
Und dann, kurz nach dieser Feier, war der Anruf gekommen. Ein atemloser Jakob, der ihr etwas über ihre Mutter erzählte, aber unmöglich sie meinen konnte, nicht Irene, die immer alles und alle im Griff hatte. Jakob musste es mehrmals wiederholen, bevor Klara verstand und ihr das Handy aus der Hand glitt. Sie wollte auflegen, sich verhört haben, alles, nur kein Schlaganfall. Ein paar Wochen lang besuchte Klara ihre Mutter täglich im Krankenhaus, wo sie im Koma lag und die Ärzte es vermieden, klare Aussagen zu machen, wie eine Münze, die man in die Luft geworfen hatte, konnte ihre Mutter aufwachen oder nicht. Unentschieden, wie Irene immer schon gewesen war, kam sie zurück, aber nur halb, ihr Gehirn fing an, ihr Streiche zu spielen, als wäre es eigenen Gesetzen unterworfen, die der ärztlichen Voraussagefähigkeit entglitten.
Eine Weile hatten sie noch gehofft, sie könnte nach wie vor allein wohnen, von einem Pflegeheim wollte sie nichts hören. Sie wollte alles selber machen, wie sie es immer getan hatte, und Klara schaffte es nicht, sie zu überzeugen, dass sie sich in Gefahr brachte, sich und andere, wenn sie mitten auf der Straße ging, wenn sie im Bus umfiel, wenn sie plötzlich im Supermarkt vergaß, wo sie eigentlich wohnte. Ins Büro zu fahren fühlte sich an, wie ein Kleinkind allein zu Hause zu lassen, bei Meetings konnte sie sich kaum konzentrieren, Details wichtiger Aufträge entfielen ihr, zu viele E-Mails und Anrufe musste sie an Mitarbeiter delegieren, die zu wenig Erfahrung hatten und mehr Schaden anrichteten als halfen, während sie ihre verwirrte Mutter zu Arztterminen bringen und abholen musste oder, noch schlimmer, sie zur vereinbarten Zeit gar nicht am vereinbarten Ort vorfand. Die ersten Male hatte sie noch fieberhaft nach ihr gesucht und sie meistens irgendwo in der Nähe des Bahnhofs ausfindig gemacht, wo sie in einen Zug steigen wollte, aber irgendwann gab sie es auf und wartete auf Irenes Rückkehr, oder auf einen Anruf. Immerhin war der Ort, in dem sie wohnten, nicht groß, man kannte sie, man rief Klara an und gab ihr Bescheid. Das Chaos und die ständigen Fahrten zur Wohnung ihrer Mutter erschöpften sie. Als hätte Irenes Verwirrung auch sie erfasst, war sie kaum noch fähig, etwas zu Ende zu denken, wusste kaum noch, welches Datum war, und trotz der Erschöpfung lag sie nachts mit rasendem Herzen wach. Ihre Mutter war zu einem defekten Rädchen im Uhrwerk ihrer Tage geworden, das alle anderen durcheinanderbrachte, und Klara der Zeiger, der sich nonstop im Kreis drehte. Ausgelaugt traf sie die Entscheidung schließlich autonom und suchte einen Platz in einem Pflegeheim, ohne Irene zu fragen, und als der Tag kam, packte sie eigenhändig Irenes Koffer. Ich weiß, du willst nicht, Mutter, aber ich kann so nicht mehr, es ist das Beste für uns alle. Jakob, den Klara zur Verstärkung mitgebracht hatte, stand kopfschüttelnd in der Ecke des Zimmers, wusste, dass es sinnlos war, Irene gegen ihren Willen in ein Heim zu stecken. Irene setzte sich hin und verschränkte die Arme, und wie immer auch Klara auf sie einredete, flehte, weinte und schimpfte, sie rührte sich nicht von der Stelle. Ich gehe in kein Pflegeheim, wiederholte sie, lieber hänge ich mich auf. Schließlich kapitulierte Klara, und sie fuhren nach Hause, und als Jakob sich ein Ich-hab’s-dir-ja-gesagt nicht verkneifen konnte, gerieten sie in Streit. Ada sah ihre Mutter kaum noch, und obwohl Jakob versuchte, das irgendwie wettzumachen, das Mädchen ins Kino mitnahm und in den Zoo, wurde sie noch aufsässiger und frecher als früher und setzte ein paar Schularbeiten in den Sand. Verzweifelt suchte Klara nach anderen Lösungen, beauftragte mobile Pflege, aber die Pfleger trafen Irene kaum einmal zu Hause an. Ich war im Supermarkt, erklärte sie dann, irgendwas muss ich ja wohl essen. Klara beauftragte Essen auf Rädern, einmal am Tag kam jemand mit einer warmen Mahlzeit zu Irene, die Klara aber unberührt vorfand, wenn sie abends vorbeikam, um nach ihr zu sehen. Ungenießbar, war das Wort, das ihre Mutter benutzte, egal, um welche Speise es sich handelte. Wenn Klara, die nie kochen gelernt hatte, ihr ein Käsebrot zubereitete, fand Irene das immer fantastisch. Es geht ihr um die Gesellschaft, Klara, erklärte Jakob, sie braucht eine echte Person, die ihr etwas liebevoll zubereitet, keinen Lieferdienst.
Jakob war immer gut darin gewesen, die Bedürfnisse anderer zu erspüren, aber auf sie einzugehen war eine andere Sache. Ich weiß, was du brauchst, sagte er nach einer langen Arbeitswoche zu Klara und strich ihr ein paar Mal über ihren schmerzenden Rücken, als wolle er sie massieren, doch stattdessen hängte er sich seine Kamera um den Hals und verließ das Haus. Draußen war die Welt erträglicher für ihn, wenn er sein Objektiv auf Dinge richten konnte, auf den schiefen Baum, die Tautropfen auf den Blättern, den Specht auf dem Ast, der sich ihm im richtigen Augenblick zuwandte. Gern predigte er, dass es in der Fotografie um den richtigen Moment und den richtigen Winkel geht, aus dem man etwas betrachtet. Perspektive ist alles! Ein Auge für gute Bilder zu haben, fand er, hieß zu erkennen, wann sich inmitten einer Welt aus Mittelmäßigkeit und Chaos etwas Schönes, Wertvolles, Wahres zeigt, und zu wissen, wie man darauf eingeht. Er machte Fotos vom Dorf, der Architektur, den Bergen, ja, aber am liebsten hielt er Menschen fest, einander zugewandte, lachende Freunde, ein Kind, das die Hand nach seinem Vater ausstreckt, eine ältere Frau, die mit ihrem Hund spricht. Er war auf der Suche nach Selbstvergessenheit, der Natur und der Menschen, wobei Letztere in der heutigen Zeit immer schwieriger zu finden sei, erklärte er gern. Niemand wähnt sich mehr unbeobachtet, alles sei zu einem ständigen Livestream geworden. Umso mehr fühlt Jakob sich als Jäger der verlorenen Schätze, stundenlang streifte er durch den Wald oder durch die Gassen ihres Dorfes, auf der Suche nach selbstvergessener Schönheit. Die Bilder, die er nach wie vor in der Dunkelkammer entwickelt, lagert er nach Datum in Alben sortiert in mehreren Kartons im Keller, nur die besten legt er für eine Ausstellung zur Seite. Einige, auf die er besonders stolz ist, hängen an den Wänden ihres minimalistisch eingerichteten Hauses. Weder er noch Klara brauchen viel Schnickschnack, darin waren sie sich immer einig, ihr Zuhause soll eine optische Ruheoase sein, in der Klara sich vom schlechten Geschmack ihrer Klienten erholen kann und Jakob Zeit und Raum für seine kreativen Ideen findet. Als Ada kleiner war, war es eine Weile schwer gewesen, Ordnung zu halten, aber das Haus war groß genug, sie brachten ihr Spielzeug einfach in den oberen Stock, in ihr Spielzimmer, irgendwie hatten sie es geschafft, dass sie es so wenig wie möglich nach unten brachte. Jetzt, da Ada auf dem Weg zum Teenager war, stand das Spielzimmer leer, in einem Anfall von Erwachsenwerden hatte sie vor kurzem all ihre Spielsachen verschenkt und schloss sich jetzt die halbe Zeit in ihrem Zimmer ein. Seitdem standen im oberen Stock ein paar Räume leer, auch der, in dem Irene manchmal übernachtet hatte, um auf die kleine Ada aufzupassen, damit Klara und Jakob weggehen konnten. Klara war natürlich eingefallen, dass ihre vergessliche Mutter dort einziehen könnte, mitsamt einer Pflegerin im Nebenzimmer, dass sie sogar eine kleine Küche dort einrichten konnten, sie wusste, dass es so schwer nicht gewesen wäre, und dennoch behielt sie diese Idee für sich, unentschieden, ob sie eine solche Invasion dulden wollte, ob es der richtige Zeitpunkt war, in ihrem Leben, in ihrer Ehe, in Adas Entwicklung. Und dann war es Jakob, der es vorschlug, was ihr schlechtes Gewissen nur verstärkte, sie hätte diejenige sein sollen, die es aussprach, und nicht er. Sie hat uns jahrelang den Rücken freigehalten, als Ada klein war, sagte er, wir können sie jetzt nicht einfach sich selbst überlassen. Außerdem können wir endlich ihre Wohnung verkaufen oder vermieten, und du musst keine Umwege mehr fahren, wenn du bei ihr vorbeischauen willst. Klara wusste, dass er recht hatte und dass für manche Entscheidungen der richtige Zeitpunkt nie kommen würde. In wenigen Wochen hatte sie oben zwei Zimmer umgestaltet und eine kleine Küche neben dem Bad eingerichtet. Sie kannte gute Leute für diese Arbeiten, bekam Rabatte und Sondertermine für Lieferungen. Reinhard hat ihr seine besten Kontakte gegeben, das ist doch das mindeste, sagte er, was ich in dieser Situation für dich tun kann.
Für Menschen kann man leider keine Garantien geben, erklärte Frau Hospodová, die Agenturchefin. Ich hatte drei für Sie in der engeren Auswahl, zwei davon haben in letzter Minute abgesagt, aus privaten Gründen, aber eine ist bereit, sie kommt übermorgen bei Ihnen an, Laura aus Rumänien, erstmal probeweise für zwei Wochen, dann kommt Radek aus Polen, wenn diese Kombi passt, würden die zwei sich bei Ihrer Mutter abwechseln. Klara stockte kurz der Atem, das Wort Kombi brachte sie eher mit Angeboten von Fast-Food-Ketten in Verbindung, kurz kamen ihr Zweifel, ob sie sich an die richtige Stelle gewandt hatte. Sabine von der Buchhaltung hatte ihr die Agentur empfohlen. Ohne Ľudmila hätten wir das mit unserer Schwiegermutter nicht hinbekommen, hatte sie gemeint, die heutige Zeit ist nicht dafür geschaffen, zu Hause zu pflegen, aber die Ľudmila, die hat das so gern gemacht, ja, wirklich, alle waren mit ihr zufrieden, sogar die Schwiegermutter selbst, und die war, unter uns gesagt, zeitlebens mit niemandem zufrieden gewesen. Also unterschrieb Klara.
Ein paar Tage später stellt sich Laura aus Rumänien bei ihnen vor, mit so brüchigem Deutsch, dass man sofort ins Englische wechselt. Mit lächerlich großen Plüschpantoffeln, die einen Elefanten mitsamt Rüssel darstellen sollen, latscht sie durchs Haus, und das Erste, was Klara auffällt, ist, dass sie unentwegt einen kabellosen Kopfhörer im Ohr trägt, ihr Handy immer in Reichweite, und nie weiß man, wem sie gerade zuhört, mit wem sie gerade spricht, den ganzen Tag geht ihr Plappern durchs Haus, nahtlos wechselt sie vom Rumänischen ins gebrochene Deutsch, den halben Satz beendet sie auf Englisch und immer lächelt sie arglos dazu, ihre grünen Augen leuchten vor Freude, die niemand im Haus nachvollziehen kann. Mehrmals bringt sie Dinge durcheinander, nimmt den falschen Schlüssel mit, sperrt sich aus, ruft Irene vom Garten aus ins offene Fenster hinauf. Als Jakob schließlich nach Hause kommt und ihr die Tür aufsperrt, setzt sie ihr entschuldigendes Lachen auf, komische Situation, findet sie, der Ernst ihres Arbeitsauftrags scheint ihr völlig zu entgehen. Irene wehrt sich gegen sie, da kann ich doch genauso gut allein wohnen, sagt sie, dieses Mädchen ist komplett verwirrt, und auch Klara mag sie nicht, sie stört sich an den ewigen Telefonaten der jungen Frau, an ihren bauchfreien T-Shirts, auch daran, dass Ada eine Gleichaltrige in ihr sieht. Mehrmals beobachtet sie die beiden, wie sie über irgendwas lachen, das sie nicht versteht, und fühlt sich im eigenen Haus fehl am Platz. Die Agenturchefin räumt ein, es war ein Experiment, mit neuen Pflegerinnen ist es wie beim Roulette, manchmal klappt es auf Anhieb, und manche brauchen erst eine Weile, um mit dem Job warm zu werden. Klara hat keine Zeit für Experimente, mit dem Blick auf die Uhr bemerkt sie, dass dieser Termin sie heute möglicherweise einen Auftrag kostet, und die Agenturchefin nickt verständnisvoll, nächste Woche kommt Radek, und in der Zwischenzeit finden wir gewiss eine gute Lösung für Sie.
Radek, das Gegenteil von Laura, ist ein Mann mittleren Alters, vielleicht fünfzig, und doch ist alles an ihm bereits grau, seine Kleidung, seine bürstenförmig abstehenden Haare, sein stoppeliger Dreitagebart, selbst seine Haut hat einen aschigen Unterton, wie eine Rauchwolke schleicht er durch die Zimmer, und Klara und Jakob wissen nicht genau, was sie an ihm stört, es ist sehr schwer zu benennen. Denn Radek ist erfahren, das merkt man sofort, Irenes Bett ist immer gemacht, das Frühstück steht schon auf dem Tisch, wenn sie aufwacht, sein Deutsch ist gut, er begleitet Irene zum Arzt und macht Notizen, die er Klara später gewissenhaft vorträgt, sein Essen schmeckt. Sie wissen nicht, ob es sein Schmatzen beim Essen ist, aber nein, das ist eigentlich nicht so auffällig. Sein Schnarchen, das man durch die Tür hört, ist auch nicht laut genug, wenn man will, kann man es sich wegdenken. Er ist ein Mann, bringt es Irene schließlich auf den Punkt, ich will nicht, dass er mich im Nachthemd sieht. Klara hatte es so nicht sagen wollen, aber eigentlich ist es ihr auch unangenehm, mit einem fremden Mann zusammenzuwohnen, so gut er seine Arbeit auch macht. Sie mag seinen Geruch nicht, seinen scharfen Geruch nach Schweiß und Rasierwasser, es macht sie misstrauisch, auch wenn sie spürt, dass dieses Misstrauen grundlos ist. Eine Weile warten sie auf einen Fehler, aber er macht keinen, und schließlich findet sich Klara in der Agentur wieder. Es tut mir wirklich leid, sagt sie, er ist ein wirklich netter Mann, er macht seine Arbeit gut, aber Mutter ist es unangenehm, wenn sie Hilfe beim Wechseln der Kleidung braucht, Sie verstehen. Die Frau mit dem blonden Pferdeschwanz lächelt eisern, ihr Gesicht undurchdringlich wie eine Mauer, wieder kritzelt sie etwas auf ihren Notizblock. Das Zusammenwohnen mit einer neuen Pflegekraft kann anfangs gewöhnungsbedürftig sein, Sie müssen dem Ganzen schon etwas Zeit geben, sagt sie und wirft einen Blick in ihren Laptop. Halten Sie noch ein paar Tage durch, und bleiben Sie offen und zuversichtlich, ab nächsten Montag kommt Paulína zu Ihnen, dann sehen wir weiter. Klara nickt, wenig überzeugt. Zu Hause sagt sie zu Jakob, es war eine Schnapsidee, Fremde in unser Haus einzuladen, eine Woche gebe ich dem Ganzen noch, dann lassen wir uns etwas Neues einfallen.
Aber Plan B gibt es nicht. Seit sie Reinhard von der Idee mit der Pflegekraft erzählt hat, betrachtet er das Problem als gelöst und überschüttet sie mit Aufträgen, auf ihrem Tisch häufen sich Anrufe und Unterlagen, und sie weist keinen einzigen zurück. Im Vorbeigehen zwinkert er ihr zu, zufrieden mit sich, immerhin hat er die letzten Monate über Nachsicht gezeigt, dass seine Geduld irgendwann endet, war abzusehen. Klara verbringt die Vormittage mit dem Beantworten von E-Mails, dem Sicherstellen von Baugenehmigungen, für die sie in den letzten Jahren ein gutes Händchen entwickelt hat. Die Beamten an den wichtigen Stellen sprechen gern mit ihr, mit einigen von ihnen ist sie per Du, man tauscht sich kurz über die Kinder aus, die gemeinsam zur Schule gehen, bevor man zum Geschäftlichen kommt. An den Nachmittagen besucht sie Auftraggeber und Baustellen, Bruchbuden, die geerbt wurden und nun auf Vordermann gebracht werden sollen, und auch Häuser, an denen sich kaum etwas Verbesserungswürdiges finden lässt, deren Besitzern aber die Ideen einfach nicht ausgehen. Man dämmt, baut aus, erweitert Garagen und macht Dachböden bewohnbar, man ersetzt Balkongeländer aus Holz durch Glas, passt die Türen dem neuen Look an, man baut ein zusätzliches kleines Guest House im Garten wie in amerikanischen Filmen. Früher hatte Klara sich manchmal über die Vorstellungen und Budgets der Klienten gewundert, heute kommt ihr kaum noch etwas seltsam vor, alles war schon mal da. Was sie viel mehr fasziniert als die vermeintlich originellen Ideen ihrer Kunden, ist die Frau, die sie in der Arbeit ist, das Ansehen, mit dem man ihr in der männerdominierten Branche begegnet, und der Respekt, den ihr Kunden, Kollegen sowie Beamte jetzt entgegenbringen, das Gefühl, wenn man ihr entschlossen die Hand schüttelt, einen Tick fester und länger als früher, ist ein Rauschzustand, von dem sie ungern ernüchtert wird, wenn sie abends nach Hause kommt und ihre Tochter über ihre Anwesenheit bloß die Augen rollt.
Früher hat Irene Ada am Nachmittag von der Schule abgeholt, sie in den Park gebracht. Wenn Klara nach Hause kam, war ihr Kind satt und müde, es hat gereicht, sie zu waschen und ins Bett zu bringen. Erfüllt von ihren beruflichen Erfolgen, war es einfach gewesen, die Capricen ihres Einzelkindes auszuhalten, das pausenlose Geplapper, die unvermittelten Wutausbrüche oder die gezielte Gleichgültigkeit, mit der Ada den Aufforderungen ihrer Mutter begegnete. Geduldig saß sie abends am Bett ihrer Tochter und hörte zu, wenn Ada ihr etwas erzählen wollte, wenn sie mit einer Freundin gestritten oder einem Lehrer einen Streich gespielt hatte. Wie einfach es war, ein oder zwei Stunden am Tag Mutter zu sein.