Wissen begehren - Gabriele Rathgeb - E-Book

Wissen begehren E-Book

Gabriele Rathgeb

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Beschreibung

Neugierde und Wissbegierde sind wichtige Antriebsfedern für das Lernen. Im Laufe der Schulzeit scheinen sich diese jedoch bei vielen Kindern und Jugendlichen zu verflüchtigen. Zahlreiche Hindernisse sind es, die sich dem Begehren nach Wissen in der Schule in den Weg stellen: Lehrende verfallen "unter dem Druck der Zeit und der Forderung nach Effizienz in die Attitüde des Informierens" (Meyer-Drawe) und auf der Seite der Lernenden stehen das Erledigen von Aufgaben und das Bestehen von Prüfungen im Vordergrund. Dieser Band begibt sich auf die Spuren der Neugierde und Wissbegierde im schulischen Lernen und Lehren und geht der Frage nach, wie und als was sich das Begehren nach Wissen in den Erfahrungen und erzählten Erinnerungen von Schülerinnen und Schülern zeigt, was dazu beiträgt, es zu wecken, und was es verstummen lässt.

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Seitenzahl: 574

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Impressum

© 2019 by Studienverlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck

E-Mail: [email protected]

Internet: www.studienverlag.at

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7065-5994-2

Buchgestaltung nach Entwürfen von himmel. Studio für Design und Kommunikation,

Innsbruck/Scheffau – www.himmel.co.at

Satz: Da-TeX Gerd Blumenstein, Leipzig

Umschlag: himmel. Studio für Design und Kommunikation, Innsbruck/Scheffau –

www.himmel.co.at

Umschlagfotos: Gabriele Rathgeb

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.studienverlag.at.

Inhaltsverzeichnis
Cover
Impressum
Titel
Vorwort
1 Einleitung
1.1 Das Forschungsprojekt
1.2 Das Phänomen Begehren nach Wissen und die Forschungsfrage
1.3 Vorgangsweise und Forschungsmethoden
1.4 Aufbau der Arbeit
2 Begehren und Begehren nach Wissen – eine phänomenologisch orientierte Studie
2.1 Begehren – das Phänomen
2.1.1 Erste Deutungsversuche und Grenzziehungen
2.1.1.1 Begehren – was ist darunter zu verstehen? Antworten und weiterführende Fragen
2.1.1.2 Versuch einer Grenzziehung: Begehren zwischen Streben, Sehnsucht, Wollen, Wünschen, Leidenschaft, Trieb, Instinkt und Bedürfnis
2.1.2 Wer oder was begehrt wen oder was und wie?
2.1.2.1 Wer oder was begehrt hier eigentlich? Anthropologische Zugänge
2.1.2.2 Begehren als Antwortgeschehen: Eigenes und Fremdes
2.2 Begehren nach Wissen: Wissbegierde und Neugierde
2.2.1 Begehren nach Wissen: Wissbegierde, Neu(be-)gierde, Interesse, Philosophie
2.2.2 Begehren nach Wissen von der Antike bis in die Gegenwart
2.2.3 Erste Zwischenbilanz: Implikationen der Spurensuche für das „Begehren nach Wissen“
2.3 Die Sache des Lernens und das Begehren nach Wissen
2.3.1 Welches Wissen?
2.3.1.1 Der Mythos der Wissensgesellschaft und der Zwang zum lebenslangen Lernen
2.3.1.2 Welches Wissen?
2.3.1.3 Wissen und Wissensvermittlung in Schule und Pädagogik
2.3.1.4 Wege zu einem bildenden Umgang mit Wissen
2.3.1.5 Zweite Zwischenbilanz: Bildender Umgang mit Wissen und das Begehren nach Wissen
2.3.2 Welches Lernverständnis?
2.3.2.1 Wiedergewinnung der pädagogischen Perspektive auf Lernen
2.3.2.2 Fundamente und Elemente eines pädagogischen Lernbegriffs
2.3.2.3 Besonderheiten phänomenologischer Zugänge zum Lernen
2.3.2.4 Das Lernverständnis der Innsbrucker Vignettenforschung
2.3.2.5 Dritte Zwischenbilanz: Lernen und das Begehren nach Wissen
2.3.3 „Brennendes Interesse“ und „Lernen aus Passion“ (Meyer-Drawe 2012c): Begehren nach Wissen zwischen Leid und Lust, zwischen der Macht der Gewohnheit und dem Begehren nach Selbstüberschreitung
2.3.3.1 Negativität und Lernen
2.3.3.2 Negativität und Lernen vs. Begehren nach Wissen – ein Gegensatz?
2.3.3.3 Begehren nach Wissen als Begehren nach Selbstüberschreitung und die Macht der Gewohnheit, das Gehäuse der Alltagswelt
3. Begehren und Begehren nach Wissen in den Erfahrungen von Schülerinnen und Schülern
3.1 Phänomenologie als Forschungsansatz
3.1.1 Qualitative Forschung in der Pädagogik
3.1.2 Warum gerade Phänomenologie?
3.2 Forschungsdesign und Ablauf der Untersuchung
3.2.1 Personale Bildungsprozesse in heterogenen Gruppen – das Forschungsprojekt
3.2.2 Untersuchungsinstrumente
3.2.2.1 Teilnehmende Erfahrung und Miterfahrung
3.2.2.2 Die Vignette als Form der Datenbearbeitung
3.2.2.3 Die Anekdote als Form der Datenbearbeitung
3.2.2.4 Die Lektüre von Vignetten und Anekdoten
3.2.3 Im Feld: Vorgangsweise, Untersuchungsteilnehmer(innen), eigene Erfahrungen und forschungsethische Überlegungen
3.3 Was sich zeigt und wie: exemplarische Datenauswertung
3.3.1 Beispielhafte Lektüren von Vignetten und Anekdoten unter der Perspektive des Phänomens Begehren und Begehren nach Wissen
3.3.1.1 Wie zeigen sich Begehren und Begehren nach Wissen?
3.3.1.2 Vignette 1
3.3.1.3 Vignette 2
3.3.1.4 Vignetten 3 und 4
3.3.1.5 Vignette 5
3.3.1.6 Vignette 6
3.3.1.7 Anekdote 1 und 2
3.3.2 Wie und als was sich das Begehren der Schülerinnen und Schüler zeigt und worauf es sich richtet: eine Verdichtung
3.3.2.1 Dem Begehren auf der Spur: Hindernisse und Widrigkeiten
3.3.2.2 Dem Begehren auf der Spur: Wie und als was sich das Begehren der Schülerinnen und Schüler zeigt
4 Begehrend lernen und lehren: Schlussfolgerungen und Ausblick
4.1 Den Anspruch, der sich in Wissen ausspricht, hörbar machen
4.2 Den Anspruch der Dinge hörbar machen
4.3 Den Anspruch des Anderen und der Anderen hörbar machen
4.4 Das Wilde des Begehrens zulassen
4.5 Chancen nützen und Grenzen erkennen und achten
Literaturverzeichnis

Gabriele Rathgeb

Wissen begehren

Eine phänomenologisch orientierte Studie über die Bedeutung von Wissbegierde und Neu(be-)gierde für das Lernen

Wissen kann man weitergeben, das Begehren danach nicht.

Der Wunsch zu wissen ist selbst kein Wissen. Was man liebt, möchte man so genau wie möglich kennen. Darum ist es wichtig, etwas zu begehren, um zu lernen. […]

Die Sache muss in den Brennpunkt rücken. Neugierde muss entfacht werden.

Meyer-Drawe 2012a, S. 17

Vorwort

An welche Momente schulischen Lernens, in denen mein Begehren nach Wissen geweckt, gefördert oder sogar befriedigt wurde, erinnere ich mich? Wo und wie erlebte ich Neugierde und Wissbegierde? Was erregte mein leidenschaftliches Interesse?

Beim Nachdenken über diese Fragen fällt mir auf, dass mein Interesse sich meist auf Inhalte oder Themen bezog, die schulisch eine untergeordnete Rolle spielten. Das Begehren nach Anerkennung wurde in der Schule oft bedient, jenes nach Kommunikation und sozialem Austausch ebenso. Das Begehren danach, eigene Fähigkeiten unter Beweis und auf die Probe zu stellen und diese auszubauen, all das wurde im schulischen Kontext stark angesprochen. Aber wenn es um fachliches Wissen, um bestimmte Themen, die mein brennendes Interesse und meine Neugierde weckten, geht, krame ich vergeblich in meinen schulischen Erinnerungen.

Eine meiner eindrücklichsten Erfahrungen im Zusammenhang mit Neugierde und Wissbegierde im Kontext formaler Bildung war der dreimonatige Kurs für Politik, Wirtschaft und Sozialethik, den ich 1987 in Wien absolvierte. Durch die Form der selbständigen Erarbeitung von selbst gewählten Themen und Fragestellungen in Kleingruppen gelang es, das Interesse der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, und auch meines, wachzuhalten, die Wissbegierde und Neugierde schienen unerschöpflich. Dieser Kurs und sein pädagogischer Ansatz war Thema meiner Diplomarbeit im Fach Religionspädagogik. Unter den drei Aspekten Selbständiges Lernen, Lernen in Gemeinschaft und vernetztes Lernen stellte ich die wesentlichen Ideen der Kurspädagogik dar und versuchte diese auf die Religionspädagogik zu übertragen (Rathgeb 1988).

Als Deutschlehrerin ist es mir ein Anliegen, bei meinen Schülerinnen und Schülern die Freude am Lesen und Schreiben, die Freude am (sprachlichen) Sich-Ausdrücken wach zu halten und zu vermehren bzw. erst zu entzünden und sie in ihren Fähigkeiten zu fördern, ihnen zu helfen, diese auszubauen und zu verfeinern. Doch immer wieder habe ich erlebt, dass diese Freude und überhaupt die Freude am Lernen in der Schule irgendwann zwischen zehn und vierzehn Jahren deutlich nachlassen und die Flammen der Wissbegierde und der Neu(be-)gierde – scheinbar – erlöschen. Als Mutter zweier inzwischen erwachsener Söhne, als Lehrerin und auch als Forscherin an verschiedenen Schulen habe ich erfahren, dass der schulische Alltag für viele Kinder und Jugendliche zu einem großen Teil vom Gefühl der Langeweile geprägt ist.

Das führt zur Frage, was am schulischen Lernen diese Neugierde, die besonders Kinder und Jugendliche bewegt, zerstört oder zumindest in den Hintergrund treten lässt. Wie stellt Schule es an, vielen Kindern Wissbegierde und Neugierde auszutreiben? Und was müsste geschehen, damit diese wieder mehr Einzug halten in die Klassenzimmer und Schulgebäude?

An meiner Schule, einem Gymnasium für 10- bis 18-Jährige in einer Stadt mittlerer Größe in Österreich, besteht bereits seit 15 Jahren ein Schwerpunkt, in dem offenes Lernen einen Grundpfeiler darstellt. Dieser erfreut sich von Seiten der Kinder und Eltern regen Zuspruchs. Die Schülerinnen und Schüler arbeiten in zumindest sechs bis acht Stunden pro Woche in Form so genannter Freier Arbeit, wenn auch der Grad an Freiheit und Öffnung sehr unterschiedlich ist (vgl. Peschel 2006). Darüber hinaus mache ich – hinsichtlich ihrer positiven Auswirkungen auf die Wissbegierde – sehr gute Erfahrungen mit anderen offenen Lernformen, wie z.B. Projektarbeit, wenn also Rahmenbedingungen geschaffen werden, die es Lernenden ermöglichen, eigene Schwerpunkte zu setzen, Themen selbst zu wählen, Methoden, Sozialform, Ort und Zeit (mit)zu bestimmen und vor allem, greif- und sichtbare Ergebnisse zu schaffen. In all diesen Formen erlebe ich die Freude am Lernen, Wiss- und Neu(be-)gierde bei meinen Schülerinnen und Schülern am intensivsten.

Im Zuge der Arbeit in der Forschungsgruppe, in deren Zusammenhang die vorliegende Dissertation entstanden ist, und der Beschäftigung mit der Frage nach dem Lernen wurde mir klar, wie wenig wir im Grunde über den Vollzug des Lernens wissen. Diese Erkenntnis und jene, dass Menschen nicht unbedingt freiwillig die gewohnten Pfade und das Gehäuse der Alltagswelt (vgl. Meyer-Drawe 2012b, S. 32) verlassen, dass Lernprozesse deshalb oft durch Verunsicherung oder Enttäuschung ausgelöst und von negativen Gefühlen, ja sogar Schmerz begleitet werden, irritierten mich, da sie konträr zu meinen Erfahrungen standen. Was bedeuten diese neuen Erkenntnisse vor dem Hintergrund meiner bisherigen Erfahrungen? Stellen sie diese in Frage? Bringen sie den bereits fest geglaubten Boden wieder ins Wanken? Diese Irritation setzte einen eigenen Lernprozess in Gang, der sich nicht zuletzt der Antriebsfeder der Wissbegierde verdankt.

Mit dieser Dissertation stelle ich mich dieser Verunsicherung und setze mich in intensiver Weise mit den – wieder – offenen Fragen auseinander. Ob diese Auseinandersetzung nur zu weiterer Verunsicherung und neuen Fragen führt oder auch Antwortansätze bereithält, mögen nicht zuletzt die Leserin und der Leser entscheiden.

Am Schluss dieses Vorworts möchte ich mich bei jenen bedanken, die zum Entstehen dieser Arbeit beigetragen haben – allen voran bei meinem Mann Charlie, der mich im Laufe der vergangenen vier Jahre auf vielfältige Weise begleitet und unterstützt hat, durch sein Zuhören und Feedback-Geben, das Korrekturlesen von Textteilen, durch sein Verständnis für meine leiblichen und geistigen Abwesenheiten und vor allem durch sein Mittragen des Bildungskarenzjahres, das auch mit finanziellen Einbußen für unsere Familie verbunden war. Weiters bedanke ich mich bei meinem Doktorvater Univ.-Prof. Mag. Dr. Michael Schratz, der mir nicht zuletzt augrund seines umfassenden Wissens und seiner jahrzehntelangen Erfahrung im Bereich der Schulpädagogik, Schulentwicklung und Lehrer/-innenbildung österreich-, europa- und weltweit ein wunderbarer Gesprächspartner und Berater war – ohne ihn, seine Unterstützung, seine Ermutigung – gäbe es diese Arbeit nicht. Darüber hinaus gilt mein besonderer Dank Prof. Dr. Käte Meyer-Drawe, die meine „geheime“ Zweitbetreuerin war und deren differenzierte Rückmeldungen und Anregungen nicht nur der vorliegenden Arbeit maßgebliche Impulse gaben, sondern mich auch persönlich bestärkten und beflügelten. Die Lektüre einiger Texte Meyer-Drawes, insbesondere Feuer und Flamme (2012a) und Lernen aus Passion (2012c), war ausschlaggebend dafür, dass ich mich in meiner Dissertation auf die Spuren der Wissbegierde begeben habe. Eine ganz besondere Rolle für die Entstehung meiner Dissertation kommt Mag.a Dr.in Johanna Schwarz, Pionierin der Innsbrucker Vignettenforschung, Freundin und Wegbegleiterin, zu. Ich bedanke mich bei ihr für viele inspirierende Gespräche, für die genaue Lektüre von Teilen meiner Arbeit und für viele wertvolle Rückmeldungen. Weiters gilt mein Dank Univ.-Prof. Mag. Dr. Wolfgang Wiesmüller, der große Teile des Textes mit größter Genauigkeit lektoriert hat. Bedanken möchte ich mich auch beim Staat Österreich bzw. den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern und bei meinem Arbeitgeber, dem Landesschulrat für Tirol, die mir durch die Bildungskarenz die Möglichkeit boten, mich ein Jahr ausschließlich dem Schreiben meiner Dissertation zu widmen. Last but not least bedanke ich mich bei den Forschungspartnerinnen und Forschungspartnern, den Schülerinnen und Schülern, den Lehrerinnen und Lehrern, den Schulleitern, ohne die die vorliegende Arbeit nicht möglich gewesen wäre. Wenn sie ihre Erfahrungen und ihr Wissen teilten, taten sie das in der Hoffnung, zur Verbesserung unserer Schulen und der Lern- und Lehrbedingungen dort beizutragen – ein Anliegen, das ich mit ihnen teile und von dem ich hoffe, dass meine Dissertation einen – wenn auch bescheidenen – Beitrag dazu leisten kann.

1 Einleitung

1.1 Das Forschungsprojekt

Meine Dissertation entstand im Kontext des Forschungsprojekts Personale Bildungsprozesse in heterogenen Gruppen (I und II, P 225313 G-16, P 22230 G-17), das vom FWF, dem Österreichischen Fonds zur Förderung wissenschaftlicher Forschung, gefördert wurde. Dieses Forschungsprojekt geht der Frage nach, wie Schülerinnen und Schüler1 Schule in unterschiedlichen didaktischen Settings erfahren, was ihnen an diesem Ort widerfährt und wie sie auf die dort an sie gestellten Ansprüche antworten (vgl. Schwarz et al. 2013; Schwarz und Schratz 2014). Das Forschungsprojekt Personale Bildungsprozesse in heterogenen Gruppen setzt es sich zum Ziel, „Phänomene des Lernens, wie sie sich in personalen Bildungsprozessen von SchülerInnen in heterogenen Gruppen“ zwischen dem ersten und dem vierten Lernjahr „an verschiedenen NMS-Standorten in ganz Österreich zeigen“,2 zu untersuchen. Dabei stehen die Erfahrungen der einzelnen Schülerinnen und Schüler im Mittelpunkt des Interesses.

Allein schon aufgrund ihrer Verfasstheit als Verlaufsstudie und auch aufgrund des Forschungsfeldes der Neuen Mittelschulen in Österreich, einer Schulform, die erst in den letzten Jahren entstand und an der richtungsweisende erziehungswissenschaftliche, schulpädagogische und didaktische Ansätze und Modelle erprobt und umgesetzt werden, kommt den wissenschaftlichen Arbeiten, die im Zuge des Projekts Personale Bildungsprozesse in heterogenen Gruppen entstanden sind und noch entstehen, eine Sonderstellung zu.

Darüber hinaus gelingt es in den bereits vorliegenden Studien3 durch die lernseitige Perspektive, durch die miterfahrende Forschungshaltung – in Anlehnung an Beekmans „teilnehmende Erfahrung“ (Beekman 1987) –, durch Vignetten als „Klangkörper des Lernens“ (Meyer-Drawe 2012d, S. 11) und Anekdoten als „Klangkörper der Erinnerung“4 den (Lern-)Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler in ganz besonderer Weise auf die Spur zu kommen. Im Gegensatz zu Test- und Messverfahren im Bildungsbereich, die vor allem auf das Erheben von Outcomes ausgerichtet sind, beschreitet die Innsbrucker Anekdoten- und Vignettenforschung hier bewusst andere Wege.

1.2 Das Phänomen Begehren nach Wissen und die Forschungsfrage

Das Phänomen Begehren nach Wissen wurde ausgehend von den im Feld gemachten Erfahrungen und der Auseinandersetzung mit Literatur entwickelt. Wie aus dem Eingangszitat von Käte Meyer-Drawe deutlich wird, sind das Begehren nach Wissen, die Hingabe und Leidenschaft für eine Sache oder ein Thema zentrale Voraussetzungen für das Lernen. Schulischem Lernen mangelt es oft an diesem Pathos; Lehrende verfallen nicht selten „unter dem Druck der Zeit und der Forderung nach Effizienz in die Attitüde ‚des Informierens‘“ (Meyer-Drawe 2012a, S. 36) und auf der Seite der Lernenden stehen das Erledigen von Aufgaben und das Bestehen von Prüfungen im Vordergrund. Und doch blitzt das Begehren nach Wissen in den Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler immer wieder auf. Diese Eindrücke und Überlegungen führten mich zu meiner Forschungsfrage: Wie und als was zeigt sich das Begehren nach Wissen, zeigen sich Wissbegierde und Neugierde in den Erfahrungen und erzählten Erinnerungen der Schülerinnen und Schüler? Was trägt dazu bei, diese zu wecken, und was lässt sie verstummen?

Meine Arbeit verortet sich – in methodologischer Hinsicht – im Bereich der empirischen qualitativen Erziehungswissenschaften, und zwar in den Teilgebieten der Schulpädagogik und pädagogischen Lernforschung und – in theoretischer Hinsicht, aber auch hinsichtlich der methodologischen Begründung – in leibphänomenologischen Ansätzen im Anschluss an Merleau-Ponty, Waldenfels und Meyer-Drawe. Grundgelegt ist ein pädagogischer Lernbegriff, Lernen wird als „bildende Erfahrung“ verstanden (vgl. Meyer-Drawe 2008a; Dewey 2011 [1993]).

Dem Phänomen des Begehrens kommt vor allem in der Philosophie, Theologie und in der Psychoanalyse ein zentraler Stellenwert zu. Im Bereich der Erziehungswissenschaften und der Schulpädagogik und auch in der Psychologie steht dem zentralen Thema dieser Arbeit der Begriff Motivation wohl am nächsten. Ein Grund für die Bevorzugung des Begriffs Begehren ist die – in Anknüpfung an Merleau-Ponty, Waldenfels und Meyer-Drawe – bereits erwähnte leibphänomenologisch orientierte Ausrichtung meiner Arbeit. Das Begehren stellt in diesem Verständnis ein Phänomen dar, das geradezu idealtypisch die Leibgebundenheit unserer Wahrnehmungen und Empfindungen wie auch unseres Strebens und Sehnens zeigt. Es reiht sich ein in jene dem Pathos zuzurechnenden Erfahrungen, die Waldenfels als Widerfahrnisse bezeichnet, „sofern etwas nicht nur ohne unser Zutun und wider Erwarten, sondern auch entgegen unseren Wünschen eintreten kann und überdies in Situationen vorkommt, wo wir nicht mehr Herr der Lage sind“ (Waldenfels 2002, S. 15).

In der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Begehrens war es daher unumgänglich – über die oben genannten philosophisch-phänomenologischen Texte hinaus –, Diskurse aus Nachbardisziplinen der Erziehungswissenschaft einzubeziehen, wenn auch auf ausführliche Darstellungen – allein schon aus praktischen Gründen – verzichtet werden musste.

Im letzten Jahrzehnt ist im Diskurs zum Lernverständnis – vielleicht auch in kritischer Resonanz auf den Chor derer, die Lehrpersonen auf die Rolle von Coaches und Lernbegleitern und -begleiterinnen beschränken und offene Lernformen als Rezeptur gegen jegliche Art von Lernunlust verstehen wollen – ein Gegentrend zu beobachten: Immer mehr Bildungswissenschaftlerinnen und Bildungswissenschaftler machen auf die Bedeutung der Negativität des Lernens aufmerksam und betonen, dass zum Lernen notwendigerweise auch Irritation, Enttäuschung oder sogar Schmerz gehören bzw. dass solche Erfahrungen Lernprozesse oft erst in Gang setzen (vgl. Meyer-Drawe 2008a; Mitgutsch 2008 u.a.). So wichtig diese Korrektur eines einseitigen Lernverständnisses ist, so sehr ist die Bedeutung des (leidenschaftlichen) Interesses und der Freude am Lernen nicht diskutierbar. Dieses Anliegen verfolge ich in meiner Dissertation: Das Begehren nach Wissen, die Neu(be-)gierde und wie sie zu wecken, zu befördern wären, in den Mittelpunkt der Überlegungen zu stellen. Dabei wird deutlich, dass das Pathos, die Ekstase und die Leidenschaft, die mit dem Begehren eng verknüpft sind, sowohl auf schmerzliche als auch auf lustvolle Erfahrungen verweisen.

1.3 Vorgangsweise und Forschungsmethoden

Vorgangsweise und Methoden der Datenerhebung und -bearbeitung der Dissertation basieren auf dem Forschungsinstrumentarium des Projekts Personale Bildungsprozesse in heterogenen Gruppen I an der Universität Innsbruck, das im gesamten Bundesgebiet durchgeführt wurde. Ein Team von zwölf Forscherinnen und Forschern hat im Schuljahr 2009/10 48 Schülerinnen und Schüler an 24 Neuen Mittelschulen im gesamten österreichischen Bundesgebiet durch ihren Schulalltag begleitet. Dabei kamen unterschiedliche Erhebungsmethoden qualitativer sozialwissenschaftlicher Forschung, wie Gespräche mit den Schülerinnen und Schülern, den Eltern, den Lehrpersonen und den Schulleiterinnen und Schulleitern, Protokolle teilnehmender Erfahrung aus dem Unterricht, Fotos und andere Leistungsdokumente zum Einsatz (vgl. Schratz; Schwarz; Westfall-Greiter 2012, S. 17).

Ausgehend von der Miterfahrung mit Schülerinnen und Schülern in ihrem Schulalltag entstanden Vignetten, die „ausgewählte Momente gelebter Schulerfahrung sprachlich […] verdichten“ (ebd., S. 33). Die während und unmittelbar nach den Unterrichtsbesuchen entstandenen Rohvignetten wurden im Gespräch mit Schülerinnen und Schülern kommunikativ validiert und in der Forschungsgruppe im Gespräch und in rekursiven Schreibprozessen angereichert. Diese Vignetten bilden in der überarbeiteten Form eine zentrale Datenbasis der Forschungsarbeiten, die bisher im Rahmen des Projekts entstanden sind. Die Texte werden unter dem Blickwinkel eines bestimmten Phänomens, wie z.B. Vertrauen, Schweigen, Unterbrechen, Sich-Einlassen oder Zuschreibung, gelesen.

In der zweiten Projektphase5 wurden dieselben Schülerinnen und Schüler in der vierten Klasse in zwei weiteren Feldphasen im Schuljahr 2012/13 durch ihren Schulalltag begleitet und die oben genannten Erhebungsmethoden noch einmal eingesetzt. Auf der Basis der Miterfahrung der Forscherinnen und Forscher entstanden wiederum Vignetten, die auch in der zweiten Projektphase im Gespräch mit Schülerinnen und Schülern kommunikativ validiert und im Team der Forscherinnen und Forscher angereichert wurden. Um wichtige Erfahrungsmomente der Schülerinnen und Schüler in den vier Jahren ihrer Sekundarschulzeit zu erfassen, wurden darüber hinaus auf Basis der Gespräche mit ihnen sowie mit Fokusgruppen bzw. den Transkripten dieser Gespräche, also auf der Basis der erzählten Erinnerungen, Anekdoten verfasst. Die im Team der Forscherinnen und Forscher entwickelte Kurzdefinition beschreibt eine Anekdoteals „merk-würdige Geschichte, in der Ereignisse mit besonderer Wirkkraft pointiert verdichtet werden, welche dem/der Forscher/-in (von einem/einer Schüler/-in) aus der erinnerten Erfahrung ihrer Mittelschulzeit erzählt werden“(Protokoll der Forschungsgruppe, Juli 2015).Auch Anekdoten wurden in einem intensiven Diskurs in der Gruppe der Forschenden angereichert und weiter bearbeitet.

1.4 Aufbau der Arbeit

Die vorliegende Arbeit gliedert sich in einen theoretischen und einen empirischen Teil. Im theoretischen Teil geht es darum, sich dem Phänomen des Begehrens von verschiedenen Richtungen her anzunähern, um dieses in seiner Vielschichtigkeit und seinem Facettenreichtum darzustellen. Dazu verhilft einerseits eine Auseinandersetzung mit Definitionen zum Begriff, wie sie in verschiedenen Wörter- und Handbüchern der Erziehungswissenschaften, der Psychologie und Philosophie, aber auch in historischen Lexika zu finden sind. Diese ersten Befunde dienen außerdem dazu, den Horizont zu eröffnen, den eine Spurensuche zu durchschreiten hätte (Kapitel 2.1.1.1). Ein zweiter Durchgang der begrifflichen Annäherung widmet sich dem Versuch, Grenzziehungen zu dem Begehren verwandten Phänomenen, wie dem Streben, der Sehnsucht, dem Wollen, Wünschen und Bedürfen, der Leidenschaft, dem Instinkt und Trieb vorzunehmen, wenngleich diese keine völlige Trennschärfe zulassen (Kapitel 2.1.1.2). Keine andere philosophische Richtung hat sich, ausgehend von Edmund Husserl, auf so differenzierte Weise mit unterschiedlichen Weisen des Zur-Welt-Seins beschäftigt, wie die Phänomenologie. Die Analysen philosophischer Denker und Denkerinnen zum Erkennen, Denken, Wahrnehmen, Fühlen, aber auch zum Wollen und Begehren konnten Neues und Erhellendes zutage fördern. Nicht zuletzt deshalb räumt diese Arbeit phänomenologischen Untersuchungen zum Begehren und zur Wissbegierde eine zentrale Stellung ein und erhebt den Anspruch, an diese Tradition – wenn auch mit der angemessenen Bescheidenheit – anzuknüpfen. Das Kapitel 2.1.2 konzentriert sich deshalb auf phänomenologische Antworten auf die Frage, Wer resp. was wen resp. was und wie begehrt. Nach einer vorläufigen Bestimmung des Subjekts des Begehrens, die in gewisser Weise unbestimmt, da unbestimmbar bleiben muss (Kapitel 2.1.2.1), wird im Anschluss an Bernhard Waldenfels und Emmanuel Lévinas Begehren als responsives Geschehen gedeutet. Unter diesem Blickwinkel gewinnt das Begehren bzw. begehren (Verb) noch einmal neue Facetten und es eröffnen sich – auch im Hinblick auf die Wissbegierde im schulischen Lernen – inspirierende Einsichten, aber auch weiterführende Fragen.

Im Kapitel 2.2 wird das Begehren nach Wissen in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Nach einer ersten begrifflichen Orientierung (Kapitel 2.2.1) widmet sich das Kapitel 2.2.2 der Geschichte der theoretischen Neugierde von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, wie sie Hans Blumenberg in einzigartiger Weise untersucht hat. In einem weiteren Schritt sollen die im Zuge der Spurensuche nach dem Begehren gewonnenen Befunde in einer ersten Zwischenbilanz hinsichtlich ihrer Implikationen für die Wiss- und Neu(be-)gierde untersucht werden (Kapitel 2.2.3).

Im dritten und letzten großen Kapitel des Theorieteils kommen die Sachen des Lernens zur Sprache (Kapitel 2.3), zuallererst die Frage nach dem Wissen und seiner Bedeutung, vor allem auch hinsichtlich seiner Weitergabe und/oder Aneignung im schulischen Lernen und vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen im Bildungsbereich (Kapitel 2.3.1). Das Kapitel 2.3.2 widmet sich dem Phänomen des Lernens unter pädagogischer Perspektive und stellt das Lernverständnis der Innsbrucker Anekdoten- und Vignettenforschung vor. Das Begehren nach Wissen und die Freude am Lernen stehen scheinbar in einem Spannungsverhältnis zu Konzepten, die die Negativität des Lernvollzugs betonen. Dieses Spannungsverhältnis wird im Kapitel 2.3.3 näher beleuchtet, wobei auch schmerzliche Aspekte des Begehrens (nach Wissen) zutage treten.

Eine wissenschaftstheoretische und forschungsmethodologische Auseinandersetzung und Positionierung leitet den empirischen Teil der Arbeit ein (Kapitel 3.1), gefolgt von einer Darlegung der Vorgangsweise der Datengewinnung im Rahmen des Forschungsprojekts Personale Bildungsprozesse in heterogenen Gruppen (Kapitel 3.2.1). Darüber hinaus werden die zum Einsatz gebrachten Forschungsmethoden, insbesondere die teilnehmende Erfahrung beziehungsweise Miterfahrung im Unterricht, die Textformen der Vignette und Anekdote sowie das Verständnis der Lektüre dieser Texte vorgestellt und theoretisch begründet (Kapitel 3.2.2).

Im zweiten Kapitel des empirischen Teils (Kapitel 3.3.1) werden sechs Vignetten und zwei Anekdoten exemplarisch vorgestellt und unter dem Blickwinkel des Phänomens des Begehrens – unter Einbeziehung der in der Studie erarbeiteten Einsichten und Erkenntnisse – gelesen. Dabei kam es zu einer wechselseitigen Anreicherung und Inspiration: Durch den besonderen Blickwinkel auf die in Vignetten und Anekdoten gefassten Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler wurden neue Facetten dieser Erfahrung deutlich, die philosophisch-pädagogische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Wissbegierde wurde durch die gefassten Erfahrungen bzw. Miterfahrungen in gewisser Weise auf die Probe gestellt, so manche Aussagen erschienen vor dem Hintergrund der Empirie fragwürdig und konnten differenziert, relativiert oder modifiziert werden. Ein weiterer Abschnitt des empirischen Teils der Arbeit (Kapitel 3.3.2) widmet sich deshalb einer Zusammenschau und Verdichtung der auf der Basis der Lektüre von Vignetten und Anekdoten gewonnenen Befunde. Dabei werden sowohl Hindernisse auf dem Weg zur Weckung und Kultivierung des Begehrens nach Wissen im schulischen Lehren und Lernen deutlich (Kapitel 3.3.2.1), als auch beeindruckende Spuren der Wissbegierde sichtbar (Kapitel 3.3.2.2). Es lässt sich zeigen, dass es jene Spuren sind, die die theoretische Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Begehrens vorgezeichnet hat, die sich auch im schulischen Lehren und Lernen Begehren wiederfinden lassen.

Im letzten Kapitel (Kapitel 4) gilt es, ein Resümee zu ziehen, in dem einerseits Eckpfeiler oder Wegweiser auf dem Weg begehrenden Lernens und Lehrens und andererseits offene Fragen vorgestellt werden, die weitere Untersuchungen lohnenswert erscheinen lassen.

2 Begehren und Begehren nach Wissen – eine phänomenologisch orientierte Studie

2.1 Begehren – das Phänomen

„Es ist also mancherlei im Spiel, wenn von Begehren die Rede ist.“ (Waldenfels 2000, S. 317)

2.1.1 Erste Deutungsversuche und Grenzziehungen

2.1.1.1 Begehren – was ist darunter zu verstehen? Antworten und weiterführende Fragen

Die Recherche in verschiedenen Lexika und Wörterbüchern zeigt ein facettenreiches Bedeutungsspektrum des Begriffs Begehren. Im Folgenden sollen einige (Be-)Funde in komprimierter Form dargestellt und daraus weiterführende Fragen abgeleitet werden, die den Horizont der anschließenden Spurensuche nach dem Begehren eröffnen.

Im Grimm’schen Wörterbuch6 wird begehren zwischen bitten und verlangen bzw. fordern eingereiht. Dieses Begehren bzw. begehren wird mit dem Genitiv oder Akkusativ verwendet und weist auf das Fordern im Sinn des Einforderns eines Rechts hin, was heute noch im Ausdruck Volksbegehren und überhaupt im juristischen Kontext von Bedeutung ist. Das Grimm’sche Wörterbuch unterscheidet diesen Begriff von begehren nach oder von etwas, also in der Verwendung mit einer Präposition. Hier erlangt der Begriff die Bedeutung von verlangen oder streben, also jene, um die es in dieser Arbeit geht.

Im Griechischen drücken die Begriffe eros, philia, epithymia das aus, was im Deutschen unter Begehren verstanden wird. Im Lateinischen finden wir unter anderen appetitus, desiderium, libido, invidia, cupiditas bzw. cupere und concupiscentia (vgl. Meyer 2010, S. 22). Interessant ist der lateinische Begriff desiderare (Verb), in dem die „Abwesenheit eines Sterns, eines ‚sidus‘“ (ebd.) anklingt. „‚Désirer‘ [das französische Wort für Begehren oder Wünschen] bedeutet somit vom Wortstamm her: Einem Stern nachgehen“ (ebd.; Hervorh. i. O., Anm. G. R.).

Das Nomen Begehren und das Verb begehren werden im heutigen alltagssprachlichen Gebrauch vor allem mit Sexualität und Erotik, also mit sexuellem Begehren in Verbindung gebracht. In einem weiteren Verständnis jedoch bedeutet Begehren ein (starkes) Verlangen nach etwas oder jemandem. In diesem Verständnis wird der Begriff bis heute in der Philosophie, in der Theologie und in der Psychologie, vor allem in der Psychoanalyse verwendet, auch wenn er längst nicht in allen Lexika zu finden ist.7 In der Online-Ausgabe des Wörterbuchs philosophischer Begriffe von Rudolf Eisler aus dem Jahr 19048 wird Begehren oder Begierde bestimmt als „intensives, durch ein Hindernis gewecktes Streben, das sich seines Zieles bewußt ist (‚ignoti nulla cupido‘)“. Das Encyklopädische Handbuch der Erziehungskunde aus dem Jahr 18849 definiert Begehren als „Seelenzustand, welcher dahin geht, einen anderen, nicht vorhandenen Seelenzustand herbeizuführen“ (Lindner 1884, 98), und auch als „eine im Streben begriffene Vorstellung“. Lindner unterscheidet zwischen sinnlicher und intellektueller Begierde (vgl. ebd., S. 99), letztere beziehe sich zum Beispiel auf das Lösen von Problemen. Hier klingt bereits jene Form des Begehrens an, die in dieser Arbeit – neben der Auseinandersetzung mit dem Begehren im Allgemeinen – thematisiert werden soll. In einem psychologischen Online-Wörterbuch10 wird Begierde als „Emotion mit Identifizierbarkeit eines eindeutigen Handlungsbezuges“ gekennzeichnet. Gegenbegriffe zum Begehren sind Ablehnung oder Abscheu 11oder auch Angst oder Ekel (vgl. Rosa 2016, S. 187 f.).

Entscheidend für das Verständnis des Begriffes scheinen demnach die Aspekte Seelenzustand bzw. Emotion, Streben (in unterschiedlicher Intensität, möglicherweise verstärkt oder sogar erst erzeugt durch das Auftreten eines Hindernisses), also ein Handlungsbezug, die Frage des Grads an Bewusstheit, auch hinsichtlich eines Ziels des Begehrens und das Vorhandensein einer Vorstellung des Begehrten zu sein.

Aus dieser ersten Recherche ergeben sich weitere Fragen: Was im Menschen, welcher Seelenteil (Platon) ist es, der für das Begehren verantwortlich ist? In welcher Weise sind hier (bewusste) Verstandeskräfte, Emotionen und Körper bzw. Leib beteiligt? Sind Begehren und Streben als eines zu denken oder ist das Begehren vorgängig und daraus entwickelt sich erst das Streben? Wonach richtet sich das Begehren von Menschen und ist es überhaupt zielgerichtet? Entsteht die Vorstellung des Begehrten zunächst im Bewusstsein des Subjekts oder liegt der Ausgangspunkt des Begehrens eher im ‚Außen‘, also im Anderen als materieller Welt und anderen Subjekten? In welchem Verhältnis steht das Begehren zum (freien) Willen, in welchem zu Wünschen, Trieben und Bedürfnissen? Welche Rolle spielen Hindernisse, die das Begehren verstärken oder überhaupt erst entfachen?

In Philolex, einem philosophischen Online-Lexikon von Peter Möller12, kommt der Begriff Begehren zwar nicht vor, doch unter dem Begriff Bedürfnis geht der Autor auf Aspekte ein, die wohl auf den des Begehrens auch zutreffen, wenn er Bedürfnis als „Wunsch, einen gewissen Gefühlszustand zu erreichen bzw. zu erhalten und damit zugleich einen anderen Gefühlszustand zu beseitigen bzw. zu vermeiden“13, charakterisiert. Laut dem Artikel zum Begehren im Handbuch der Erziehungskunde könne eine Befriedigung dadurch herbeigeführt werden, dass die „reproducierte Vorstellung zu einer sinnlichen Wahrnehmung wird“, was sich durch ein „lebhaftes Lustgefühl“ (Lindner 1884, S. 98) zu erkennen gebe. Auch in diesem Zusammenhang eröffnen sich weitere Fragen: Wie kommt es zur Befriedigung des Begehrens und ist eine solche überhaupt möglich? Hört das Begehren auf, wenn sein Ziel erreicht ist? Ist das Begehren überhaupt zielgerichtet oder reicht es nicht über konkrete Ziele hinaus?

Die Psychoanalytikerin Pagel weist, Lévinas zitierend, auf die paradoxe Struktur des Begehrens hin: „Das Begehrenswerte sättigt nicht das Begehren, sondern vertieft es, es nährt mich in gewisser Weise mit neuem Hunger.“ (Lévinas 1999 (1963), S. 220; zit. n. Pagel 1998, S. 295) Nicht selten wird der Zustand des Begehrens für einen größeren Genuss gehalten als dessen Befriedigung, die immer nur eine vorläufige sein kann. Dies zeigt sich auch in Verhaltensweisen, wie dem Hinauszögern oder Verlängern einer Befriedigung (vgl. auch Möde 1995, S. 175). Die Frage ist, ob sich diese Strategie auch auf das sogenannte geistige Begehren übertragen lässt. Jedenfalls scheint das Begehren von ambivalenten Empfindungen begleitet zu sein: Einerseits ist die Rede von schmerzlichen Gefühlen, von der Erfahrung eines Mangels oder der Existenz eines Hindernisses, andererseits erleben Begehrende das Streben selbst offenbar als lustvoll, besonders in der Erwartung seiner Erfüllung, nach dem Motto Vorfreude ist die schönste Freude.

Auch diese Befunde werfen weitere Fragen auf: Welche Rolle spielen das Hindernis, das Widerfahrnis, die Irritation im Zusammenhang mit dem Begehren? Sind diese – häufig oder immer – Ausgangspunkt, Quelle, Ursache des Begehrens? Ist es ein Unwohlbefinden, die Erfahrung eines Mangels, eine Enttäuschung, die das Begehren nähren oder überhaupt erst auf den Weg bringen? Ist das Ich weiß, dass ich nichts weiß der Ursprung des Begehrens nach Wissen und Erkenntnis? Inwiefern können die Langeweile, die Monotonie, die Gewohnheit Auslöser von Begehren nach Neuem, von Neugierde sein?

In den älteren Ausgaben der Lexika wird zwischen sinnlichem und geistigem Begehren unterschieden, häufig wird auch von niederen und höheren Begierden gesprochen (vgl. Lindner 1884;), wobei der Grad an Bewusstheit über die Bewertung entscheidet: Je bewusster, desto höherwertiger das Begehren. Lindner gibt den Erziehenden diesbezüglich auch Ratschläge an die Hand: „Worauf es jedoch bei der durch die Erziehung zu regelnden Entwickelung des Begehrens ankommt, ist dies, dass der Zögling mit seinen Begehrungen in dieser niederen Sphäre des Sinnlichen, Angenehmen und Nützlichen nicht gefangen bleibe, sondern dass sich sein Streben auch den höheren Objecten [sic] des Begehrens, dem Wahren, Guten und Schönen zuwende […]“ (Lindner 1884, S. 99).

Aus dieser Hierarchisierung und Einteilung ergeben sich wiederum eine Reihe von Fragen, die Theologen und Philosophen viele Jahrhunderte beschäftigen und es teilweise noch heute tun: Ist das Begehren per se gut (die theologische Begründung: da von Gott in den Menschen eingepflanzt) oder ist das Begehren von Natur aus schlecht oder zumindest unvernünftig, da triebgeleitet und deshalb muss der Mensch – mittels innerer Kräfte, wie Gewissen oder vernunftgeleiteter Wille, oder mittels äußerer Kräfte, wie Gesetze, Regeln etc. – dagegen ankämpfen, wie dies viele dualistische Konzepte nahelegen? Oder aber ist das Begehren als grundsätzlich neutral einzustufen und die Bewertung, ob gut oder schlecht, wahr oder falsch, hängt von der Frage ab, ob es dem besseren Leben, dem Glück ihrer/seiner selbst und dem anderer dient? Welche Rolle spielt hier das Ausbilden von Gewohnheiten, die den Charakter formen und Menschen das Anstreben des Guten – so sich dieses überhaupt bestimmen lässt – leicht machen, wenn zum Beispiel ein tugendhafter Habitus ausgebildet wird, wie dies Aristoteles vorsieht (vgl. Horster 1987, S. 89 f.)? Gibt es wahres und falsches Begehren? Eines, das zum Glück, und eines, das zum Unglück von begehrenden Menschen führt? Geht es letztlich darum, das Begehren zum Erlöschen zu bringen (Stoa, Buddhismus etc.), um wunschlos glücklich zu sein, in sich zu ruhen, nichts mehr zu wünschen, zu wollen etc.? Oder aber ist das Begehren die Lebenskraft und -energie des Menschen, die ihn antreibt, Ziele zu verfolgen, Dinge zu verbessern, sein Leben zu gestalten, glücklich zu sein? (Ähnlich dem, was die Psychoanalyse in Anknüpfung an Freud unter der Libido versteht.) Worauf richtet sich das Begehren des Menschen (letztlich)? Auf das Glück, auf Materielles, auf Einsicht, Weisheit, Wissen, auf Macht und Prestige?

Meyer, ein katholischer Theologe, der sich ausführlich mit dem Begehren und seinen verschiedenen Dimensionen, vor allem aber mit der Bedeutung des Begehrens für den christlichen Glauben und die Religionspädagogik beschäftigt, betont, dass das Begehren „nicht klar zu bestimmen [sei], denn ob bewusst oder unbewusst bildet es eine Einheit mit dem Denken, Fühlen und Tun“ (Meyer 2010, S. 24; Anm. G. R.). In dieser Hinsicht weicht Meyer von dualistischen Konzeptionen, wie sie noch im Handbuch von Lindner anklingen, ab, indem er das Begehren nicht eindeutig dem körperlichen oder seelischen Bereich zuordnet oder sinnliches und geistiges Begehren unterscheidet. Meyer beschreibt Begehren als „ein Drängen, das den Menschen über sich hinausweist hin zu seinen Mitmenschen, zur Welt an sich und letztlich auch zu Gott oder zu den Göttern“ (Meyer 2010, S. 22). In diesem Sinn verstanden bekommt das Begehren einen zentralen Stellenwert zugesprochen. Es wird als eine Art innere Weisheit gedeutet, als Quelle der Gottessehnsucht und des menschlichen Strebens nach einem guten Leben, das mehr ist als Brot und Bauch14; auch im Sinn der Aussage in Maurice Sendaks Geschichte von der Hündin Jennie, die bereits alles hat und dann zum Schluss kommt, es müsse doch „im Leben mehr als alles geben“ (Sendak 1969). Zu fragen ist, ob Meyer hier nicht eine Überhöhung und Überfrachtung des Begehrensbegriffes vornimmt. Schließlich kann sich das Begehren durchaus auch auf triviale Dinge richten, wie zum Beispiel das Begehren nach Materiellem, nach Reichtum oder Prestige. So betont zum Beispiel Lindner, dass das Begehren nicht nur das Gute, Wahre und Schöne umfasse, sondern auch das Nützliche, nicht bloß das Angenehme, sondern auch das Unangenehme, „insofern dieses als Mittel zur Erreichung eines größeren Angenehmen dient“ (Lindner 1884, S. 99). Seggern weist auf Spinoza hin, der in seiner Ethik eine Umwertung der Werte formuliere: „Wir begehren nicht ‚das Gute‘, sondern nennen ‚gut‘, was wir begehren, lehrt Spinozas ‚Ethik‘.“ (Seggern 2012, S. 258) Gleichzeitig ist der Gedanke, dass das Begehren eine Kraft im Menschen ist, die ihn letztlich auf andere Menschen und die Welt verweist und öffnet, nachvollziehbar. Selbst das Begehren nach Reichtum oder einem prestigeträchtigem Auto wurzelt schließlich im Begehren nach Glück, einem guten Leben oder im Begehren nach dem Anderen oder der Anerkennung anderer.

In jedem Fall klingt im Begehren eine Bewegung an. Begehren ist nie etwas Statisches, sondern etwas, das selbst bewegt ist und das den- oder diejenige, die begehrt, in Bewegung versetzt. Pagel weist auf die räumliche und zeitliche Dimension des Wunsches bzw. des Begehrens hin, der auf Erinnerungen zurückgreift, im Erwarten auf mögliche, zukünftige Erfüllung aus ist und in der Gegenwart im Mangel spürbar werde (vgl. Pagel 1998, S. 299). „So bewegt sich das Begehren in jenem Zwiespalt, der die unendliche Bewegung von Mangel und Erfüllung, von Einheit und Spaltung im Menschen unterhält.“ (Ebd.) Meyer zitiert den französischen Künstler und Schriftsteller Pierre Rey, der das Begehren in Bezug auf das künstlerische Schaffen untersucht: „Ich begehre, ich sterbe. Ich begehre nicht mehr, ich bin tot.“ (Pierre Rey 1999, Le désir15, S. 86; zit. n. Meyer 2010, S. 25) und beschreibt das Begehren als „eine dynamisierende Lebenskraft in jedem Menschen, die ihn lebenslang begleitet. Ohne diese Lebenskraft ist menschliches Leben fade, ohne jeglichen motivierenden Spannungsbogen. Begehren kann nicht festgehalten werden, es treibt den Menschen hinaus, hinaus aus sich zum anderen und über sich hinaus“ (Meyer 2010, S. 23 f.).

Meyer-Drawes Plädoyer für den Traumtänzer (vgl. Meyer-Drawe 2012a, S. 40), den sie als Gegenfigur zum „Menschen, wie ihn heute eine globalisierte Gesellschaft fordert“ (ebd.), beschreibt, weist in eine ähnliche Richtung, auch wenn hier nicht vom Begehren, sondern von der Sehnsucht die Rede ist. „Der Traumtänzer ist mit dem Fernen verbunden. Das Nahe interessiert ihn nicht. Er reagiert nicht auf Reize. Er wird von einem Anderswo, von einem Nirgendwo angezogen, nicht von einem aktuell Greifbaren. Seine Gedanken fliegen, tanzen. Vielleicht folgt er in seinen Träumen einer Sehnsucht.“ (Ebd., S. 40) Der Traumtänzer ist sozusagen der Prototyp eines Begehrenden und Sehnenden. Allerdings wird Begehren im Sinn des Sehnens von der (erotischen) Begierde abgegrenzt. Anhand des platonischen Mythos von den Kugelmenschen, die Zeus in der Mitte teilt, weist Meyer-Drawe auf die Unterschiede zwischen Begierde und Sehnsucht hin (vgl. ebd., S. 42 f.): Das geschlechtliche Begehren kann nach der Teilung erfüllt werden, die Sehnsucht nach der verlorenen Einheit aber ist und bleibt unstillbar.

Wenn Begehren und Sehnsucht so nahe beieinander liegen, stellt sich noch einmal die Frage nach der Vorstellung, ohne die es kein Begehren gäbe (vgl. Lindner 1884, S. 98). Kommt das Begehren, das zum Beispiel als oder in Begleitung der Sehnsucht auftritt, nicht auch ohne eine konkrete Vorstellung aus? Oder ist es nicht zumindest so, dass die Vorstellung in Form von Szenen, Bildern, Fantasien erst im Nachhinein dazukommt? Auf diesen Aspekt geht Merleau-Ponty ein, der von Waldenfels in Das leibliche Selbst (2000) zitiert wird: „Unter sexueller Intentionalität versteht Merleau-Ponty eine Sexualität, die nicht durch die Vorstellung eines Objekts […] geleitet ist, das Begehren richtet sich vielmehr direkt auf das zu Begehrende: ‚Das Begehren versteht blindlings, indem es Körper mit Körper verbindet.‘ (PP 183, dt. 18816) Es gibt ein Begehren des Leibes, ein Sichrichten auf den anderen Leib, das über die bloße Vorstellung hinausgeht“ (Waldenfels 2006, S. 326). Laut Waldenfels habe bereits Max Scheler über dieses sprachlose Gerichtetsein, z.B. im Bereich des Nahrungstriebes, geschrieben (vgl. ebd.). Am Anfang sei es so, dass die Dinge und die Anderen im Begehren selbst Gestalt annehmen, erst nachträglich seien Begehren und Vorstellung des Begehrten voneinander abzusondern (vgl. ebd., S. 327). „Diese Qualitäten, die dem entsprechen, was uns anzieht oder abstößt, gehen einer Beschreibung von sachlichen Eigenschaften voraus. Hunger und Durst erschließen in gewisser Weise die Welt“ (ebd.). Hier stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Bewusstsein, Affekten und Wahrnehmung, auf die vor allem im Kapitel 2.1.2.1 genauer einzugehen sein wird.

Von einem letzten Aspekt soll in diesem einleitenden Kapitel noch die Rede sein: Wie lässt sich das Begehren überhaupt erfassen und erforschen? Wie und als was zeigt es sich? Zeigt es sich (nur) im Verhalten, im Streben nach etwas, sozusagen als Motivator und Grund des Verhaltens? Oder zeigt es sich im Erstrebten, frei nach dem Sprichwort „Sage mir, was du begehrst, und ich sage dir, wer du bist“? Meyer weist auf die Nichterfassbarkeit des Begehrens hin:

Aus diesem Grund lässt es [das Begehren] sich im Moment seines Erscheinens – besser seines Aufblitzens – nicht erfassen. Man erfasst es deshalb nur in seltenen Fällen „in Aktion“. Meist gibt es sich erst im Nachhinein zu erkennen. Es ist immer schon Anderswo und wird deshalb – und dies ist entscheidend – auch aus der Perspektive dieses Anderswo beschrieben. (Meyer 2010, S. 24; Anm. G. R.)

Dies scheint ein zentraler Aspekt zu sein, wenn in dieser Arbeit dem Begehren, im empirischen Teil dem Begehren von Schülerinnen und Schülern, nachgegangen werden soll. Die Perspektive des Anderswo ist ja eines der Themen, mit denen sich die Phänomenologie immer wieder beschäftigt. Viele Phänomene, die das menschliche Denken, Sprechen und Fühlen betreffen, sind nur aus dieser Perspektive zu erfassen oder zu beschreiben. Selbst wenn es um die Reflexion über sich selbst geht, ist das Erfassen im Moment des Sich-Zeigens nicht möglich, sondern kann erst im Nachhinein erfolgen.

2.1.1.2 Versuch einer Grenzziehung: Begehren zwischen Streben, Sehnsucht, Wollen, Wünschen, Leidenschaft, Trieb, Instinkt und Bedürfnis

Im Folgenden soll in der Auseinandersetzung mit verwandten Begriffen das Verständnis für das Begehren noch einmal geschärft werden.

In vielen Definitionen wird Begehren mit dem Streben verknüpft, da Begehren meist zu einem Streben nach dem Begehrten führt. Es ist gewissermaßen der Motor, der unser Streben antreibt. Ich habe einen Wunsch und strebe nun danach, diesen zu erfüllen oder erfüllt zu bekommen. Waldenfels weist darauf hin, dass das „sich-selbst-bewegend“ in der Antike das zentrale Charakteristikum des Selbst war, ein Kriterium, um Natürliches von künstlichen Produkten zu unterscheiden. In der klassischen Kosmologie stehe die „Urtatsache des Strebens“ im Zentrum des Denkens (Waldenfels 2002, 51). In Abgrenzung vom Begehren ist das Streben bereits mit dem Handeln verbunden, mit einem praktischen Tun, das darauf ausgerichtet ist, das Begehrte zu erreichen. Das Streben kann nicht nur Ausfluss des Begehrens, sondern auch des Wollens sein, das stärker im Bewussten und Vernunftgeleiteten verankert ist, während Begehren auch als diffus, vage erfahren wird und teilweise unbewusst sein kann, sodass ein Artikulieren schwer fällt. Weder für das Streben noch für das Begehren oder Wollen gibt es eine Erfüllungsgarantie. Das Begehren zeichnet sich jedoch gerade dadurch aus, dass es über das Begehrte hinausreicht oder, wie Lacan es formuliert, um das Objekt herum geht (vgl. Pagel 1998, S. 299), nur teilweise erfüllt werden kann, im Letzten aber gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass es unerfüllbar bleibt.

Nah verwandt mit dem Begehren ist wohl auch die Sehnsucht. In diesem Ausdruck steckt sowohl die Suche als auch die Sucht, was auf einen potenziell krankhaften Aspekt verweist. „Die Bedeutung der Sehnsucht lässt sich nicht einfach in einem Wörterbuch nachschlagen, obwohl man dort durchaus Wortbestimmungen findet“, meint Meyer-Drawe. Sie zitiert aus dem Wörterbuch der Gebrüder Grimm aus dem Jahr 1905, in dem Sehnsucht als „Krankheit des schmerzlichen Verlangens“ (Meyer-Drawe 2012a, S. 45) beschrieben wird. So stark kann das Sehnen werden, dass es zur Sucht, zur Besessenheit wird. Die Sehnsucht betont den schmerzlichen und leiblich erfahrbaren Teil des Begehrens; das Vermissen von etwas oder jemandem setzt sich leiblich fest, ist vergleichbar mit den Schmerzen, die eine Wunde bereitet, oder wird auch mit der Erfahrung eines fehlenden Körperteils verglichen (auch wenn nur wenige Menschen auf eine solche Erfahrung tatsächlich zurückgreifen können). Sehnsucht ist zu den Affekten zu zählen, die sich häufig zum Begehren gesellen. Begehren kann auch als Sehnsucht auftreten oder von ihr begleitet sein. Heimweh gehört hierher und die Sehnsucht nach einem geliebten Menschen. Das Ziel der Sehnsucht ist häufig nicht klar bestimmbar, sie wird als vages Gefühl erfahren, wie es z.B. die Dichter der Romantik in besonderer Weise in zahlreichen Texten thematisierten17.

Meyer-Drawe grenzt den Begriff der Sehnsucht von dem des Wunsches ab: „Sie [die Sehnsucht] meint eine Stimmung und nicht etwa einen Wunsch. Wünsche hat man in Bezug auf Konkretes. Man wünscht sich etwas. Wünsche können erfüllt werden. Sehnsucht kann nicht gestillt werden. Sie hat ein melancholisches Verhältnis zum Begehrten. Dieses kann in der Vergangenheit, aber auch in der Zukunft liegen“ (Meyer-Drawe 2012a, S. 45; Anm. G. R.). In psychoanalytischen Ansätzen wird der Begriff des Wunsches häufig synonym mit dem des Begehrens gebraucht. So sprechen sowohl Lacan als auch Dolto oder Butler von dèsir oder Begehren, wenn sie den Begriff Wunsch, den Freud gebraucht, übersetzen. Die Lacan-Expertin Pagel betont, dass der Freud’sche Begriff des Wunsches der des Begehrens nach Lacan sei (vgl. Pagel 1998, S. 297). Pagel sieht den Unterschied zwischen Wunsch und Bedürfnis darin, dass das Bedürfnis nach Befriedigung an einem spezifischen Objekt, z.B. Nahrung strebt, während der „mit ‚Erinnerungsspuren‘ verknüpfte Wunsch über Mangel und Differenz hinweg nach Erfüllung und Identität“ strebe (ebd., S. 298; Hervorhebung i. Orig.) und vorwiegend in illusionären bzw. imaginären Bereichen angesiedelt sei. „In seiner ursprünglichen Form präsentiert er das, was in Wirklichkeit gerade nicht vorhanden ist“ (ebd.). In diesem Sinn sind Wunsch und Begehren wohl synonym zu gebrauchen, stehen aber der Sehnsucht näher als das Verständnis von Wunsch, auf das sich Meyer-Drawe bezieht, wenn sie diesen von der Sehnsucht abgrenzt. Denn das Begehren oder der Wunsch, den psychoanalytische Ansätze beschreiben, beziehen sich nur teilweise auf Konkretes.

Ein weiterer, verwandter Begriff ist das Wollen. Er steht dem Wunsch näher, ist aber aktiver als dieser; der Wunsch beinhaltet die Vorstellung, dass die Erfüllung des Wunsches von anderen abhängt, zumindest nicht ganz in meiner Hand liegt, während das Wollen mehr die selbstbestimmte und – bestimmende Seite des Subjekts betont. Das Wollen ist mehr der Vernunft als dem Gefühl zuzurechnen, sein Ziel ist ein Objekt, das durch die Vernunft als solches erkannt wurde und nun als Ziel verfolgt wird. Möglicherweise liegt dem (bestimmten) Wollen ein (unbestimmtes) Begehren zugrunde. Gleichzeitig muss betont werden, dass Zielvorstellungen, die allein vom Verstand als richtig, gut und erstrebenswert erkannt werden, nicht unbedingt attraktiv und begehrenswert sind und, dass es allein aus vernünftigen Gründen schwierig sein dürfte, die nötige Energie aufzubringen, um ein solches Ziel zu verfolgen. Der Eros, der mit dem Begehren eng verknüpft ist, spielt also auch im Bereich des Wollens und der Zielerreichung eine zentrale Rolle.

Schon aus den bisherigen Ausführungen dürfte deutlich werden, dass das Begehren eng verwandt ist mit Affekten und Emotionen, mit dem Pathischen und mit der Leidenschaft. Plessner setzt sich in mehreren seiner Abhandlungen mit dieser den Menschen „bindende[n] und entbindende[n], fesselnde[n] und entfesselnde[n], beglückende[n] und gefährdende[n] Möglichkeit“ (Plessner 1983b, S. 371) und mit ihrem Verhältnis zu Instinkten und Trieben auseinander.

Biologisch gesehen eine pure Narrheit, weil mit zerstörerischem Potential geladen, macht sie unsere exzentrische Position in und zu der Welt manifest. Mehrsinnig wie die Sache selbst, hat sich das Wort Passion für sie erhalten, in dem das Erdulden stärker anklingt als in der deutschen Version. Tiere leiden an dem, was ihnen versagt ist: Hunger und Durst, an mangelnden Möglichkeiten, ihre Triebe zu befriedigen, an Gefangenschaft. Der Stau kann wie beim Menschen Aggressionen auslösen. Doch nur der Mensch leidet an seiner Leidenschaft für einen Menschen oder eine Sache. (Plessner 1983b, S. 371)

Obwohl Triebe, so Plessner, als „libidinöses Heizmaterial“ (ebd., S. 372) auch dem Menschen unentbehrlich seien, fehle es den Trieben bei jenem – im Unterschied zu den Tieren – an der Eindeutigkeit der Richtung, was der Leidenschaft in die Hand spiele. (Vgl. ebd.) Deshalb sei nur der Mensch, „weil er sich an jemanden, an etwas verlieren kann, d.h. einer Welt geöffnet ist“ (ebd.), leidenschaftsfähig.

Wenn Plessner von einem „Surplus an Antriebskräften“ (ebd.) spricht, die dem Menschen durch seine exzentrische Position eigen wären, ist wohl auch das Begehren diesen zuzurechnen. Die Leidenschaft kann womöglich eine besondere Qualität eines Begehrens kennzeichnen oder mit diesem einhergehen, wodurch dieses zu einem leidenschaftlichen Begehren wird. Ähnlich wie die Leidenschaft kommt auch das Begehren nicht ohne ein Objekt oder Subjekt aus, auf das es sich richtet. Damit sind beide jenen menschlichen Möglichkeiten zuzurechnen, die – über Triebe und Instinkte hinaus, wenn auch nicht frei von diesen – die „Weltoffenheit“ (ebd., S. 374) fundieren. Sowohl in der bereits besprochenen Sehnsucht als auch in der Leidenschaft schwingt das Leiden, das Schmerzhafte des Pathos mit. Die Weltoffenheit ist laut Plessner nicht ohne Leidensfähigkeit zu haben, wie dies ja auch im Begriff der Passion oder auch im deutschen Begriff Leidenschaft anklingt.

Sich mit Leidenschaft für etwas einsetzen, sich leidenschaftlich einer Sache widmen bedeutet, dass sich Menschen mit Leib und Seele, mit Verstand und mit ihrem Herzen, mit ganzer Kraft und großer Begeisterung, wahrscheinlich auch mit hohem Engagement für etwas einsetzen, auf etwas aus sind oder sich auf etwas einlassen. Plessner warnt allerdings – gerade im Hinblick auf politisches Engagement – davor, die Leidenschaft zu idealisieren bzw. zu heroisieren.

[…] so besagt das keine Heroisierung solchen Verhaltens. Das politische Geschäft folgt auf weiten Strecken nüchternen Überlegungen unter Leitung von Machtinteressen. Cosi fan tutte. Staaten und Geschäfte brauchen Manager und Apparatschiks, die auf der Sparflamme der Routine in allen Büros der Welt mit Wasser kochen. Erst wenn die Grundfesten der Geschichte bedroht werden, wenn das Ganze gespielter oder echter Überzeugung in Frage steht, dann wird die Leidenschaft wach. Die seltenen Gründer- und Stifterfiguren, Revolutionäre und Propheten machen da eine Ausnahme. Aber das sind Visionäre, die ohne Feuer undenkbar sind, wie alle, die für eine große Sache leben und sterben. (Plessner 1983b, S. 375)

Von einer Idealisierung der Leidenschaft sollte aber noch aus anderen Gründen Abstand genommen werden. So kann man wohl nicht umhin, auch Terroristen der Terrororganisation Islamischer Staat leidenschaftlichen Einsatz für ihre Sache zuzugestehen. Die Leidenschaft an sich ist also nicht per se eine positive Energie und kann sich mit zerstörerischem Handeln genauso verbünden wie mit einem Engagement für eine gute Sache.

Wenn Plessner es unternimmt, die Leidenschaft von den Triebkräften abzugrenzen, tut er das auch im Bewusstsein, dass beide sich durchaus nahestehen und ineinandergreifen, auch wenn der Philosoph sich gegen eine „Zoologisierung“ (ebd.) des menschlichen Verhaltens durch ein reduktionistisches Verständnis als instinkt- und triebhafte Prozesse verwehrt. Deshalb soll hier der Begriff des Triebs – in seinem Verhältnis zu jenem des Begehrens – einer näheren Untersuchung unterzogen werden. Das Triebhafte im Menschen ist einerseits ähnlich wie das Begehren mit den Möglichkeiten der Vernunft schwer erfassbar, verhandelbar oder kommunizierbar, wenngleich durch den Einsatz von „Denkinstrumente[n] der Verhaltensforschung“ (ebd.) eine exaktere wissenschaftliche Erfassung möglich scheint. Triebhafte Kräfte werden stärker noch als das Begehren der leiblichen, naturhaften, materiellen Sphäre zugeordnet, auch, weil Menschen diese mit dem tierischen Leben teilen. Worin liegt aber nun der Unterschied zwischen Trieb und Begehren? Dass es ohne Vorstellung eines Gegenstandes kein Begehren gebe, wird in mehreren Lexika und Handbüchern betont (vgl. Lindner 1884). Ähnliches stellt auch Husserl fest, wenn er in der „Vorstellung eines bestimmten Worauf“ (Husserl 2013, S. 86) das Unterscheidungsmerkmal zwischen Begehren und Trieb identifiziert:

Der Trieb geht der Bestimmtheit des Worauf vorher, und die Vorstellung eines bestimmten Worauf ist ein „Nachkommendes“. Die Vorstellung einer Speise als Ziel einer Geschmacksbegierde gerade dieses Gehaltes ist Vorstellung von etwas, das bekanntermaßen mir gefiel und was ich jetzt wieder genießen möchte, dasselbe zwar nicht, aber eines von dieser Besonderheit. Die Idee weckt Begierde, (die) Idee eines Gefallenden (ein quasi Gefallendes schwebt mir vor) motiviert das Begehren. (Husserl 2013 [1908–1937], S. 86–87)

Husserl betont also, dass der Trieb als unbestimmter der Bestimmtheit der Vorstellung oder Idee, die das Begehren weckt, vorausgehe. Demnach wäre Hunger ein Trieb, aber der Hunger nach einer ganz bestimmten Speise oder einem bestimmten Geschmack ein Begehren. Ob Begehren immer eine der Vorstellung oder Idee nachfolgende Regung, ob das Begehren überhaupt notgedrungen mit einer Vorstellung verbunden ist, wie sowohl Lindner als auch Husserl dies darstellen, sei (noch) dahingestellt (siehe Kapitel 2.1.2). Husserl erläutert den Unterschied zwischen Trieb und Sehnsucht bzw. Begehren – Sehnsucht wird dabei als „bestimmtes Begehren“ definiert – anhand des Nahrungstriebes auf anschauliche Weise:

Der besondere Geschmack kann in sich wert sein, er kann auch verbunden sein mit Sättigung oder nicht (damit) verbunden sein. Ich kann hungrig sein, und im Essen einer Speise dieses Geschmacks werde ich satt. Und dieser Geschmack gefällt mir und ist in sich wert. Ich kann aber auch Sehnsucht nach diesem Geschmack haben, ich bin aber satt; und esse ich die Speise, so befriedigt sich diese Sehnsucht, aber ohne Sättigung oder in der Weise der unlustigen Übersättigung, die also stört. Die Sehnsucht nach der Speise ist kein Instinkt. Sie ist bestimmtes Begehren. (Husserl 2013 (1908–1937), S. 86–87)

Eine intensive Auseinandersetzung mit dem Triebbegriff, aber auch mit dem Begehren finden wir in psychoanalytischen Schriften. Nach Freud schlägt sich die Libido in der Ablösung vom Objekt Mutterbrust „am ‚Rande‘ des Befriedigungserlebnisses“ (Pagel 1998, S. 301) im Bereich der oralen Zone nieder, die von nun an „zur ‚Quelle‘ des Triebes wird. Der Verlust des ‚Eins-Seins‘ mit der Mutter und damit der Symbiose von Subjekt und Objekt zieht einen Mangel nach sich, der den Trieb auf die ‚Kreisbahn‘ drängt“ (ebd.). Das Verlorene werde durch andere Objekte sublimiert oder substituiert, dies zeige sich z.B. im oralen Bereich beim kindlichen Daumenlutschen, im Spiel der Gaumenfreude beim Anblick der Menükarte, aber auch beim Griff nach Zigaretten und anderen Suchtmitteln (vgl. ebd.). Diese Objekte, die Lacan als ‚Objekte klein a‘ bezeichnet, „gehören dem imaginären Bereich an, den das Begehren umkreist, ohne jedoch in ihm aufzugehen. Denn das Begehren ist einer anderen Ordnung verpflichtet. Diese Ordnung fanden wir bereits bei Levinas umrissen: ‚Das Begehrenswerte sättigt nicht das Begehren, sondern vertieft es, es nährt gewissermaßen mit neuem Hunger‘“ (1963, S. 22018; zit. n. Pagel 1998, S. 301). So löse sich das Begehren von der objektbezogenen Bedürftigkeit ab und greife ein in eine Kette symbolischer Realisierungen, so wie der Trieb „in einem Netz intersubjektiver Beziehungen zirkuliert und sein ‚Ziel‘ gewissermaßen ins Unendliche verlagert“ (Pagel 1998, S. 301). Pagel zitiert Lacan, der den Unterschied zwischen Trieb und Begehren auf den Punkt bringt: „Das Begehren klammert sich nicht am Objekt des Triebes fest – das Begehren geht um, es geht um das Objekt herum, wenn es im Trieb bewegt wird“ (Lacan 1964, S. 25519; zit. n. Pagel 1998, S. 301).

Herkert weist auf gemeinsame Charakteristika zwischen Trieb und Instinkt hin: „Als zentraler Begriff der Ethologie ist ‚Instinkt‘ wie ‚Trieb‘ ein motivationales Konzept, das die Funktionalität und dynamische Einheit des Verhaltens ausspricht, ohne diese auf eine bewußte Einsicht zurückzuführen. In diesem Sinne werden ‚Trieb‘ und ‚Instinkt‘ häufig synonym verwendet.“ (Herkert 1987, S. 49) Zwischen den beiden Begriffen sind aber auch Unterschiede feststellbar. So stellt Herkert fest, dass der Instinktbegriff mehr als der des Triebes auf angeborene Mechanismen rekurriere, „die, einmal ausgelöst, in starrer und durch Umweltvariable kaum zu beeinflussender Weise ablaufen und so gut wie keine innerartliche Variabilität aufweisen“ (ebd.). Aufgrund dieser Definition stellt sich die Frage, inwieweit und in welchen Situationen man beim Menschen überhaupt von Instinkt sprechen soll. Herkert schlägt – mit Verweis auf Schmidbauer – vor, dass „die angeborenen Verhaltenselemente, die ja durchaus auch beim Menschen vorliegen, nicht als Instinkte angesprochen werden dürfen, sondern bestenfalls als ‚Instinkt-Sprengstücke‘“ (Herkert 1987, S. 50). Als Beispiele nennt sie hier die rhythmische Brustsuche und das Saugen oder das Lächeln beim Neugeborenen, aber auch Elemente der Mimik, wie Lachen und Weinen beim Erwachsenen (vgl. ebd.). Dazu meint Husserl, der sich in späteren Überlegungen noch einmal mit Fragen befasst, die an den Grenzen seiner Phänomenologie angesiedelt sind:

Wie ist es bei erworbenen Trieben? Es treibt mich zur Arbeit; oder mitten der Arbeit fühle ich den Trieb hinauszugehen, mich in der Natur zu ergehen oder Klavier zu spielen und dgl. Hier mag es an einer klaren Vorstellung des Klavierspiels fehlen; mag die Vorstellung selbst eine völlig unanschauliche sein, so birgt sie doch in sich Bestimmtheit. Ohne wirklich ans Klavier zu gehen, kann ich mich fragen: Was wollte ich eigentlich, an was dachte ich? Unklarheit kann ich in Klarheit sich wandeln lassen. […] Eine pure Instinktvorstellung ist aber in dieser Weise nicht im Voraus explikabel. Solange ein instinktives Bedürfnis noch nicht zur Befriedigung gekommen ist, ist das Fehlende, das, was das Bedürfnis befriedigen würde, unbekannt; es ist nach keinem Zuge im Voraus bestimmt vorgestellt. (Husserl 2013 (1908–1937), S. 84)

Hier wird deutlich, dass Husserl das Begehren im Unterschied zum Trieb durch seine Bestimmtheit und die Möglichkeit der Explikation charakterisiert. In diesem Punkt weisen leibphänomenologische Ansätze, wie jener Merleau-Pontys noch in eine andere Richtung, wenn sie betonen, dass Wahrnehmung und Empfindung gegenüber dem Bewusstsein vorgängig sind. Überraschenderweise grenzt sich Husserl hier von der Vorstellung eines angeborenen und unveränderlichen Instinktes ab und betont die Möglichkeit des Erwerbs, also auch der Veränderung von Instinkten. Sicher ist, dass der Phänomenologe mit seiner klärenden Unterscheidung keine Abwertung des Instinkts verbindet. Husserl schreibt den Instinkten als „Urinstinkten“ sogar eine zentrale Bedeutung für jeden kreativ-schöpferischen Akt und für die menschliche Entwicklung als Ganzes zu, auch wenn dieser Instinktbegriff jenseits individueller Instinkte angesiedelt sein dürfte (vgl. Husserl 2013, S. 120). Hier unterscheidet sich Husserl in seinem Denken von dualistischen Konzepten bzw. solchen, die der Vernunft im Vergleich zum affektiven Bereich oder zum Körperlich-Leiblichen den Vorrang einräumen.

Ein weiterer Begriff, der im Zusammenhang mit dem Begehren nach einer Klärung verlangt, ist der des Bedürfnisses. Die Frage nach den Bedürfnissen bewegt die Menschen vor allem seit der Neuzeit, wovon eine Vielzahl von verschiedenen Bedürfniskatalogen und Konzepten zur Kategorisierung und Hierarchisierung von Bedürfnissen Zeugnis gibt. Kamlah in seiner Philosophischen Anthropologie (1984 [1972]) zitierend, verweist Meran auf einen wesentlichen Unterschied zwischen Begehren und Bedürfen: „Begehren wird als beliebiges Wollen aufgefaßt. ‚Doch nicht alles, was wir begehren, ‚brauchen wir wirklich‘, haben wir ‚wirklich nötig‘; nicht jedes Begehren ‚entspricht‘ einem Bedürfen‘“ (Kamlah 1984 (1972); zit. n. Meran 1987, S. 24). Die Frage ist, wer darüber entscheidet, ob es sich nun um ein „beliebiges Wollen“ oder um ein „wirkliches Bedürfen“ handelt. Offenbar erheben Bedürfnisse einen allgemeingültigeren Anspruch, sodass eine Einschätzung von außen über die Rechtmäßigkeit eines Bedürfnisses entscheidet. Damit rückt das Bedürfnis nahe an den Begriff des Rechts oder Anrechts auf etwas. Meyer hingegen stellt Bedürfnisse eher in die Nähe von triebhaften oder instinkthaften Regungen, wenn er Bedürfnisse als „an sich […] sprachlos“ (Meyer 2010, S. 35) charakterisiert, während „das Begehren […] nach Artikulation und somit nach Sprache“ (ebd.) strebe. Ein Spannungsfeld, wenn nicht gar ein Widerspruch zu dieser Aussage eröffnet sich hinsichtlich einer weiteren Unterscheidung: „Bedürfnisse haben ein präzises Ziel; im Gegensatz dazu folgt das Begehren lediglich einer Spur, einer Spur des Mangels, die der Anspruch hinterlassen hat“ (ebd.). Bedürfnisse haben ein konkretes Ziel, obwohl sie sprachlos sind? Auch Begehren ist wohl als vages, nicht artikuliertes, vielleicht sogar nicht artikulierbares Streben oder Sehnen zu denken. Der deutsche Soziologe Hartumut Rosa bestimmt das Begehren als „Grundmoment menschlicher Weltbeziehung“ und als ungerichtet und unstillbar, während er, wenn dieses „sich auf konkrete Objekte beziehungsweise einen spezifischen Weltausschnitt richtet“ (Rosa 2016, S. 200), von Bedürfnis oder Begehrung spricht, die im Gegensatz zum Begehren stillbar seien. Entscheidend wird hinsichtlich dieser und anderer Klärungsversuche sein, auf die Perspektive zu achten, unter der ein Phänomen beschrieben wird. Waldenfels rät zu einer weiteren Unterscheidung, nämlich der zwischen Bedarf und Bedürfnis, wobei ersterer für die Außensicht steht, wenn also jemand anderer einen Mangel bzw. Bedarf feststellt (vgl. Waldenfels 2002, S. 48). Der Philosoph erinnert aber zugleich daran, dass Bedürfnisse immer schon „mehr bedeuten […] als zu befriedigende Bedürfnisse“ (Waldenfels 2007, S. 339) und, dass auch „orale oder anale Verhaltensformen, mit denen das Kleinkind sich an die Welt herantastet, auf Ansprüche des Anderen antworten“ (ebd.), und spricht von einem „Überschuß des Begehrens in der Sphäre biologisch vorgeprägter Bedürfnisse“ (ebd.).

Dieses erste Wandeln auf den Spuren des Begehrens offenbarte vor allem die Vielschichtigkeit dieses Phänomens und seine Verwobenheit mit verwandten Begriffen, wenngleich der Versuch einer Abgrenzung die spezifischen Konturen des Begehrens womöglich etwas klarer hervortreten ließ. Hartmut Rosa weist darauf hin, dass das Begehren „den Antrieb für jede Bewegung in die Welt hinein“ bilde und als „Neugierde, Liebe, Lebenslust, Entdeckerfreude etc.“ (Rosa 2016, S. 200) auftrete. Dieser Hinweis zeigt, dass der Versuch einer Abgrenzung wohl mehr als Versuch einer Akzentuierung einzustufen ist und, dass das Begehren in unterschiedlichen Modalitäten und Formen anzutreffen ist. Im Weiteren soll die Spurensuche fortgesetzt werden und dabei sollen verschiedene Blickwinkel eingenommen und wieder verlassen werden, um letztendlich eine – zumindest vorläufig – abgesicherte Position zu beziehen.

2.1.2 Wer oder was begehrt wen oder was und wie?

Diese Arbeit hat sich hinsichtlich des Verständnisses des Begehrens vor allem den Denkbewegungen phänomenologischer Philosoph(inn)en verschrieben. Bei der Darstellung dieser geht es einerseits um der Frage, wie dieses Selbst, das begehrt und vom Begehren erfasst und bewegt wird, zu denken ist; andererseits stellt sich die Frage nach dem Ausgangspunkt des Begehrens: Entsteht das Begehren aus einem Mangel heraus oder ist es als ein responsives Geschehen im Sinn eines Antwortens auf einen Anspruch zu verstehen? Und welche Ansprüche sind es, die hier eine Anwort einfordern?

2.1.2.1 Wer oder was begehrt hier eigentlich? Anthropologische Zugänge

Übrigens aber ist der Mensch ein dunkles Wesen, er weiß nicht, woher er kommt, noch wohin er geht, er weiß wenig von der Welt und am wenigstens von sich selber. Ich kenne mich auch nicht und Gott soll mich auch davor behüten.

(Goethe 1829)20

Die wissenschaftliche Behandlung des Menschen wirft aber dadurch, daß sie ihn zu einem Gegenstand macht, über unsere Bedenken zu Anfang hinausgehende grundsätzliche Fragen auf, Fragen, die an das Verhältnis von Wirklichkeit und Selbstverantwortlichkeit oder, wenn man es anders formulieren will, an die Grenzen der Vergegenständlichung menschlichen Wesens rühren. Inwieweit ist der Mensch überhaupt gegenständlich zu machen? Erschließt er sich bis in seine letzten Falten wissenschaftlichem Erkenntnisbemühen oder ist diese Objektivierung aus Gründen seiner Wesenseigentümlichkeit bzw. aus Gründen moralischer Art begrenzt? Selbsterkenntnis — wenn Erkenntnis in wissenschaftlicher Weise zustandekommen soll — bedeutet notwendig Selbstobjektivierung. Kann bzw. darf sie so weit vorangetrieben werden, daß dem Selbst damit sein Subjektcharakter verloren geht? Bedroht damit nicht die Erkenntnis jenes Element menschlicher Würde, ohne das er im Verhältnis zu seinen Mitmenschen wie zu sich selbst nicht auskommt: die Unnahbarkeit?

(Plessner 1983a, S. 128)

Ich komme für mich selbst auf eine Weise immer zu spät. Der Schwung des Ich reicht nicht aus, um an sein sozial noch unvermitteltes Mich zu gelangen. So sah es Mead (vgl. 1962, S. 174). „Ich bin, aber ich habe mich nicht“ — heben übereinstimmend Bloch und Plessner hervor. Stets kommt mein Erkennen zu spät, weil mein Sein bereits am Werk ist. Tatsächlich ist es immer wieder erstaunlich, die Rechnung darüber aufzumachen, was man über sich wissen kann und was nicht. Wir werden geboren und sind nicht Zeugen unseres eigenen Beginnens. Unser Tod geht über unsere eigenen Erfahrungen hinaus. Wir erscheinen und entschwinden auf dem Feld des anderen. Diese grundsätzliche Versagung zieht sich durch unsere Existenz. Wir sind gleichsam zur Sozialität verdammt, auch wenn wir einsam sind. Der andere nimmt uns gerade dort in Beschlag, wo wir uns selbst nicht gegeben sind, etwa in unserem Rücken.

(Meyer-Drawe 2008b, S. 25)