0,99 €
Wie wird sich Erzählen, werden sich Geschichten verändern, wenn sich Oberflächen, Naturereignisse, Jahreszeiten und damit menschliche Sinneserfahrungen verändern? Literaturwissenschaftlerin Berit Glanz erinnert sich in ihrem Essay in Kursbuch 202 an die Edle Steckmuschel, die die Generation ihrer Eltern noch im Urlaub gesammelt und als Souvenir nach Hause mitgebracht hat, die heutzutage aber unter Artenschutz steht und für künftige Generationen verloren zu gehen droht. Genauso wie Schnee. Wovon werden wir erzählen, wenn wir keine direkte Sinneserfahrung zu diesen Spielarten der Natur mehr machen können? Wenn wir die kleinen Kristalle, die "Schneeflöckchen" nicht mehr bewundern können, die sich im "Weißröckchen" ans Fenster setzen? Wenn wir die feinen Stacheln der Steckmuschel nicht mehr spüren können? Wie sehr wird die Trauer unseren zukünftigen Erzählmodus bestimmen?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 17
Inhalt
Berit GlanzWo ist die Steckmuschel?Vom Verlust sinnlicher Erfahrungen in der Klimakatastrophe
Die Autorin
Impressum
Berit GlanzWo ist die Steckmuschel?Vom Verlust sinnlicher Erfahrungen in der Klimakatastrophe
Am Beginn des 21. Jahrhunderts befinden wir uns in einer Zeitphase, die zunehmend von den Konsequenzen der menschengemachten Zerstörung von Natur und Klima geprägt sein wird. Den Naturwahrnehmungen und -erzählungen der Gegenwart ist immer öfter eine Spur der Trauer eingeschrieben, ein Schmerz über den kommenden Verlust, die mögliche Zerstörung des Wahrnehmbaren in der allzu nahen Zukunft. Diese Perspektive verändert nicht nur unsere Erinnerung an Natur – auch unsere ästhetischen Auseinandersetzungen mit Natur sind davon betroffen. Sie fordert uns auf, neue Ästhetiken und sprachliche Verfahren zu entwickeln, die einerseits Raum für solche Trauer ermöglichen, andererseits den historischen Einfluss der Natur auf den Menschen darstellen und das im Verschwinden Begriffene festhalten und dokumentieren. Individuelle Geschichten des Verlustes bilden auf diese Weise ein narratives Mosaik der Klimakatastrophe als gravierenden Einschnitt in unser menschliches Dasein.
Für mich muss diese persönliche und doch kollektiv wirkende Erzählung der Trauer in Zeiten der Klimakatastrophe bei den Steckmuscheln anfangen. Die Edle Steckmuschel sieht aus wie ein länglicher Fächer aus mattem bräunlich-rotem Glas. Die kleinen Stacheln auf der Außenseite dieser Muscheln piksen in die Fingerkuppen, wenn Kinderhände versuchen, über sie hinwegzustreichen. Drücken sie zu fest auf die vielen winzigen Nadelspitzen dieser großen Muscheln, dann brechen die Stacheln ab, und man darf in Zukunft die vielen Muschelschalen und Schneckenhäuser, die im elterlichen Bücherregal langsam Staub ansammeln, nur noch aus der Ferne betrachten. Neben den glatten Kaurischnecken – die manche fälschlicherweise als Muscheln bezeichnen – mit ihrer bunt gemusterten Schale, liegen Seeohren, die von außen unspektakulär aussehen, doch beim Umdrehen das Perlmutt ihrer Innenseite offenbaren wie ein schillerndes Versprechen.
Erinnerung und Sensorik