18,99 €
Ali liegt auf einem verlassenen Berggipfel auf dem Rücken und weiß, dass etwas nicht stimmt. Grelles Licht dringt durch seine Lider, und in seinem Körper pocht ein dumpfer Schmerz. Während er sich in die Geborgenheit eines nahen Baumes zu retten versucht, sieht er die verirrte Granate wieder vor sich, die seinen Militärposten getroffen hat. Doch jede Empfindung bringt eine weitere Erinnerung zurück: an das Spiel des Lichts in den Blättern seines Baumhauses, an das melodiöse Pfeifen der Bäume im Tal, an die Kraft der mütterlichen Hände und an den lockenden Wind, der ihm vom Fliegen erzählt. In wortmächtigen Szenen setzt Samar Yazbek der Sprachlosigkeit des Krieges die Kraft der Poesie entgegen und erschafft einen literarischen Rausch aus Güte, Grausamkeit und Sehnsucht.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 235
Veröffentlichungsjahr: 2024
Ali liegt auf einem verlassenen Berggipfel, Schmerz pocht durch seinen Körper, seine Erinnerungen sind fort. Während er sich in den Schutz eines nahen Baumes rettet, kehrt das Bild der verirrten Granate zu ihm zurück - doch auch das Sonnenlicht zwischen den Blättern, die Melodie der Bäume und der lockende Wind, der ihm vom Fliegen erzählt.
Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.
Samar Yazbek (*1970) ist eine syrische Journalistin, Schriftstellerin und Bürgerrechtlerin. 2011 floh sie mit ihrer Tochter aus Damaskus und lebt seither in Paris. Ihre Werke wurden u. a. mit dem PEN Pinter Preis, dem Tucholsky Preis und dem Prix du Meilleur Livre Étranger ausgezeichnet.
Zur Webseite von Samar Yazbek.
Larissa Bender (*1958) studierte u. a. Islamwissenschaft, Soziologie und Arabisch. Sie ist Übersetzerin, Journalistin, Dozentin für Arabisch, Moderatorin und berät Verlage und Kulturveranstalter. 2018 erhielt sie für ihr Engagement als Brückenbauerin in die arabische Welt das Bundesverdienstkreuz.
Zur Webseite von Larissa Bender.
Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Hardcover, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)
Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.
Samar Yazbek
Wo der Wind wohnt
Roman
Aus dem Arabischen von Larissa Bender
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
HINWEIS: Ihr Lesegerät arbeitet einer veralteten Software (MOBI). Die Darstellung dieses E-Books ist vermutlich an gewissen Stellen unvollkommen. Der Text des Buches ist davon nicht betroffen.
Die Originalausgabe erschien 2021 bei Manshurat al Mutawassit, Mailand.
Die Übersetzung aus dem Arabischen wurde vom SüdKulturFonds unterstützt.
Die Übersetzung wurde gefördert durch ein Residenzstipendium aus Fördermitteln der Kunststiftung NRW im Europäischen Übersetzer-Kollegium, Straelen
Originaltitel: Maqām ar-Rīḥ
© by Samar Yazbek 2021
Diese Ausgabe erscheint in Vereinbarung mit der Italian Literary Agency und der RAYA Agency for Arabic Literature.
© by Unionsverlag, Zürich 2024
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Kopf - Itani, Berg - Tom Till (Alamy Stock Foto)
Umschlaggestaltung: Sven Schrape
ISBN 978-3-293-31150-3
Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte
Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)
Version vom 07.06.2024, 17:57h
Transpect-Version: ()
DRM Information: Der Unionsverlag liefert alle E-Books mit Wasserzeichen aus, also ohne harten Kopierschutz. Damit möchten wir Ihnen das Lesen erleichtern. Es kann sein, dass der Händler, von dem Sie dieses E-Book erworben haben, es nachträglich mit hartem Kopierschutz versehen hat.
Bitte beachten Sie die Urheberrechte. Dadurch ermöglichen Sie den Autoren, Bücher zu schreiben, und den Verlagen, Bücher zu verlegen.
Falls Sie ein E-Book aus dem Unionsverlag gekauft haben und nicht mehr in der Lage sind, es zu lesen, ersetzen wir es Ihnen. Dies kann zum Beispiel geschehen, wenn Ihr E-Book-Shop schließt, wenn Sie von einem Anbieter zu einem anderen wechseln oder wenn Sie Ihr Lesegerät wechseln.
Viele unserer E-Books enthalten zusätzliche informative Dokumente: Interviews mit den Autorinnen und Autoren, Artikel und Materialien. Dieses Bonus-Material wird laufend ergänzt und erweitert.
Durch die datenbankgestütze Produktionweise werden unsere E-Books regelmäßig aktualisiert. Satzfehler (kommen leider vor) werden behoben, die Information zu Autor und Werk wird nachgeführt, Bonus-Dokumente werden erweitert, neue Lesegeräte werden unterstützt. Falls Ihr E-Book-Shop keine Möglichkeit anbietet, Ihr gekauftes E-Book zu aktualisieren, liefern wir es Ihnen direkt.
Wir versuchen, das Bestmögliche aus Ihrem Lesegerät oder Ihrer Lese-App herauszuholen. Darum stellen wir jedes E-Book in drei optimierten Ausgaben her:
Standard EPUB: Für Reader von Sony, Tolino, Kobo etc.Kindle: Für Reader von Amazon (E-Ink-Geräte und Tablets)Apple: Für iPad, iPhone und MacE-Books aus dem Unionsverlag werden mit Sorgfalt gestaltet und lebenslang weiter gepflegt. Wir geben uns Mühe, klassisches herstellerisches Handwerk mit modernsten Mitteln der digitalen Produktion zu verbinden.
Machen Sie Vorschläge, was wir verbessern können. Bitte melden Sie uns Satzfehler, Unschönheiten, Ärgernisse. Gerne bedanken wir uns mit einer kostenlosen e-Story Ihrer Wahl.
Informationen dazu auf der E-Book-Startseite des Unionsverlags
Cover
Über dieses Buch
Titelseite
Impressum
Unsere Angebote für Sie
Inhaltsverzeichnis
WO DER WIND WOHNT
1 – Es ist nur ein kleines Blatt. Durch seine …2 – Kaum haben ihn Apathie und Erschöpfung mitgerissen …3 – Unter den gleißenden Sonnenstrahlen sieht er hinter dem …4 – Der Ball fiel5 – Kaum kann er wieder klar denken, überkommt ihn …6 – Er hebt die Finger, krümmt sie ein wenig …7 – Kaum erspürt er mit der Hand die Klebrigkeit …8 – Ali weiß nicht, wer er ist. Sein Leben …9 – Selbst in Augenblicken größter Angst und Verzweiflung hatte …10 – Träume, die man als brechendes Licht zwischen tanzenden …11 – Nahlas gekrümmter Rücken ist das Letzte, an das …12 – Das schwarze Samenkorn beginnt wieder, vor ihm zu …13 – Endlich geht der Mond auf14 – Aber was ist das? Der Zweig eines Baumes15 – Seine Hand ist immer noch trocken. Ali glaubt …Mehr über dieses Buch
Über Samar Yazbek
Über Larissa Bender
Andere Bücher, die Sie interessieren könnten
Bücher von Samar Yazbek
Zum Thema Arabien
Zum Thema Frau
Es ist nur ein kleines Blatt. Durch seine verklebten Wimpern kann er es unter der Mittagssonne nicht sehen.
Nur das Blatt eines Baumes, nichts weiter. Grün und an den Rändern ausgebuchtet, liegt es wie ein Vorhang über seinen Augen, wenn er langsam und unter großer Anstrengung die Lider bewegt. Ein Blatt, das seine langen lehmverklebten Wimpern berührt. Ein Blatt, das er nicht deutlich erkennen kann, weil feine Staubkörnchen, die in seiner Augenflüssigkeit schwimmen und jucken und brennen, ihn daran hindern. Würde er die Lider noch einmal bewegen und die Augen öffnen, würde ihm das Blatt in sein linkes Auge fallen. Die ganze Welt besteht aus diesem einen Blatt. Kein Geräusch, kein Geruch. Das andere Auge spürt er nicht. Ob er überhaupt noch lebt? Vielleicht! Hat er noch einen Körper? Wo ist er, dieser Körper? Sein Gefühl für sein eigenes Ich reicht nicht weiter als bis zu dem fahlen Licht, das von schwarzen Linien durchbrochen wird. Es ist unerheblich, ob das seine Wimpern oder seine Albträume sind, denn die Dunkelheit senkt sich schon wieder in ihn herab. Er stürzt langsam hinunter, tief, in einen ihm unbekannten Ort. Seine Schwerkraft schwindet. Er spürt, wie sein Kopf hin- und herschaukelt. Stürzt er vielleicht in ein Grab? Ist das seine Beerdigung? Ist das sein Kopf?
Das Blatt ist herabgefallen, sein Blick ist frei. Er sieht ein Auge – sein Auge. Es schwebt in der Luft und beobachtet, wie ein Körper in eine Grube sinkt. Sein Körper liegt in einem Sarg. Er sieht ihn nicht, aber er weiß, dass es sein Körper ist. Die Grube ist nicht tief genug, dass er es mit der Angst zu tun bekäme, aber tief genug, um darin zu verschwinden und sich aufzulösen, nachdem sie zugeschüttet wurde. Ein einziges Auge also.
Menschliche Silhouetten stehen um die Grube herum. Er genießt das Gefühl, in dem Abgrund zu schaukeln, wo er die feinen verzweigten Graswurzeln in den Erdschichten erkennen kann. Dünne und dicke weiße Wurzeln, die von Spaten zerquetscht wurden. Er riecht den Morgenduft, der von den Wurzelenden aufsteigt, und er sieht rosafarbene Würmer, die auf den Sarg fallen. Er erinnert sich an die weiche Berührung, als sie ihm über die Hand krochen. Wo war das gewesen? Wann hatte er rosafarbene Würmer gesammelt, sie auf einem großen Felsen aufgereiht und Wettrennen mit ihnen veranstaltet? Er weiß es nicht. Aber der Anblick der tanzenden Würmer, die ihn im Fallen begleiten, beruhigt ihn. Dann wird das Bild klarer, es ist der Friedhof neben dem Mausoleum und dem riesigen Baum. Er ist immer noch hier. Wo? Und was ist dieses »hier«? Er ist es, kein anderer. Er ist nicht von seiner Existenz getrennt. Er sieht sich selbst als ein sehendes Auge. Er sieht Frauen, die sich hinter den Männern auf dem Friedhof versammelt haben. Die Häupter mit weißen Tüchern bedeckt. Unter ihnen sieht er eine Frau, die sich ihr weißes Tuch vom Kopf reißt, sich zwischen die Männer drängt und schreit. Es ist seine Mutter. Woher weiß er, dass es seine Mutter ist? Er kann sie doch gar nicht genau erkennen! Er hat also eine Familie. Aber er fühlt nichts. Er ist wie ein fliegender Vogel. Er hat seine Mutter gesehen, und er weiß, dass er kein Vogel ist. Er ist nichts als ein einziges Auge. Er ist nicht einmal zwei Augen. Aber er kann dreidimensional sehen. Er ist ein Auge, das über dem Friedhof des Dorfes schwebt, seines Dorfes, und er sieht sich selbst in die Grube sinken. Er hört Weinen, und er nimmt die Schemen einer Frau wahr. Aus der Art, sich seltsam hüpfend fortzubewegen, als wäre sie verärgert, schließt er, dass es seine Mutter ist. Er hört Jubeltriller, Schluchzen, Schüsse, Gemurmel. Das kennt er von Beerdigungen. Das übliche Lamentieren und Wehklagen aber hört er nicht, und er sieht keine Frauen, die sich die Kleider über der Brust zerreißen. Die aufgeregten Stimmen, die er dann vernimmt, scheinen ihm von anderer Art zu sein. Das da ist sein Vater. Und seine verwitwete Schwester mit ihrem dicken Bauch. Der Anblick kommt ihm nicht fremd vor, er hat das alles irgendwann schon einmal gehört und gesehen. Aber er sieht es nur verschwommen, denn er schwebt in der Luft und kann nicht herunter. Er ist ein fliegendes Auge, das herabsinkt, um zu sehen, ob dies seine eigene Beerdigung ist oder die seines Bruders.
Es gelingt ihm nicht, sich zu bewegen und herauszufinden, für wen das Grab gedacht ist, denn er ist mit unsichtbaren Seilen am Himmel festgebunden. Die Menschenmasse unter ihm geht auseinander. Die Leute bewegen die Lippen, aber er kann ihre Stimmen nicht hören. Er will schreien, sagen, dass er dort ist, dass er nicht tot ist, und dass er nicht sterben will. Er hätte ihnen am liebsten klargemacht, dass derjenige, der in diese Grube herabsinkt, irgendein Monster ist, oder vielleicht ein Fremder, aber nicht er. Aber niemand hört ihn. Diese Beerdigung kommt ihm bekannt vor, doch er erkennt nicht, ob es die seines Bruders oder seine eigene ist. Er blickt sich um und sieht noch andere Körperteile, die am Himmel festgebunden sind, sie starren auf zahlreiche Gruben überall auf den Berggipfeln, die das Meer überblicken. Kurz schnürt sich ihm die Kehle zu, dann kommt er wieder zu sich. Wie kann sich einem Auge die Kehle zuschnüren?
Er ist nur ein einziges Auge, das diese Grube sieht. Endlich kann er seine Mutter singen hören. Das ist ihre Stimme. Manchmal singt seine Mutter, und manchmal lässt sie ein lautes Seufzen hören. Er sieht sie schreien, er weiß, dass sie seinen Namen ruft, aber er hört nichts. Ihre Stimme erstirbt, wenn sie ihn ruft. Sie blickt in den Himmel und weiß, dass er sie sieht. Die Stimme seiner Mutter wird lauter, sie ruft ihn, und das bedeutet, dass er tot ist, während er seine Seele im Himmel schaukeln sieht. Er will pfeifen, damit seine Mutter ihn erkennt, aber er ist nur ein Auge, und er ist nicht einmal imstande, wie eine Amsel zu zwitschern, wie er es immer gemacht hat. Er kann die Fahne deutlich erkennen: rot, weiß, schwarz, in der Mitte zwei Sterne. Welche Farbe haben sie? Er weiß es nicht. Dann sieht er die Hände seiner Mutter den Sarg umklammern und die Fahne wegziehen. Es kommt ihm vor, als starre er auf einen riesigen Bildschirm, auf dem nur noch ihre aufgerissenen Hände zu sehen sind, die sich wie Nägel in das Holz krallen, um Teil des Sargs zu werden. Dann verschwinden Stimme und Farben, und es bleibt nur der Körper seiner Mutter zurück, die sich gegen den Sarg drückt. Da weiß er, dass nicht er der Tote ist, denn er erinnert sich plötzlich, genau in dem Augenblick, in dem er seine Lider bewegt und ein Blatt sieht, dass dies die Beerdigung seines Bruders ist, dass nicht er es war, der in diese Grube gelegt wurde. Er öffnet sein anderes Auge. Das Blatt ist heruntergerutscht, er hat freie Sicht. Er stellt fest, dass sein Kopf unverletzt ist und auf seinem Rumpf sitzt, und noch weitere Blätter den Teil seines Körpers bedecken, den er spürt. Er ist in der Lage, den Kopf zu bewegen und den Baum zu sehen! Einen großen Baum, der weit weg ist. Aber nicht so weit, dass er eine Einbildung zu sein scheint. Er ist weder Traum noch Albtraum. Er reißt die Augen auf, und plötzlich werden sie von Licht überflutet. Er lebt. Und er ist erst seit Kurzem hier. Er weiß nicht genau, was »seit Kurzem« bedeutet, aber er ist hier. Über ihm der Himmel, und sein Körper ist bedeckt von verwitterten gelben und grauen Blättern. Ein einziges grünes Blatt hängt über seinem linken Auge. Kein Geräusch. Absolute Stille. Da realisiert er, dass er sich nicht bewegen kann und dass er den vertrauten Geruch von Verbranntem riecht. Er weiß, dass er zwei Hände hat, denn er kann sie spüren. Dann hört er ein Rascheln und das Zerfallen von Blättern. Er vollführt eine leichte Bewegung, die genügt, um festzustellen, dass er auch mit seinem anderen Auge sieht. Für jemanden, der aus dem Himmel auf ihn herunterblickt, muss er aussehen wie ein Haufen Laub und Zweige, aus denen zwei Augen herausschauen, das Gesicht verborgen unter einer Maske aus Lehm und Blut. Nur das Weiß seiner Augen lässt erahnen, dass dort ein menschlicher Körper in der Einöde eines Berggipfels liegt, auf dem ein großer Baum steht.
Bis zu diesem Augenblick wusste er das nicht. Er wusste nicht, dass er unter Laub, Erde und Zweigen begraben ist. Ihm war nur bewusst, dass er atmete und dass er zwei Augen und zwei Hände hatte. Er hört die Schläge seines Herzens und stößt einen tiefen Seufzer aus, der den Brustkorb in Bewegung versetzt. Auch das Rascheln vernimmt er wieder. Er liegt immer noch hier, auf dem Boden, aber er spürt seine Füße nicht. Ein brennend heißer Spieß sticht ihm in den Rücken. Oder vielleicht ein eiskalter. Er weiß nicht, was es ist, aber es fühlt sich klebrig an. Als läge er bis zur Brust unter Zement begraben. Er kann nicht aufstehen, um seinen Körper zu inspizieren, aber er glaubt noch immer, dass er am Leben ist.
Die Anwesenheit des Baumes verwirrt ihn. Vielleicht ist es der Baum des Dorfmausoleums. Oder der Baum neben ihrem Haus! Und vielleicht ist er es doch, der in die Grube gelegt wurde. Er ist sich noch nicht sicher, ob er fantasiert, trotz der Erinnerung an die Beerdigung seines Bruders. Das ist der gleiche Baum, den er seit seiner Kindheit kennt. Nach einer Stunde, in der er schwitzt und in die hochsteigende Sonne starrt, erinnert er sich, dass dieser Baum an der Frontlinie stand, und dass er hier war und ihn wie üblich verzückt angesehen hat, das Gewehr in der Hand, neben ihm seine Kameraden.
Er beschließt, sich zu bewegen, obwohl er es kurz angenehm fand, in den Schlummer des Abgrunds zu fallen. Noch einmal schüttelt er sich und muss feststellen, dass er sich nicht rühren kann. Die Stille macht ihm Angst. Er vernimmt die Schläge seines Herzens, die beinahe sein Trommelfell zum Platzen bringen. Woher kommt diese Stille? Wo ist das Zwitschern der Vögel und das Rascheln des Baumes? Jeder Baum hat seine ganz eigenen Geräusche, genauso wie die Vögel, seine Kameraden. Wer hat das zu ihm gesagt? Rechts vom Baum sieht er dichten Qualm aufsteigen, dann richtet er den Blick nach links und sieht Feuer. Da ist wieder dieser Geruch nach Verbranntem. Er schließt die Augen. Die glühende Mittagshitze wird durch die Bergluft abgemildert. Schweißperlen bilden sich auf seiner Stirn und benetzen seine Lider. Sie brennen ihm in den Augen und hindern ihn minutenlang daran, etwas zu sehen. Er denkt darüber nach, tief einzuatmen, um seine Bauchmuskeln zu spüren, sich einen Ruck zu geben und sich zu bewegen. Mit jedem Ächzen und Stöhnen hebt und senkt sich seine Brust, und mit ihr der Haufen Laub. Es gelingt ihm, sich ein Stück nach oben zu schieben. Ganz langsam bewegt er schließlich seinen Rumpf. Als er sich allmählich auf die Seite dreht, denkt er, dass dort vielleicht der Abgrund droht, die Kante war nicht weit entfernt. Aber das ist ihm egal. Eine enorme Kraft aus dem Bauch heraus treibt ihn an und lässt ihn seinen Körper bewegen. Aber das Einzige, was er dadurch erreicht, ist, dass er nun auf der Seite liegt, dem Baum gegenüber. Laub und Zweige sind ihm von der Brust gerutscht. Jetzt spürt er einen brennenden Schmerz, der ihn plötzlich Hoffnung schöpfen lässt, dass er noch alle seine Gliedmaßen hat. Der Schmerz zirkuliert zwischen seinem Kopf und den Zehen, erfasst den ganzen Körper, und das tut ihm gut. Er starrt auf den Baum, hört ein Rascheln und das Knacken trockener Zweige. Dann kehrt wieder Stille ein. Da sieht er das Bild. Er sieht, wie er und die anderen Soldaten durch die Luft fliegen, als die Granate explodierte. Und bevor er wieder das Bewusstsein verliert, hört er die heisere Stimme seiner Mutter, die ihn ruft: »Ali!« Da weiß er, er weiß es ganz genau, dass dieses kleine grüne Blatt ein Eichenblatt ist.
Kaum haben ihn Apathie und Erschöpfung mitgerissen, da holt ihn die Stimme wieder zurück und rettet ihn aus seiner Resignation. Sie ruft seinen Namen. Die Stimme hebt ihn in die Höhe, er bewegt den Kopf und vernimmt ein lautes Geflüster im Ohr. Der Himmel ist strahlend blau, getupft mit einzelnen Wolken weit oben, die eine nach der anderen über ihm dahinschweben. Vor ein paar Tagen hatte er eine Wolke gesehen, die rasch an ihnen vorbeigezogen war. Sie waren zu fünft, fünf Soldaten, und er war der Einzige von ihnen, der sich mit Wolken auskannte, wie sehr sie einen täuschen und mit einem Mitleid haben und wie sie den Atem befeuchten können. Sie waren sein Spielzeug auf dem Dach ihres Hauses gewesen, seine Freunde auf unwegsamen Bergpfaden. Heute sehen die Wolken anders aus, nah und weit entfernt zugleich. Vor Tagen hatten sie ihn wie ein Laken bedeckt, seine Lider befeuchtet. Er streckte die Finger aus, berührte sie und konnte sich vorstellen, wie sie länger wurden und in den Himmel wuchsen, wie Knospen, die sich öffnen und zu Zweigen werden. Die Wolken bedeckten den Berggipfel, und am liebsten wäre er hineingeschlüpft und hätte sich in ihrem Weiß gerekelt, als würde er in Wasser baden. Er wollte sein Gesicht damit einreiben, genau wie er es mit den Schneebällen getan hatte, und versuchen, sie zu packen, aber seine Finger würden ins Leere greifen. Er lächelte innerlich und sah das Weiß seines Lächelns in sich selbst. Er ließ sich schwindeln machen durch sie, trotz der Warnung seiner Kameraden, über die er sich heimlich lustig machte, denn er war ein Wolkenexperte, und er spürte, dass die Wolken ihn nicht betrügen. Er stand vor den Kameraden, die von dichten weißen Flocken bedeckt waren, und kaute die Leere in seinem Mund. Er war davon überzeugt, dass eine weiche Feuchtigkeit in seine Kehle dringe und ihn in Ruhe schlafen ließ, genau wie in den kalten Nächten in seinem Baumhaus und auf dem Dach des Hauses. Aber jetzt befindet er sich weder auf dem Dach noch in seinem Baumhaus, sondern auf dem Gipfel des fremden Berges, der ihm vorkommt wie ein kahler Kopf. Auf diesem hohen Gipfel gibt es nichts außer diesem riesigen Baum und den Sandbarrikaden.
Die Wolken hier ähneln nicht den Wolken seines Dorfes, die ihm vertraut sind. Die Wolken seines Dorfes schlängelten sich durch das Tal, sie sahen aus wie ein dichter weißer Fluss, der Alis Umgebung bedeckte, ihn einhüllte und seine Sicht verdeckte. Die Dorfbewohner lebten mit dem Nebel und den Wolken, sie waren daran gewöhnt, darin zu verschwinden, und Ali hatte seinen eigenen Wolkenfluss! Und dieser Wolkenfluss verwandelte sich in einen langen Schwanz, der vor seinen Augen zitterte und wedelte und dem Schwanz der Waldfüchse ähnelte. Ali stand in seinem Baumhaus und beobachtete ihn, bis er verschwand, er sah das Tal und die Gipfel der benachbarten Berge, sauber und glänzend, wenn sich dieser weiße Schwanz aufgelöst hatte. Dann hüpfte er vor Freude, denn er wusste, dass der Schwanz sich zum Gipfel hochschlängeln würde, wo er, eingehüllt in die von seiner Mutter genähte Decke, auf ihn wartete. Das war seine eigene Welt, die niemand entdecken konnte, seine Welt, zu der niemand Zugang hatte. Er konnte stundenlang auf einem Ast stehen, ein Bein angewinkelt wie ein Reiher, mit weit geöffneten Augen diese Schönheit betrachten und immer wieder laut seufzen: »Ooooooh, wie wunderbar! Wie schööööön!« In jenem Moment, wenn der Himmel dunkelgrau war, erschienen plötzlich inmitten der grauen Dunkelheit Lichtsäulen, die die Erde mit dem Himmel verbanden, enorme Seile aus Licht. Dann neigte er den Kopf, um die grauen Wolken zu sehen, die weiterzogen, und stach mit ihnen und den Lichtsäulen in See. Und wenn sich die grauen Wolken auflösten und Raum gaben für das freigesetzte Licht, sah er ein Fest von ineinanderlaufenden Farben, Weiß, Grau, Blau, Schwarz, Gelb … Farben, die wogten und ineinander verschwammen und in einer ständigen Bewegung stets neue Formen annahmen. Dann glaubte er, dies sei das Paradies. Die Farben überwältigten ihn. Die Wolkengebilde nahmen die Gestalt von seltsamen Lebewesen an. Er sah das Gesicht einer Frau, mit dem Körper eines Baumes, dessen Äste in kleinen Füßen endeten; einen Baum mit den Beinen einer Kuh und zwei Händen aus Hunderten Schmetterlingen; oder einen Vogelkopf, auf dem das Horn eines Ziegenbocks saß, der Flügel aus Zweigen und zwei menschliche Füße hatte … Diese wunderschönen Wolkenformationen lösten sich vor seinen Augen auf und verwandelten sich in kleine weiche Flocken. Er stand da und beobachtete sie, bis sie verschwanden, und hatte das Gefühl, in seinem Inneren sei ein tiefes bodenloses Loch. Er wusste nicht, ob es ein Loch aus Freude oder Angst oder Erstaunen oder was auch immer war. Er kletterte vom Baum und lief schwankend und lichterfüllt los. Ihm war, als sei er ein Teilchen dieser Wolken, und was sich auflöste, war etwas in seinem Kopf. Er wusste nicht, dass es die Dunkelheit war. Aus diesen Zeiten wusste er, dass alles in seiner Umgebung verschwindet, genau wie diese riesigen Wolken. Sogar er selbst spürte dieses Verschwinden, und das bezeichnete er insgeheim als das Werk der Wolken, ihn ihnen ähnlich werden zu lassen.
Heute entfernen sich die Wolken und werden ihn nicht retten. Sie sind fortgezogen, verschwunden und haben ihn allein gelassen. Er wünscht sich, dass wenigstens eine von ihnen bei ihm vorbeizieht. Das scheint jetzt ein Sommertraum zu sein.
Die Sonnenscheibe hindert ihn daran, seine Lider aufzuschlagen, und als er es nach einigem Bemühen schafft, die Augen zu öffnen, wird er vom Licht überrascht. Die Stille wird zu einem Geflüster. Er hebt den Kopf, wendet seinen Blick vom Himmel ab in Richtung Baum und hört, wie sein Name mehrmals genannt und das Geflüster unterbrochen wird. Er stemmt sich ein Stückchen vom Boden hoch und schüttelt Blätter, Staub und Lehm ab, dann ist die Stimme genauso heiser wieder zu hören. Die Stimme seiner Mutter! Er glaubt, ihren Namen vergessen zu haben, aber da fällt ihm ein, dass er sie früher bei ihrem Namen gerufen hat. Matt dreht er den Kopf, vielleicht sieht er sie irgendwo. Er beißt sich auf die Zunge, um sich seiner Sinne zu versichern, da holt ihn der Schmerz ein, er hat einen salzigen Geschmack im Mund.
»Ali!«