Wirtschaft im Kontext - Oliver Schlaudt - E-Book

Wirtschaft im Kontext E-Book

Oliver Schlaudt

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Beschreibung

Die Wirtschaftswissenschaften befinden sich im Umbruch. „Humankapital“ und „Naturkapital“ treten neben das traditionelle Produktionskapital, zur Lohnarbeit gesellen sich „unbezahlte Arbeit“ und „Dienstleistungen des Ökosystems“. Aber erlauben es diese Begriffsbildungen wirklich, ein ganzheitliches Bild von der Wirtschaft in ihren Verwebungen mit der Gesellschaft und der Umwelt zu zeichnen und die gefährliche Dynamik der großen Krise, in welcher wir leben, zu entschlüsseln? Oder setzen sie lediglich das ökonomische Denken in fataler Weise fort? Dieses Buch führt am Leitfaden aktueller Methodendebatten und heterodoxer Fragestellungen in die Philosophie der Wirtschaftswissenschaften ein.

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Oliver Schlaudt

Wirtschaft im Kontext

Eine Einführung in die Philosophie der Wirtschaftswissenschaften in Zeiten des Umbruchs

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Originalausgabe

© Vittorio Klostermann GmbH · Frankfurt am Main · 2016

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des Nachdrucks und der Übersetzung. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Werk oder Teile in einem photomechanischen oder sonstigen Reproduktionsverfahren oder unter Verwendung elektronischer Systeme zu verarbeiten, zu vervielfältigen und zu verbreiten.

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

ISSN 1865-7095

ISBN 978-3-465-24264-2

Inhalt

Titel

Impressum

1Einleitung

2Die Orthodoxie der Neoklassik: Wirtschaft als autonomer Prozess

2.1Überblick Ökonomie

2.2Allgemeine Gleichgewichtstheorie

2.3Autonomie – Reversibilität – Unendlichkeit

2.4Eine Sozialwissenschaft wider Willen

3Wirtschaft in einer sozialen Welt: Der homo œconomicus in der Gesellschaft

3.1Der Neoklassik logische Not

3.2An den Klippen der Empirie

3.3Wille oder Zwang?

3.4Machtverhältnisse

4Wirtschaft in einer gemeinsamen Welt: an den Grenzen von Markt und Eigentum

4.1Die ›Tragödie der Allmende‹

4.2Wissen: Eigentum oder Gemeingut?

4.3Unbezahlte Arbeit

5Wirtschaft in einer endlichen Welt: Ökologische Ökonomie

5.1Wachstum

5.2Was kostet die Welt?

5.3Teufelsstaub

6Wirtschaft in einer historischen Welt: globale und historische Perspektiven

6.1Metaphern oder Theorien?

6.2Weltgeschichte

6.3Krise

6.4Die Zukunft

Danksagung und credits

Literatur

Personenverzeichnis

Fußnoten

1 Einleitung

Das vorliegende Buch soll den Leser in die Philosophie der Wirtschaftswissenschaften einführen, und zwar auf eine neue und zeitgemäße Weise, die der heutigen Realität Rechnung trägt: Unsere Gesellschaft erlebt eine umfassende Krise, aber die Wirtschaftswissenschaften, von denen wir in diesem Moment in besonderem Maße Aufschluss über unser Geschick erhoffen würden, hat just dasselbe Geschick ereilt. Auch sie erlebt eine Krise und ist in einer heftigen Methodendiskussion befangen. Allein, zumindest für die Philosophie mag der missliche Moment günstig sein, da sich eine seltene Gelegenheit bietet, einen Blick hinter die Kulissen in das offenliegende begriffliche Räderwerk der Ökonomie zu werfen.

Philosophie der Ökonomie und Wissenschaftstheorie

Diese philosophische Auseinandersetzung mit den Wirtschaftswissenschaften stellt – formal betrachtet – einen Spezialfall der Wissenschaftstheorie dar, die sich allgemein mit den Grundlagen, Methoden und Grenzen der empirischen Wissenschaften auseinandersetzt. Im Fall der Ökonomie erhält die philosophische Analyse mitunter eine neue, unvorhergesehene Relevanz, da sich auch Kritiker der herrschenden Lehre der Wirtschaftswissenschaften von der Philosophie Schützenhilfe und Orientierung erhoffen. Dabei ist fraglich, ob ihnen die bestehende Literatur der vergangenen Jahrzehnte wirklich weiterhelfen kann. Die philosophischen Theorien der Sozialwissenschaften im Allgemeinen und der Ökonomie im Besonderen krankten im 20. Jahrhundert nämlich an einer einseitigen Orientierung an der Physik, die als Königin der Wissenschaften galt. Dies war einerseits sicherlich auch ihrem frühen Erfolg geschuldet, der die Physik zum Vorbild für die anderen Wissenschaften prädestinierte. Andererseits hat dies aber auch einen systematischen Grund darin, dass die Physik die grundlegendste der Wissenschaften zu sein scheint: Jeder soziale, aber auch schon jeder chemische oder biologische Prozess ist auch ein physischer Prozess, aber nicht umgekehrt.

Die Wirtschaftswissenschaften haben diese Sichtweise nur befördern können, indem sie sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bewusst die Physik zum Vorbild nahmen und ökonomische Prozesse so fassen und erklären wollten, wie die Physik dies mit den ihrigen tut. Die Sozialwissenschaften mussten so fast zwangsläufig als ›schmutzige‹ Physik betrachtet werden – und sogar auch sich selbst so betrachten.

Die ›schmutzige‹ Seite besteht dabei in der merkwürdigen Stellung des Menschen zu den ökonomischen Gesetzen, die zwar einerseits als Zwangsgesetze auf die Menschen wirken, aber andererseits nur durch sie und ihre Handlungen wirken. Während die Naturgesetze ausnahmslos und unerbittlich über die Materie im Großen wie im Kleinen gebieten, brechen sich die sozialen Gesetze auf nicht leicht zu erfassende Weise an Individuum und Gesellschaft. Betrachten wir zwei Texte aus der klassischen Literatur, in welchen dieser Sachverhalt problematisiert wird.

Kant beobachtet eingangs seiner Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht von 1784, dass beispielsweise Eheschließungen und Geburten, »da der freie Wille der Menschen auf sie so großen Einfluß hat, keiner Regel unterworfen zu sein [scheinen], nach welcher man die Zahl derselben zum voraus durch Rechnung bestimmen könne,« aber die statistische Erfassung in großen Ländern gleichwohl einen Verlauf dieser kollektiven Größen »nach beständigen Naturgesetzen« enthüllt.1 Hier realisieren sich die sozialen Gesetze im statistischen Schnitt mit derselben Unerbittlichkeit, während sie dem Einzelnen alle Narrenfreiheit lassen.

Ganz anders erscheint dies bei Karl Marx. An einem Beispiel, auf welches wir noch zurückkommen werden, diskutiert er, dass sich der einzelne Unternehmer in seiner Lohnpolitik nicht gegen den Markt stemmen kann, sondern dazu verurteilt ist, sich den Konkurrenten anzupassen. Hier erscheint es so, dass die sozialen Gesetze gerade dem einzelnen gegenüber unbarmherzig durchgesetzt werden, während eine Gesellschaft als Ganze sich durchaus über sie hinwegsetzen kann. Denn ob es überhaupt einen Markt für Arbeitskraft geben soll, steht der Gesellschaft frei, und Marx optierte bekanntlich für eine andere Lösung.

Kant fasste die sozialen Gesetze mithin grosso modo als deterministische Makrogesetze, die den Individuen auf der Mikroebene ihre Freiheit lassen, sich aber in der Summe ihrer Handlungen gleichwohl verwirklichen. Marx verstand sie hingegen als Gleichförmigkeiten, die gerade durch selbstregulierende Sanktionsmechanismen auf Mikroebene durchgesetzt werden, während sie auf der Makroebene doch eher als Regeln denn als Gesetze erscheinen, nämlich einen konventionellen, historischen und veränderbaren Charakter offenbaren. In jedem Fall zeigt sich der Unterschied zu den Naturgesetzen, dass die sozialen Gesetze zwar einerseits als Zwangsgesetze auf die Menschen wirken, aber andererseits nur durchsie wirken, wodurch sich ihr Korsett auf der einen oder anderen Ebene zu lockern scheint.

Da sie diesen Unterschied nur als einen Makel auffassten und am Leitbild der Physik festhielten, schien es den Wissenschaftsphilosophen nicht geboten, eine eigene Theorie der Sozialwissenschaften zu entwickeln. Es reichte, die an der Physik gewonnenen Erkenntnisse einfach auf die Sozialwissenschaften zu übertragen, und insbesondere auch die gewohnten Fragestellungen wieder ins Zentrum zu rücken: Was ist eine Erklärung, was ein Modell, was sind Gesetze und welches ist ihre induktive Basis, welche Rolle spielt die Kausalität dabei usw. usf. (zur Fortführung schlage man das Inhaltsverzeichnis einer beliebigen Einführung in die Wissenschaftstheorie auf). Jede Abweichung der Sozialwissenschaften konnte einfach der mangelnden Perfektion dieser schmutzigen Disziplinen zugeschrieben werden. Dies entspricht in der Tat ziemlich genau der Haltung und dem Selbstbewusstsein, welche die einflussreichen Wissenschaftsphilosophen der Nachkriegszeit gegenüber den Sozialwissenschaften an den Tag legten.

Ausgerechnet bei diesen Philosophen suchen Kritiker der herrschenden ökonomischen Lehre heute Rat. Dabei stellt die Übertragung von der Physik auf die Sozialwissenschaften eine schwere Hypothek dar. Man kann nämlich erstens schon Zweifel daran hegen, ob die Klassiker der Wissenschaftstheorie an der Physik überhaupt einen adäquaten Begriff von Wissenschaft gewonnen haben. Sie tendierten in der Tat dazu, Wissenschaft auf Theorie zu reduzieren, und in ihren Konzeptionen nahmen dementsprechend die Begriffe von Hypothese und Gesetz eine zentrale Stellung ein. Dieses Bild wurde in den letzten Jahrzehnten ziemlich durcheinander geschüttelt und wich einer Auffassung, welche den praktischen, lokalen und historischen Zügen der Forschung viel mehr Raum gibt, zugleich aber auch in der Abgrenzung von Wissenschaft gegen Nicht-Wissenschaft vorsichtiger ist. Dies ist ein ziemlich triftiger Aspekt, insofern die Kritiker der Wirtschaftswissenschaften diese oft an einem starken normativen Wissenschaftsideal messen, welches seinerseits einem unrealistischen und bisweilen etwas kitschigen Bild von der Physik entstammt. Demgegenüber ist es ein Anliegen dieses Buchs, mit realistischeren und behutsameren wissenschaftstheoretischen Annahmen zu arbeiten.

Im gleichen Zuge, wie sich das Bild der physikalischen Forschung wandelte, wurde aber auch zweitens deutlich, dass die Physik mitnichten die Fundamentalwissenschaft sein muss, für die sie gehalten wurde. Dass jeder soziale oder biologische Prozess auch immer ein physischer ist, verbürgt nicht logisch, dass er in letzter Instanz auch allein durch seine physischen Eigenschaften erklärt werden kann. Es war dies lediglich ein Versprechen. Im bis heute einflussreichen Wiener Kreis beispielsweise ist es in der Behauptung verkörpert, die physikalische Sprache sei die Universalsprache. Dieses Versprechen wurde allerdings niemals eingelöst.

Die großen Methodendebatten, einst und heute

Wissenschaftsphilosophen – und viel mehr noch -historiker – sind heute geneigter, eine Vielheit der Wissenschaften zu akzeptieren, deren jede einzelne beanspruchen darf, für sich und in ihren Eigenheiten erfasst zu werden. Für die Sozialwissenschaften gibt es dazu sogar in der deutschsprachigen Literatur im Prinzip eine historische Blaupause, denn diese Wissenschaften haben in ihrer Entwicklung einige große Methodendebatten erlebt, die einen Zugang zu ihrer Spezifik in Aussicht stellen:

– Die als Historismusstreit in der deutschen Nationalökonomie bekannte Auseinandersetzung zwischen Carl Menger und Gustav Schmoller in den 1880er Jahren über die Bedeutung einer genuin historischen Methode für die Erforschung des Wirtschaftsprozesses;

– der um 1900 zwischen Schmoller und diesmal Max Weber ausgetragene Werturteilsstreit über die Frage, ob sozialwissenschaftliche Forschung gesellschaftspolitische Maßnahmen zu rechtfertigen vermag;

– der zwischen Theodor W. Adorno und Karl Popper Mitte der 1960er Jahre vielmehr inszenierte als ausgetragene Positivismusstreit über die Interpretation empirischer Daten, in welchem die Grundfragen des Werturteilsstreit über das Verhältnis von Theorie und Praxis, Subjekt und Objekt wieder aufgenommen wurden;

– endlich müsste man auch den Individualismusstreit darüber nennen, ob sich die Eigenschaften der Gesellschaft durch die der Individuen erklären lassen oder vielmehr umgekehrt. Dieser Streit, obgleich schon im 18. Jahrhundert mit Jean-Jacques Rousseaus Kritik an Thomas Hobbes virulent, schwelte allerdings immer nur, ohne je zu einem Aufsehen erregenden Eklat zu kommen.

Aber selbst die jüngste dieser Debatten datiert Jahrzehnte zurück und fällt somit weit vor das Auftauchen der einzelnen Facetten jener allmählich Gestalt annehmenden multiplen Krise, die die Wirtschaftswissenschaften heute auch für ein allgemeineres Publikum interessant machen. Die Wirtschaftswissenschaften sehen allerdings auch heute eine lebhafte Methodendiskussion. Diese Diskussion, die nun nahezu ausschließlich in der englischen Sprache geführt wird, hat – soviel sei zugestanden – im Grunde den Problemkreis der vier alten großen Debatten nicht verlassen. Gleichwohl präsentiert sie die alten Probleme befreit vom Staub der vergangenen Jahrzehnte.

Außenstehende, die ein gewisses Grundvertrauen in die Wissenschaften haben, mögen gar erstaunt sein über den harschen Ton der heutigen Kritik, welche nicht einzelne Hypothesen, sondern im Grunde die Gesamtheit des Lehrbuchwissens infrage stellt. 1982 bemängelte der Nobelpreisträger und zeitweilige Präsident der American Economic Association Wassily Leontief eine »Aversion gegen Empirie« in seinem Fach, welches sich allein auf mathematische Modelle versteift: »Seite für Seite werden die ökonomischen Fachzeitschriften mit mathematischen Formeln gefüllt, die den Leser von einigen mehr oder minder plausiblen, aber vollkommen willkürlichen Annahmen zu präzise formulierten, aber irrelevanten theoretischen Schlussfolgerungen führen.«2 Thomas Piketty drückte denselben Gedanken, der 30 Jahre später seine Aktualität nicht eingebüßt hat, jüngst etwas charmanter aus: Er sei als junger Ökonom von seinen Fachkollegen sehr geschätzt worden, obgleich er sich bis dahin nur mit einigen ziemlich abstrakten mathematischen Theoremen befasst hatte und von den ökonomischen Problemen der Welt im Grunde nichts wusste noch verstand.3 Mit dieser Haltung haben sich die Ökonomen angesichts der Finanzkrise von 2008 endlich auch in einer größeren Öffentlichkeit gründlich blamiert. Sogar die englische Königin Elisabeth II. sah sich bemüßigt, gelegentlich eines Besuchs der London School of Economics einmal nachzufragen, warum denn niemand bemerkt habe, dass sich eine Kreditkrise anbahnte. Die Antwort führender Ökonomen der British

Academy spricht Bände. Am Ende von zwei oder drei Seiten nichtssagender Ausführungen ihres Antwortschreibens fassen sie zusammen, man habe es mit einem »Versagen der kollektiven Vorstellungskraft vieler kluger Leute« zu tun gehabt, wobei sie mit den »klugen Leuten« sich selbst meinen und ihr Versagen offenbar noch immer nicht fassen können.4

Das Bild des weltabgewandten und etwas naiven Liebhabers mathematischer Modelle mag freilich selbst irreführend sein, da die Ökonomen sehr wohl eine sehr konkrete Rolle in der wirklichen Welt spielen. Wenn sie die Kurbel ihrer komplizierten formalen Modelle drehen, weiß man schon vorher mit vollkommener Sicherheit, welches das Ergebnis sein wird: dass nämlich allein der freie, unregulierte Markt zu einem optimalen Ergebnis führen wird. Jeder Eingriff wird relfexartig abgewehrt, sei dies nun der Mindestlohn, Umweltschutzauflagen oder das Wirken von Gewerkschaften. Joseph Stiglitz hält seinem Fach kurzum vor, als »cheerleader des laissez-faire-Kapitalismus« zu wirken.5

Das Konzept ›Wirtschaft im Kontext‹

Ökonomen, die in der harten Auseinandersetzung mit Fakten, Modellen und Kollegen befasst sind, wie sie den Alltag des wissenschaftlichen Arbeitens ausmacht, mögen diese Darstellung für eine Karikatur halten. Vor allem werden sie sich wohl nicht von einem Philosophen, der nichts als Einsichten aus zweiter Hand zu bieten hat, die Grundlagen ihrer Arbeit für nichtig erklären lassen wollen.

Dies ist aber auch nicht die Absicht des vorliegenden Buches. Diesem Buch liegt vielmehr die Beobachtung zugrunde, dass die Wirtschaftswissenschaften heute in der Forschung und vielleicht auch in der Lehre allmählich in Bewegung geraten. Zahlreiche alternative Ansätze sind aufgetaucht und haben sich teilweise sogar schon institutionalisiert. Sie umfassen die ökologische Ökonomie, Neue Institutionenökonomie, eine historische Makroökonomie, feministische Ökonomie sowie Ansätze unter Einbeziehung aktueller Forschungsergebnisse anderer empirischer Humanwissenschaften (behavioral economics, neuroeconomics, evolutionary economics). Das vorliegende Buch setzt an dieser Vielheit von Alternativen an und versucht sich über sie ein Bild der Wirtschaftswissenschaften in ihrer Eigentümlichkeit zu machen. Es handelt sich also nicht um eine Kritik der Orthodoxie, sondern um eine philosophische Lektüre der Heterodoxie. (Dass sich eine solche Lektüre heute geradezu aufdrängt, werden wir gleich sehen.)

Die hier übernommene Rede von »Orthodoxie« und »Heterodoxie« hat sich in den vergangenen Jahren zwanglos herausgebildet. Wenngleich sie einen Aspekt des heutigen Feldes der Ökonomie treffend beschreibt, so muss dennoch eingeräumt werden, dass sie zumindest in der Anwendung auf einzelne Personen irreführend sein kann. Zu den wichtigsten Gewährspersonen für heutige heterodoxe Ökonomen gehören Autoren wie Kenneth Arrow, Wassily Leontief oder Amartya Sen – allesamt Träger der »Alfred-Nobel-Gedächtnismedaille für Wirtschaftswissenschaften« (um einmal korrekt zu benennen, was sodann auch in diesem Buch streng genommen unrichtig »Wirtschaftsnobelpreis« heißen wird). Nimmt man den Wirtschaftsnobelpreis zum Maßstab, so definieren diese »heterodoxen« Ökonomen geradezu, was als »orthodox« zu gelten hat, womit man den Widersinn dieser Klassifizierung erkennt. Bezieht man die Rede von »Orthodoxie« und »Heterodoxie« aber vielmehr auf Positionen, so lässt sich durchaus ein orthodoxer Kern der Neoklassik identifizieren, der von heterodoxen Positionen infrage gestellt wird.

Die Grundthese des Buches, welche auch seinen Aufbau bestimmt, lautet, dass die hier als Heterodoxie zusammengefassten vielen, zumeist unabhängig voneinander formulierten Kritiken und Alternativen ebenfalls einen gemeinsamen Kern haben: Aus je anderer Perspektive hinterfragen sie die Grundannahme, dass der Wirtschaftsprozess ein autonomer Prozess sei. Gegenüber dieser Vorstellung wird von den Kritikern geltend gemacht, dass der Wirtschaftsprozess vielmehr in verschiedener Hinsicht in die Welt eingebettet ist: der Marktakteur ist eingebunden in eine soziale Welt mit Mitmenschen, Institutionen und gemeinschaftlich genutzten Ressourcen; Produktion, Distribution und Konsumtion von Gütern sind in die physische Welt eingelassen (sogar an die Geltung der Naturgesetze mussten sich die Ökonomen bisweilen erinnern lassen!) und in eine endliche Natur, deren Ressourcen an Rohstoffen und Kapazitäten zur Aufnahme von Gift und Müll erschöpft werden können; der Lebens- und Reproduktionsprozess der Gesellschaft ist nur zum Teil marktförmig organisiert und hängt teilweise von nicht-marktförmigen organisierten Tätigkeiten ab (Familie, Erziehung, Pflege, Kultur …); das gesamte Wirtschaftsgeschehen fügt sich in eine globale Geschichte ein, findet also in einer bestimmten globalen Konstellation statt (in welchem sich zum Beispiel Zentrum und Peripherie unterscheiden lassen), hat Teil an großen globalen Veränderungen (wie beispielsweise der Urbanisierung), unterliegt kontingenten politischen Einflüssen und bringt selbst solche hervor.

Der Wirtschaftsprozess ist – so der sich abzeichnende Konsens der Heterodoxien – in andere Prozesse eingebettet, mit welchen er also Grenzflächen ausbildet. Diese Grenzen werden in beide Richtungen übertreten, der Außenraum bedingt und beinflusst den Wirtschaftsprozess ebenso, wie dieser auf jenen gestaltend zurückwirkt. Der zentrale Begriff dieses Buches wird daher der der Grenze sein. Aus wissenschaftsphilosophischer Perspektive interessiert uns, was an einer solchen Grenze passiert und welche begrifflichen Ressourcen man dementsprechend benötigt, um dieses Geschehen adäquat zu beschreiben.

Abb. 1: Wirtschaft im Kontext.

Drei Antwortmöglichkeiten auf diese Herausforderung können wir a priori unterscheiden: (1.) dass der ökonomische Prozess sehr wohl unabhängig von anderen (sozialen und im engeren Sinne natürlichen) Prozessen abläuft, (2.) dass zwar eine Abhängigkeit besteht, aber die jeweiligen Außenräume adäquat im ökonomischen Vokabular erfasst werden können, insbesondere durch den Begriff des ökonomischen Werts, (3.) dass eine Abhängigkeit besteht und diese an jeder Grenze ein entsprechendes Vokabular erheischt. Die letzte Antwort kann noch einmal dahingehend nuanciert werden, ob das klassische Vokabular der Ökonomie nur um neue Elemente (wie z. B. Endlichkeit, Machtverhältnisse etc.) angereichert oder sogar in seinem Kernbestand ersetzt werden muss. Die ›Grenzen‹, von denen wir sprechen werden, sind somit beides: erst einmal wirkliche, materielle und kausale Grenzen eines Realprozesses, dann aber auch Grenzen von Begriffen, deren Untersuchung die Aufgabe der Philosophie in der Form ist, wie sie Immanuel Kant gestellt und auf den Namen der Kritik getauft hat.

Die Grundfrage, die sich heute in den Wirtschaftswissenschaften akut stellt und welche der Philosoph eigentlich bloß mehr auflesen denn selbst herausarbeiten muss, lautet daher: Welches ist eigentlich das richtige Grundvokabular, um den Wirtschaftsprozess als integrierten Teil des gesellschaftlichen Lebensprozesses adäquat fassen zu können? Dieses Grundvokabular zu gewinnen, verlangt ›Arbeit am Begriff‹, und diese werden wir in diesem Buch studieren. Wir sehen damit insbesondere, dass die zumeist in der Philosophie der Wirtschaftswissenschaften gestellten, aus der Philosophie der Physik übernommenen Fragestellungen nach Modellen, Experimenten, Erklärungen usw. zwar nicht verfehlt, aber doch verfrüht sind. Es ist nämlich die grundsätzlichere Frage noch ungeklärt, welches im Prinzip das richtige Vokabular für die Wirtschaftswissenschaften ist.

Ökonomie – deskriptiv oder normativ?

Wir werden es zuförderst also mit der Untersuchung von Begriffen zu tun haben, wie es ja für eine wissenschaftsphilosophische Perspektive auch nicht überraschen kann. Es sollte aber gleich an dieser Stelle gesagt werden, dass es die Begriffe und Thesen der Ökonomen der philosophischen Analyse etwas schwer machen, da sie die Eigentümlichkeit haben, im Diskurs zu ›schillern‹. Man weiß nie ganz genau, ob man es mit einem deskriptiven, beschreibenden, oder normativen, politisch-fordernden Diskurs zu tun hat. Dies ist eine Folge des oben beschriebenen ›schmutzigen‹ Charakters der Ökonomie, d. h. der merkwürdigen Tatsache, dass ihre ›Atome‹, die Individuen, sich als frei verstehen und somit Gegenstand zugleich von Deskriptionen (Beschreibungen) und Präskriptionen (Vorschriften) sein können.

Wir werden sehen, dass die moderne Volkswirtschaftslehre von Anfang an mit dem Problem befasst war, den Freihandel nicht nur zu untersuchen, sondern auch zu rechtfertigen. Gleiches gilt freilich für die kritischen Stimmen. Die Schöpfer der Ökologischen Ökonomie wollten nicht nur besser verstehen, was der Mensch im Wirtschaften tut, sondern wollten die Umwelt auch wirklich schützen (Kapitel 4). Dasselbe in der Diskussion um das Gemeineigentum als Grenze des Privateigentums (Kapitel 3): für Garrett Hardin war die Grenze des Privateigentums auch die Grenze der Verantwortung, die jeder von uns übernimmt, und sollte mithin möglichst weit hinausgeschoben werden. Wenn ihm Elinor Ostrom funktionierende Modelle der selbstorganisierten Allmendebewirtschaftung als Alternative zur Dichotomie Markt-oder-Zentralgewalt entgegenhielt, so war ihr der praktische Erfolg selbstverständlich Bürge der politischen Forderung nach solchen Wirtschaftsweisen.

Diese deskriptiv-normative, theoretisch-praktische Doppelgesichtigkeit nimmt an der Grenze zwischen Wirtschaft und Kontext, für die wir uns hier interessieren, eine charakteristische Gestalt an. Zum einen beobachtet man historisch eine Ausdehnung des Markts in den Kontext hinein. Nicht nur geographisch greift der Markt immer weiter um sich, sondern auch in seinen Kernländern dringt er immer tiefer in das Leben der Menschen hinein, und immer mehr Beziehungen werden in solche zwischen Marktakteuren verwandelt. Dieses Phänomen wird oft vereinheitlichend als »Imperialismus« bezeichnet. Zum anderen beobachtet man auch, dass in den Sozialwissenschaften immer mehr Phänomene in ökonomischem Vokabular beschrieben und analysiert werden. Angesichts dieser Entwicklung wird oft – und übrigens nicht nur von Kritikern – von »ökonomischem Imperialismus« gesprochen (Economics imperialism oder Economism). Der Wirtschaftsnobelpreisträger Gary S. Becker betrachtet repräsentativ für diese Richtung die Partnerschaft als ein »effizientes Verhandeln« und fasst in seiner Preisrede zusammen:

[Wenn] ein Mann und eine Frau sich entscheiden, zu heiraten, Kinder zu haben, oder sich scheiden zu lassen, so versuchen sie damit ihren Nutzen zu maximieren, indem sie eben Kosten und Nutzen abwägen. Sie heiraten, wenn sie sich gegenüber dem Singledasein einen Gewinn versprechen, und lassen sich scheiden, wenn dies ihnen eine Steigerung ihres Wohlergehens in Aussicht stellt. […] Reiche Paare tendieren nach dieser Theorie dazu, enorm zu profitieren, indem sie ihre Ehe aufrechterhalten, was für viele arme Paare nicht der Fall ist. Eine arme Frau mag wohl Zweifel daran haben, ob es sich lohnt, mit einem Langzeitarbeitslosen verheiratet zu bleiben.6

Dieses Phänomen des ökonomischen Imperialismus verlangt freilich Fingerspitzengefühl in der Bewertung. Gewiss, Beckers Analyse ruft Befremden hervor oder empört sogar, und Becker spielt vermutlich bewusst mit dieser Reaktion. Aber ist dies wirklich einer unstatthaften Ausdehnung des ökonomischen Vokabulars geschuldet? Der französische Soziologe Pierre Bourdieu schlug 1975 im Grunde in verwandtem Sinne vor, die Wissenschaft nicht als eine uneigennützige Suche nach der Wahrheit zu beschreiben, sondern als einen Kampf um das Monopol an Autorität, welche er als eine Form »symbolischen Kapitals« begriff. Das Verhalten der Forscher wird entsprechend als »Investmentstrategie« mit »Profitabsicht« vorgestellt.7 Dies ist schon weit weniger dazu angetan, moralische Empörung hervorzurufen. Die Wissenschaftssoziologen Bruno Latour und Steve Woolgar betonten in einer späteren Studie, dass Wissenschaftler tatsächlich selbst diese ökonomische Begrifflichkeit verwenden, wenn sie über ihr Verhalten reflektieren.8

Ohne hier weiter in die Tiefe zu gehen, können wir zumindest den Vorbehalt aussprechen, dass das Problematische an Beckers Analyse nicht unbedingt in der Verwendung des ökonomischen Vokabulars liegt. Sein Ansatz krankt vielleicht nicht an einem inadäquaten Vokabular, sondern schlicht daran, dass er die Komplexität seines Gegenstandes rettungslos unterschätzt. Gleichwohl kommt gerade aufgrund des deutlich spürbaren Mangels seiner Analyse der normative Unterton deutlicher zum Vorschein: Becker legitimiert kapitalistisches Profitdenken, indem er es ›naturalisiert‹, d. h. als ein natürliches Phänomen und Naturzustand des Menschen hinstellt. Für ihn ist ohnehin das ganze Leben Markt, und die Ausdehnung des Marktvokabulars zeigt an, dass der praktischen Ausdehnung des Markts keine legitimen Grenzen gezogen werden können.

Es mag reichen, diese Doppelgesichtigkeit an dieser Stelle einmal auszusprechen. Der Leser ist damit gewappnet und muss nicht wiederholt auf diese allgegenwärtige Eigentümlichkeit aufmerksam gemacht werden.

Aufbau des Buchs

Das folgende Kapitel 2 stellt knapp die ›Orthodoxie‹ dar und erläutert, in welchem Sinne diese das Wirtschaftsgeschehen als autonomen Prozess begreift, und durch welche Gesetze dieser bestimmt werde. Auch die problematischen Punkte, wie sie in der allgemeinen Diskussion wohlbekannt sind, werden an dieser Stelle bereits benannt. In den darauf folgenden Kapiteln 3 bis 5 steht jeweils eine ›Grenze‹ im soeben spezifizierten Sinne im Zentrum: In Kapitel 3 die Grenzen des Individualismus in kollektiven Phänomenen, in Kapitel 4 die Grenzen von Privateigentum und Markt in einer gemeinsam geteilten Welt, und schließlich in Kapitel 5 die durch eine endliche Natur gesetzten Grenzen. Im sechsten Kapitel, dem Schlusskapitel, werden wir versuchen, die Quintessenz aus diesen drei Perspektiven zu gewinnen. Eine minimale gemeinsame Konsequenz besteht darin, die Wirtschaftswissenschaft um eine historische Dimension zu erweitern, die zugleich auch eine globale, nämliche weltgeschichtliche ist. Wir werden aber auch aktuelle Ansätze kennen lernen, die diesen formalen Rahmen durch eine vereinheitlichende Theorie zu füllen versuchen. Ob diese Ansätze von Erfolg gekrönt sein werden, muss noch als eine offene Frage betrachtet werden, aber sie erlauben uns in jedem Fall bereits einen neuen Blick auf die aktuelle, multisystemische Krise.

2 Die Orthodoxie der Neoklassik: Wirtschaft als autonomer Prozess

2.1 Überblick Ökonomie

Eine Einführung in die Philosophie der Wirtschaftswissenschaften ersetzt keine Einführung in die Wirtschaftswissenschaften, darf sie aber auch nicht voraussetzen. Denn dieses Buch richtet sich an ein allgemeines Publikum, welches an Ökonomie und Philosophie interessiert ist. Ohne also den verwegenen Anspruch zu erheben, in diesem Kapitel einen Einstieg in die Mikroökonomie zu ermöglichen, sollen die Grundlagen dieser Disziplin doch so dargelegt werden, dass sich der ökonomische Laie ein zur anschließenden philosophischen Reflexion hinreichend plastisches Bild von ihrem begrifflichen Räderwerk machen kann. Wer darüber hinaus einen Einstieg in die Wirtschaftswissenschaften sucht, dem stehen heute schon einige Werke bereit, die die heterodoxen Ansätze umfassend berücksichtigen.9

2.1.1 Terminologische Vorbemerkung: Ökonomie und Wirtschaft

Aus Gründen terminologischer Sorgfalt beginnen wir mit einigen Vorbemerkungen über die Begriffe der Ökonomie und der Wirtschaft. In diesem Buch geht es sowohl um Wirtschaftswissenschaft als auch um Wirtschaft. Wir werden uns dabei erlauben, zwanglos von »Ökonomie« zu sprechen, auch wenn dies eine Uneindeutigkeit mit sich bringt. Anders als in Physik oder Psychologie, in welcher begrifflich zwischen »physisch« und »physikalisch«, »psychisch« und »psychologisch« unterschieden werden kann, steht dann nämlich kein Begriffspaar zur systematischen Unterscheidung zwischen dem Gegenstand und der Lehre zur Verfügung. Das Wort »ökonomisch« steht für beides, weshalb ein Ausdruck wie »ökonomisches Problem« zweideutig ist und sowohl ein wirtschaftliches wie ein wirtschaftswissenschaftliches Problem bezeichnen kann.10 Wenn man sich dessen aber einmal bewusst ist, kann man sich diesen Wortgebrauch ohne Gefahr des Missverständnisses erlauben.

Die Wirtschaftswissenschaft oder Ökonomie als Disziplin erforscht ihrem Namen nach »die Wirtschaft«. Unter dieser Bezeichnung verstehen wir nun nicht das Gesamt der (privatrechtlich oder öffentlich-rechtlich organisierten) Unternehmen, so wie dies in Politik und Tagespresse oft der Fall ist, wenn z. B. von den »Interessen der Wirtschaft« gesprochen wird. Vielmehr ist das Gesamt der wirtschaftlichen Handlungen der Menschen gemeint. Man könnte vielleicht weniger missverständlich von »dem Wirtschaften« sprechen.

Es hat sich durchgesetzt, unter den wirtschaftlichen Handlungen diejenigen zu verstehen, die der planmäßigen Bedürfnisbefriedigung unter gegebenen Ressourcen und gegebenen technischen Möglichkeiten dienen. Wenngleich diese Definition oft auch von den Kritikern der herrschenden Lehre akzeptiert wird, sollte man ihr gleichwohl misstrauen, da diese Definition nicht neutral, sondern vielmehr schon auf das Programm der Neoklassik zugeschnitten ist.11 Sie legt sich in der Rede von der Bedürfnisbefriedigung nämlich erstens einseitig auf die Perspektive des Konsumenten fest, legt es zweitens insbesondere nahe, seine Bedürfnisse als gegeben zu betrachten (als »exogene Variable«, wozu später mehr), und neigt drittens dazu, den Wirtschaftsprozess auf den Markt als Mechanismus der effizienten Ressourcenallokation zu reduzieren. Es wird zu überlegen sein, ob nicht eher der Fokus auf den gesamtgesellschaftlichen Prozess zu legen ist, wobei insbesondere die Offenheit gegenüber der Umwelt nicht verdeckt werden sollte.

Einige Autoren schlagen in diesem Sinne wieder vor, vom Wirtschaftsprozess als dem gesellschaftlichen »Metabolismus« (Stoffwechsel) zu sprechen, wie dies etwa für Karl Marx selbstverständlich war.12 Diese Redeweise beutet eine biologische Analogie aus, die es erlaubt, bestimmte Merkmale des Wirtschaftsprozesses hervorzuheben, die er mit dem Organismus teilt: in beiden Fällen hat man es mit einem offenen, dynamischen und selbstregulierenden System zu tun. Der ›Lebensprozess‹ der Gesellschaft besteht darin, unter gegebenen Ressourcen und technischen Möglichkeiten seine wesentliche Struktur im Stoffwechsel mit der Umwelt selbstorganisiert zu reproduzieren. Ein anderer Autor erwägt, von der Wirtschaft allgemeiner als einem »autopoietischen System« zu sprechen, was es erlaubt, auch die Unterschiede zu benennen, welche die Wirtschaft vom biologischen Organismus trennen. Anders als bei diesem beruht der Organisationsmodus des Wirtschaftsprozesses beispielsweise auf kommunikativen Prozessen und zweckhaften Handlungen der Individuen.13

Dieser weitere Begriff des Wirtschaftens bietet die Möglichkeit, auch eine Einwirkung der kollektiven Prozesse auf die Bedürfnisse der Individuen zu erfassen (sprich die Bedürfnisse als »endogene« Variable zu behandeln), was sich als nützlich und vielleicht sogar erforderlich erweisen wird.

Die klassisch unterschiedenen wirtschaftlichen Aktivitäten umfassen die Produktion, die Distribution, insbesondere den geldvermittelten Tausch, sowie die Konsumtion der Güter. Fließen die Güter und andere Faktoren wieder in die Produktion ein, statt konsumiert zu werden, spricht man von Allokation statt von Distribution. Neben diesen klassischen Aktivitäten werden heute auch der Umgang mit den Ressourcen und den Abfällen betont. Die wirtschaftlichen Akteure umfassen neben Privatpersonen oder Privathaushalten auch Unternehmen, Regierungen und Zentralbanken, aber auch die teilweise äußerst mächtigen Kapitalgesellschaften.14

2.1.2 Wirtschaftswissenschaft

Halten wir uns an das Selbstverständnis des Fachs, können wir vorab folgendes über die Wirtschaftswissenschaften sagen. Die Wirtschaftswissenschaften zerfallen in die beiden Teildisziplinen der Betriebswirtschaftslehre (business administration), welche die Entscheidungsprozesse in Unternehmen zum Gegenstand hat, und die Volkswirtschaftslehre (economics), älter Nationalökonomie oder auch Politische Ökonomie, die in der Hauptsache die Produktion und Distribution bzw. Allokation von Gütern untersucht. Wie auch der englische Name anzeigt, entspricht sie am ehesten dem, was man gemeinhin unter einer Erforschung der Wirtschaftszusammenhänge versteht. Sie ist es, die uns in diesem Buch interessieren wird.

Die Volkswirtschaftslehre zerfällt grosso modo in die beiden Teilgebiete der Mikro- und Makroökonomie (bzw. -ökonomik). Erstere setzt bei den verschiedenen Wirtschaftssubjekten an, während sich die Makroökonomie den gesamtwirtschaftlichen Prozessen widmet und dabei auf gesamtwirtschaftliche Größen wie die der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung zurückgreift. Bruttonationalprodukt, Arbeitslosenrate, Inflationsrate sind typische makroökonomische Größen. Ein Teilgebiet der Mikroökonomie, welches für uns von besonderem Interesse sein wird, stellt die Wohlfahrtsökonomie (welfare economics) dar, welche die Auswirkungen der mikroökonomischen Variablen auf die ökonomische Wohlfahrt der Gesellschaft untersucht. Die Geldtheorie (monetary economics) hingegen, welche ebenfalls bisweilen die Aufmerksamkeit von Philosophen auf sich gezogen und im Zuge der Finanzkrise, beispielsweise mit David Graebers einflussreichem Buch Schulden15, auch ein allgemeineres Interesse geweckt hat, gehört in die Makroökonomie:

Mikro- und Makroökonomie untersuchen wohlgemerkt nicht im Sinne einer Arbeitsteilung unterschiedliche Gegenstände, sondern betrachten vielmehr denselben Gegenstandskreis aus unterschiedlichen Perspektiven, eben vom ›Kleinen‹ und vom ›Großen‹ her. Dies kann Spannungen erzeugen. Während die Mikroökonomie beispielsweise Arbeitslosigkeit als Folge einer Abweichung von der Norm des idealen Marktes versteht, besteht in der Makroökonomie eine viel größere Bereitschaft, dieselbe als empirisch konstatierte Normalität zu begreifen.16 Zum Konflikt kommt es dadurch, dass es dem reduktionistischen Programm der Mikroökonomie eingeschrieben ist, auch makroökonomische Phänomene auf Interaktionen auf mikroökonomischer Ebene zurückzuführen. Dieses Programm wird Mikrofundierung genannt. Auf die mit ihm einhergehenden Probleme werden wir zurückkommen.17

2.2 Allgemeine Gleichgewichtstheorie

2.2.1 Vorab: Was ist eine Erklärung?

Betrachten wir nun, wie die Mikroökonomie ökonomische Prozesse zu erklären sucht. Ohne uns vollends auf die schwierige und kontroverse philosophische Frage einlassen zu müssen, was eigentlich eine Erklärung ist, können wir zumindest festhalten, dass, sprachphilosophisch ausgedrückt, »Erklärung« ein (mindestens) zweistelliger Prädikator ist. Obgleich man oft von der »Erklärung des Phänomens y« spricht, lautet der vollständigere Ausdruck eigentlich: »x ist eine Erklärung für Phänomen y« bzw. »Phänomen y wird durch x erklärt«. In dieser Struktur stecken zwei Vorentscheidungen, die den Raum der Erklärung aufspannen: Erstens muss man sich darüber einig sein, was überhaupt einer Erklärung bedarf und was nicht (das ›y‹), und zweitens muss festgelegt sein, was als Erklärung gilt (das ›x‹). Aristoteles beispielsweise betrachtete es als natürlich und somit nicht erklärungsbedürftig, dass Dinge an ihren »natürlichen Ort« streben, also schwere Dinge zur Erde fallen, die Gestirne aber in der ihnen angestammten Sphäre verharren. In der klassischen Physik Newtons hingegen wird es als natürlich betrachtet, dass ein Körper weder die Richtung noch den Betrag seiner Geschwindigkeit »von selbst« ändert, und erst Abweichungen davon verlangen der Erklärung. Als Erklärungen, etwa wenn Planeten im Weltraum auf eine elliptische Umlaufbahn gezwungen werden, werden »Kräfte« akzeptiert, auch wenn deren Ursprung wie eben bei der Gravitation vorerst ungeklärt ist.

Wir können daraus zurückbehalten, dass immer ein Phänomen, z. B. eine Eigenschaft, durch etwas anderes erklärt wird, welches selbst zumindest zeitweilig ohne Erklärung hingenommen wird. Wie Immanuel Kant schon herausgearbeitet hat, ist es dem Projekt der wissenschaftlichen Erklärung inhärent, auf einen infiniten Regress zu führen, insofern das x, welches man zur Erklärung von y heranzog, selbst nach Erklärung verlangt. Mit diesem Problem hat jede Wissenschaft zu tun, und man darf die Wirtschaftswissenschaft selbstredend nicht an einem Maßstab messen, dem auch die Physik nicht genügt. Jede Wissenschaft muss zu jedem Zeitpunkt mit gewissen Voraussetzungen beginnen. Diese können sich freilich mit der Zeit ändern, und es bleibt in der Methodenkontroverse immer eine legitime Frage, was eigentlich wodurch erklärt werden soll, sofern nur alle Kontrahenten akzeptieren, dass es keine voraussetzungslose Erklärung gibt.

Das klassische Erklärungsmodell der Physik besteht in einem bestimmten Reduktionismus: Die Eigenschaften eines Systems werden durch die seiner Teile erklärt und in diesem Sinne auf diese zurückgeführt, niemals aber umgekehrt. Die Eigenschaften des Festkörpers und der Moleküle erklärt die Physik durch die Eigenschaften der Atome und diese durch die ihrer Bestandteile, der Elektronen und des Atomkerns. Die Elektronen gelten als Elementarteilchen, während der Atomkern wiederum eine Struktur aufweist und aus Protonen und Neutronen besteht usw.

Ein Problem war diesem ›mechanistischen‹ Denken schon früh, namentlich im 18. Jahrhundert, durch den Organismus gegeben, bei dem sich die Verhältnisse gerade umgekehrt darzustellen scheinen: Seine Organe sind für den Organismus zweckdienlich eingerichtet. Hier scheint es so, als ob durch das System, das Lebewesen, bestimmt ist, welche Eigenschaften seine Teile haben müssen und diese somit ›holistisch‹, durch das Ganze, welches die Teile bilden, erklärt werden.18 Es war die große Leistung von Darwins Evolutionstheorie, die Mechanismen zu benennen, die die Zweckmäßigkeit der Teile erklären können, ohne einen Zwecksetzter in Person des Schöpfergottes bemühen zu müssen.

In der Sozialphilosophie existieren widerstreitende Ansichten über das Verhältnis von System (Gesellschaft) und Teil (Individuum). Es steht außerfrage, dass eine Gesellschaft nur durch und mit den Individuen besteht. Man sollte sich aber klar machen, dass damit die Frage der Richtung der Erklärung noch nicht beantwortet ist. Historisch lässt sich grosso modo folgendes feststellen: In der präkapitalistischen Sozialphilosophie, z. B. bei Thomas von Aquin, herrscht eine holistische Erklärungsweise vor, wobei durchaus der Organismus als Analogie herangezogen wird: Die Menschen sind unterschiedlich, und jeder hat seinen besonderen Platz im Ganzen. Überlebensfähig ist nur der ganze Gesellschaftskörper, aber keiner seiner spezialisierten Teile außerhalb seiner. In der Epoche des Kapitalismus ändert sich dies. Die Sozialphilosophie übernimmt die reduktionistische Methode der Naturphilosophie,19 und ihr Gesellschaftsbild passt sich gut in die liberale Weltanschauung des aufstrebenden Bürgertums ein: Die Gesellschaft ist kein hierarchisch strukturiertes Geschöpf mehr mit göttlich sanktioniertem Haupt, sondern resultiert aus den Bewegungen und Wechselwirkungen der einzelnen, freien und gleichen Individuen. Spätestens mit dem 19. Jahrhundert lebt auch wieder die holistische Erklärungsweise auf, zu nennen sind vor allem Karl Marx und Émile Durkheim, die zwar weit davon entfernt sind, eine natürliche Hierarchie der Individuen zu proklamieren, aber durchaus in einem noch zu spezifizierenden Sinne von einem Eigenleben der Gesellschaft ausgehen, welches sich gegen die einzelnen Individuen durchsetzen kann. Die Sozialwissenschaften sind seitdem über diese Frage um den methodologischen Individualismus gespalten.

2.2.2 Der homo œconomicus

Die als Neoklassik bekannte allgemeine Gleichgewichtstheorie der Mikroökonomie steht unzweideutig in der individualistischen Tradition, d. h. sie sucht gesellschaftliche Phänome als Gesamtresultat der Entscheidungen individueller Akteure zu erklären. Die Entscheidungen der Akteure werden wiederum auf eine individuelle Präferenzordnung zurückgeführt. Diese selbst wird unterstellt, aber nicht mehr selbst erklärt. Die Ökonomie betrachtet sie als eine sogenannte exogene Variable:

die Präferenzen sind exogen.

Sodann werden eine Reihe weiterer Unterstellungen über den ökonomischen Akteur gemacht, welche in dem Bild des homo œconomicus zusammengefasst werden. Er ist charakterisiert durch zwei Merkmale, zusammengefasst im Rationalitäts-Axiom:

2. der homo œconomicus strebt nach Maximierung seines Nutzens oder Wohlergehens;

3. sein Verhalten ist rational.