Automaton - Berit Glanz - E-Book

Automaton E-Book

Berit Glanz

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Beschreibung

Das Browser-Fenster zum Hof  Die junge Mutter Tiff schlägt sich mit schlecht bezahlten Online-Jobs für die Plattform Automa durch, da sie wegen einer Angststörung ihre Wohnung kaum verlassen kann. Ihre zermürbende Akkordarbeit wird als angebliche Überwachungsleistung einer KI teuer verkauft, weshalb sie zur Verschwiegenheit verpflichtet ist. Doch dann wird sie am Bildschirm Zeugin eines Verbrechens … Ein visionärer Gegenwartsroman, der zwischen der Klaustrophobie der eigenen vier Wände und den Hanffeldern Kaliforniens spielt und von neuen Ausbeutungsverhältnissen und den Chancen virtueller Solidarität erzählt. »Dieses Buch ist ein Geniestreich. Vordergründig geht es um Kapitalismus, Digitalisierung und Angst, aber im Kern enthält es, was dabei oft vergessen wird: unsere Menschlichkeit. Berit Glanz erzählt wagemutig und klug von einem Gefühl, an dessen Existenz wir kaum noch glauben, obwohl es alles verändern kann. Es ist Hoffnung.« Mareike Fallwickl

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Die Autorin dankt dem Deutschen Literaturfonds, der die Entstehung dieses Buches durch ein Jahresstipendium großzügig unterstützt hat.

Für meine Eltern

© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin/München 2022

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Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München

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Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Somniosus microcephalus

Populus nigra

Quercus robur

Citrus sinensis

Corvus corone

Fallkerbsohle

Felis catus

CHAT 1

Rattus rattus

Maiasaura peeblesorum

CHAT 2

Totholz

Pelophylax ridibundus

Cepaea hortensis

CHAT 3

Bugholz

Canis lupus familiaris

CHAT 4

Aststumpf

Agaricus bisporus

Coccinella quinquepunctata

CHAT 5

Ficus benjamina

Petunia × hybrida

Centaurea cyanus

Malus domestica

Galium odoratum

CHAT 6

Passer domesticus

Larus canus

CHAT 7

Coffea arabica

Solanum lycopersicum

CHAT 8

Restholz

Bouteloua dactyloides

CHAT 9

Panthera leo

Sula nebouxii

CHAT 10

Cucullia umbratica

Druckholz

Culex pipiens

CHAT 11

Wundholz

Baccharis pilularis

CHAT 12

Schneebruch

Vanessa cardui

CHAT 13

Wurzelsymbiose

Homo sapiens

CHAT 14

Mellivora capensis

CHAT 15

Gallus gallus domesticus

Setzling

Polyommatus icarus

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Somniosus microcephalus

Einmal träumte sie, dass sie eine schwimmende Jägerin sei. Nachts musste sie die dunklen Kanäle einer eiskalten Betonlandschaft durchqueren und riesige Vampirhaie zerstören, indem sie ihnen Pflöcke zwischen die Augen rammte. Als sie morgens in die Küche kam und Stefan davon erzählte, lachte der und sagte, dass die Welt in ihrem Kopf schon immer außergewöhnlich gewesen sei.

Jetzt ist dort nichts Außergewöhnliches mehr, nur tote Katzen, zerquetschte Hamster, gequälte Kinder, Blut, Tod und Folter und viel zu viele mit Benzin in Brand gesteckte Dinge. Stefan ist auch nicht mehr da. Dafür gibt es Leon. Manchmal wacht ihr Kind morgens auf und erzählt ihr von seinen Träumen, dann sagt sie, dass in seinem Kopf eine Zauberwelt sei, und zwingt sich, zu lächeln.

Populus nigra

Tiff reibt sich die Beine, sie versucht, die Kniescheiben hin- und herzuschieben, vielleicht bewegt sich auch nur die Haut über dem Gelenk. Sie ist sich nie sicher, drückt deshalb immer fester, bis es schmerzt. Denn wenn sie sich auf den Druck konzentriert, auf die kleinen halbmondförmigen Schmerzringe, die sie mit den Fingernägeln in die Haut presst, dann kann sie zumindest kurz das Gefühl vergessen, dass in ihrem Hals ein Globus nach oben drückt. Manchmal streicht sie sich in diesen Momenten über den Kehlkopf, der sich verstörend normal anfühlt, und spürt den hämmernden Herzschlag am Hals, als würde sich etwas von innen freikämpfen wollen. Gänsehaut breitet sich von ihrem Nacken aus. Früher hat sie nie verstanden, wie einem die Angst kalt den Rücken hinablaufen kann – bis sie das erste Mal bemerkte, wie sich das eisige Gefühl einer falschen Welt in ihren Fingerspitzen ausbreitete.

Neben ihr sitzt Leon im Schneidersitz auf der Bank, die Pommestüte zwischen den Schenkeln. Seine Beine sind mit Ketchupflecken besprenkelt. Er isst zufrieden, und solange Pommes in der Tüte sind, wird er auch keine Zeit haben, auf sie einzureden. Eine kurze Pause. Vor ihnen picken Tauben in den Ritzen der Gehwegplatten. Auf ihrem Schoß liegt der verwaschene Geldbeutel aus gräulichem Jeansstoff, halb gefüllt mit Centmünzen und ein paar Karten. Das Geld hat nur noch für eine Portion gereicht, aber Leon scheint ihr zu glauben, dass sie bereits gegessen hat. Sie schließt und öffnet den Reißverschluss. Ihre Finger zittern leicht, als sie die Bankkarte herausholt und in der Hand dreht. Der Bankautomat hat ihr heute einen Abbruch wegen fehlender Kontodeckung angezeigt, langsam müsste die Überweisung kommen. Es wird eng.

Als die Tauben plötzlich hochflattern, fällt ihr der Geldbeutel zu Boden. Sie stürzen sich auf eine halbe Pommes, die Leon über ihre Köpfe geworfen hat. Tiff schaut ihn an. Er lacht, als die Vögel alle gleichzeitig versuchen, das Stück zu ergattern. Ein besonders großes Exemplar schafft es, sich den Happen zu sichern, und fliegt auf einen Zaun in der Nähe, um ungestört die Beute zu verschlingen. Mit schief gelegtem Kopf schaut die Taube auf den kleinen Menschen mit der Pommestüte, während ihr ein Ketchuprest wie Blut am Schnabel klebt.

Die Tüte ist beinahe leer. Die letzten Pommes sind vom Ketchup durchtränkt. Leon will noch mehr davon zu den Tauben werfen, aber Tiff nimmt die Tüte und kippt sich den matschigen Rest direkt in den Mund. Leon leckt sich gründlich Salz und Ketchup von Fingern und Handflächen, obwohl seine Hände noch voller Dreckspuren aus dem Kindergarten sind. Wahrscheinlich hat er im Sand gespielt, aber sie hat nicht die Energie, ihn davon abzuhalten, mit der Zunge über die schmutzigen Stellen zu fahren. Schließlich wischt er die feuchten Hände an seiner Hose ab.

Sie gehen gemeinsam zurück zur Wohnung. Tiff trägt den Kinderrucksack mit Feuerwehraufdruck und versucht, ihren Atemrhythmus an die Abstände der ausgedörrten Straßenbäume neben dem Fußweg anzupassen. Einmal einatmen und ausatmen, dann kommt der nächste Baum. Die Blätter haben braune Flecken. Sie schaut auf die dickeren Äste. Vor Kurzem hat sie gelesen, dass bei einem Sommerbruch die Bäume ganze Zweige abwerfen können. Ohne Vorzeichen fallen sie zu Boden. Ein Radfahrer war vom herabstürzenden Teil einer Buche getroffen und schwer verletzt worden. Tiff betrachtet die Kronen der Pappeln, die den Weg zu ihrem Mietshaus säumen, und denkt, dass sie nicht in allem eine Bedrohung sehen sollte. Leon redet wieder, ohne zwischendurch Atem zu holen, und sie versucht, sich zu konzentrieren, auf ihn, auf den Verkehr und die eigenen, ihr fremd gewordenen Bewegungen. Irgendwann beruhigt sich der Herzschlag, wird gleichmäßiger, hört auf zu stolpern. Sie atmet tief ein und schaut auf die dunklen Haare ihres Kindes, das gerade einen Stein vor sich herkickt. Auf dem Gehweg liegen die Reste des Pappelflaums, der vor einigen Wochen in dicken Flocken durch die Luft wirbelte. Jetzt haben sich die weißen Fasern am Rand mit dem Straßenstaub vermengt und sehen aus wie die Reste des Schnees im Frühjahr.

Quercus robur

Autob ID: 3216c

»Benenne Objekte in Screenshots«

Markiere in der Eingabebox mit jeweils drei Worten den Bildinhalt

Lohn: $5.00 für 60 Bilder

Aufgabendauer: ca. 60 Minuten

Verpflichtendes Autob-Rating: 85%

Eigentlich versucht Tiff, keine Aufträge anzunehmen, bei denen nicht vorab definiert ist, woher die Bilder stammen und was ungefähr auf ihrem Bildschirm erscheinen wird. Ihre Angst ist noch immer zu groß. Aber dieses Mal kann sie nicht Nein sagen, denn die Bezahlung ist im Vergleich zu den anderen Angeboten sehr gut und das Geld weiter schmerzhaft knapp. Sie überlegt kurz, im Automaton-Forum zu schauen, ob andere schon an der Aufgabe saßen und ihr etwas über den Inhalt der Bilddateien sagen können, aber es sind kaum noch Plätze in diesem Autob frei. Viele andere Automatons haben ebenfalls gemerkt, dass diese Aufgabe besser bezahlt ist als gewöhnlich. Wenn sie sich jetzt nicht einloggt, ist das Risiko hoch, dass sie ihre Chance vertan hat.

Sie klickt den Button, und nach kurzer Ladezeit beginnt der Auftrag. Auf dem Bildschirm erscheint der erste Screenshot, ein Desktop mit offenem Browser. Youtube, Disney, Zeichentrick, schreibt sie in die Eingabemaske und klickt auf den Pfeil, um das nächste Bild zu bearbeiten. In der kurzen Zeit, bis ihre Eingabe abgespeichert ist und das neue Bild erscheint, trommelt sie nervös auf das helle Eichenfurnier ihres Schreibtischs. Wie sonderbar, in einer Welt zu leben, die Bilder von Holz auf zusammengepresste Späne klebt und daraus Möbel baut, denkt sie und klammert sich an die kleine gedankliche Ablenkung. Die Sekunden der Ungewissheit sind erschöpfend, aber glücklicherweise ist ihre Internetverbindung so schnell, dass kaum Zeit bleibt für die Angst.

Immer wieder erscheinen ähnliche Screenshots von geöffneten Browsern mit mehr oder weniger vielen Tabs. Youtube-Videos, Zeichentrickfilme, Musikclips, Let’s-Play-Videos, Wikipedia-Artikel, Produkte auf Ebay, Artikelbeschreibungen bei Amazon, Nachrichtenwebsites, Online-Shops. Bild um Bild Einblicke in die Internetnutzung ihr unbekannter User, die sie mit jeweils drei Wörtern zu fassen versucht. Damit sie am Ende der Datenbearbeitung nicht zu viel Zeit verbraucht hat (selbst die höhere Bezahlung für diesen Autob wird nur für einen lächerlichen Stundenlohn reichen), tippt sie rasch und eifrig, versucht, bloß kurz nachzudenken. Nur einmal stockt sie, als der Screenshot einen Online-Shop für Luftballons zeigt und sie überlegen muss, wie sie den Bildinhalt am besten beschreiben soll. Online-Shop, Luftballons, Zubehör, gibt sie schließlich in die Maske ein. Als die Stunde vergangen ist, fühlt sie sich ausgeleert, als wären keine Wörter mehr in ihr. Durch ihr Inneres rauschen die gesehenen Bilder.

Ohne Mikael wäre sie niemals Automaton geworden, und wahrscheinlich sollte sie dankbarer sein. Wenn sie aber spätabends erschöpft auf ihrem Drehstuhl sitzt und auf den gestreiften Vorhang schaut, der das Fenster zum Hinterhof verdeckt, damit in den mondhellen Nächten kein Licht von außen ihren Arbeitsfluss stört, dann fragt sie sich, wie sie in diese Lage kommen konnte. Nachts erscheint es ihr nicht mehr unmöglich, am nächsten Morgen die Wohnung zu verlassen und sich einen Job zu suchen, in einer Bäckerei, irgendwo an einer Kasse oder etwas mit Kindern oder alten Menschen, vielleicht sogar zur Uni zu gehen, ein Studium anzufangen, ein Vorbild für Leon zu sein. Aber sie weiß, dass sie dafür die Kraft noch nicht aufbringen kann; irgendwann vielleicht, mit Therapieplatz und wenn sie weniger Energie dafür braucht, Leon eine Normalität vorzuspielen, die in ihrem Kopf nicht existiert. Bis auf Weiteres aber wird sie in der Sicherheit ihrer Wohnung gefangen sein, und nur nachts mit den anderen Automatons im Forum, wenn sie wie im Großraumbüro eines gewöhnlichen Arbeitsplatzes Witze machen, ihre Arbeit kommentieren und Informationen austauschen, fühlt sich die Normalität greifbar an.

Sie schaut nach, ob Nik78 oder Stariseria schon da sind, aber beide Accounts sind offline, also klickt sie sich weiter durch die Angebote und überlegt, ob sie es schafft, vor dem Einschlafen noch einen nächsten Auftrag zu erledigen.

Autob ID: 2481a

»Bilderkennung: Schnee«

Markiere, ob auf den Bildern Schnee zu sehen ist

Lohn: $2 für die komplette Aufgabe

Aufgabendauer: ca. 30 Minuten

Verpflichtendes Autob-Rating: 70%

Straßenzug um Straßenzug, Mittelstreifen, Bäume, immer wieder Fahrzeuge, deren Nummernschilder auf ein Land verweisen, das sie nicht gleich zuordnen kann. Bilder von Überwachungskameras oder Radarfallen, schwarz-weiß und grobkörnig. Manchmal sind sie so unscharf, dass es schwerfällt zu entscheiden, ob darauf Schnee zu sehen ist. Möglicherweise sind die weißen Felder gar nicht mit Schnee bedeckt, sondern durch Regenschauer oder Nebel verursachte Aufnahmefehler.

Wenn ihre Fehlerquote im Vergleich zu den anderen Automatons zu hoch ist, verschlechtert sich ihr Rating, wird sie es schwerer haben, besser dotierte Autobs zu bekommen. Erst nach einer knappen Stunde hat Tiff den Bildersatz fertig bearbeitet. Sie ist den Tränen nah. Gibt sie den Auftrag unvollendet zurück, wird sie gar nicht bezahlt. Nach einer halben Stunde Suche nach Schnee hatte sie nicht aufgeben wollen, mit jedem Bild gehofft, dass der Datensatz abgeschlossen wäre. Das machtlose Gefühl stellt sich wieder ein. Sie hat beinahe eine Stunde für zwei Dollar gearbeitet. Verzweifelt tippt sie eine Warnung ins Forum und hofft, dass ihre Freunde nicht auch noch auf den Schnee-Autob hereinfallen.

Sie öffnet die Vorhänge und schaut in das Schwarz hinter der Fensterscheibe. Im Hinterhof gibt es keine Laterne. Wenn die Lichter in den anderen Wohnungen erloschen sind, liegt alles in Dunkelheit verborgen, allein das Leuchten ihres Bildschirms spiegelt sich im Glas.

Es ist sehr still in der Wohnung. Nur aus den Kopfhörern, die vor ihr auf dem Schreibtisch liegen, dringt leise Musik. Elektronischer Ambientsound, der ihre Konzentrationsfähigkeit verbessern soll und sich nicht in den Vordergrund drängt. Aquariumklänge, denkt sie manchmal, wenn sie sich doch auf die Musik fokussiert. In der Wohnung über ihr geht die Klospülung, sie hört das Wasser in den Rohren durch die Wand rauschen. Wahrscheinlich geht Mikael jetzt ins Bett. Sie hat gar nicht mitbekommen, dass er wieder da ist. Morgen wird sie bei ihm klopfen, wenn sie Leon im Kindergarten abgegeben hat und schweißgebadet im Treppenhaus zurück ist. Mikael ist das egal. Er wird sich freuen, sie zu sehen, sie umarmen und ihr einen Kaffee auf den Tisch stellen.

Citrus sinensis

Sie muss gar nicht zu Mikael hochgehen und an seine schwere Wohnungstür klopfen. Gerade sucht sie vor ihrer eigenen Tür mit zittrigen Fingern in den Hosentaschen nach ihrem Schlüssel, um sich für einen Moment auf dem Bett zusammenzurollen, da hört sie ihn aus dem darüberliegenden Stockwerk ihren Namen rufen.

Ich komme, sagt sie und dreht sich um. Eine Treppenstufe, noch eine und noch eine. Achtzehn Stufen, bis sie in den dritten Stock gestiegen ist und vor seiner offenen Tür steht. Sie sieht ihn in der Küche am anderen Ende des Flurs. Natürlich kocht er Kaffee, in Unterhose. Sie kennt niemanden sonst, der so gerne nur in Unterwäsche ist wie Mikael. Vor dem Betreten der Wohnung zieht sie ihre Schuhe aus, die Wände sind bis auf einen Kleiderhaken und einen rahmenlosen Spiegel kahl. Die Funktionalität der Einrichtungsgegenstände verrät, dass diese Wohnung nie ein Zuhause sein muss, sondern immer nur vorübergehende Unterkunft ist.

Mikael dreht sich um, als sie an der Küchenschwelle steht, und nimmt sie in den Arm. Es ist, als würden sich ihre Lungen weiten, als würden seine ruhigen Bewegungen ihren Puls entschleunigen, wie im Moment nach einem Sprint, wenn man wieder langsam geht und der Herzschlag in den Ohren leiser wird, das Atmen gleichmäßiger.

Sie sitzen am Tisch und trinken Kaffee, genauso wie Tiff es sich letzte Nacht vorgestellt hat, und diese Planbarkeit ist Teil des Glücks, das sie immer dann umgibt, wenn Mikael zurück ist. Nach zwei Bechern Kaffee, Geschichten von Leon und einer Schilderung seines letzten Trips nach London dreht er sich um und zieht die Schublade neben der Spüle auf. Sie weiß, was jetzt kommt, und es ist ihr noch immer unangenehm. Es hat eine Zeit gedauert, bis ihr klar wurde, wie wichtig sie auch für Mikael ist. Seitdem fühlt sie sich weniger hilflos als am Anfang, aber gewöhnt hat sie sich dennoch nicht an diesen Moment. Er gibt ihr den Umschlag mit dem Geld, 500 €, wie jeden Monat, und zwinkert ihr zu. Tiff lächelt ihn an, mehr mit den Augen als mit dem Mund, und steckt das Geld in ihre Handtasche.

Als sie Mikael das erste Mal traf, saß sie gerade vor ihrer Wohnung, die Augen geschlossen, den Kopf an die Tür gelehnt, und versuchte, sich zu beruhigen. Ihre Armmuskeln waren so angespannt, dass sie es nicht schaffte, mit den verkrampften Fingern in die Hosentasche ihrer engen Jeans zu fassen, um den Schlüssel hervorzuholen. Die Situation war so albern, dass sie ständig zwischen Schluchzen und Lachen hin und her kippte. Sie drückte die Hände gegen den Türrahmen, der ihr im Gegensatz zum schwankenden Boden verlässlich stabil vorkam. Bevor ihre Arme sich entspannt hatten, hörte sie Schritte auf der Treppe und öffnete die Augen. Mikael stand vor ihr und schaute sie fragend an.

Brauchst du Hilfe?, hatte er gefragt, und sie hatte den Kopf geschüttelt und gehofft, dass er weitergehen und sie allein lassen würde, bis die Attacke abgeebbt wäre. Aber er schaute sie wissend an, hockte sich lächelnd neben sie, sagte seinen Namen und fing an zu reden. Es schien ihn nicht zu stören, dass sie nicht weiter auf ihn reagierte, weil zu dem Lach-Schluchzen auch noch ein Schluckauf hinzugekommen war. Er redete und redete, und sie hörte kaum den Inhalt seiner Sätze. Irgendwann begann der gleichmäßige, tiefe Klang seiner Stimme einen beruhigenden Einfluss auf sie auszuüben. Ihre Finger entkrampften sich, und sie zog den Schlüssel aus der Tasche, erhob sich und drehte sich auf zittrigen Beinen zu ihrer Wohnungstür. Sie hatte den Schlüssel bereits im Schloss gedreht, als sie sein Räuspern hörte. Er hielt ihr die Hand hin. Sie schüttelten einander die Hände, und dann ging er langsam die Treppe hinauf, während sie voller Scham in die Wohnung huschte. Sie hatte Mikael erst Tage später wiedergesehen, als sie versuchte, einen großen Karton in die überfüllte Papiertonne im Hinterhof zu quetschen. Er stand mit einem kleinen Müllbeutel, in dem sich Orangenschalen und Kaffeefilter befanden, neben ihr. Sie fragte sich, wie ordentlich jemand sein musste, um derartig kleine Mengen Müll bereits zum Sammelplatz zu bringen. Mit schlechtem Gewissen dachte sie an den überquellenden Eimer in ihrer Küche und daran, wie oft sie den Sack so vollgestopft hatte, dass stinkende Flüssigkeit herausgelaufen war und sie den Behälter später in der Dusche hatte gründlich ausspülen müssen. Er grüßte freundlich, sie grüßte zurück. Sie wechselten einige Sätze über das Wetter (zu warm für den April) und den Hinterhof (zu viele Fahrradleichen und Sperrmüllstücke). Als sie ihm auf seine Nachfrage ihren Namen nannte, nickte er und stellte sich ebenfalls vor. Von da an trafen sie sich immer wieder zufällig, und jedes Mal sprachen sie etwas länger miteinander, über seine Arbeit in der Stadt, ihren Heimatort, seine Wohnung in Schweden und Fernsehserien, die ihnen gefielen. Manchmal war Leon dabei und löcherte Mikael mit einer Frage nach der anderen, die dieser alle geduldig beantwortete.

Einige Wochen später, sie hatten bereits begonnen, in seiner Küche Kaffee zu trinken und dazu trockene dänische Kekse aus einer Metalldose zu essen, fragte sie ihn nach seinem Ehering. Das gleichmäßige Fließen von Mikaels Erzählung stockte für einen Moment. Er sammelte sich und schilderte ihr in kurzen Sätzen die Situation mit seinem Ex-Mann Robert und die Scheidung, die ihn für viele Monate aus dem Gleichgewicht geworfen hatte. Tiff nickte, und um Verständnis zu zeigen, sprach sie von Stefan, der ebenfalls aus ihrem Leben verschwunden war – noch bevor Leon geboren wurde.

Natürlich war das Kind nicht geplant gewesen, wer plante schon eine geteilte Verantwortung mit einem Menschen, der es nicht einmal schaffte, eine Basilikumpflanze am Leben zu halten. In Stefans Leben gab es seine Interessen, und es gab Gemeinsamkeit, wenn sich seine Bedürfnisse und Vorstellungen mit denen des Gegenübers deckten. Es hatte Monate gegeben, in denen alles um sie herum tiefer und intensiver erschien, weil sie zusammen waren. Wenn sie an ihr Kennenlernen dachte, dann fiel ihr ein, wie ihr Lehrer früher im Chemieunterricht einen Indikator in eine Flüssigkeit gegeben hatte und die Farbe bei der Veränderung des Säuregehalts von einem Moment auf den anderen umgeschlagen war. Es sah aus wie Zauberei, ließ sich jedoch durch Formeln erklären, die sie zwar von der Tafel abgeschrieben hatte, die ihr im Gegensatz zu dem plötzlichen Farbumschlag aber nie im Kopf geblieben waren. Auch mit Stefan waren die Dinge von einem Moment auf den anderen in einer neuen Farbe erschienen, aber dieses Phänomen war immer daran gebunden gewesen, die Atmosphäre perfekt an ihn anzupassen.

Mit der Entscheidung für Leon war das unmöglich geworden, und Tiff war klar, dass er aus ihrem Leben verschwinden würde, sobald sie ihm ihren Entschluss mitteilte. Im Rückblick verwunderte sie am meisten, wie leicht es Stefans Umfeld, seinen Freunden und seiner Familie, gefallen war, der Erzählung, sie habe ihm ein Kind untergejubelt, er sei in eine Falle getappt, ohne den geringsten Zweifel zu glauben. Sie hatte den Test in der Hand gehabt, und ihr erstes Gefühl war nicht Angst gewesen, sondern eine pure Freude. Die Furcht kam erst mit dem zweiten Atemzug. Es war nicht so, dass eine Abtreibung für sie undenkbar gewesen wäre, aber ihr war sofort klar, dass sie dieses Kind wollte und dass ihr der Wunsch wichtiger war als all die vielen Gründe, die dagegensprachen. Jetzt bin ich nicht mehr allein, hatte sie gedacht, als der zweite Strich erschien, und das Gefühl hatte sie durch die nächsten Monate getragen, durch die Zeit der Trennung von Stefan und den Umzug.

Die Beziehung zu ihm hatte das Loch gefüllt, das durch den Abschied von ihrer Mutter entstanden war. Auch Tiff war ein ungeplantes Kind gewesen, doch im Gegensatz zu Leon nie gewollt. Im Leben ihrer Mutter hatte sie sich immer als Last gefühlt. Auf ihren Schulfesten stach ihre Mutter immer als die Jüngste heraus, war von vielen oft sogar für eine große Schwester gehalten worden. Mit Tiffs 18. Geburtstag hatte ihre Mutter endlich der Ungebundenheit hinterherlaufen können, die sie so lange vermisste. Die Freiheit kam mit einer Reise zu einem langjährigen Brieffreund nach Kanada. Eine kurze Rückkehr, um die nötigsten Dinge nachzuholen. Tiff hatte selbstverständlich nicht dazugezählt. Seitdem hatten sie einander nicht oft gesehen. Ihre Mutter hatte kein Verständnis für Tiffs Entscheidung gegen eine Abtreibung aufbringen können, und in den daraus resultierenden Streitgesprächen am Telefon war die dünne Verbindung zwischen ihnen noch brüchiger geworden. Zweimal im Jahr telefonierten sie, manchmal schickte ihre Mutter etwas Geld, da sie aber selbst alles andere als wohlhabend war, konnte das kaum helfen. Es gab kein Netz, von dem Tiff sich auffangen lassen konnte. Ihr Wunsch aber, nicht mehr allein zu sein, hatte sich mit der Geburt von Leon erfüllt. Auf die Einsamkeit der allein zu tragenden Verantwortung war sie allerdings nicht vorbereitet gewesen. Die mickrige Summe von der Unterhaltsvorschusskasse, die für zahlungsunwillige Väter einsprang, half ihr lediglich, Leons Grundbedürfnisse abzudecken.

Mikael hatte ihr irgendwann Kaffee nachgeschenkt, und sie hatten schweigend dagesessen und getrunken im Wissen, einander einen biografischen Raum gezeigt zu haben, der nun nicht wieder betreten werden musste. So war sie, die Freundschaft mit Mikael, es wurde gesprochen, aber nicht zerredet, füreinander gesorgt, aber nicht erstickt. Vielleicht half es, dass er nur selten länger in der Stadt war, immer wieder zurück nach Stockholm, in sein anderes Leben reiste. Ihre Welten vermischten sich nicht weiter. Es brauchte nicht lange, bis Mikael verstand, wie schwierig die finanzielle Lage für sie und Leon war. Er hatte Tiff einmal gefragt, ob die Attacken schon vor der Geburt des Kleinen aufgetreten waren, und sie hatte ihm von der Moderationsarbeit erzählt, von den Dingen, die sie gesehen hatte.

Corvus corone

Es war niemand da, und es gab kaum Hilfe. Wenn sie abends die Wohnung aufräumte, kleine Holztiere zurück in die Spielzeugkiste legte, Duplosteine zusammenklaubte und unzählige frisch gewaschene Strumpfhosen und Lätzchen für die nächsten Breiexperimente faltete, dachte sie manchmal daran, wie es wäre, diese Arbeiten gemeinsam zu tun; danach auf dem Sofa zu liegen, erschöpft, aber glücklich über das gemeinsame Kind zu sprechen und all die kleinen Dinge, die jeden Tag geschahen. Mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt, einen Alltag zu leben, in dem die vielen Momente, die sie erstaunten oder stolz machten, von niemandem gespiegelt wurden. Wenn sie in den Abendstunden noch etwas Energie übrig hatte, schrieb sie manchmal einige der Dinge auf, die sie mit Leon tagsüber erlebt hatte, erste Wörter, lustige Erlebnisse, glückliche Minuten geteilt mit dem Notizheft. Vielleicht würde er sich in der Zukunft für diese Momente interessieren, vielleicht würde das Heft aber auch in irgendeiner Schublade liegen bleiben, voller unwichtiger Erinnerungen für einen Heranwachsenden.

Geldsorgen hatte sie immer wieder. Es war schwierig, die Jobs zu behalten, Schichten zuverlässig zu übernehmen, wenn die Winterkrankheiten kamen, alle anderen mit Kindern unter der Last ächzten und niemand ihr zur Seite springen konnte. Manchmal half ihr Monika Schwalbe aus dem ersten Stock. Frau Schwalbe war wegen chronischer Rückenschmerzen bereits in Rente und freute sich immer, Leon zu sehen. Doch ihre Wirbelsäule konnte viele Stunden mit dem Kind nicht aushalten; das ständige Bücken nach Dingen, hinauf und hinunter, auf dem Boden sitzen, das schwere Kleinkind auf die Wickelunterlage heben. Tiff sah, wie Frau Schwalbe sich den Rücken rieb, wenn sie wieder kurzfristig eingesprungen war, und jedes Mal packte sie das schlechte Gewissen.

Den Gedanken daran, die Ausbildung zur Radiologieassistentin abzuschließen, hatte sie rasch fallen gelassen. Wegen der Schwangerschaft durfte sie nicht arbeiten und hatte dann, überstürzt und hochschwanger, die Stadt gewechselt, weil sie das kleinstädtische Getuschel über die sitzen gelassene junge Mutter nicht mehr ertrug. In der großen Stadt war sie weitgehend allein, überfordert mit dem kleinen Kind, antriebslos vor Müdigkeit. Sie versuchte, Jobs zu finden, die sich mit dem Kind vereinbaren ließen, kellnerte in Cafés, ging Plasma spenden, arbeitete an der Kasse, aber die Jobs waren nie langfristig, das Geld blieb spürbar knapp.

Als sie die Anzeige sah, die vage Ankündigung eines zeitlich flexiblen, mit Mindestlohn bezahlten festen Schreibtischjobs, hatte sie sofort eine E-Mail geschickt. Bereits eine Woche später saß sie, gemeinsam mit zwölf anderen Bewerbern, in einem schlichten Besprechungszimmer eines großen Bürogebäudes. Gepolsterte Stühle, aufgestellt in Fünferreihen, von ihrem Platz in der letzten Reihe konnte sie die anderen beobachten. Gemeinsam hatten sie nur, dass keiner von ihnen sehr alt war, ansonsten ließen sich anhand der Kleidung und des Verhaltens keine besonderen Ähnlichkeiten feststellen. Eine junge Frau mit randloser Brille startete eine Folienpräsentation, mit der sie das Profil der ausgeschriebenen Stellen erklärte.

Die Firma arbeitete für große soziale Netzwerke. Um welche genau es sich handelte, wurde den Bewerberinnen und Bewerbern nicht mitgeteilt. Ihre Aufgabe würde sein, die tägliche nutzergenerierte Bilder- und Videoflut zu moderieren. In einem Großraumbüro würden sie auf ergonomischen Stühlen sitzen und im Akkord Bilder und Videos sichten, die von Nutzern als auffällig markiert worden waren. Anhand klarer Richtlinien, die in der Präsentation erklärt wurden, sollten sie dann die Bilder bewerten: Gewaltdarstellungen aussortieren, augenscheinlich kriminelle Aktivitäten mit einem besonderen Vermerk ausblenden und auch Nacktheit und Pornografie mit genauem Blick bewerten und bei Überschreitung der eng definierten Regeln sofort löschen, damit niemand mit dem Bild einer weiblichen Brustwarze oder eines Geschlechtsorgans konfrontiert würde.

In dem mehrstöckigen Haus arbeiteten mehr als sechshundert Menschen in eng getakteten Schichten, für jede Stunde Moderation wurden zehn Minuten Pause mit eingeplant. Diese Pausen sollten dringend ohne weiteren Blick auf private Smartphones oder Ähnliches verbracht werden, sagte die Frau mit der randlosen Brille und machte eine bedeutungsvolle Pause. Arbeitsschutz – ihr ernster Gesichtsausdruck das mimische Äquivalent eines Ausrufezeichens. Die Augen der Mitarbeiter müssten sich in dieser Zeit entspannen, um das ehrgeizige Ziel von mindestens zwanzig moderierten Bildern pro Minute zu erreichen. Die Zeiteinteilung war flexibel, sodass es Tiff möglich sein würde, keinen vollen Tag zu arbeiten, was sich besser mit den Betreuungszeiten von Leon vereinbaren ließ. Am Ende des Vortrags wurden alle Anwesenden darum gebeten, am Ausgang ihre Sprachkenntnisse mitzuteilen, da multilinguale Moderatoren für weitere Kontexte eingesetzt werden könnten. Für seltene und schwierige Sprachen gab es einen Bonus im Stundenlohn.

Bereits eine Woche später hatte Tiff mit der Arbeit begonnen. Ihr wurde ein Schreibtisch zugewiesen, der von den Sitzplätzen daneben durch Sichtschutzwände abgeteilt war, sodass sie nur den eigenen Bildschirm im Blick hatte, wenn sie nicht weit mit dem Stuhl auf der bodenschonenden Plastikunterlage zurückrollte. Sie wurde aufgefordert, nach jeder Schicht den Schreibtisch sauber zu hinterlassen, da der Platz ihr nur für diesen Slot zugewiesen und den Rest des Tages von anderen Moderatorinnen und Moderatoren genutzt werde. Links von ihr saß ein junger Mann, der ihr freundlich zunickte. Als sie sich ihm vorstellte, sagte er auf Englisch, dass er kein Deutsch spreche. Auf ihrer rechten Seite saß eine ältere Frau mit grauem Flechtzopf, die ihr fest die Hand drückte, sich kurz als Melanie vorstellte und dann wieder ihrem Bildschirm zuwandte.

Die junge Frau mit der randlosen Brille hatte Tiff am Eingang in Empfang genommen und wies sie jetzt in die Bedienung der Moderationsoberfläche ein. Rechts oben im Bildschirm befand sich ein Kreis, mit dem Fünfminutenintervalle gemessen wurden, in der Mitte des Kreises konnte man die Zahl moderierter Bilder ablesen. Fiel die Moderationsrate unter die Zielvorgabe, verfärbte sich der Kreis von grün zu orange zu rot, ein Zeichen für die Moderatoren, schneller zu arbeiten.

An jedem neuen Tag erhielten sie einen Plan für ihre Arbeitsstunden, in dem die Pausen exakt zugewiesen waren. In dieser Phase stellte sich der Zeitkreis automatisch grau, und ein Schlaf-Smiley erschien. Wenn man die Pause überzog, musste anschließend umso schneller gearbeitet werden, um den Verlust auszugleichen. Was die Konsequenz aus einer anhaltend langsamen Moderationstätigkeit sein würde, war in dem Einführungsgespräch nicht erklärt worden, aber Tiff konnte es sich ausmalen.

In der Einarbeitungswoche wurden den Neuankömmlingen nur einfache Bilder vorgelegt, die von Nutzern wegen Nacktheit oder Copyrightverletzung markiert worden waren. Tiff klickte sich durch reihenweise Fotografien von Brüsten, deren Nippel sich zu deutlich unter dünnem Stoff abzeichneten, von Frauen mit nacktem Oberkörper am Strand, Screenshots aus aktuellen Zeichentrickfilmen und Bilder von Markenprodukten in unerlaubten Kontexten. Sie markierte fleißig, ihr Moderationskreis blieb erfreulich grün. Manchmal hörte sie die Sitznachbarn hinter den Trennwänden Geräusche machen, ab und zu ein kurzes, scharfes Einatmen oder ein Ächzen. In den Pausen folgte sie den Regeln und schaute nicht auf ihr Smartphone. Stattdessen stand sie auf der gefliesten Dachterrasse des Bürogebäudes und sah über die Dächer der benachbarten Häuserblocks hinweg in die Ferne, um ihre Augen zu entspannen. Über einem Hochhaus kreisten immer wieder schwarz-graue Vögel, manche ließen sich an der Dachkante nieder, und sie hatte das Gefühl, dass die großen Tiere zu ihr herüberblickten.

Die Pausen waren so getaktet, dass auf jedem Bürostockwerk nur eine Handvoll Menschen zeitgleich von ihren Bildschirmen aufstanden, sich Kaffee nahmen und an die frische Luft auf die Dachterrasse gingen oder sich zum Rauchen auf den dafür zugewiesenen Balkon begaben. In der ersten Woche stellte Tiff fest, dass die Sprachenvielfalt unter den Angestellten so groß war, dass sie sich nicht mit jedem problemlos verständigen konnte. Einige ihrer Kollegen kamen aus der großen geldbedürftigen Ex-Pat-Community der Stadt, erfolglose Künstler und Musiker, während andere aus Notsituationen emigriert waren und wegen ihrer meist besonderen Sprachkenntnisse gut in der Moderation arbeiten konnten.

Spät an ihrem siebten Arbeitstag als Content-Moderatorin stand sie wieder an der Brüstung der Terrasse und versuchte, ihre Konzentration auf den Himmel zu lenken, der sich in einem bleiernen Grau über der Stadt wölbte. Es waren diese Monate, in denen man sich fühlte, als wäre man unter einer Käseglocke gefangen, der blaue Himmel nur noch eine ferne Erinnerung. Die kühle Luft half gegen die Bildschirmschläfrigkeit.

Ende der Leseprobe