Wir zwei in fremden Galaxien - Kate Ling - E-Book + Hörbuch
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Wir zwei in fremden Galaxien E-Book

Kate Ling

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Beschreibung

"Wir sind eine der interstellaren Generationen. Wir haben die Erde nie gesehen; wir werden unser Ziel nie zu sehen bekommen. Dieses Raumschiff, auf seiner siebenhundertjährigen Reise, ist das Einzige, was wir jemals sehen werden. Was unsere Kinder je sehen werden. Was unsere Eltern je gesehen haben."


Die 17-jährige Seren lebt seit ihrer Geburt auf der Ventura und steht kurz vor der Abschlussfeier ihres Schuljahrgangs. An diesem Tag wird nicht nur entschieden, in welchem Bereich des Raumschiffs sie in Zukunft arbeiten soll, vor allem wird bekanntgegeben, wer aus dem aktuellen Jahrgang zu ihrem Lebenspartner ausgewählt wurde. Doch Seren hat ein Problem, denn sie hat sich verliebt. Mit dem spanischstämmigen Domingo, kurz Dom, erlebt sie echte Gefühle, das Herzklopfen der ersten Liebe. Doch beide wissen, dass sie damit gegen alle Regeln verstoßen und nur heimlich zusammen sein können. Als sich für das junge Paar eine Möglichkeit ergibt, das Raumschiff zu verlassen, muss Seren sich entscheiden. Will sie die sicheren Räume der Ventura verlassen, ohne zu wissen, ob sie außerhalb überleben können? Aber was ist die Alternative?

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Inhalt

CoverÜber das BuchÜber den AutorTitelImpressumKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Danksagung

Über das Buch

»Wir sind eine der interstellaren Generationen. Wir haben die Erde nie gesehen; wir werden unser Ziel nie zu sehen bekommen. Dieses Raumschiff, auf seiner siebenhundertjährigen Reise, ist das Einzige, was wir jemals sehen werden. Was unsere Kinder je sehen werden. Was unsere Eltern je gesehen haben.« Die 17-jährige Seren lebt seit ihrer Geburt auf der Ventura und steht kurz vor der Abschlussfeier ihres Schuljahrgangs. An diesem Tag wird nicht nur entschieden, in welchem Bereich des Raumschiffs sie in Zukunft arbeiten soll, vor allem wird bekanntgegeben, wer aus dem aktuellen Jahrgang zu ihrem Lebenspartner ausgewählt wurde. Doch Seren hat ein Problem, denn sie hat sich verliebt. Mit dem spanischstämmigen Domingo, kurz Dom, erlebt sie echte Gefühle, das Herzklopfen der ersten Liebe. Doch beide wissen, dass sie damit gegen alle Regeln verstoßen und nur heimlich zusammen sein können. Als sich für das junge Paar eine Möglichkeit ergibt, das Raumschiff zu verlassen, muss Seren sich entscheiden. Will sie die sicheren Räume der Ventura verlassen, ohne zu wissen, ob sie außerhalb überleben können? Aber was ist die Alternative?

Über den Autor

Kate Ling hat bereits Short Stories und Gedichte in verschiedenen Anthologien und Magazinen veröffentlicht, Die Anziehungskraft großer Gefühle, Band 1 der Ventura-Saga, ist ihr Romandebüt. Die Autorin schreibt bereits an der Fortsetzung.

KATE LING

Wir zweiin fremdenGalaxien

DIE VENTURA-SAGAÜbersetzung aus dem Englischenvon Anja Hackländer

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Titel der englischen Originalausgabe:

»The Loneliness of Distant Beings«

  

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2016 by Kate Ling

  

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: © Sandra Taufer, München, unter Verwendung von shutterstock/tomertu, shutterstock/Christin Lola und iStock.com/4x6

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

  

ISBN 978-3-7325-3980-2

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Kapitel 1

Ich weiß, es sind Vögel, aber nur, weil man es mir gesagt hat. Unbeschreiblich viele, in einer langen Reihe, als würden sie auf etwas warten. Ich weiß nicht, was sie letztendlich dazu bewegt aufzufliegen, aber das tun sie, alle zusammen, alle gleichzeitig. Mit tausend winzigen Flügeln erheben sie sich in den Himmel. Und dieser Himmel, unter dem ich selbst nie gelebt habe, ist strahlend blau, mit zarten Schleierwolken wie mit einem Pinsel gemalt.

Dieselben Bilder, dieselbe Szene aus irgendeinem Film, zeigen sie bei jeder Bestattung auf dem großen Bildschirm. Und irgendwie scheint jeder die Metapher zu verstehen. Es folgen einige Fotos der verstorbenen Person, meist nicht viele, das offizielle Gruppenfoto der Vereidigung, ein Bild in Paradeuniform oder eins an Weihnachten, so was in der Art. Aber diesmal ist es anders. Zu Beginn zeigen sie ein Bild meiner Urgroßmutter auf ihrem Heimatplaneten, mit rosigen Wangen, braun gebrannt, die Beine sandig, den Blick blinzelnd in die Sonne gerichtet. Der ganze Saal schnappt kollektiv nach Luft, als das Bild eingeblendet wird.

Uroma Bea hatte unheimlich viele Fotos, manche sogar auf Papier, sodass man sie in den Händen halten konnte. Festhalten und hineinsehen, wie durch ein Fenster. Und wenn man hineingesehen hat, hat sie den Blick erwidert. Natürlich viel jünger. Sie wirkt immer noch quicklebendig, obwohl sie tot ist.

Die Bestattung verläuft so wie jede andere. Als wir die Blumen aus der Produktion niedergelegt haben, starren wir feierlich auf den Sarg, und Grandpa hält eine Rede. Er erwähnt nicht, dass sie die Letzte war, die noch auf der Erde gelebt hat, aber jeder im Saal muss daran denken. Das ist der Hauptgrund, weshalb heute so viele gekommen sind – denn das war’s, jetzt sind wir ganz allein.

Am Ende verlassen wir die Druckschleuse und lassen Uroma Bea für immer zurück. Grandpa ist der Letzte, und es kommt mir so vor, als hätte er vergessen hinauszugehen und würde sich nur daran erinnern, weil ich ihn am Arm packe. Dieser Teil wird wohl nie leichter, egal wie oft man ihn hinter sich bringt.

Die Schleusentür fährt langsam zu, und durch die dicken runden Scheiben hindurch beobachten wir, wie sich die beiden Flügel der Außentür öffnen, ähnlich einem gigantischen Kiefer. Dann ist sie verschwunden, hinausgetragen in den Weltraum, mit einem unbekannten Ziel. Auch nicht viel anders als bisher, nur dass sie jetzt ganz auf sich selbst gestellt ist.

Ich bekomme den Joggingaufruf zur ersten Schicht gar nicht richtig mit. Dabei habe ich die Trauerfeier absichtlich eher verlassen, um anschließend todmüde in einen furchtbaren zombieähnlichen Schlaf zu fallen. Irgendwie habe ich das Gefühl, immer noch zu träumen, als ich in meinen Trainingsanzug und die Turnschuhe schlüpfe und mich lustlos auf den Hauptkorridor begebe, wo ich vor lauter Gähnen anfange zu zittern und feuchte Augen bekomme. Als die anderen an mir vorbeirennen, schließe ich mich an, als würde ich in einen reißenden Strom eintauchen. Ich habe Musik auf den Ohren, aber ich höre gar nicht richtig hin, denke nicht einmal nach, sondern falle automatisch in den Rhythmus der anderen Läufer, die wie eine menschliche Pauke über den Gang trommeln. Die Arbeiter der dritten Schicht trotten uns entgegen, einer hinter dem anderen, den Blick gesenkt. Die lauten, aufgepumpten Typen ganz vorn recken die Arme und berühren die niedrigen Kabelkanäle an der Decke, so wie jeden Morgen. Ich könnte sterben vor Langeweile.

Dr.Maddox hat mir diesen Quatsch verordnet. Das ist der einzige Grund, weshalb ich hier mitmache, nur um nicht wieder in die Besserung zu müssen. Dr.Mad hält nämlich nicht viel von Langzeitmedikation bei »Kindern« und zieht es anscheinend vor, sich diese ganzen furchtbaren Dinge anzuhören, die in meinem Kopf vor sich gehen, oder mich sinnlos im Kreis laufen zu lassen, was angeblich Endorphine freisetzt. Ich habe da so meine Zweifel. Manchmal denke ich, Medikamente wären die bessere Lösung, auch wenn man sich dann so fühlt, als hätte jemand einem das Gehirn ausgesaugt und durch einen feuchten Schwamm ersetzt.

Jedenfalls drehe ich hier sinnlos meine Runden zusammen mit den Fliegertypen und den armen Schluckern, die es irgendwie geschafft haben, von dem dürftigen Kantinenessen auch noch fett zu werden. Seit über einem Jahr mache ich das jetzt jeden Morgen, genauer gesagt, seit dem Tag, als ich Dr.Mad und der Besserungsanstalt entkommen konnte. Fünf Wochen lang war ich dort eingesperrt, weil ich beschlossen hatte, einfach nicht mehr zu reden, und (an einem besonders miesen Tag) versuchen wollte, mich mit bloßen Händen durch die Metallwände zu graben, wobei ich mir die Fingernägel blutig gekratzt habe. Und seitdem denkt alle Welt, ich sei verrückt. Aber ehrlich gesagt rede ich nicht gern darüber, weil mir das Ganze ziemlich peinlich ist, außerdem kommen dabei schmerzliche Erinnerungen hoch, die ich lieber verdrängen würde, egal was Dr.Mad davon hält.

Also drehe ich tapfer meine Runden, um endlich wieder normal zu sein. Um meine Verrücktheit abzustreifen. Aber ich fürchte, wenn man so was einmal hinter sich hat, kommt es einem für den Rest seines Lebens so vor, als könnte es jederzeit wieder passieren. Man wirft ständig einen Blick über seine Schulter. Und rennt permanent davon.

Der beste Teil des Parcours ist für die meisten Läufer das Aussichtsdeck. Es liegt im Westteil des Schiffes und ist etwa hundert Meter lang. Zu unserer Linken befindet sich eine Art Tribüne mit Sitzen, aber davor ist noch genügend Platz zum Vorbeigehen (oder in unserem Fall Vorbeilaufen). Rechts befindet sich eine vakuumsichere, vierfach verglaste Panoramascheibe. Dahinter erstrecken sich die endlosen Weiten einer Galaxie, die einem regelrecht ins Gesicht springen. Ich schätze, man kann gar nicht anders, als automatisch hinzusehen, aber anders als die meisten Leute habe ich mir nie viel daraus gemacht. Zumindest bis vor Kurzem.

Denn seit einigen Wochen nähern wir uns einem Sternsystem namens Huxley, und der Anblick einer echten Sonne macht die Aussicht für mein Empfinden deutlich interessanter. Wir haben schon ewig keine Sonne mehr gesehen, und sie erweckt einen irgendwie zum Leben, obwohl Huxley als Zwergstern mittleren Alters der Spektralklasse K eher klein und mickrig ist. Trotzdem weckt es einen irgendwie auf, sozusagen auf einer Zellebene, die wir nicht so richtig begreifen können und nicht begreifen müssen. Huxley ist das erste Sternsystem unserer bislang vierundachtzigjährigen Reise, das organisches Leben ermöglichen könnte. Das spielt im Grunde keine große Rolle, denn wir sind ein Erstkontaktschiff und kein Pionierschiff, andererseits sind wir die Ersten, die hier vorbeikommen, und wir haben keine Ahnung, was wir möglicherweise dort vorfinden. Das ist das Einzige, wofür es sich zu leben lohnt; das Einzige, was mir das Gefühl gibt, hier leben zu wollen.

Nach dem Joggen will ich nicht gleich zurück ins Quartier, deshalb gehe ich stattdessen zu Emme. Wir haben uns in letzter Zeit nicht gerade blendend verstanden, und mir ist bewusst, dass es an dieser Du-bist-doch-verrückt-Geschichte liegt. Das ist leider das Problem daran, wenn man einmal durchdreht: Die Leute sehen einen nie wieder mit denselben Augen.

Aber als ich bei ihr klingle, lässt sie mich gleich rein. Wir stehen in der engen grauen Familienküche, wo gerade ziemliches Chaos herrscht, aber zum Glück ist außer uns keiner zu Hause.

»Wo sind denn deine Eltern?«, frage ich, doch meine Gedanken schweifen sofort ab, sodass ich die Antwort verpasse. Wir gehen zusammen in ihr Zimmer und setzen uns aufs Bett. Ich beuge mich über meine Knie und starre zu Boden.

»Spielen wir eine Runde Schach?«, fragt sie.

Ich nicke und rutsche auf dem Bett nach hinten, um mich gegen die kalte Wand zu lehnen. Keiner von uns sagt ein Wort, während wir das Spiel auf dem Pod starten.

»Tut mir echt leid, das mit Uroma Bea«, sagt sie.

»Ist schon okay, sie war alt.« Ich zucke mit den Schultern und blocke ab.

»Na ja, schon«, sagt sie. »Aber … so kurz vor unserem Abschluss und alles.«

»Der ist mir eh egal.«

»Mir auch«, erwidert Emme.

Unsere Pods piepen, und wir spielen ein paar Züge Schach. Dann drückt sie auf Pause.

»Nein, es ist mir nicht egal«, sagt sie. »Das war gelogen.«

Ich warte ab, sehe sie an.

»Ich bin einfach noch nicht so weit«, sagt sie. Dann folgt eine Stille, die ich nicht ausfülle. »Du etwa?«

»Keine Ahnung … ich sehe einfach keinen Grund, darüber nachzudenken, wenn ich eh nichts daran ändern kann.«

»Der Service? Dein Lebensbund? Machst du dir etwa keine Gedanken?«

»Warum soll ich mir Gedanken machen, wenn es so oder so passiert, ob ich will oder nicht?«

Sie sieht mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an, die Lippen aufeinandergepresst. Dann kehrt sie zurück zu unserer Partie, setzt eine Figur und drückt erneut auf Pause. »Was glaubst du, wen du bekommst? Als Lebenspartner?«

Ich zucke mit den Achseln. »Das Ganze ist doch ein Witz. Was spielt das für eine Rolle?«

Sie betrachtet mich immer noch mit demselben skeptischen Ausdruck in ihren hübschen großen Augen.

»Seit wann bist du eigentlich so?«

»Wie denn?«

»Na, so gleichgültig.«

Und in dem Moment wird mir bewusst, warum Emme und ich in letzter Zeit nicht gut miteinander auskommen: Sie ist immer noch der Meinung, dass man dieser sinnlosen Existenz etwas Positives abgewinnen kann. Und ich nicht.

Kapitel 2

Meine Schwester, Pandora, hat ihren Lebenspartner Cain vor knapp einem Jahr geheiratet, und jetzt ist sie im siebten Monat schwanger, mit neunzehn, und unausstehlich glücklich. Sie macht nichts anderes, als den ganzen Tag zu lachen und Babysachen zu stricken und andere junge Mütter einzuladen, die ihr irgendwelche Sachen schenken und ihr albern den Bauch streicheln. Cain ist auch total aus dem Häuschen. Dabei habe ich mal gedacht, er wäre cool. Wenn ich ihn jetzt sehe, wie er ihren Bauch hätschelt und tätschelt, erkenne ich ihn fast nicht wieder. Ich war sogar mal neidisch auf meine Schwester, weil ihr Lebenspartner eigentlich ganz okay ist, aber jetzt hat er sich in einen totalen Loser verwandelt, und ich kann den Typen nicht mal mehr ansehen. Von Pandora bin ich dagegen weniger enttäuscht, sie war schon immer eine Niete. Manchmal wundert es mich, wie wenig wir beide gemeinsam haben. Dabei leben wir seit Ewigkeiten im selben Quartier, und auf einmal strickt sie nur noch Babysocken.

Jeder normale Mensch wäre längst in sein eigenes Familienquartier gezogen, aber meine Schwester ist eben nicht normal, deshalb hat sie den Umzug jetzt erst beantragt. Das liegt an ihrem tragischen Irrglauben, dass Dad und ich sie hier vermissen würden. Und das weiß ich nur, weil Cain mir mal erzählt hat, sie sei total besorgt, dass wir ohne sie nicht klarkommen. Deshalb wolle sie eigentlich mit dem Baby hierbleiben, aber ich habe ihm gesagt, dass wir mit ihr noch viel weniger klarkommen. Ich meine, unser Verhältnis ist so was von gestört. Dad weiß schon gar nicht mehr, wie er in seiner Freizeit zwischen uns sitzen soll. Seit Jahren streiten wir uns über seinen Kopf hinweg, während er einfach nur dasitzt und schweigt, vielleicht ab und zu mal lacht oder sagt: »Bitte, ihr beiden!« Früher hat er die Zeit mit uns wenigstens noch genossen, vor allem, weil wir ihm vor dem Schlafengehen immer einen Kuss aufs Haar gedrückt haben. Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher, weil Cain und Pan nur noch miteinander tuscheln und herumalbern, während Dad und ich auf irgendein Display starren. Die meiste Zeit frage ich mich, wie Pan so bescheuert sein kann, ihre erbärmliche Existenz auch noch zu genießen.

Als ich am Morgen das letzte Mal zu Erziehung muss, hoffe ich eigentlich nur, niemals so zu werden wie sie; und ich hoffe, den Tag zu überstehen, ohne dass mir das Gehirn aus den Ohren trieft.

Die erste Stunde haben wir bei Pastor Seth, der uns neun Jahre lang Geschichten aus der Bibel erzählt hat und unseren letzten Tag dazu nutzt, uns in einem grauen knastähnlichen Raum den Sinn des Lebens zu erklären, besser gesagt den Sinn des Lebens, wie er ihn sich vorstellt. Jonah ist mal wieder der Einzige, der zuhört, ansonsten interessiert sich kein Mensch für diesen Quatsch. Ich meine, Emme schreibt zwar fleißig mit, aber in Wirklichkeit macht das der Autopilot.

»Generation 84, eure Zeit ist gekommen.« Solchen Quatsch erzählt uns Pastor Seth praktisch jeden Tag. Wir sind fünfunddreißig Schüler in unserer Klasse, alle zwischen fünfzehn und siebzehn – die nächste Fuhre von Arbeitern, die hier wie am Fließband produziert werden. Es gibt nur drei Klassenräume, also verbringt man drei Jahre in Erziehung A, drei Jahre in B und drei Jahre in C, dann ist man durch, und als Ersatz bekommen sie eine neue Fuhre Sechs- bis Achtjähriger, denen sie das Leben zur Hölle machen, und die sich wahrscheinlich jetzt schon wünschen, sie wären nie geboren worden.

Als ich wieder hinhöre, hat sich Pastor Seth anscheinend warm geredet, denn er strahlt nur so durch seinen Bart, der bei einem Pastor obligatorisch ist. »Dies ist eure große Stunde, Generation 84. Euer Lebensweg wird sich nunmehr offenbaren; der Weg, den Gott für euch vorgesehen hat.«

Das ist der größte Schwachsinn überhaupt, denn Gott hat hiermit nichts, aber auch gar nichts zu tun, und das weiß er ganz genau.

»Morgen werdet ihr erfahren, wer von euren Klassenkameraden euch ins Erwachsenenalter und ins Familienleben begleiten wird, damit ihr eure wahre Bestimmung erfüllen könnt.«

Daraufhin meldet sich Ezra Lomax zu Wort: »Streitet euch nicht um mich, Mädels. Nur eine kann die Glückliche werden!« Typisch. Die meisten von uns lachen, aber manche der Mädels (Emme eingeschlossen) kichern albern, und man merkt, dass sie sich insgeheim Chancen erhoffen. Arme Idioten. Er ist zwar der Sohn des Captains und hält sich für unwiderstehlich, deshalb schafft er es irgendwie, auch andere davon zu überzeugen, aber das war es auch schon.

Nach dem Unterricht bei Pastor Seth haben wir unsere letzte Stunde bei Lieutenant Maria Fernanda, und während wir an nichts anderes denken können als an unseren Dienst, der am Montag beginnt, und uns fragen, welchem Bereich wir wohl zugeordnet werden, zeigt sie uns einen Dokumentarfilm über die Entstehung menschlichen Lebens auf der Erde. Das Video ist schon ziemlich alt, definitiv aus einer Zeit, bevor man sich das hier ausgedacht hat, bevor man auch nur auf den Gedanken gekommen wäre, eines Tages achthundertachtundachtzig Menschen in eine übergroße Konservenbüchse zu stecken und auf Nimmerwiedersehen in den Weltraum zu schießen. Und dann nutzt sie diesen Film auch noch als Begründung, weshalb wir uns glücklich schätzen können, dass wir nicht mehr wie die Tiere leben, sondern in Familienverbänden, die sorgfältig geplant und reguliert werden, um von unkalkulierbaren Risiken wie Gefühlen und sexuellen Neigungen verschont zu bleiben. Und dass es ein wahrer Segen ist, sich die Eizellen aussaugen zu lassen, damit irgendwelche Wissenschaftler unseren Nachwuchs in einer Laborschale erzeugen, in streng limitierter Anzahl, nach einem festgelegten Fünf-Jahres-Zyklus, halb männlich, halb weiblich, wie auf einer interstellaren Rinderfarm. Und als zusätzlichen Bonus müssen wir uns nicht mal mehr mit den üblichen Krankheiten, Fehlbildungen und Unwägbarkeiten herumschlagen, die uns als normale Menschen verfolgt hätten. Stattdessen müssen wir nur noch mit den Erkrankungen klarkommen, die wir selbst erschaffen haben.

Anschließend geht es zum letzten Vertreter unserer heiligen Dreifurchtbarkeit, Dr.Pen, der uns das PR-Video der Ventura Communications Incorporated vorspielt, das wir schon eine Million Mal gesehen haben. In dem Video ist dieses pulsierende Signal zu hören, das ein ganzes Team von Technikern seit über hundert Jahren zu entschlüsseln versucht (bislang ohne Erfolg) und dem wir in Richtung Epsilon Eridani folgen, obwohl wir jeweils 350 Jahre hin und zurück brauchen, nur um herauszufinden, was sie uns damit sagen wollen, falls es dieses »sie« überhaupt gibt und es sich nicht nur um eine kosmische Rückkopplung handelt. Eigentlich sollte ich dieses Signal hassen – irgend so ein dämliches Signal, ohne das dieser ganze Mist (ich selbst eingeschlossen) gar nicht existieren würde –, aber komischerweise hatte ich schon immer etwas dafür übrig. Es ist einfach extrem hartnäckig. Es macht immer weiter. Und in über hundert Jahren hat es noch kein Mensch geschafft, dessen Code zu entschlüsseln (wenn es denn einen gibt). Dabei ist es eigentlich nur Lärm, extrem chaotischer Lärm, aber es gab eben genug Leute, die davon überzeugt waren, dass es uns etwas zu sagen hat. Und deshalb wurde dieses Projekt ins Leben gerufen. Ich schätze, das beweist eigentlich nur, wie sehr wir uns davor fürchten, hier draußen allein zu sein.

Jedenfalls ist das alles nur die Einleitung zu einer echt lahmen Party, die zwischen zwei und drei Uhr stattfindet, eine Mischung aus Karaoke (so was nennt man hier Unterhaltung) und peinlichem Herumstehen, während die Lehrer feuchte Augen bekommen und bescheuerte Reden halten und beteuern, wie glücklich wir alle mal werden.

Ich unterhalte mich nicht großartig, weil die Situation total verkrampft ist. Eigentlich bin ich mit ein paar Typen befreundet, weil ich genau wie sie Videospiele mag, aber denen kann ich nicht mal in die Augen blicken, wenn ich daran denke, dass wir morgen erfahren, ob wir vielleicht den Rest unseres Lebens zusammen verbringen müssen. Deshalb stehe ich mit Emme in einer Ecke und starre die meiste Zeit zu Boden.

»Mal im Ernst. Was glaubst du, wen du morgen bekommst?«, fragt Emme.

Ich stütze mein Kinn in die Hand und staune, wie schwer sich mein Kopf gerade anfühlt. »Ich sag doch …«

Sie streckt beide Hände von sich. »Schon klar, es ist dir egal. Und was glaubst du, wen ich bekomme?«

»Du hoffst definitiv auf Ezra.«

Sie grinst. »Klar, wer nicht? Sohn des Captains. Extrem attraktiv.«

Ich verziehe das Gesicht. »Ist dir noch nie aufgefallen, wie selbstverliebt dieser Typ ist?«

Sie zuckt mit den Schultern. »Schon. Aber damit kann ich leben.«

In dem Moment beendet Brandon seine Karaoke und ruft Emme für den nächsten Song auf die Bühne. Während er ihr das Mikrofon hinhält, streckt sie mir ihre Hand entgegen.

»Komm schon, Seren. Sing mit mir ein Duett. Wie in alten Zeiten.« Ich schwöre, mir schaudert bei den Worten.

»Danke, aber ich passe«, sage ich.

»Ach komm!« Sie hüpft auf der Stelle und packt meine Hand, die ich ihr mit einem bösen Blick entziehe.

»Nein, Em. Ich meine es ernst.« Sie zuckt mit den Schultern, und ihr Lächeln verblasst ein wenig, dann eilt sie zur Bühne und bekommt rechtzeitig ihren Einsatz.

Emme ist nicht gerade die weltbeste Sängerin, aber sie trifft zumindest alle Töne, und bei ihrem Selbstvertrauen macht sie einen echt guten Eindruck. So eine Ausstrahlung habe ich mir immer gewünscht, aber wenn ich mich mal dazu überreden lasse, spiele ich eher eine düstere und grüblerischere Version meiner selbst. Dabei ist es nicht mal so, als wollte ich mich nicht amüsieren – es fällt mir einfach nur extrem schwer. Ist scheinbar angeboren. Oder auch nicht.

Ich sehe mich um und betrachte meine Leidensgenossen, die lustlos an den Tischen hocken, blass und käsig im harschen Licht der Neonröhren, und mein Blick fällt auf Jonah, der in der gegenüberliegenden Ecke sitzt und liest, vermutlich in der Bibel, als würde ihn das alles nichts angehen. Schon komisch, dass er und Ezra als eineiige Zwillinge so unterschiedlich sind, obwohl sie sich total ähnlich sehen. Zum Schluss schreiben wir einander alberne Sprüche auf die T-Shirts, als hätte die Zeitverschwendung der letzten neun Jahre irgendeine tiefere Bedeutung, und dann ertönt der Gong zum Beginn der zweiten Schicht, und damit hat das Drama endlich ein Ende.

Kapitel 3

Die Entlassungsfeier. Wir müssen in Paradeuniform erscheinen. Für mich ist es das erste Mal, deshalb ist meine noch ungetragen, frisch aus der Verpackung, weißes Hemd mit Krawatte, grauer Blazer, der bis obenhin zugeknöpft wird, und ein komischer runder Hut mit demselben Ventura-Emblem wie auf unserer Alltagskleidung, aber kalt und silbern und aus Metall statt einfach nur aufgestickt. Einen Moment lang betrachte ich mich im Spiegel und denke über alles nach, versuche mir alles bewusst zu machen. Ab heute bin ich nicht mehr in der Erziehung. Ab heute bin ich offiziell im Dienst, zwei Jahre lang, verpflichtend, bis ich mich spezialisiere. Acht Stunden am Tag, fünf Tage die Woche. Und heute erfahre ich, mit wem ich den Rest meines Lebens verbringe, mit wem ich gentechnisch manipulierte Kinder bekomme, wen ich in Zukunft lieben soll.

Captain Katerina Lomax, besser bekannt als Captain Kat, die Frau, die den Laden hier schmeißt, seit unser ehemaliger Captain Lee vor gut vier Jahren gestorben ist, betritt die Bühne in ihrer marineblauen Kommandantenuniform. Sie ist erst Mitte dreißig und hat zwei seltsame Kinder und einen toten Ehemann, trotzdem ist sie auf der Karriereleiter beharrlich nach oben geklettert, bis sie genau da angekommen ist, wo sie hinwollte, nämlich ganz oben. Sie ist groß und blond und sagenhaft attraktiv, sodass man sich nicht lange fragen braucht, weshalb ihr alle Türen offen standen, aber sie hat ihre Chancen definitiv genutzt. Für meine Schwester ist sie der Herrgott persönlich, auch wenn sie diese Meinung nicht rechtfertigen kann und mich erst recht nicht von meiner Ansicht abbringt, dass Captain Kat ziemlich besessen ist und mir Angst macht. Dad sitzt direkt neben mir, Pan auf seiner anderen Seite, und in der Kälte des Versammlungssaals sehen wir zu, wie Captain Kat das Podium betritt.

»Wie ihr alle wisst, schreiben wir derzeit das vierundachtzigste Jahr, seit die Ventura die Erde verlassen hat, und es werden laut unserer Prognose noch zweihundertzweiundsechzig Jahre vergehen, ehe wir unser Ziel erreichen. Wir sind das Opfer, das die Menschheit erbracht hat, um herauszufinden, was sich hinter Epsilon Eridani verbirgt. Ja, ihr habt richtig gehört, ich spreche von Opfer. Ich will nicht abstreiten, dass wir im Namen dieser Mission ein gewaltiges Opfer erbringen.

Als die Ventura Communications Incorporated erstmals als Sponsor für das gemeinschaftliche SETI-Projekt der NASA und ESA auftrat, war wohl kaum jemandem bewusst, welch weitreichende Folgen das Projekt haben würde. Die verschlüsselte Botschaft, die aus dem Sternsystem Epsilon Eridani empfangen wurde, war nur der Anfang. Als diese Mission erstmals in Erwägung gezogen wurde, gab es eine Reihe von Problemen, die zunächst gemeistert werden mussten. An erster Stelle stand das Raumschiff selbst – kraftvoll, kernfusionsbetrieben, autark. Die Notwendigkeit, künstlich Schwerkraft zu erzeugen. Die Voraussetzung, praktisch jedes Nahrungsmittel aus Ei- und Fischproteinen zu synthetisieren sowie Wasser und Luft unbegrenzt zu filtern. Letztendlich blieb nur unsere eigene Sterblichkeit als schwächstes Glied der Kette. Als deutlich wurde, dass die Reise in einem einzigen Menschenleben nicht zu bewältigen wäre, wurde die Idee eines Mehrgenerationenschiffs ins Leben gerufen.

Wir sind eine der interstellaren Generationen. Wir haben die Erde nie gesehen; wir werden unser Ziel nie zu sehen bekommen. Dieses Raumschiff, auf seiner siebenhundertjährigen Reise, ist das Einzige, was wir jemals sehen werden. Was unsere Kinder je sehen werden. Was unsere Eltern je gesehen haben. Unsere Nachfahren werden das Ziel dieser Mission irgendwann erreichen, und ihre Nachfahren werden eines Tages zur Erde zurückkehren, mit den aufregendsten Neuigkeiten, die die Menschheit je erhalten wird. Doch in der Zwischenzeit dürfen wir nicht vergessen, wer wir sind. Wir müssen die Kultur, die Moral, die Ideale unserer Heimat stets bewahren.

Aus diesem Grund ist die Erziehung, die ihr mit dem heutigen Tag beendet, so entscheidend für den Erfolg dieser Mission, und ich weiß, jeder Einzelne von euch hat sein Bestes gegeben und jeden einzelnen Moment geschätzt. Nun ist es an der Zeit, dass ihr eure eigentliche Rolle an Bord dieses Schiffes übernehmt, euren eigenen Beitrag leistet und ein produktives Mitglied dieser Gesellschaft werdet. Und der erste Schritt auf diesem Weg ist der Eintritt in euren Dienst. Zwei Jahre lang werdet ihr in der Instandhaltung, der Produktion, dem Haushalt oder einer anderen Abteilung eingesetzt, um euren Fleiß, eure Zuverlässigkeit und eure Flexibilität unter Beweis zu stellen und eure wahre Berufung zu finden.

Euer Bund ist selbstverständlich ebenso wichtig. Und deshalb werdet ihr heute erfahren, welcher eurer Klassenkameraden euer zukünftiger Lebenspartner wird. Das Zuchtprogramm ist ein zentraler Grundpfeiler dieser Mission, und wir wissen, ihr werdet eure Rolle mit Stolz und Freude erfüllen, genau wie eure Eltern und Großeltern vor euch.

Daher ist es mir eine Ehre, nun ohne weitere Umschweife die Abschlussklasse des Missionsjahres 84 aufzurufen.«

Alle um mich herum klatschen, aber ich würde mich am liebsten übergeben. Pan greift umständlich an Dad vorbei und drückt meine Hand, während er meine Schulter zerquetscht und lächelt – lächelt, meine Güte –, als könnte das hier eine positive Wendung nehmen. Der Typ hat echt keine Ahnung.

Als ich wieder hinhöre, hat Captain Kat ausnahmsweise mal etwas halbwegs Interessantes zu berichten. »Bevor ich die jeweiligen Lebenspartnerschaften verkünde, habe ich noch eine weitere Neuigkeit für euch. Einer der diesjährigen Absolventen wurde für einen ganz besonderen Lebensweg auserwählt, und es ist mir eine große Freude, euch mitteilen zu dürfen, dass kein Geringerer als mein Sohn, Jonah Lomax, seine Berufung als Priester gefunden hat. Wir sind sehr stolz und überglücklich.« Sie klatscht enthusiastisch in die Hände und hat tatsächlich Tränen in den Augenwinkeln, perfekt positioniert, während Jonah aufsteht und wir anderen mit offenem Mund zusehen und denken: Wie krass ist das denn? Ich meine, diese Frau kennt echt keine Grenzen. Es kommt zwar nicht aus heiterem Himmel, weil er sich schon immer für so was interessiert hat, aber das ist eine echt bequeme Lösung für den unglücklichen Zufall, dass sich vor siebzehn Jahren eine Eizelle falsch geteilt hat. Ich sehe, wie Jonah mit benommenem Ausdruck die Bühne betritt und Pastor Seth ihm die lilafarbene Schärpe um den Hals legt, und ich bin mir nicht mal sicher, ob er mir leidtut oder ob ich ihn beneide, weil er gerade einen echten Ausweg aus diesem Schlamassel gefunden hat.

Jedenfalls bleibt mir keine Gelegenheit, darüber nachzudenken, denn Captain Kat ist mal wieder voll in ihrem Element, während sie bei gedimmtem Licht die neuen Lebenspartnerschaften verkündet. Auf der Leinwand erscheinen unsere Gesichter, begleitet von allgemeinem Jubel und Applaus. Okay, die gute Nachricht ist die, ich muss mich wenigstens nicht mit Arthur herumschlagen (das muss Phoebe), und Erica bekommt Nico (oh Mann, der ist echt der Schlimmste). Emme ist als Nächste dran, und unsere Blicke begegnen sich quer durch den Raum. Sie sitzt neben ihrer Mutter, ihrem Vater und ihrer Großmutter, die alle so aussehen, als würden sie vor Spannung platzen, und dann erscheint ihr Bild auf dem Display. Sie sieht echt hübsch aus, obwohl sie wusste, wofür das Foto sein soll, und man ihr die Panik leicht ansieht. Vor lauter Aufregung kann ich mir das Bild, das neben ihrem erscheint, kaum ansehen … aber es ist Leon Witney, und es hätte echt schlimmer kommen können. Ich meine, er ist zwar irgendwie seltsam und stottert, ein ziemlicher Langweiler, trotzdem schenke ich Emme ein Lächeln und hebe meinen Daumen, denn ich meine, hallo, es hätte auch Ezra sein können, und das wäre echt der Super-GAU, egal was sie sich da einredet.

Aber so langsam werde ich nervöser, und ich frage mich, welches Foto neben meinem erscheinen wird. Vorher sind noch ein paar andere an der Reihe, aber dann ist es so weit. Ich sehe mein Gesicht, total genervt und weiß wie die Wand, und daneben: Ezras nervige Visage. Ezra Lomax. Mein Lebenspartner. Der Vater meiner ungeborenen Kinder. Und als seine Mutter den Bund verliest, hat sie auch noch den Nerv, überrascht die Augenbrauen hochzuziehen. Dann sieht sie ihn an, ihren widerlichen Sprössling, vorn in der ersten Reihe, und Ezra wirft einen Blick über seine Schulter, sodass ihm die blonden Haare ins Gesicht fallen, wie in Slow Motion, und unsere Blicke begegnen sich flüchtig, bevor wir beide nach vorn gehen. Wir müssen tatsächlich aufstehen und unsere Beine bewegen, um uns die Zeugnisse abzuholen, und natürlich bekomme ich das alles mit, aber ich habe das Gefühl, es passiert gar nicht mir, sondern jemand anderem. Aber dann stehe ich plötzlich neben ihm, IHM, und die Hitze seines Arms vermischt sich mit der Hitze meines Arms, sodass ich ihn hastig zurückziehe, und über den Lärm der Menge hinweg (die ich vor lauter Panik nicht mal sehe) höre ich, wie er – was?! – leise summt. Er summt. Keine Melodie oder so, nur einen Ton, einen langen, flachen Ton, wie eine wütende Biene.

Hier ein paar Stichworte zu Ezra Lomax: arrogant, tyrannisch, selbstverliebt. Und wie ich hier so stehe, wird mir bewusst, dass ich es schon immer geahnt habe. Nicht im positiven Sinne, ich habe eher geahnt, dass mein Leben nichts Gutes bringen würde.

Hinterher stehen wir beide zusammen, und die Unterhaltung verläuft ungefähr so:

Er: »Also …«

Ich: »Also …«

Er: »Ist schon irgendwie, ähm …«

Ich: »Jep.«

Er: »Keine Ahnung, also …«

Ich: »Was?«

Er (die Hände in die Taschen geschoben, weil er nichts damit anzufangen weiß): »Keine Ahnung, ich meine …«

Ich: »Was?«

Er (lachend): »Mann, was weiß ich?«

Und um uns herum treten alle unbeholfen von einem Fuß auf den anderen. Ich meine, wir hatten unseren Applaus, und manche tupfen sich die Augen ab, und vermutlich sollte ich das Gefühl haben, an einem gigantischen Wendepunkt zu stehen, aber stattdessen habe ich einen trockenen Mund und fühle mich flau und verschwitzt, und meine Augen funktionieren nicht mehr richtig. Wahrscheinlich fühlt es sich genauso an, wenn man einen Gehirntumor hat. Und weil sich gerade alle zusammenrotten und in den Armen liegen, steht meine Familie plötzlich neben mir, und alle sehen mich an, als hätten sie irgendwie Angst, was ich als Nächstes tun könnte, sodass sie mir fast leidtun. Also zwinge ich mich zu einem Lächeln. Und als hätten sie nur auf mein Zeichen gewartet, fallen plötzlich alle über mich her, Dad zieht mich in eine Art Schwitzkasten und küsst mich aufs Auge, Cain legt einen Arm um meine Schulter und reicht Ezra seine freie Hand, Pan zerdrückt mir fast die Finger und beteuert überschwänglich, wie sehr sie sich für mich freut. Nur Grandpa blickt mir aus dem Hintergrund tief in die Augen, stattlich und unnahbar in seiner schwarzen Paradeuniform des Sicherheitsdienstes, in der er wie immer alles überwacht, doch dann zwinkert er mir unmerklich zu.

Ich beobachte, wie Dad Ezras Hand ergreift und ihm gleichzeitig auf den Rücken klopft, sodass dieser einen Schritt vorwärtstaumelt. »Freut mich«, sagt er, um sich selbst davon zu überzeugen. Ich weiß nämlich mit ziemlicher Sicherheit, dass Dad von ihm und seiner Familie nicht allzu viel hält, aber wahrscheinlich denken alle, als Sohn des Kapitäns ist er irgendwie wichtig, und das hat bestimmt seine Vorteile, welcher Art auch immer. Aber eigentlich will ich es gar nicht herausfinden.

Jedenfalls ist Captain Kat inzwischen fertig mit Jonah und ihrem mütterlichen Getue (jeder weiß, dass er ihr Liebling ist, aber sie hat auch keine große Auswahl, wenn man die Alternative betrachtet), also kommt sie zu uns herüber und steht plötzlich neben mir, einen melodischen Seufzer auf den Lippen, ihren verzückten Blick fest auf mich gerichtet, ein diamantenes Funkeln in ihren himmelblauen Augen.

»Was für ein Freudentag! Was für ein Geschenk, hier nebeneinander stehen zu dürfen und auf ein gemeinsames Leben voller Glück und Harmonie zu blicken«, sagt sie, und ich denke mir im Stillen, dass Dad vollkommen recht hat, sie trägt echt viel zu dick auf. Captain Kat ist genau die Art von Person, die man besser am Bildschirm betrachtet; für die Realität ist sie einfach zu überwältigend – zu groß, zu blond, zu was weiß ich.

Anstatt mich oder Ezra zu umarmen, legt sie uns beiden eine Hand an die Wange, lässt ihren Blick zwischen uns schweifen und tut so, als würde sie gleich anfangen zu heulen. Im nächsten Moment ergreift sie Dads Hand, dann Pandoras, dann Cains, doch ohne die drei zu beachten, denn in Wirklichkeit ist sie unterwegs zu Grandpa.

»Ah, Joshua«, sagt sie, als sie ihn erreicht. Ihre Hand greift nach seinem Ellbogen, dort wo er sich die Kappe unter den Arm geklemmt hat. »Ist das nicht absolut perfekt? Wie hätten wir uns das erhoffen können? Unsere Familien wurden geprüft, gebrochen. Nun können wir endlich heil und unversehrt in eine gemeinsame Zukunft blicken. Ich bin überwältigt von Gottes Gnade.«

Ich beobachte Grandpa, der Ezra von der Seite her mustert, während dieser mit mürrischem Blick an seinen Haaren herumfummelt, was total lächerlich wirkt, erst recht nach Grandpas Maßstäben. Er sieht fast aus, als würde er sich fragen, wie es nur dazu kommen konnte, vor allem nachdem er mit unserem alten Captain so eng befreundet war, weil sich die beiden schon aus der Erziehung kannten. Captain Lee hat alles auf seine ganz eigene Art gehandhabt, aber seit Captain Kat am Ruder sitzt, weht hier ein frischer Wind, nur leider nicht im positiven Sinne.

Jedenfalls geht das eine Zeit lang so weiter, und irgendwann gibt es Sekt (unser erster offizieller Alkohol) und so ein widerliches Gebäck in der Farbe von rohem Fleisch. Wir sollen uns anscheinend unterhalten, aber das tun wir nicht. Besser gesagt, ich nicht. Ich stehe einfach nur da, während die anderen quatschen, und wenn mal jemand etwas zu mir sagt, antworte ich nur »Was?«, denn ich höre überhaupt nicht zu. Und irgendwann kommt dieser furchtbare Moment, als einer aus der Kultur herumgeht, um von uns allen Fotos zu machen, und obwohl ich kein Wort mitbekomme, tritt er auf uns zu, und mir wird bewusst, dass er ein Bild von Mr und Mrs Lomax in spe machen will. Also stellen wir uns nebeneinander, und als Ezra einen Arm um mich legt, rieche ich sein widerliches Deo, ekelhaft süß, mit einer Note von Urin oder so. Ich kann an nichts anderes denken als an diesen peinlichen Moment, als wir uns mal bei einem Schulausflug in der Technik »verlaufen« haben, weil er zu mir meinte, er hätte ein eigenes Shuttle und könnte echt fliegen, dabei wollte er sich nur an mich ranschmeißen. Und jetzt stehen wir hier nebeneinander, seine Hand liegt an meinem Rücken, und er tippt mit den Fingern, tipp tipp tipp. Wahrscheinlich Morsecode oder so was, aber ich will es gar nicht so genau wissen.

Kapitel 4

Es ist nicht fair, dass Dad und Pan, meine engsten Familienmitglieder, einfach so beschließen, ich hätte psychische Probleme oder Depressionen, nur weil ich nach der Entlassungsfeier gleich in mein Zimmer gehe und mich tagelang weigere, etwas zu tun oder zu sagen. Eigentlich ist doch die Tatsache, dass ich diesen Ort und seine Regeln so hasse, der beste Beweis dafür, dass ich hier die Einzige bin, die noch bei klarem Verstand ist.

»Du hast doch gefragt, wie es mir geht. Ehrlich gesagt wünsche ich mir manchmal, ich würde gar nicht existieren.« Sobald die Worte raus sind, wird mir bewusst, dass ich sie besser nicht gesagt hätte, weil ich damit Dads empfindlichsten Nerv treffe. Über seiner Oberlippe bildet sich eine tiefe Falte, wie immer, wenn er sich wegen etwas sorgt. Ich habe den Bogen definitiv überspannt.

»Seren, ich bringe dich jetzt in die Medizinische Abteilung zu Dr.Maddox, und zwar in deinem eigenen Interesse.« Selbst Dad verliert irgendwann mal die Geduld.

»Nein.« Aber ich bin nicht wütend, nur furchtbar traurig, als hätte ich einen riesigen Kloß im Hals, groß wie eine Kaffeetasse, unmöglich herunterzuschlucken, geschweige denn damit zu reden, und ich habe das Gefühl, über meinen Lippen bildet sich die gleiche Falte wie bei Dad.

Mit einem ratlosen Seufzer reckt er die Arme hinter den Rücken und stößt versehentlich gegen mein Regal, das nur ein einziges Buch enthält, Zärtlich ist die Nacht, ein Erbstück von Uroma Bea, mittig aufgeschlagen und dunkelgrau von Staub. Er starrt das Buch einen Moment lang an. »Du hast früher so viel gelesen, Seren. Jetzt liest du überhaupt nicht mehr.«

»Dad …«

Aber er hebt seine Hand und spricht weiter. »Ich habe dich nie von deinem Pod losreißen können. Du wolltest mal die ganze Bibliothek abarbeiten, so sehr hast du das Lesen geliebt. Warum hast du damit aufgehört?«

Ich zucke mit den Schultern. »Das macht doch alles keinen Sinn. Ich meine, was bringt es schon, von einem Leben in einer anderen Welt zu lesen, die es vielleicht gar nicht mehr gibt, schließlich bekommen wir eh nichts anderes zu sehen als diesen beschissenen Ort. Graue Wände, graue Decken, graue Uniformen … diese Kälte, diese Dunkelheit …« Ich schüttele den Kopf, während ich jedes einzelne Wort bereue. Nicht, weil es nicht stimmt, sondern weil ich alles nur noch schlimmer mache.

Dad stützt sich auf die Knie und nimmt die Kappe ab, um über seinen Kopf zu fahren, vor und zurück, vor und zurück, bis ihm alle Haare zu Berge stehen. An seinem Hals prangt ein großer roter Fleck, er nennt das Ausblühungen von der eisigen Kälte in der Produktionsabteilung. Mit einem Mal werde ich total sauer, weil er einfach zulässt, dass ihm ständig kalt wird. Weil er zulässt, dass er einsam und allein ist, genau wie ich.

»Ich sehe einfach keinen Sinn in dem Ganzen«, sage ich.

Er mustert mich, setzt die Kappe wieder auf, fasst sich an die Nase und sieht zu Boden. Das hat er alles schon mal mit mir durchgekaut.

»Der Sinn liegt auf der Hand: Man steht morgens auf, geht zur Arbeit, kommt nach Hause und liebt seine Familie, ganz einfach. Das ist der Sinn. Immer weitermachen. Einfach weitermachen. Das schulden wir unseren Kindern und deren Kindern und all unseren Nachkommen. Das ist auf der Ventura nicht anders als auf einem Planeten, Seren. Du bildest dir ein, es müsse noch etwas anderes geben. Du bildest dir ein, etwas zu verpassen, das es nicht gibt.«

»Woher willst du das wissen?«

»Ich …« Er zuckt mit den Schultern und beugt sich noch weiter vor. »Ich weiß es ganz einfach, Süße. Glaub mir.«

Ich starre hinauf zum Lüftungsgitter und wünsche mir verzweifelt, nicht in diesem elenden Raum gefangen zu sein, denn so fühlt es sich in diesem Moment an.

Dad legt mir eine Hand aufs Knie. »Seren, du hast einen vielversprechenden Lebensweg vor dir. Ich weiß nicht, warum du das nicht einsiehst. Warum du deiner Zukunft nicht mit frohem Herzen entgegenblickst.«

»Ist das dein Ernst? Ich soll dieses arrogante Arschloch von Lomax heiraten und seine Kinder herauspressen, nur damit sie genauso in dieser Konservendose festsitzen und irgendwann hinaus in den Weltraum gespült werden, zusammen mit den Fäkalien?«

»Du willst das Gute einfach nicht sehen, und der letzte Mensch, der mir gegenüber so geredet hat, war sehr krank …« Natürlich spricht er von meiner Mutter, die sich kurz nach meiner Geburt aus der Druckschleuse ins Vakuum hat reißen lassen.

»Meinst du wirklich, sie war krank? Meinst du nicht, sie hatte das Ganze einfach nur satt? Sie hatte dich satt?«

Kein Wunder, dass er daraufhin aufsteht und hinausgeht, und ich fühle mich so mies, dass er mich damit rumkriegt, ohne überhaupt diskutieren zu müssen.

Also gehe ich brav in die Medizinische Abteilung, aber ich kann zumindest verhindern, dass mein Vater mitkommt. Und somit sitze ich jetzt hier im Wartezimmer. Jedem ist natürlich bewusst, dass heute Abend die Sprechstunde für psychische Erkrankungen stattfindet, also beobachten wir einander aus dem Augenwinkel heraus und fragen uns, wer wohl der Verrückteste ist. Die meisten haben eine Begleitperson dabei. Ich erkenne einen jungen Typen aus der Kultur, der mit seiner Mutter hier ist. Außerdem sind da noch zwei ältere Frauen.

Und Domingo Suarez.

Als ich ihn bemerke, unterhält er sich mit den beiden Frauen, und zwar auf Spanisch, obwohl die Sprache kaum noch jemand beherrscht, deshalb bin ich total fasziniert, als würde jemand einen Zaubertrick aufführen. Irgendwann fällt ihm auf, dass ich ihn beobachte, und er blickt immer mal wieder in meine Richtung, als wollte er mich in die Unterhaltung mit einbeziehen, obwohl ich kein Wort verstehe. Dann macht er anscheinend einen Witz, denn seine Tanten, oder wer immer sie sein mögen, lachen laut los, genau wie er selbst, und alle klopfen sich auf die Schenkel.

Erst jetzt bemerke ich seine Lippen. Sie sind zart und voll, dunkel vor seinen weißen Zähnen und wunderschön, vor allem, wenn er lächelt. Und sein Haar glänzt so schwarz wie Wasser in der Nacht. Ich bin total verblüfft, dass mir noch nie aufgefallen ist, wie attraktiv der Typ ist.

Keine Ahnung, wie ich in dem Moment aussehe, aber es muss schon ziemlich bescheuert wirken, weil ich ihn mit offenem Mund anstarre, und als er mich dabei erwischt, erstirbt sein Lächeln. Er wendet sich wieder den beiden Frauen zu, aber man kann sehen, dass sein Grinsen aufgesetzt wirkt, irgendwie abgelenkt, und kurz darauf entschuldigt er sich und steht auf, als wollte er gehen, aber stattdessen kommt er zu mir rüber.

Zuerst ignoriere ich ihn, weil mir die Situation dermaßen peinlich ist, dass ich auf meinen Pod starre und so tue, als würde ich lesen, dabei gleiten meine Augen immer wieder über dieselben paar Worte. Er mustert mich von der Seite, beobachtet mein Gesicht, dann blickt er auf seine Hände, die locker zwischen seinen Knien ruhen. Dann mustert er mich erneut. Irgendwann bewegt er seinen Ellbogen in meine Richtung, um mich leicht anzustupsen, also muss ich ihn natürlich ansehen, was ich auch tue, und zwar mit einem strafenden Blick, aber ich kann mir mein Grinsen nicht verkneifen. Er sieht mir in die Augen, grinst, imitiert meine Grimasse, grinst erneut.

»Du erkennst mich nicht mehr, oder?« Seine Frage bringt mich völlig aus dem Konzept, weil ich mir ziemlich sicher war, dass er mich nicht mehr erkennt. »Ich war mit deiner Schwester zusammen in Erziehung.«

»Ich … du …?« Ich starre ihn an.

»Ich … du …«, erwidert er spöttisch, während er mir grinsend seine weißen Zähne zeigt.

Im diesem Moment meldet sich die Frau am Empfang. »Seren Henson?« Ich bin an der Reihe, gleichzeitig erscheint, BIEP, mein Name auf dem Display, in zwanzig Zentimeter großen Buchstaben, hoch oben an der Wand. Ich schlucke nervös.

Domingo blickt vom Display zu mir und wieder zum Display und wartet darauf, dass ich aufstehe und hineingehe. Als ich reglos sitzen bleibe, lacht er verschmitzt. Er beugt sich zu mir vor und flüstert hinter vorgehaltener Hand: »Wollen wir uns aus dem Staub machen, Seren?«

»Ich kenne dich doch überhaupt nicht«, sage ich.

»Natürlich kennst du mich. Ich dachte, das hätten wir geklärt. Ich war mit deiner Schwester in Erziehung.«

BIEP. Mein Name leuchtet erneut auf, und inzwischen starren mich alle an, einschließlich der beiden Tanten, die ich ganz vergessen habe. Ich sitze einfach nur da und denke, vielleicht muss ich gar nicht diese Person sein, die da im Wartezimmer sitzt, um mit ihrem Seelenklempner zu reden. Als ich vorhin hier hereingekommen bin, gab es nur diese eine Möglichkeit, aber jetzt gibt es mit einem Mal total viele, und alle sind tausendmal besser.

»Na los«, sagt er, und obwohl er nur leicht den Kopf neigt und mit der Schulter zuckt, fühle ich mich auf magische Weise ermutigt, ihm zu folgen, hinaus aus dem Wartezimmer, über den Gang der Medizinischen Abteilung, vorbei an mehreren Bildschirmen, auf denen ebenfalls mein Name steht, bis zum südlichen Hauptkorridor. Erst als wir die medizinische Abteilung weit hinter uns gelassen haben, sehen wir uns erneut an. Ich bleibe entsetzt stehen.

»Deine Tanten!«

Er lacht. »Meine was?«

»Deine beiden Tanten, deine Familie, was weiß ich. Du hast sie einfach da sitzen lassen.«

Er macht eine wegwerfende Handbewegung. »Ich war nicht mit denen da. Wir kennen uns nur zufällig.«

Er steckt die Hände in die Taschen und geht in meinem Tempo weiter, aber weil er so groß ist, macht er einen Schritt, wo ich zwei mache. Aus demselben Grund muss er sich nach unten beugen, um mir in die Augen zu blicken. Als hätten wir uns stillschweigend abgesprochen, redet keiner davon, was wir in der Sprechstunde wollten. Stattdessen sagt er: »Seren Henson, Pandoras Schwester, meine neue Bekannte – was willst du jetzt machen, nachdem du dem Fegefeuer des Wartezimmers entkommen bist?«

Ich zucke mit den Schultern. »Ehrlich gesagt, habe ich keinen Plan.«

»Keinen Plan, hm?«, erwidert er. »Gefällt mir.«

Wie er mich in diesem Moment ansieht, ohne den Augenkontakt zu unterbrechen, während sein Arm dicht neben meinem ruht, ohne ihn zu berühren, das alles ist so überwältigend intensiv, dass ich nicht die geringste Chance habe, Nein zu sagen, als er mich fragt: »Soll ich dir mal was Cooles zeigen?«

Er fordert mich auf, ihm zu folgen, und wir gehen zu den vertikalen Transportern am südwestlichen Rand der Plaza. »Du sprichst echt Spanisch?«

Er grinst. »Gut erkannt.«

»Ich dachte, das kann heute keiner mehr?«

»Manche schon. Die Auserwählten.« Ich sehe, wie sich sein Adamsapfel bewegt, dann muss er lachen. »Nein, ist einfach nur so … wenn zwei Partner in einem Bund mit Spanisch aufgewachsen sind, dann geben sie es an ihre Kinder weiter. Bestimmt stirbt die Sprache bald aus.«

»Schade.« Ich lächele verkniffen. »Gefällt mir. Klingt irgendwie schön.«

»Sollte ich mir merken: in Zukunft öfter Spanisch sprechen.«

Ich quittiere seinen Kommentar mit einem Lachen. Höchste Zeit, das Thema zu wechseln. »Wo gehen wir eigentlich hin?«

Er lehnt sich gegen die Wand und verschränkt die Arme. »Magst du keine Überraschungen, Seren?«

Ich denke darüber nach. »Ehrlich gesagt habe ich damit wenig Erfahrung.«

Ich spüre, wie sein Lächeln auf meine eigenen Züge überspringt.