Wo die Sterne tanzen - Katharina Herzog - E-Book
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Wo die Sterne tanzen E-Book

Katharina Herzog

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Beschreibung

Liebe, Erinnerungen und ein neuer Anfang - zwischen Nordsee und New York. Auf der Nordseeinsel Juist hat Musicaltänzerin Nele einst den ersten Kuss von ihrem besten Freund Henry bekommen, und im Deichschlösschen ihrer Oma hat sie viele zauberhafte Sommertage verbracht - bis eine schicksalhafte Nacht alles veränderte. Vor allem zwischen Henry und ihr. Diesen Sommer fährt Nele ein letztes Mal auf die Insel. Oma Lotte ist gestorben, und Nele will nur noch das Haus ausräumen und sich mit ihrer Mutter aussprechen. Doch dann taucht Henry überraschend auf Juist auf. Mit ihm kommen die Erinnerungen zurück, die schmerzhaften, aber auch die schönen, und auf einmal fragt sich Nele: Ist sie wirklich bereit für die Zukunft, wenn ihr Herz noch immer an der Vergangenheit hängt?

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Katharina Herzog

Wo die Sterne tanzen

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Jeder Stern ein Traum.

 

Auf der Nordseeinsel Juist hat Musicaltänzerin Nele einst den ersten Kuss von ihrem besten Freund Henry bekommen. Im Deichschlösschen ihrer Oma hat sie viele zauberhafte Sommertage verbracht – bis eine schicksalhafte Nacht alles veränderte. Vor allem zwischen Henry und ihr. Diesen Sommer fährt Nele ein letztes Mal auf die Insel. Oma Lotte ist gestorben, und Nele will nur noch das Haus ausräumen und sich mit ihrer Mutter aussprechen. Doch dann taucht Henry überraschend auf Juist auf. Mit ihm kommen die Erinnerungen zurück, die schmerzhaften, aber auch die schönen, und auf einmal fragt sich Nele: Ist sie wirklich bereit für die Zukunft, wenn ihr Herz noch immer an der Vergangenheit hängt?

 

Liebe, Erinnerungen und ein neuer Anfang: zwischen Nordsee und New York.

Vita

Katharina Herzog ist die deutsche Autorin für Liebesromane mit Fernweh-Garantie. Sie liebt es, ihre Leser an Sehnsuchtsorte wie Amrum, die Amalfiküste, Juist und New York zu entführen und diese Schauplätze auch selbst zu bereisen. Mit ihren Romanen «Immer wieder im Sommer», «Zwischen dir und mir das Meer» und «Der Wind nimmt uns mit» schrieb sie sich nicht nur in die Herzen ihrer Leser, sondern eroberte auch die Bestsellerlisten. Katharina Herzog lebt mit ihrer Familie, Pferd und Hund bei München und plant schon ihre nächste Reise.

Für Max

Verlerne nie zu träumen!

There is freedom waiting for you,

On the breezes of your sky,

and you ask «But what if I fall?»

Oh my darling, what if you fly?

Erin Hanson

Prolog

Juist, 30. August 1991

My cold, dark tower seems so bright

I swear it must be Heaven’s light

«Heaven’s Light», aus: Der Glöckner von Notre-Dame

«Möchtest du noch eine Runde Domino spielen, Herzchen?» Oma Lotte legte ein neues Holzscheit in den Kamin. Sofort fing das Feuer an zu prasseln.

Nele schüttelte den Kopf. «Nur wenn Mama mitspielt.» Sie stützte den Kopf in die Hände und schaute in die züngelnden Flammen.

Oma Lotte seufzte. «Du weißt doch, dass deine Mama … im Moment sehr müde ist. Sie muss sich ausruhen.»

Ihr leichtes Zögern war Nele nicht entgangen. Sie hasste es, wenn ihre Oma sie anflunkerte. Mama war nicht müde oder krank. Mama war traurig. Sehr traurig, weil Papa sie und Nele verlassen hatte. Und das wusste Oma Lotte genauso gut wie sie selbst.

Ein Kloß, so groß wie ein Tennisball, bildete sich in ihrer Kehle. Es war schlimm für sie, dass Papa nicht mehr da war. Und dass Mama die ganze Zeit auf ihrem Zimmer saß und weinte und nur zum Essen herauskam oder wenn sie aufs Klo musste, war noch schlimmer.

«Darf ich dann mit dem Fahrrad ein bisschen durchs Dorf fahren?», fragte Nele. Auf einmal war es ihr in Oma Lottes gemütlicher Stube viel zu heiß.

Oma nickte. «Aber nimm Otto mit – hopp, hopp!» Mit einer entschlossenen Handbewegung scheuchte sie den Hund auf, der sich langsam hochrappelte.

Als ob der alte Otto ihr helfen könnte, wenn etwas passierte! Nele konnte ein kleines Lächeln nicht unterdrücken. Sie war froh, dass Oma Lotte ihr erlaubte, allein nach draußen zu gehen. In all den großen Städten, durch die Mama, Papa und sie mit den Jungs von der Band getourt waren, wäre das viel zu gefährlich gewesen. Aber hier auf Juist gab es nicht einmal Autos. Nur Pferdekutschen. Und selbst die durften hier nur ganz langsam fahren.

Es war das erste Mal, dass sie längere Zeit auf der Insel verbrachte. Natürlich hatte sie Oma Lotte schon früher hin und wieder besucht, aber meist nur für einen Tag oder zwei. Als Papa noch bei ihnen gewesen war, hatten Oma Lotte und Mama sich nicht besonders gut verstanden. Sie hatten zwar immer versucht, das vor Nele zu verbergen, aber sie hatte es an der Art gemerkt, wie sie miteinander redeten. Und nie war Papa mitgefahren.

Nele schlüpfte in ihre Regenjacke, stieg in die Gummistiefel und zog die schwere hölzerne Eingangstür des «Deichschlösschens» auf – so hieß das hübsche weiße Haus mit den Erkern und Türmchen, in dem Oma Lotte wohnte. Als sie hinaustrat, blies ihr eine Windbö die langen blonden Haare ins Gesicht. Sie stopfte sie in ihren Jackenkragen und ging zu ihrem Fahrrad.

Heute war einer dieser kalten und stürmischen Tage, an denen man vom Sommer kaum etwas merkte. Der Himmel war grau wie Blei, und die Wolken hingen so tief, dass es aussah, als würden sich die Hausdächer unter ihnen ducken. Um vorwärtszukommen, musste sie ganz schön fest in die Pedale treten. Otto blieb alle paar Meter stehen und schaute sehnsüchtig zurück zum Deichschlösschen. Bei dem Wetter wäre er sicher viel lieber zu Hause auf seinem warmen Platz vor dem Kamin geblieben.

Nele wusste nicht genau, wo sie hinwollte. Sie wusste nur, dass sie rausmusste aus dem Haus, wo ihre Mutter die ganze Zeit in ihrem Zimmer saß und weinte. Zwar versuchte sie immer, ihre Tränen vor ihr zu verbergen, aber Nele sah es an ihren Augen. Die waren rot wie die eines weißen Kaninchens, und ein paarmal hatte sie ihre Mama laut schluchzen gehört. Nele wünschte sich nichts mehr, als dass ihre Mutter wieder lachte, so wie sie es früher immer getan hatte. Als Papa und sie einander noch lieb hatten …

Bisher war Nele tapfer geblieben, um Mama nicht noch trauriger zu machen. Aber nun flossen auch bei ihr die Tränen. Wie Sturzbäche strömten sie über ihre Wangen und verschleierten ihr die Sicht. Hastig löste sie eine Hand vom Lenker, um sie mit dem Jackenärmel wegzuwischen. Doch sie war keine geübte Radfahrerin, und ihr Fahrrad geriet ins Schlingern. Aus dem Augenwinkel sah sie noch, wie Otto erschrocken zur Seite sprang. Dann tauchte etwas Graues vor ihr auf, und schon lag sie auf dem Boden.

Mühsam rappelte Nele sich hoch. Sie war gegen eine Mülltonne gefahren. Ihre Jeans war am Knie aufgerissen und die Haut aufgeschürft. Ein Blutfleck breitete sich auf dem hellblauen Stoff aus.

Nele schluckte. Die Hose war neu gewesen. Wieder schossen ihr Tränen in die Augen. Was würde Mama dazu sagen? Sie hatte sich so fest vorgenommen, ihr nicht noch mehr Kummer zu machen und immer brav zu sein! Wenn ihr das gelang, dann würde Papa vielleicht zu ihnen zurückkommen …

Ein Junge mit dunkelblonden Haaren kam auf seinem Skateboard auf sie zugerollt und stoppte kurz vor ihr. Nele wusste, wer das war: Der Junge hieß Henry und war der Enkel von Oma Lottes bester Freundin Emily. Und er war sieben, genau wie sie.

«Hast du dir wehgetan?», fragte er besorgt und schaute auf ihr Knie hinunter.

«Nein. Mir geht es gut.»

«Aber du blutest.»

Verlegen versuchte Nele ihre Wunde mit dem aufgerissenen Stoff ihrer Jeans zu verdecken. «Es ist nicht so schlimm.»

Doch davon wollte Henry nichts hören. «Wir könnten zu meiner Oma gehen und ein Pflaster holen. Ihre Tanzschule ist gleich da vorne.» Er zeigte in Richtung eines kleinen Parks. Dann hob er Neles Fahrrad hoch, klemmte sein Skateboard auf den Gepäckträger und schob es weiter.

Nele humpelte hinter ihm her. Am Januspark war sie gestern schon mit Oma Lotte gewesen. Sie waren ins Lütje Teehuus gegangen, ein kleines mit Efeu bewachsenes Häuschen, und hatten dort leckere Schokolade getrunken und Waffeln mit heißen Kirschen gegessen. Es war einer ihrer Lieblingsorte auf Juist.

«Ich habe dich gestern bei Lotte im Garten gesehen», sagte Henry. «Wohnst du jetzt bei ihr?»

Nele hatte ihn auch gesehen. Er hatte mit drei anderen Jungs in Omas Nachbargarten Fußball gespielt, und Oma Lotte hatte sie aufgefordert, zu ihnen hinüberzugehen. Aber sie hatte sich nicht getraut.

«Nein, ich besuche meine Oma nur. Meine Mama und ich wohnen in der Stadt.» Vor einem Monat erst waren sie dort hingezogen, und Nele hatte schon wieder vergessen, wie die Stadt hieß. Irgendetwas mit «Dorf», was sie ziemlich seltsam fand.

Gerade noch hatte Henry konzentriert über den Fahrradlenker hinweg auf die Straße geblickt, aber jetzt schaute er sie höchst interessiert an.

«Wie Wendy», sagte er.

Wendy? Nele hatte keine Ahnung, wen er damit meinte.

«Na, Wendy aus Peter Pan», setzte er erklärend hinzu. «Sie kommt auch aus der Stadt. Kennst du den Film nicht?»

Sie schüttelte den Kopf. «Worum geht es darin?»

«Um einen Jungen, der Peter Pan heißt, und ein Mädchen namens Wendy. Peter Pan nimmt Wendy und ihre Geschwister mit nach Nimmerland, das ist eine Insel, und zusammen kämpfen sie gegen Piraten und böse Nixen. Indianer und Feen kommen auch darin vor.»

«Das hört sich schön an.»

«Meine Oma hat die Videokassette.»

Inzwischen waren sie beinahe bei der Tanzschule angekommen. Drei Mädchen eilten an ihnen vorbei. Wie Nele trugen sie dicke Jacken und Gummistiefel.

«Hallo Henry!», sagte eine von ihnen.

Die Mädchen fingen an zu kichern, woraufhin Henry die Augen verdrehte.

Das Haus, in dem sich die Tanzschule befand, lag direkt neben dem Teehuus und war ebenfalls vollständig mit Efeu bewachsen. An rosa blühenden Rosenbüschen vorbei gingen die Mädchen hinein, und Henry und Nele folgten ihnen. Otto blieb vor der Tür sitzen.

Henry führte Nele durch einen ziemlich düsteren Gang, von dem mehrere Türen abgingen, dann betraten sie ein Zimmer. Regale mit Aktenordnern standen darin und ein Schreibtisch, der mit allerlei Krimskrams übersät war: Kaputte Ballettschuhe, CDs und Stifte lagen darauf, und neben Bergen von Papier stand ein gerahmtes Foto, das ein junges Mädchen in einem wunderschönen bestickten Kleid zeigte, das auf Zehenspitzen stand und die Arme hoch über den Kopf erhoben hatte.

Am Schreibtisch saß eine kleine dünne Frau mit roten Locken, die sie mit einem bunten Tuch zurückgebunden hatte.

«Henry!» Sie schaute auf und schob sich ihre Brille ins Haar. «Wen hast du denn da mitgebracht? Du bist Lottes Enkeltochter, nicht wahr?»

Nele nickte. Ebenso wie Henry hatte sie die Frau schon ein paar Male in ihrem Garten oder auf der Straße gesehen, aber sie hatte noch nie mit ihr gesprochen.

«Sie ist vom Rad gefallen und hat sich das Knie aufgeschlagen. Es blutet», erklärte Henry.

«Lass mal sehen!» Die Frau kam hinter ihrem Schreibtisch hervor und zog vorsichtig den zerrissenen Stoff von Neles Hose zur Seite. «Das ist nur eine Schürfwunde. Das haben wir gleich.» Aus einer weißen Box mit einem roten Kreuz darauf nahm sie ein Desinfektionsspray, das sie auf die Wunde sprühte. Nele sog scharf die Luft ein, weil es so brannte, und es kostete sie alle Anstrengung, nicht das Gesicht zu verziehen. Um sich abzulenken, schaute sie sich im Zimmer um.

«Sind Sie das auf dem Foto?», fragte sie, während die Frau ihr Knie rund um die Wunde mit einem weichen Tuch abtupfte und dann ein Pflaster darüberklebte.

«Du», korrigierte sie. «Ich bin Emily.»

«Ja, das ist Oma auf dem Foto», bestätigte Henry stolz. «Sie war früher Ballerina.»

Emily lächelte. «Lotte sagt, du tanzt auch gerne.»

Nele nickte. Ja, das tat sie. Allerdings sah es bei ihr nicht so elegant aus wie bei Emily auf dem Foto. Bei ihr war es eher ein wildes Hüpfen und Drehen. So wie gestern Abend auf dem Deich. Eigentlich war sie nur mit Otto spazieren gegangen und hatte die Vögel auf den Salzwiesen beobachten wollen, aber dann war aus dem Restaurant am Hafen Musik erklungen, und ihre Arme und Beine hatten wie von selbst angefangen, sich dazu zu bewegen. Das taten sie immer. Nele konnte überhaupt nichts dagegen tun. Ihr ganzer Körper war in Bewegung, sobald irgendwo Musik ertönte.

Und solange sie Musik hörte und dazu tanzte, konnte sie vergessen, dass ihr Vater lieber weiter mit seiner Band auf Tour ging, anstatt zu Hause bei Mama und ihr zu sein, wenn Nele in ein paar Tagen in der neuen Stadt zur Schule kam.

Emily stand auf. «Ich muss jetzt eine Tanzstunde geben. Wenn dein Knie verheilt ist, komm doch mal vorbei und mach einfach mit!» Sie verließ das Zimmer. Ihre Bewegungen waren anmutig, aber Nele entging das leichte Hinken nicht. Auch sie musste sich verletzt haben.

Als Nele und Henry die Tanzschule verlassen hatten, drehte Nele sich noch einmal um und schaute durch ein Fenster ins Innere. Gerade in diesem Augenblick betraten die drei Mädchen den Übungsraum. Statt der unförmigen Jacken, Hosen und Gummistiefel trugen sie nun Gymnastikanzüge, kurze Röckchen aus Tüll und weiße Strumpfhosen. Die vorhin noch so struppigen, windzerzausten Haare hatten sie zu festen Knoten zusammengesteckt, sodass ihre Hälse lang und anmutig wie die von Schwänen wirkten.

Sie stellten sich vor einem Spiegel auf, und Emily machte Musik an. Da eines der Fenster nur gekippt war, konnte Nele die Melodie hören. Sie war schön, aber auch ein bisschen traurig. Auf ein Kommando von Emily hin winkelten die Mädchen ihre Knie an und streckten sie dann wieder. Ihre Arme schwangen dabei langsam auf und ab, als ob die Mädchen Vögel wären und gleich anfangen würden zu fliegen.

Nele war von diesem Anblick vollkommen verzaubert. Die Schmerzen an ihrem Knie spürte sie plötzlich nicht mehr.

Am liebsten wäre sie sofort in den Raum gestürmt und hätte mitgemacht. Es sah so wunderschön aus, wie die Mädchen sich bewegten. Sie stellte sich vor, dass sie auch so tanzte und dass sie Mamas Augen damit wieder zum Leuchten brachte. Nele konnte nicht verhindern, dass bei diesem Gedanken erneut Tränen in ihre Augen stiegen.

«Tut es noch sehr weh?», fragte Henry.

«Nein.»

Er sah sie forschend an. «Du weinst nicht wegen deinem Knie, oder?»

Nele schüttelte noch einmal den Kopf, und jetzt fingen die Tränen so richtig an zu fließen.

«Warum weinst du dann?», fragte er.

«Weil mein Papa meine Mama und mich verlassen hat», schniefte sie.

Eine Zeitlang stand Henry nur da, bevor er sagte: «Meine Mama wohnt auch nicht mehr bei uns.»

Sofort hörte Nele auf zu schluchzen und sah ihn mit großen Augen an. «Ist das schlimm für dich?»

Er zuckte gleichmütig die Achseln. «Ich habe ja noch meinen Papa. Und Oma. Und meinen Freund Piet. Du hast doch bestimmt auch Freunde?»

Nele überlegte. Sie hatte die Jungs aus der Band, aber die sah sie nun auch nicht mehr. Kinder, die so alt waren wie sie, kannte sie kaum. Sie hatten bisher mehr oder weniger im Tourbus und in Hotels gewohnt und waren immer nur kurze Zeit an einem Ort geblieben. «Nein», gab sie zu.

«Ich könnte dein Freund sein», schlug Henry vor. «Also, zumindest solange du hier bist. Und wenn du wiederkommst. Du kommst doch wieder, oder? Wir könnten uns zusammen Peter Pan anschauen.» Er sah sie erwartungsvoll an.

Nele war sich nicht sicher, ob das ging. Aber sobald sie zu Hause war, würde sie Mama fragen. Denn es wäre schön, schon bald wieder nach Juist zu fahren. Zu Oma Lotte, Otto und dem Deichschlösschen. Zu Emily und ihrer Tanzschule, wo Mädchen wie feine Prinzessinnen aussahen und lernten, sich so leicht und schwerelos zu bewegen wie Federn im Wind. Und zu Henry, der ihr Freund sein wollte.

Nele wischte sich mit den Fingern die Tränen von den Wangen und lächelte ihn an.

1.Kapitel

Juist 2019

Von oben wirkte Juist nicht sonderlich spektakulär. Nur eine gelbgrüne Sichel in einem Meer von schlammigem Blau. Man konnte sich schwer vorstellen, wieso sie von den Insulanern liebevoll Töwerland, Zauberland, genannt wurde.

Der Frau mit der Louis-Vuitton-Handtasche und den Wildleder-Overknees sah Nele die Enttäuschung deutlich an. Missbilligend verzog sie die Lippen. Sicherlich ärgerte sie sich, dass sie nicht wie sonst nach Sylt gefahren war – oder zumindest nach Norderney –, sondern auf ihren Mann gehört hatte, der unbedingt mal etwas Neues ausprobieren wollte.

Zwar trug auch der Designerkleidung, eine Wachsjacke von Barbour und teuer aussehende Segeltuchschuhe, aber er sah um einiges freundlicher aus als seine Frau. Mit melancholischem Bernhardiner-Blick streichelte er ihre Hand. Sie aber entzog sie ihm mit verkniffenem Gesicht.

Normalerweise reiste Nele lieber mit der Fähre von Norddeich nach Juist. Sie liebte die Anfahrt auf der Frisia: Die Gischt, die ihr ins Gesicht spritzte, wenn sie an der Reling stand, das Kreischen der Möwen, die sie auf der Fahrt begleiteten, die salzige Luft – und die Insel, die erst nur ein diesiger, unwirklich scheinender Fleck war und dann langsam Konturen annahm. Aber sie hatten die Fähre verpasst, weil das Flugzeug am JFK Airport über eine Stunde zu spät losgeflogen war.

Ihre Tochter hatte sich gefreut. Annika war noch nie mit einer Propellermaschine geflogen, und nun drückte sie die Nase aufgeregt an der schmutzigen Scheibe platt. Obwohl sie inzwischen schon seit fast zwanzig Stunden unterwegs waren und nur im Flieger ein paar Stunden geschlafen hatten, schien die Achtjährige überhaupt nicht müde zu sein.

«Auf dem Kalfamer liegen Seehunde», schrie sie über das Knattern des Motors hinweg. «Ich glaube, ich kann schon das Deichschlösschen sehen.»

Das glaubte Nele nicht. Die Pension von Oma Lotte, liebevoll von allen «das Deichschlösschen» genannt, lag nämlich gar nicht in der Nähe des Flughafens, sondern im Dorf. Die ehemalige Pension von Oma Lotte, korrigierte Nele sich in Gedanken. Denn ihre Oma war vor einem Jahr gestorben. Und anders als in fast all den Jahren zuvor war Nele diesmal nicht nach Juist gekommen, um im Deichschlösschen Urlaub zu machen. Sie war hier, um es zu verkaufen.

 

Emily wartete vor dem Flugplatz, als sie das abgezäunte Gelände verließen. Sie hatte Ivy vor die Kutsche gespannt.

Nele erschrak, als sie Oma Lottes beste Freundin und Nachbarin sah. Emily war schon immer sehr schlank gewesen, aber jetzt wirkte sie regelrecht verhungert. Wie ein zusammengefallenes Kartenhaus saß sie auf dem Kutschbock, und erst als sie Nele und Annika bemerkte, straffte sie die Schultern. Doch auch ihre aufrechte Haltung konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihre Augen müde waren, ihre Wangen hohl und ihr Körper ausgemergelt.

Emily kletterte vom Kutschbock.

«Wie schön, dass ihr da seid.» Sie nahm erst Annika und dann Nele in die Arme. Mit einer Kraft, die man ihrem zierlichen Körper gar nicht zugetraut hätte, wuchtete sie anschließend die Koffer auf die Ladefläche.

«Letztes Mal, was?», sagte sie leise zu Nele, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Annika nicht zuhörte. Das Mädchen war damit beschäftigt, Ivy mit hartem Brot zu füttern.

Nele nickte mit schmalen Lippen.

«Aber du kannst jederzeit wiederkommen. Bei mir ist immer ein Bett für euch Mädchen frei.»

«Ich weiß.» Aber es würde nicht dasselbe sein, dachte Nele. All die Jahre, in denen sie im Deichschlösschen wohnen konnte, hatte sie sich als Insulanerin fühlen können. Nahm sie Emilys Angebot an und kam wieder, würde sie nur eine Touristin sein. Nun stiegen ihr doch die Tränen in die Augen, und sie griff hastig in die Tasche ihres Trenchcoats, um ein Taschentuch herauszuholen und sich zu schnäuzen.

«Darf ich Ivy nachher reiten?» Annikas brünetter Lockenkopf tauchte zwischen ihr und Emily auf. Sie hatte das widerspenstige Haar ihres Vaters geerbt.

«Natürlich.» Emily half ihr auf den Kutschbock und kletterte dann ebenfalls hinauf. «Aber erst einmal muss sie euch und euer Gepäck nach Hause bringen, und danach darf sie sich im Stall ein bisschen ausruhen und Heu fressen. Sie ist schließlich nicht mehr die Jüngste. Morgen früh, versprochen! Du kannst aber jetzt gerne die Zügel nehmen und uns nach Hause kutschieren. Möchtest du?»

Annika nickte. «Hü!» Sie schnalzte mit der Zunge und ließ die Zügel auf den Rücken des Pferdes klatschen, wie sie es schon viele Male zuvor bei Emily gesehen hatte. Gehorsam beschleunigte die Stute ihren Schritt.

Es dauerte nicht lange, und Nele merkte, dass der Stress und die Hektik, die sie in den letzten Wochen fest in ihren Eisenklauen gehalten hatten, von ihr abfielen und dass sie anfing, sich zu entspannen. Und auch die Anstrengung der langen Reise verschwand. Es hatte etwas Beruhigendes, sich mit der Geschwindigkeit von nur fünf Stundenkilometern vorwärtszubewegen. Annikas Geplapper, das Zwitschern der Vögel und das rhythmische Klappern von Ivys Hufeisen auf dem Asphalt waren die einzigen Geräusche, die sie auf ihrem Weg begleiteten. Nele liebte New York, doch in so friedlichen Momenten wie diesem dachte sie oft, dass ihr das Leben dort viel zu laut und zu schnell war.

«Wieso fahren wir denn ins Dorf?», fragte sie. Die Kutsche war nicht auf dem direkten Weg zum Deichschlösschen, der an der Deichkante entlangführte, sondern fuhr in eine andere Richtung.

«An der Billstraße wird mal wieder gebaut», gab die alte Frau zurück. «Ivy verkraftet den Lärm nicht mehr so gut.»

«Wirklich?», wunderte sich Nele. Früher hätte eine Mülltonne neben der Stute explodieren können, und sie hätte nicht einmal den Kopf gehoben. Anscheinend hatte Ivy etwas mit ihr gemeinsam: Auch Nele machte der Lärm in New York immer mehr aus.

«Ja, sie mag es inzwischen gerne beschaulich», bestätigte Emily. «Außerdem habe ich meine Strickjacke in der Tanzschule vergessen, und mir ist ein bisschen kühl.» Sie zog fröstelnd die Schultern hoch. «Ich hole sie mir schnell.»

Nicht nur an der Billstraße, sondern auch im Dorf wurde gebaut. Dort, wo im letzten Jahr noch das Haus Inselzauber gestanden hatte, ragte nun ein hoher Kran in den blauen Schäfchenwolkenhimmel. Zwei kräftige Kaltblüter, neben denen die alte Stute wie ein halbes Hemd aussah, fuhren eine Ladung Bauschutt fort.

Es war so traurig! Alte Leute starben, junge zogen fort, und dort, wo gerade noch charmante kleine Inselhäuser mit verwilderten Gärten gestanden hatten, schossen nun viel zu oft Apartmentkomplexe aus dem Boden, die für teures Geld an Touristen vermietet wurden. Wie Unkraut vermehrten sich diese seelenlosen, immer gleich aussehenden Klötze. Im Grunde konnte es Nele egal sein, so schnell würde sie nicht mehr auf die Insel zurückkehren. Trotzdem war und blieb Juist ein Stück Heimat. Daher hoffte sie, dass dem Deichschlösschen dieses Schicksal erspart blieb und dass sie einen Käufer finden würde, der keinen modernen Apartmentkomplex daraus machte.

Im Januspark hatte sich erfreulich wenig verändert. Vor zwei Jahren waren hier ein paar futuristisch aussehende Sportgeräte aufgestellt worden, an denen überarbeitete Großstädter ihre vom vielen Sitzen verkürzten Muskeln trainieren konnten. Ansonsten sah hier alles aus wie immer, stellte Nele erleichtert fest.

«Die Inselboutique wird nach dieser Saison schließen.» Emily wies mit einem Kopfnicken in Richtung des kleinen Geschäfts, das sich zwischen das Lütje Teehuus und Emilys Tanzschule quetschte, und machte damit die schöne Illusion, dass es hier wenig Veränderung gab, zunichte. «Wenn du dir ein hübsches Kleid kaufen willst: Lilo hat im Moment alles um die Hälfte reduziert.» Sie nahm Annika die Zügel aus der Hand und brachte Ivy mit einem energischen «Ho!» vor der Tanzschule zum Stehen. «Wollt ihr kurz mit reinkommen? Greta wird sich freuen, euch zu sehen. Sie studiert gerade mit den Inselkindern ein Musical ein. Nachdem sich hier jahrelang alles nur um die Gäste gedreht hat, dachten wir, dass es Zeit wird, auch den Inselkindern in den Ferien mal was zu bieten. – Hast du Lust mitzutanzen, Igelchen?»

«Nee.» Annika rümpfte ihr Himmelfahrtsnäschen. «Ich spiele doch Fußball.»

«Ach du liebe Güte! Immer noch?»

«Klar!» Annika sah Emily so fassungslos an, als hätte sie gerade behauptet, die Erde sei eine Scheibe. «In meiner Mannschaft schieße ich die meisten Tore. Sogar noch mehr als Jaimey. Tanzen ist total doof.»

 

Mit Annika an der Hand betrat sie das niedrige Haus aus Naturstein, dessen Fassade fast ganz von Efeu bedeckt war. Nele folgte ihnen ins kühle Innere. Der Geruch von Emilys Zigarillo vermischte sich mit dem von Schweiß, Bohnerwachs und altem Holz, und für einen Moment schnürte sich ihr bei dieser schmerzhaft vertrauten Mischung die Kehle zusammen.

Durch die gläserne Tür des Übungsraums winkte ihnen Greta zu. Sie war eine hübsche junge Frau mit einem hoch angesetzten Pferdeschwanz, der bei jeder Bewegung wippte. Unter ihrer Leggings in Regenbogenfarben wölbte sich ein runder Babybauch. Mit einer Gruppe von Kindern und Jugendlichen unterschiedlicher Altersgruppen stand sie vor einem Spiegel und tanzte.

«Sie macht das wirklich toll mit den Kindern», sagte Nele, als Greta einem kleinen Jungen geduldig noch einmal die Schritte erklärte.

Emily nickte, schien aber nicht richtig bei der Sache zu sein. «Leider ist sie nur noch diesen Sommer hier», sagte sie, während ihr Blick unruhig durch das Tanzstudio schweifte. «Im Oktober geht sie aufs Festland. Wenn das Baby erst da ist und ihr Freund und sie ein zusätzliches Zimmer brauchen, können sie sich das Leben hier nicht mehr leisten.» Sie seufzte. «Bevor du es von jemand anderem erfährst, sag ich es dir lieber gleich: Auf dem Sanddornfest führen Greta und ich mit den Inselkindern noch unser Musical auf, und dann schließe ich die Tanzschule. Ich bin allmählich zu alt dafür, den ganzen Tag mit nervigen Kindern, streitenden Ehepaaren und einsamen Herzen herumzuhüpfen.»

Wieder etwas, das sich ändern würde. Nele verspürte einen Stich in der Magengegend. «Gibt es denn niemand, der die Tanzschule übernehmen könnte? Dann könntest du zumindest noch ein paar Stunden pro Woche unterrichten. Den Tanztee am Wochenende zum Beispiel.»

Emily zog an ihrem Zigarillo. «Übernimm du sie», sagte sie und blickte Nele durch blaugraue Rauchschwaden hindurch mit schmalen Augen an. «Früher wolltest du das doch immer.»

Nele sah, wie Annika sich anspannte. Ihre Tochter hörte genau zu. Juist – das bedeutete für sie lange Tage am Strand, Siggis Eismobil, Hufgeklapper auf dem Asphalt und eine Mutter, die sich nicht abhetzen musste, um zwischen Proben und Aufführungen wenigstens ein paar Stunden Zeit mit ihr zu verbringen. Ein bitteres Gefühl stieg in Nele auf, und bevor Annika Hoffnung schöpfen und enttäuscht werden konnte, sagte sie schnell: «Das geht nicht, und das weißt du.»

Ihre Zukunft würde sich nicht hier auf Juist abspielen. Und auch nicht in New York. Sondern in München. Aber das hatte sie bisher noch niemandem gesagt, selbst Annika nicht. Neles Blick wanderte wieder zu Greta und den tanzenden Kindern. «Was für ein Musical führt ihr eigentlich auf?»

«Hatte ich dir das denn nicht erzählt? Wir spielen dieses Jahr Peter Pan.»

2.Kapitel

Juist, 24. August 2001

Tale as old as time.

True as it can be.

«Tale as Old as Time», aus: Die Schöne und das Biest

Der Himmel über ihnen leuchtete indigoblau und war übersät von Sternen. Henry lag mit geschlossenen Augen neben ihr im Sand. Nele nahm an, dass er eingeschlafen war. Piet, Tom und die anderen waren in die Spelunke gegangen, eine schummrige, verrauchte Kneipe in der Dorfmitte, um dort Billard zu spielen. Aber sie hatte keine Lust gehabt, dort herumzuhängen. Der Sommerabend war so schön, deshalb hatte sie Henry gebeten, noch ein bisschen mit ihr draußen zu bleiben. Er war mit ihr zu Heinos Schuppen gegangen, der am Rand des Dorfs in den Dünen lag, und er hatte eine Flasche Saurer Apfel mitgenommen. Henry konnte das Zeug hinunterkippen, als wäre es Fruchtsaft. Nele dagegen hatte nur ein paarmal daran genippt, aber bereits das reichte, dass sie sich angenehm beduselt und schwerelos fühlte. Sie trank normalerweise keinen Alkohol, weil sie sich keine vergeudeten Kopfwehtage im Bett leisten konnte, auch nicht in den Sommerferien. Morgens stand sie immer sehr früh auf, um vor Emilys ersten Stunden mit ihr zusammen in der Tanzschule zu trainieren.

Inzwischen war es nach Mitternacht. Eigentlich sollte sie Henry wecken, sich aufs Fahrrad schwingen und so schnell wie möglich zum Deichschlösschen radeln, schließlich hatte sie niemandem gesagt, dass sie heute länger wegblieb. Aber sie glaubte nicht, dass es Oma Lotte oder Laura aufgefallen war. Seit Oma Lotte abends immer Baldrian nahm, schlief sie so tief, dass vermutlich nicht einmal ein Erdbeben sie wecken konnte. Und Laura, ihre Mutter … Die würde Besseres zu tun haben, als am Fenster zu stehen und auf Neles Rückkehr zu warten. Julius, ihr neuer Freund, war nämlich nach Juist gekommen, um das Wochenende mit ihr zu verbringen, und jetzt machten die beiden einen auf große Liebe. Dabei war es erst knapp sechs Wochen her, dass Laura sich von einem Stargeiger getrennt hatte, der nicht nur seine Geige, sondern auch seine Hände für einen sechsstelligen Betrag hatte versichern lassen. Laura und ihr gegenüber hatte er sich weniger spendabel gezeigt. Als er selbst im Schnellimbiss auf getrennte Rechnungen bestand, hatte Nele gewusst, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis ihre Mutter ihn in die Wüste schickte, und genau das war passiert. Nele hatte dem selbstverliebten Typen keine Träne nachgeweint. Im Nachhinein musste sie aber zugeben, dass er als Mensch – verglichen mit Julius – gar nicht so übel gewesen war.

Ihre Mutter und der neue Lover waren der eine Grund, warum Nele keine Lust hatte, nach Hause zu fahren. Der andere war, dass sie sich von ihren trüben Gedanken ablenken wollte: Auch gestern hatte Mette wieder keinen Brief für sie dabeigehabt. Seit einer Woche lungerte sie nun schon jeden Morgen ab kurz vor zehn im Garten herum und wartete darauf, dass die alte Frau auf ihrem gelben Postfahrrad angeradelt kam. Doch immer war sie enttäuscht worden.

Die Aufnahmeprüfung hatte doch schon Anfang Juli stattgefunden! Vielleicht hatte man den Brief aus Versehen zu ihr nach Hause nach Düsseldorf geschickt? Dabei hatte sie extra angegeben, dass sie die Sommerferien, so wie alle Ferien, bei ihrer Oma verbrachte:

Nele Strasser

c/o Charlotte Strasser

Loogster Pad 25

26571 Juist

Nele hatte sich an der Stage School in Hamburg beworben. Dort wollte sie Mitte September eine dreijährige Ausbildung als Musicaltänzerin beginnen. Laura davon zu überzeugen, dass zehn Jahre Schule und ein Realschulabschluss ausreichten, war nicht schwer gewesen. Schließlich hatte ihre Mutter selbst mit sechzehn die Schule verlassen, um auf dem Festland eine Lehre als Friseurin anzufangen. Allerdings hatte sie die nie beendet, sondern stattdessen Neles Vater Eddy auf seinen Konzerttouren durch Europa begleitet.

Der Mond schien heute besonders hell auf Juist. Henrys Atem ging immer noch gleichmäßig und brachte damit den vorwitzigen Halm Seegras zum Zittern, der dicht über seinem Gesicht hing. Nele stützte ihr Kinn in die Handfläche und schaute auf den Jungen hinunter, der für sie genauso untrennbar mit Juist verbunden war wie Meeresrauschen, Hufgeklapper, Buttermilch-Zitrone-Eis und Sand zwischen den Zehen. Nicht zu vergessen Emilys Tanzschule.

Seit Nele als Siebenjährige einmal beobachtet hatte, wie drei dick vermummte Mädchen in dem mit Efeu bewachsenen Haus verschwunden und kurz darauf als wunderschöne Prinzessinnen hinter der Fensterfront wieder aufgetaucht waren, hatte sie davon geträumt, Balletttänzerin zu werden. Doch obwohl sie fünf Tage die Woche mehrere Stunden am Tag trainierte, war schnell klargeworden, dass ihr Körper zwar schlank und dehnbar war, aber nie so zartgliedrig sein würde, wie es der einer Ballerina sein musste. Außerdem war sie viel zu groß. Als ihre Lehrerin Nathalia sie darauf hinwies, dass sie einfach nicht die körperlichen Voraussetzungen für eine Karriere als Balletttänzerin hatte, und ihr riet, zum Jazztanz zu wechseln, war für Nele zunächst eine Welt zusammengebrochen. Schließlich hatte sie jahrelang davon geträumt, irgendwann einmal die Hauptrolle im Schwanensee zu tanzen! So wie Emily es lange Zeit getan hatte. Als Laura ihren Kummer nicht mehr mit ansehen konnte, hatte sie Nele zum Geburtstag Karten für Cats in Hamburg geschenkt – Oma Lotte und Emily hatten sie dorthin begleitet. Dieses Erlebnis hatte alles verändert. Kaum hatte der Samtvorhang sich geöffnet, hatte Nele verstanden, wieso ihre Mutter von Musicals so fasziniert war, dass sie in Neles Alter unbedingt Maskenbildnerin hatte werden wollen. Nele war hingerissen: nicht nur von der Musik, sondern auch von den Kostümen, den Effekten, dem Bühnenbild. So viel Pomp kannte sie vom Ballett gar nicht, und spätestens als eine alte Katze am Ende des ersten Akts «Mondlicht, schau hinauf in das Mondlicht» sang, waren der Schwanensee und das Staatsballett vergessen. Nun hatte sie einen neuen Traum.

«Irgendwann werde ich die Grizzabella spielen. Aber nicht hier in Hamburg, sondern in New York. Auf dem Broadway», verkündete sie auf dem Nachhauseweg.

«Das ist ein hervorragender Plan.» Laura hakte sich bei ihr unter.

Bei Oma Lotte kam er nicht so gut an. «Setz dem Kind doch nicht solche Flausen in den Kopf», murrte sie. «Wie soll sie das denn schaffen? Eine Nummer kleiner tut es schließlich auch. Ich hab dich genauso lieb, wenn du eine Nebenrolle tanzt und in Hamburg bleibst.»

Doch auch Emily stellte sich auf Neles Seite. «Wieso um Himmels willen sollte sie sich mit einer Nebenrolle begnügen? Das Mädchen hat Talent. Großes Talent.» Sie sah Lotte streng an. «Nur wer nach den Sternen greift, lernt zu fliegen.» Dann stieß sie Nele in die Seite. «Du solltest allerdings ein paar Gesangsstunden nehmen, Liebes!» Sie lachte schelmisch.

Henry murmelte im Schlaf etwas, was sie nicht verstand. Nele rückte näher und schaute zu ihm hinunter. Wegen Henry ertrug Nele den Spott ihrer Schulfreudinnen, die sich darüber lustig machten, dass sie ihre Ferien immer nur auf Juist verbrachte, weil ihrer Mutter das Geld für weite Reisen fehlte. Sie hätte gar nicht nach Italien, Spanien oder Frankreich fahren wollen.

Nach der Trennung ihrer Eltern war ihre Freundschaft mit Henry – neben dem Tanzen – ihr Silberstreif am Horizont gewesen. Henry war ihr Peter Pan, der sie, das Mädchen aus der Großstadt, auf eine Insel entführte. Hier begleitete sie das Geräusch der Brandung überallhin, und hier erwartete sie an jeder Ecke ein Abenteuer. Wenn sie mit ihm unterwegs war, wurde aus dem idyllischen Wäldchen auf der Westseite von Juist ein wilder Dschungel voller gefährlicher Tiere, und aus dem Kalfamer eine Steppe, in der sie sich vor feindlichen Indianerstämmen in Acht nehmen mussten. Den Hammersee durchsuchten sie verbotenerweise mit ihrem selbstgebauten Piratenfloß nach menschenfressenden Nixen.

Henry hatte sie getröstet und sie zum Lachen gebracht. Und als Nele vor ihrem ersten Auftritt so schlecht gewesen war, dass sie dachte, nicht auf die Bühne gehen zu können, hatte er ihre Hand genommen und ihr zugeflüstert: «Du weißt doch, was Peter Pan gesagt hat: Von dem Moment an, in dem du zweifelst, dass du fliegen kannst, wirst du es nie mehr können. Also tu es einfach.» Voll Wehmut dachte Nele an diese Zeit zurück, in der noch alles so einfach gewesen war. Nie war Henry etwas anderes als ihr Freund gewesen, ihr bester, aber seit diesem Sommer hatte sich etwas Neues, Beunruhigendes in den Kokon ihrer Freundschaft gewebt.

War Henry Anfang des Jahres nur einen Fingerbreit größer gewesen als sie, überragte er sie nun mit seinen siebzehn Jahren um einen halben Kopf. Und er hatte Muskeln bekommen. Unter dem Ärmel seines ausgewaschenen T-Shirts wölbte sich sein Bizeps, und wenn seine weite Hose tief auf seine Hüftknochen rutschte, konnte Nele nicht nur die karierten Boxershorts, sondern auch seinen durchtrainierten Bauch sehen. Was sie aber noch viel mehr verwirrte, waren seine Augen. Erst in diesem Sommer war ihr aufgefallen, dass das Graublau seiner Iris von einem Kranz goldener Sternchen umrandet war. Dass seine Nase sich kräuselte, wenn er lachte – was er so gut wie immer tat. Dass er genau vierzehn Sommersprossen auf der Nase hatte und dass seine Lippen so weich aussahen, dass sie sich fragte, wie es wohl war, sie zu küssen …

Henry öffnete die Augen, und Nele zuckte schuldbewusst zurück.

«Hey», murmelte er. «Ich bin wohl eingeschlafen.»

«Offensichtlich», sagte sie und ärgerte sich, dass ihr keine schlagfertigere Antwort einfiel.

Henry strich sich seine viel zu langen Haare aus der Stirn und schaute auf die Uhr. «Schon so spät.»

«Glaubst du, dass dein Vater sich Sorgen macht?», fragte Nele. Aber das hätte sie gewundert. Nachdem sein Krimi unerwartet die Bestsellerlisten gestürmt hatte, saß Arno nur noch vor dem Computer und tippte. Das Fuhrunternehmen, das schon sein Vater und sein Großvater geführt hatten, war jetzt verpachtet.

«Quatsch!», bestätigte Henry prompt ihre Meinung. «Der liegt garantiert schon seit Stunden im Bett und kriegt nix mit. Schließlich muss er morgen um sieben aufstehen und arbeiten.» Henry rollte sich auf den Bauch. «Wir zum Glück nicht.» Sein Lächeln war ein bisschen schief und so süß, dass man sich kaum vorstellen konnte, dass dieser nette Junge im letzten Jahr vom Internat geflogen war und auf ein anderes wechseln musste, weil er ständig Ärger mit den Lehrern hatte. «Ferien sind doch was Schönes», setzte er nach einer Pause hinzu. «Ich habe überhaupt keine Lust mehr auf Schule.»

«Ist die neue denn genau so schlimm wie die alte?»

Er nickte düster. «Am liebsten würde ich gar nicht mehr hingehen. Zum Glück sind die Ferien erst zur Hälfte um. Aber du musst schon nächste Woche wieder zurück, oder?»

Jetzt wäre der geeignete Moment gewesen, Henry von ihrer Bewerbung bei der Stage School zu erzählen, dachte Nele. Wenn sie angenommen wurde, hatten sie noch drei Ferienwochen zusammen. Wenn nicht, musste sie schon in ein paar Tagen wieder nach Düsseldorf zurück. Aber sie sagte nichts. Auch Emily hatte sie eingetrichtert, Henry nichts zu verraten, denn es sollte eine Überraschung sein.

«Pssst!», sagte Henry auf einmal, griff nach ihrem Arm und zog sie nach unten. Und da hörte Nele die Stimmen auch. Im Schein des Mondes sah sie, wie sich ein kleines Mädchen und ein dürrer Junge dem Schuppen näherten. Der Junge war ihr diese Woche schon am Eiswagen aufgefallen. Zum einen weil er karottenrote Haare hatte – eine solche Farbe war schließlich nicht alltäglich –, hauptsächlich aber weil er sie angeschaut hatte, als wäre sie eine übersinnliche Erscheinung – oder zumindest Claudia Schiffer. Zweimal hatte Siggi nachfragen müssen, welche Eissorten er wollte. Was machten er und seine Schwester denn hier am Strand?

«Vielleicht liegt er bei dem Schuppen da drüben!», rief das Mädchen.

«Aber dort waren wir doch gar nicht.» Die Stimme des Jungen klang ungeduldig.

«Lass uns trotzdem nachschauen! Jetzt komm schon, Ben!» Das Mädchen schob ihn vorwärts.

Nele drückte sich unwillkürlich noch ein wenig flacher neben Henry auf den Boden. Sie hatte keine Lust, entdeckt zu werden.

Glücklicherweise hatte auch der Junge namens Ben anscheinend nicht vor, seine Suche nach wem oder was auch immer fortzusetzen.

«Nein, Anemone!» Er blieb stur stehen. «Wir gehen zurück! Wenn Mama und Papa erfahren, dass ich um diese Zeit mit dir draußen rumlaufe, um deinen Stoffhasen zu suchen, bekomme ich Ärger. Lass uns morgen im Hellen noch einmal herkommen.»

«Aber ohne Schnuffi kann ich nicht schlafen!» Die Stimme des Mädchens wurde weinerlich.

Der Junge stöhnte auf. «Du kannst bei mir schlafen, du Nervensäge. Und jetzt los!» Er packte die protestierende Kleine an der Hand und zog sie hinter sich her. Gleich darauf waren sie verschwunden. Nele atmete aus.

«Der arme Kerl scheint ganz schön unter der Fuchtel seiner Eltern zu stehen», sagte Henry. Nele konnte hören, dass er grinste. «Wo waren wir stehengeblieben?»

Sie wandte den Kopf zur Seite und sah ihn an. Erst jetzt fiel ihr auf, wie dicht sie nebeneinanderlagen. Ihre Gesichter waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt.

«Wir hatten darüber gesprochen, wie schön Ferien sind.» Ihre Stimme hörte sich belegt an, und sie räusperte sich. «Und darüber, dass bei mir die Schule bald wieder anfängt.»

«Stimmt.» Henrys Blick hielt ihren fest. Eine Sekunde. Zwei. Drei. «Ich will nicht, dass du gehst», sagte er plötzlich. Diesen Gesichtsausdruck hatte Nele noch nie bei ihm gesehen, und in ihrem Kopf fing es an zu brausen. Mit angehaltenem Atem wartete sie auf einen lockeren Spruch, der seine Worte abschwächen, vielleicht sogar ein bisschen ins Lächerliche ziehen würde, so wie er es oft tat. Doch der blieb aus. Nele überlegte, ob sie etwas sagen sollte, um die merkwürdige Stimmung zwischen ihnen aufzulockern, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt, und auch der Macht von Henrys graublauen Augen konnte sie sich nicht entziehen. «Mit dir zusammen ist alles viel schöner», sagte er. Seine Hand griff nach ihrer, und wie von selbst verschlangen sich ihre Finger ineinander.

Was tun wir da?, dachte Nele. Plötzlich empfand sie einen Anflug von Verzweiflung, weil ihr klarwurde, dass von jetzt an zwischen ihnen alles anders sein würde. Und dann zog Henry ihr Gesicht zu sich heran und küsste sie.

Die Warnsirene in ihrem Kopf verstummte, dafür fing ihr Herz an Loopings zu schlagen, und auf ihrem ganzen Körper breitete sich eine Gänsehaut aus. Und dann spürte sie nur noch das berauschende Gefühl von Henrys Lippen auf ihren. Sie waren genauso weich, wie sie gedacht hatte.

3.Kapitel

Juist 2019

«Peter Pan! War das deine Idee?», fragte Nele schrill.

«Ja.» Emilys Blick glitt an ihr vorbei und richtete sich auf eine Frau und ein Mädchen, die in der Ecke des Raumes standen. Die Kleine trug ein kurzes Kleid, das wie ein Kittel geschnitten war, und ihre dünnen Beinchen steckten in bunt geringelten Strumpfhosen. Ihre Haut hatte die Farbe von Kaffee mit einem kleinen Schuss Milch darin. In der einen Hand hielt sie eine Stoffgiraffe, die sie fest an ihre Brust drückte. Die andere verschwand in der Hand ihrer Mutter, die einen schwarzen Umhang trug. Nur Augenpartie, Nase und Mund waren von der Frau zu sehen.

Greta streckte die Arme aus, um das Mädchen aufzufordern, sich zu der bunt gemischten Tanzgruppe zu gesellen. Doch die Kleine klammerte sich ängstlich an ihrer Mutter fest.

«Wer ist das?», fragte Annika, die alle anderen Kinder kannte.

«Das sind Fatima und Aliya», antwortete Emily, und aus irgendeinem Grund hörte sie sich dabei enttäuscht an. «Die beiden wohnen seit ein paar Tagen bei mir. Platz habe ich schließlich genug.» Sie schnaubte. «Dem Gemeinderat gefällt das gar nicht. Die alten Säcke meinen, dass dann noch mehr Flüchtlinge kommen wollen und dass die Infrastruktur der Insel darauf überhaupt nicht ausgerichtet ist. Aber sie können mir ja schlecht vorschreiben, an wen ich Zimmer vermiete.» Mit grimmiger Miene zog sie einen Aschenbecher heran, der auf einem kleinen Tisch stand, und drückte ihren Zigarillo darin aus. «Kommt, wir fahren!»

«Was ist mit deiner Strickjacke?», fragte Nele verwundert.

«Natürlich.» Emily schüttelte den Kopf. «Wo habe ich nur meine Gedanken?»

«Und Greta haben wir auch noch nicht Hallo gesagt», beschwerte sich Annika.

«Du siehst doch, dass sie gerade zu tun hat, Igelchen. Wir schauen ein anderes Mal bei ihr vorbei. Ich gehe schnell ins Büro und hole die Jacke.» Sie marschierte davon.

 

Das Deichschlösschen war eines der wenigen weiß getünchten Gebäude auf Juist. Mit ihren Erkern und Türmchen hatte sich die Villa neben all den Natursteinhäusern drum herum stets wie ein vornehmes Edelfräulein inmitten einer Schar einfacher Hofdamen ausgemacht. Es tat Nele weh, dass der Platz vor dem Gartentürchen leer war und Oma Lotte nicht wie früher – piekfein wie für einen Sonntagsausflug zurechtgemacht – dort stand und auf die Kutsche wartete. Durch ihren Tod hatte Nele ihren sicheren Hafen verloren, in den sie stets zurückkehren konnte. Für immer verschwunden waren der Geruch von Kernseife und frischem Apfelkuchen, das Gefühl von rauen und doch unglaublich sanften Händen an ihren Wangen …

Als Nele aus der Kutsche stieg, nahm das Gefühl der Verlorenheit zu. Jetzt, wo das Schlösschen schon seit einem Jahr nicht mehr von Oma Lotte gehegt und gepflegt wurde, zeigten sich erste Anzeichen von Verwahrlosung. Das Gras im Garten reichte Nele an einigen Stellen fast bis an die Knie. Die Rosenbüsche, Oma Lottes ganzer Stolz, waren vollkommen außer Form geraten. Ein Fensterladen war kaputt und klapperte ruhelos im Wind. Auch die Dachrinne hing an der linken Seite etwas tiefer und wippte, als wollte sie ihnen zur Begrüßung zuwinken, froh, nach all den einsamen Monaten endlich wieder Besuch zu bekommen.

Nele stieß langsam die Luft aus. Ihre Mutter hätte den Verkauf nicht so lange herauszögern dürfen.

«Weißt du, wann Laura kommt?», fragte sie und hob Annika aus der Kutsche. Die Kleine war auf dem Weg tief und fest eingeschlafen.

Emily, die gerade dabei war, das Gepäck herunterzuwuchten, schüttelte den Kopf. «Hat sie heute nicht ihre Prüfung an der Kosmetikerinnenschule?»

«Stimmt!» Daran hatte Nele gar nicht mehr gedacht. Durch den Zeitunterschied zu New York geriet bei ihr alles etwas durcheinander. Sie atmete auf. Einen Tag hatte sie also noch Galgenfrist.

Ihre Mutter war anstrengend. Ihr lautes Lachen, das Nele als Kind und Jugendliche als ansteckend und fröhlich empfunden hatte, ging ihr inzwischen auf die Nerven. Es klang aufgesetzt und künstlich. Die viel zu engen und zu kurzen Kleider, die Laura immer noch trug. Ihr Drang, sich stets in den Mittelpunkt zu stellen. All das konnte Nele nur noch schwer ertragen. Manchmal schämte sie sich sogar ein wenig für Lauras Auftreten.

Am liebsten hätte sie sich ein Zimmer im Hotel oder in einer Pension genommen, anstatt während der nächsten Tage mit Laura im Deichschlösschen zu wohnen. Aber erstens gab Neles Budget das nicht her – die Preise auf Juist waren inzwischen fast so hoch wie auf Sylt –, und zweitens hätte das nur für noch mehr Zündstoff in ihrer sowieso schon explosiven Mutter-Tochter-Beziehung geführt.

«Wusstest du, dass sie sogar schon eine Stelle hat?», sagte Emily auf dem Weg ins Haus.

«Nein.» Nele runzelte die Stirn. «Wo denn?»

«In einem neuen Wellnesshotel an der Ostsee. Dort haben sie ihr gleich einen Vertrag für die nächsten zwei Jahre angeboten. Deine Mutter ist schon ganz aufgeregt.»

Eigentlich hätte Nele sich jetzt für Laura freuen sollen, doch stattdessen schnürte sich ihr die Kehle zusammen. Wie grotesk, dass ihre Mutter ausgerechnet zu dem Zeitpunkt eine feste Anstellung bekam, da sie selbst schon fast ein halbes Jahr ohne festes Engagement dastand!

 

Im Nachbargarten von Emily ging es weitaus lebhafter zu als in dem des Deichschlösschens. Obwohl der Himmel sich über dem Meer schon langsam rosé färbte, spielten dort noch zwei Jungen, deren Haut den gleichen Kaffeeton aufwies wie die von Fatima und Aliya, mit Otto Ball. Oma Lotte hatte alle ihre Hunde Otto genannt. Sie mochte den Namen einfach. Dieser Otto, Otto der Vierte – oder war es schon der Fünfte? –, war noch jung, kaum zwei Jahre alt. Als er Emily bemerkte, quetschte er sich durch die Lücke im Zaun, die schon da war, seit Nele denken konnte, und begrüßte sie so begeistert, als wäre sie von einer einjährigen Weltreise zurückgekommen. Seinem cremefarbenen Flokati-Fell sah man an, dass er sich gerade ausgiebig in einem Beet gewälzt hatte.

«Bleib mir vom Leib, du dreckiger Kerl!», brummte Emily, die in Gesellschaft anderer immer so tat, als hätte sie Lottes Hund nur aufgenommen, weil ihr keine andere Wahl geblieben war. Doch Nele wusste, dass sie dem Tier mittags etwas kochte, dass er auf dem Teppich vor ihrem Bett schlafen durfte und dass sie ihn, wenn sie glaubte, dass niemand sie hörte, ‹Ottolein› nannte.

Einen Moment blieb Nele stehen und schaute den spielenden Jungen zu. Ihre Tochter hing währenddessen schlaff in ihren Armen, und nicht einmal das laute Lachen und Quietschen der Jungen weckte sie auf.

«Die beiden sind richtige Wirbelwinde», stellte Emily mit einem Lächeln auf den rot geschminkten Lippen fest. «Ganz im Gegensatz zu ihrer Schwester.» Sie senkte die Stimme. «Aliya war dabei, als ihr Vater umgebracht wurde, und seitdem spricht sie nicht mehr. Da sie zu Hause gern getanzt hat, wäre es schön, wenn wir sie irgendwie dazu bringen könnten, bei dem Musical mitzumachen. Schon allein damit sie Kontakt zu anderen Kindern bekommt.»

Neles Herz zog sich vor Mitleid zusammen, und sie presste ihre Tochter fester an sich. «Annika wird bestimmt gerne mit ihr spielen.»

«Ja. Sie ist ein liebes Kind.» Emily streichelte dem schlafenden Mädchen leicht über die Wange. «Bring sie rein, ich habe euch in deinem alten Zimmer die Betten bezogen. Und wenn du fertig bist, kommst du wieder zu mir herunter. Ich mache uns eine Flasche Wein auf.»

Nele betrat das Deichschlösschen. Weder Emily noch Laura hatten schon damit angefangen, es auszuräumen, deshalb sah es aus wie immer. Selbst Oma Lottes Strickjacke hing noch an der Garderobe, als würde sie nur darauf warten, dass die alte Frau aus der Küche trat und sie sich überzog. Im Haus war ihr immer so kalt gewesen. Doch die Küchentür blieb verschlossen, genau wie alle anderen Türen. Ein Kloß bildete sich in Neles Kehle, und so richtig gelang es ihr nicht, ihn hinunterzuschlucken.

Niedergeschlagen trug sie Annika die Holztreppe hinauf in den ersten Stock.

Die Stimmen von Aliyas Brüdern drangen durch die geschlossenen Fenster nur noch leise zu ihr. Nele war froh um diese Ruhe, diesen Moment der Atempause, in der sie sich noch ganz ihren Erinnerungen hingeben konnte. Morgen, allerspätestens übermorgen würde ihre Mutter hier auftauchen. Sie würde ihre Kleider überall herumliegen lassen, ihr Lachen würde durch die Räume schallen, der Duft ihres Parfüms alles durchdringen.

In dem Zimmer, wo Nele schon als kleines Kind geschlafen hatte und das sie sich nun mit ihrer Tochter teilte, legte sie Annika aufs Bett. Sie zog ihr die Schuhe aus und deckte sie zu, wickelte die Bettdecke eng wie einen Kokon um ihren Körper – so, wie Annika es mochte. Dann setzte sie sich neben sie und vergrub ihre Nase in Annikas dunklem Haar. Sie genoss die Wärme, die von ihrer Tochter ausging, und versuchte, ihre eigenen flachen, schnellen Atemzüge den tiefen, gleichmäßigen ihres schlafenden Kindes anzupassen. Erst als sie merkte, dass der Druck auf ihrem Brustkorb langsam nachließ, stand sie auf und verließ den Raum. Wie schon zuvor beim Hineingehen achtete sie darauf, nicht auf das vierte Dielenbrett zu treten, weil das fürchterlich laut knarzte. Nele kannte dieses Haus in- und auswendig.

Wieder im Erdgeschoss, nahm sie ihr Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer.

«Hey!», sagte Ben am anderen Ende der Leitung. Seine Stimme war warm und dunkel. «Bist du schon da?»

«Ja.» Nele ließ sich gegen die Wand sinken. «Ich wünschte, du wärst hier.»

4.Kapitel

Juist, 25. August 2001

A whole new world

A new fantastic point of view

No one to tell us no

Or where to go

Or say we’re only dreaming.

«A Whole New World», aus: Aladdin

«Heute habe ich was für dich, Lütte!» Mette winkte mit dem Brief in der Hand, und ihre schiefen Zähne leuchteten in dem von Wind und Wetter gegerbten Gesicht.

Nele, die gerade noch mit geschlossenen Augen im Liegestuhl gelegen und in einer Mischung aus Aufregung und Erstaunen jeden Moment der gestrigen Nacht noch einmal durchgespielt hatte, fuhr hoch. Mit weichen Knien eilte sie auf das gelbe Postfahrrad zu.

Mette gab ihr den Brief. Neles Hand zitterte, als sie ihn ergriff, und fast hätte sie vergessen, auch die Post von Oma Lotte entgegenzunehmen.

Endlich war er da. Mit klopfendem Herzen betrachtete Nele den Umschlag, die blaue Tinte, mit der Adresse und Absender geschrieben waren, die Briefmarke mit dem Enzian darauf.

«Und? Ist er da?», rief ihr Oma Lotte aus dem Garten zu. Sie nutzte das schöne Wetter, um Wäsche aufzuhängen.

Nele nickte gedankenverloren und streichelte mit der freien Hand Ottos geflecktes Fell.

«Ach, Mädchen!» Oma Lotte ließ die rosa gestreifte Bluse in ihrer Hand sinken und seufzte. «Hast du dir das auch gut überlegt? Vielleicht kannst du mich in den Ferien dann gar nicht mehr besuchen kommen, und du musst jeden Tag von morgens bis abends üben. An die frische Luft kommst du gar nicht mehr, und bald werden deine Füße so hässlich sein wie die von Emily.»

«Das habe ich gehört!», schallte es zu ihnen herüber.

Emily kniete auf der anderen Seite des Gartenzauns und zupfte Unkraut aus ihrem Gemüsebeet. Nun stand sie auf und erhob drohend den Zeigefinger.

Anders als Oma Lotte, die, selbst wenn sie das Deichschlösschen nicht verließ, aussah, als ginge sie in ein schickes Restaurant, kleidete Emily sich lässig: Ihre dünnen Beine steckten in dreiviertellangen Leggings, den mageren Oberkörper kaschierte ein weit schwingendes Oberteil. Dazu legte sie aber einen dunkelroten Lippenstift auf, der fast den gleichen Ton hatte wie ihre gefärbten Locken. Und immer – selbst im Hochsommer – trug sie geschlossene Schuhe.

Ihre Füße sahen nämlich wirklich nicht schön aus. Sie waren mit Schwielen und Hornhaut bedeckt, und zwei ihrer Nägel waren schwarz. Nele hatte das einmal zufällig gesehen, als Emily im Garten ein Fußbad genommen hatte.

«Ist das die Antwort von der Akademie?», fragte Emily gespannt und zeigte auf den Brief.

Nele nickte.

«Und was stehst du dann noch hier wie angewachsen herum? Mach ihn auf!»

Unentschlossen knibbelte Nele mit Daumen und Zeigefinger an der Lasche des Umschlags. Sie schaute erst zu Emily, dann zu Oma Lotte. Die rosa gestreifte Bluse hing jetzt an der Wäscheleine und flatterte fröhlich im Wind. Erwartungsvoll sahen beide Frauen sie an.

«Ich kann nicht, wenn ihr mir zuschaut», sagte sie verlegen. «Dazu muss ich allein sein.»

Oma Lotte war die Enttäuschung deutlich anzusehen, aber Emilys strenge Gesichtszüge wurden weich. «Natürlich! Zeig ihn uns, wenn du bereit bist.»

Oma Lotte nickte. «Emily und ich stellen inzwischen schon mal eine Flasche Sekt kalt.»

«Das ist eine hervorragende Idee, Charlotte!» Es kam selten vor, dass Emily ihrer besten Freundin beipflichtete. Sie kramte eine Schachtel Zigarillos aus der Tasche ihres weiten Oberteils und zündete sich einen an. Tief inhalierte sie den Rauch und blies ihn dann in unterschiedlich großen Kringeln wieder aus. «Wenn es eine Zusage ist, können wir darauf anstoßen. Bei einer Absage betrinken wir uns.»

«Ach, was du immer für dummes Zeug redest! Und du weißt genau, wie sehr ich es hasse, wenn der Qualm dieser Teufelsdinger in meinen Garten zieht.» Oma Lotte wedelte mit der Hand, um den Rauch zu vertreiben. «Hör nicht auf sie, Herzchen!», sagte sie zu Nele. «Natürlich ist es eine Zusage.»

«Das war ein Spaß!» Emilys grüne Augen richteten sich gen Himmel, als würde sie den lieben Gott darum bitten, ihr Geduld zu schenken. «Laura hat mir das Video vom Vortanzen und Vorsingen gezeigt. Du warst wundervoll. Und selbst wenn das Auswahlgremium Tomaten auf Augen und Ohren hatte, denk dran: Kopf hoch, Schultern tief, Brust raus! Du gehst deinen Weg, Mädchen, das weiß ich.»

Genau das Gleiche hatte auch Laura zu ihr gesagt. Nele wünschte, sie könnte genauso sehr an sich glauben, wie Emily und ihre Mutter es taten.

Oma Lotte lächelte ihr ebenfalls aufmunternd zu. Auch wenn sie immer über ihre Tanzerei schimpfte, war sie stolz auf Nele, das merkte man.

Nele überlegte kurz, ob sie den Brief in ihrem Zimmer öffnen sollte. Nein, in einem geschlossenen Raum würde sie jetzt verrückt werden. Mit dem Umschlag in der Hand schwang sie sich auf ihr Hollandrad. Otto richtete sich auf, er hoffte, dass er sie begleiten durfte. Doch Nele schüttelte den Kopf.

 

Auf der Uferpromenade angekommen, schlängelte sich Nele durch den Strom der Menschen, die mit voll bepackten Taschen auf dem Weg zum Strand waren, und schaute sich nach einer freien Bank um. Doch nach dem Regen der letzten Tage brannte die Sonne heute wieder heiß von einem blauen Himmel voller Schäfchenwolken, und alle Plätze waren besetzt. Ein Pärchen mit Hund, eine Familie mit vier kleinen Kindern, ein alter Mann, der Pfeife rauchte und Zeitung las … Niemand hatte Lust, sich bei diesem Wetter drinnen aufzuhalten.

Auch Laura nicht. In ihrem neuen roten Kleid saß ihre Mutter dort drüben an der Strandbar und winkte ihr zu.

«Hallo, meine Süße! Wohin fährst du denn? Zu Henry?»

Nele stieg ab und schob ihr Fahrrad zu ihr. «Nein. Ich gehe schwimmen.» Sie hoffte, dass Laura nicht in ihren Fahrradkorb schaute und merkte, dass sie kein Handtuch dabeihatte.

Von dem Brief wollte sie ihrer Mutter jetzt nicht erzählen, denn neben Laura saß Julius. Nele mochte den Immobilienmakler einfach nicht. Alles an ihm war schmierig: seine dunklen, nach hinten gegelten Haare, sein aufgesetztes Lächeln, sein ganzes Gehabe. Großspurig wie immer zog er gerade eine goldene Geldscheinklammer von einem Bündel Scheine, um ihre zwei Tassen Cappuccino zu bezahlen. Dabei funkelte sein schwerer Siegelring mit dem mattschwarzen Stein im Sonnenlicht.

Nele rümpfte die Nase. Seine Hände waren viel zu gepflegt für einen Mann. Bestimmt ging er zur Maniküre. Henrys Hände dagegen waren immer ein bisschen schmutzig und rau, weil er es liebte, an allem herumzuschrauben, vor allem an Dingen, die Räder hatten. Neles Pulsschlag beschleunigte sich, als sie daran dachte, wo er sie gestern Nacht mit diesen Händen überall berührt hatte.

Schnell verabschiedete sie sich und radelte weiter zum Strandaufgang. Dort legte sie ihr Rad in den Sand und sah sich verstohlen um. Niemand war zu sehen. Sie kletterte über das niedrig aufgespannte Tau, das den Strand von den Dünen abtrennte.

Ein Junge, etwa in ihrem Alter, lag reglos auf dem Rücken im Sand, halb verdeckt vom Seehafer. Fast wäre Nele über ihn gestolpert.

«Kannst du denn nicht lesen?», fuhr sie ihn an. Einen schrecklichen Augenblick lang hatte sie gedacht, er wäre tot. «Es ist verboten, die Dünen zu betreten.»

Eigentlich hätte er sie jetzt darauf aufmerksam machen müssen, dass sie selbst sich auch nicht an dieses Verbot hielt. Doch anscheinend war er auf den Mund gefallen. Wie von einer Hornisse gestochen fuhr er plötzlich nach oben. Erst jetzt realisierte Nele, dass es der rothaarige Junge von letzter Nacht war.

«Tut mir leid», sagte er und schluckte.

«Ach!» Nele reckte das Kinn. Ihr Herz schlug immer noch wie wild.

Unbeholfen klopfte der Junge sich den Sand von seinem Poloshirt und schwieg.

«Anemone! Florentine! Hört sofort auf mit dem Unsinn!», durchschnitt eine schrille Stimme die Stille. Sie gehörte einer korpulenten Frau, deren platinblond gefärbte Haare so hoch aufgetürmt waren, dass Nele hätte wetten können, dass sie darunter ein Haarteil trug. Mühsam schälte sich die Frau aus ihrem Strandkorb unterhalb der Dünen.

Die kleinen Zwillingsmädchen, die ein paar Meter entfernt von ihr standen und sich gegenseitig Sand über den Kopf rieseln ließen, sahen einander an und rannten dann kichernd in Richtung Meer. Ihre wadenlangen Sommerkleider flatterten hinter ihnen her.

Die Frau wandte sich dem Jungen zu. «Was machst du denn da oben auf der Düne?», herrschte sie ihn an. Der dünne Stoff ihrer Chiffonbluse war zwischen den Brüsten und unter den Achseln dunkel von Schweiß. «Komm sofort her und kümmere dich um deine Schwestern. Kann ich denn keine fünf Minuten in Ruhe lesen?» Wütend schwenkte sie ihr Buch mit dem rosafarbenen Einband.

Wie redete sie denn mit ihm?, wunderte sich Nele. Wenn Laura sie so anraunzen würde, würde sie ihr was erzählen! Doch der Junge biss sich nur kurz auf die Unterlippe und lief dann zu den Mädchen die Düne hinunter.

«Ha, ha, du kriegst uns nicht», rief die eine und streckte ihm die Zunge heraus. Die beiden kicherten lauter und beschleunigten ihre Schritte.

Mit seinen langen, dünnen Beinen hatte er sie schnell eingeholt und sich eine von ihnen geschnappt. Er packte das Mädchen an der Taille und wirbelte sie herum. Anscheinend war er stärker, als er aussah. Die Kleine juchzte vor Wonne.

«Ich auch. Ich auch! Ben, ich will jetzt auch mal!», rief die andere und reckte die Ärmchen.

Was für ein schräger Typ!, dachte Nele kopfschüttelnd. Ließ sich von seiner Mutter herumkommandieren, als wäre er erst zehn.

Sie wandte sich ab und lief weiter in die Dünen hinein. In einer tiefer gelegenen Mulde, die vom Strand aus nicht einsichtig war, ließ sie sich in den Sand plumpsen.

Nele schloss kurz die Augen. Was würde sie tun, wenn sich in dem Briefumschlag eine Absage befand? Natürlich gab es noch andere Musicalschulen in Deutschland, aber keine war so gut wie die Stage School in Hamburg. Es musste einfach eine Zusage sein! Sie überlegte, ob sie noch etwas tun konnte, um das Schicksal milde zu stimmen. Das machte sie schon, seit sie klein war. Zum Beispiel in der vierten Klasse: Damals hatte sie dem Schicksal angeboten, trotz ihrer Tanz- und Gesangsstunden für die Schule so viel zu lernen, dass sie nur Einser und Zweier im Zeugnis hatte. Dafür hatte sie zu Weihnachten das wunderschöne glitzernde Tutu bekommen, das sie sich schon so lange wünschte. Abgesehen davon, dass Eddy nicht zurückgekommen war, obwohl sie monatelang lieb und artig gewesen war und Laura niemals Widerworte gegeben hatte, hatte ihre Strategie fast immer funktioniert. Aber was konnte sie in diesem Moment und mitten in den Dünen schon tun? Einen einarmigen Handstand machen? Oder die Luft anhalten und bis fünfhundert zählen?