Wohin soll das wohl führen? - Leni Behrendt - E-Book

Wohin soll das wohl führen? E-Book

Leni Behrendt

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Beschreibung

Leni Behrendt nimmt längst den Rang eines Klassikers der Gegenwart ein. Mit großem Einfühlungsvermögen charakterisiert sie Land und Leute. Über allem steht die Liebe. Leni Behrendt entwickelt Frauenschicksale, wie sie eindrucksvoller nicht gestaltet werden können. Silvester war's. Nur noch drei Stunden waren dem alten Jahr beschieden, dann mußte es abtreten und dem neuen Platz machen. Nun, dann sollten ihm seine ungebärdigsten Trabanten wenigstens noch den Abschiedsmarsch blasen, was sie denn auch mit dem größten Vergnügen taten. Huuuiii! orgelte der Nordost mit Hohngelächter. Sein starker Atem blies die Flocken durcheinander, die vom grauverhangenen Himmel kamen und ausgeschickt waren, um die Erde warm und weich zuzudecken mit ihrem schneeigen Weiß. Doch bevor sie noch die Erde erreichten, ließ der blanke Frost, ein Spießgeselle des Nordosts, sie zu Eisnadeln erstarren. Wehe dem Menschen, der bei dem eisigen Wetter unterwegs war. Der irrte bei dem Schneegestöber bestimmt vom Weg ab und konnte Gott danken, wenn er irgendwo ein schützendes Dach erreichte, bevor er selbst zu Eis erstarrte. Und die sich unter solch einem schützenden Dach befanden, wußten es bei dem Unwetter gar wohl zu schätzen. Wie zum Beispiel die Bewohner des Herrenhauses vom Hörgishof. Das Dach war stabil, die Stube warm, und die Polster waren weich, in denen man saß. Auf dem Tisch standen Gläser mit dampfendem Silvesterpunsch, ein bunter Knabberteller, und in der Röhre des vor Hitze fauchenden Kachelofens brutzelten Bratäpfel, gar lieblich ihren würzigen Duft verströmend. Vier Menschen waren es, die auf dem bequemen Ecksofa saßen. Die Herrin des Hauses, Freiin Erdmuthe von Hörgisholm, eine stattliche Dame von zweiundfünfzig Jahren. Das dunkelblonde Haar, im Nacken zu einem weichen Knoten geformt, zeigte noch keinen grauen Faden. Aus dem rundlichen Gesicht mit den frischen Farben schauten zwei blaue Augen freundlich in die Welt. Eine gebietende Persönlichkeit, die Achtung erheischte, wohin sie auch kam. Die zweite Dame, Ermenia von Hörgisholm, war klein und zierlich, flink und munter wie ein Wiesel. Unter dem mittelblonden, schlicht gescheitelten Haar lachten dunkelblaue Augen verschmitzt, das Gesicht der Endvierzigerin war rotwangig wie ein Äpfelchen.

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Leni Behrendt Bestseller – 69 –

Wohin soll das wohl führen?

Leni Behrendt

Silvester war’s. Nur noch drei Stunden waren dem alten Jahr beschieden, dann mußte es abtreten und dem neuen Platz machen. Nun, dann sollten ihm seine ungebärdigsten Trabanten wenigstens noch den Abschiedsmarsch blasen, was sie denn auch mit dem größten Vergnügen taten.

Huuuiii! orgelte der Nordost mit Hohngelächter. Sein starker Atem blies die Flocken durcheinander, die vom grauverhangenen Himmel kamen und ausgeschickt waren, um die Erde warm und weich zuzudecken mit ihrem schneeigen Weiß. Doch bevor sie noch die Erde erreichten, ließ der blanke Frost, ein Spießgeselle des Nordosts, sie zu Eisnadeln erstarren.

Wehe dem Menschen, der bei dem eisigen Wetter unterwegs war. Der irrte bei dem Schneegestöber bestimmt vom Weg ab und konnte Gott danken, wenn er irgendwo ein schützendes Dach erreichte, bevor er selbst zu Eis erstarrte.

Und die sich unter solch einem schützenden Dach befanden, wußten es bei dem Unwetter gar wohl zu schätzen. Wie zum Beispiel die Bewohner des Herrenhauses vom Hörgishof. Das Dach war stabil, die Stube warm, und die Polster waren weich, in denen man saß. Auf dem Tisch standen Gläser mit dampfendem Silvesterpunsch, ein bunter Knabberteller, und in der Röhre des vor Hitze fauchenden Kachelofens brutzelten Bratäpfel, gar lieblich ihren würzigen Duft verströmend.

Vier Menschen waren es, die auf dem bequemen Ecksofa saßen. Die Herrin des Hauses, Freiin Erdmuthe von Hörgisholm, eine stattliche Dame von zweiundfünfzig Jahren. Das dunkelblonde Haar, im Nacken zu einem weichen Knoten geformt, zeigte noch keinen grauen Faden. Aus dem rundlichen Gesicht mit den frischen Farben schauten zwei blaue Augen freundlich in die Welt. Eine gebietende Persönlichkeit, die Achtung erheischte, wohin sie auch kam.

Die zweite Dame, Ermenia von Hörgisholm, war klein und zierlich, flink und munter wie ein Wiesel. Unter dem mittelblonden, schlicht gescheitelten Haar lachten dunkelblaue Augen verschmitzt, das Gesicht der Endvierzigerin war rotwangig wie ein Äpfelchen.

Der ältere der beiden Herren, Rupert von Bärlitz, war groß und hager, das Gesicht wie gegerbtes Leder, das Augenpaar von intensiver Bläue. In dem rechten Auge klemmte das Monokel wie festgewachsen, beileibe nicht lächerlich wirkend, sondern die Persönlichkeit dieses Feudalherrn noch unterstreichend. Auf dem schmalen Kopf stand das leichtergraute Haar dicht wie eine Bürste.

Jedenfalls sah man auch heute noch dem vitalen Fünfziger den früheren Offizier sofort an, der er ja auch gewesen war in einem vornehmen Ulanenregiment. Genauso wie sein Schwager, Baron von Hörgisholm, der Gatte der Frau Erdmuthe. Als dann die Herrlichkeit nach dem Krieg zu Ende war, wurden sie beide Landwirte in fremden Diensten. Ein Schicksal, das sie mit tausenden andern teilten.

Leider starb Hilbrecht von Hörgisholm vor zwei Jahren und erlebte es somit nicht mehr, daß sein Sohn, gleichfalls ein Landwirt, von seinem Onkel zweiten Grades den Hörgishof erbte.

Dieser junge Erbe, Arvid von Hörgisholm, war der vierte in der gemütlichen Runde und unbestritten eine blendende Erscheinung. Wie Jung-Siegfried anzuschauen in seiner Blondheit, dem prächtigen Wuchs, dem rassigen, kühngeschnittenen Gesicht und den blitzblauen Augen mit dem scharfen Blick eines Falken. So die richtige Traumgestalt der schwärmerischen Frauenwelt.

Vor sieben Monaten hatte er das Erbe des Onkels angetreten – und zwar mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Mit einem lachenden, weil er nach jahrelanger Abhängigkeit in fremden Diensten sozusagen über Nacht zur eigenen Scholle kam, mit dem weinenden, weil das große Rittergut schon ziemlich heruntergewirtschaftet war. Denn Jasper Hörgisholm hatte damit Raubbau getrieben. Hatte immer nur Geld aus dem Besitz gepreßt, um seine kostspieligen Liebhabereien damit bezahlen zu können. Na was, leibliche Erben besaß er keine, und der andere bekam immer noch genug.

Doch der sollte nicht etwa denken, daß er das Gut so ohne weiteres verkaufen und sich das Geld dafür einstecken konnte. O nein, der sollte nur arbeiten, daß ihm die Schwarte knackte, wenn er Wert auf den Besitz legte. Wenn nicht, fiel er an eine Stiftung, so lautete das Testament.

Nun, der junge Freiherr hatte natürlich nicht verzichtet, er übernahm das verschuldete Gut.

Daß seine Mutter mit ihm ging, war selbstverständlich. Auch seine Tante Ermenia, die Schwester seines Vaters, die von jeher in dessen Haus gelebt hatte. Aber daß auch der vorzügliche Landwirt Rupert von Bärlitz sich anschloß, gleichfalls der tüchtige Kämmerer des Gutes, auf dem Arvid als Inspektor gearbeitet hatte, war für diesen ein außerordentlich großer Gewinn. Mit solchen Kräften zur Seite sollte es dem jungen Besitzer wohl gelingen, allmählich Ordnung in die Verwahrlosung zu bringen.

Übrigens gehörte noch jemand zu den Verschworenen. Und zwar der Diener des Verstorbenen, der laut Testament von dem Erben auf Lebenszeit zu übernehmen war. Jasper hatte ihn nämlich als verwaisten Knaben bei sich aufgenommen und sich in ihm einen vorbildlichen Diener herangezogen. Und so wie dieser dem einen Herrn gedient, so diente er auch dem andern. Und nicht nur als ausgesprochener Diener, sondern als Faktotum. Wenn irgendwo Not am Mann war, so war Franz zur Stelle – denn er hörte, sah, wußte und konnte alles.

Soeben trat er mit einem Tablett ein, auf dem Tassen und eine Kanne standen, aus der es aromatisch duftete. Ein Mann Anfang Dreißig, von mittelgroßer, geschmeidiger Gestalt. Tadellos rasiert und frisiert, mit der herablassenden Miene des herrschaftlichen Dieners. Peinlich saubere Hose und gestreifte Weste, ein Anzug, den Franz bei jeder Arbeit trug. Zu einer gröberen band er allerdings eine grüne Gärtnerschürze um.

Was da hinter ihm sichtbar wurde, war ein Wesen, das seinen Namen, Josepha Freundlich, zu Unrecht trug. Denn sie war eher mürrisch, die große, starkknochige Person, aber seit zwei Jahrzehnten ihrer Herrschaft treu ergeben, zuerst als Hausmädchen und jetzt als Mamsell. Überall fand sie sich zurecht und konnte arbeiten für zwei – genauso wie Franz.

»Sephchen, das stand doch gar nicht auf dem Tagesprogramm«, bemerkte die Hausherrin lachend, als ihre Getreue einen Teller mit knusprigbraunen Krapfen auf den Tisch stellte, und resolut erfolgte die Antwort:

»Ob Programm oder nicht, zu Silvester gehören diese Dinger nun mal. Guten Appetit.«

Weg war sie, gefolgt von Franz, und die anderen machten sich mit Vergnügen über die goldbraunen Bälle her.

Schön knusprig waren sie, der Zucker darauf glitzerte wie Christbaumschnee.

»Kinder, was geht es uns doch bloß gut«, stöhnte Ermenia vor Wohlbehagen beim Genuß des dritten Krapfens. »Wir haben bei diesem grausigen Wetter ein Dach überm Kopf, eine warme Stube und allerlei lukullische Genüsse. Ich muß schon sagen, daß für uns das alte Jahr einen guten Abschied nimmt.«

»Wenn auch mit Donnerwetter«, spann Rupert den Faden weiter. »Draußen muß ja Himmel und Erde zusammensein. Wehe den Ärmsten, die jetzt unterwegs sind.«

Kaum hatte er ausgesprochen, als die beiden Hunde anschlugen, die am warmen Ofen lagen. Jetzt schnellten sie auf, sprangen an der Tür hoch und vollführten einen Spektakel, der das Klopfen am Fenster übertönte. Erst als es sehr laut wurde, vernahmen es auch die vier Menschen.

»Gebt Ruhe, ihr Trabanten!« gebot Arvid, während er die Tür öffnete, durch die dann Spaniel und Langhaardackel kläffend sprangen und auf die Haustür zustürmten, gegen die von draußen jemand trommelte, und dann Sekunden später dem jungen Baron buchstäblich in die Arme sank.

»Hallo, hallo!« sagte er erschrocken, während er die Gestalt in die Halle zog, wo sich indes alle versammelt hatten, die zum Hause gehörten. Stumm sahen sie auf den späten Gast, von dem man zuerst nicht sagen konnte, ob er Männlein oder Weiblein war, weil er Skidreß trug. Erst als man die Haare bemerkte, die naß und strähnig unter der Kapuze hervorhingen, tippte man auf Femininum.

Und dieses bemühte sich nun, die klappernden Zähne auseinanderzukriegen.

»Draußen – auf dem Feld – liegt – meine – Verwandte. Sie konnte – nicht mit, sie ist – verletzt.«

Damit war das erschöpfte Menschenkind am Ende seiner Kraft und sackte zusammen. Doch schon packte Arvid es bei den Schultern und schüttelte es derb.

»Machen Sie gefälligst nicht schlapp, meine Gnädigste! Wir müssen wissen, wo die Verunglückte liegt, sonst geht sie bei dem Eissturm elendiglich zugrunde. Zum Kuckuck, so reißen Sie sich doch zusammen!«

»Ich – kann – doch – nicht mehr …«

»Sie müssen! Es geht hier um ein Menschenleben! Wo ließen Sie Ihre Verwandte zurück?«

»Weiß ich – doch nicht«, mühte sie sich verzweifelt ab. »Ich sah – schemenhaft – so ein langes – Gebäude, wahrscheinlich eine – Scheune. Darauf ging ich zu, dann sah ich – Licht.«

Das konnte sie gerade noch hervorstammeln, bevor Ohnmacht sie umfing. Da hob Arvid sie auf seine sehnigen Arme, trug sie ins Wohnzimmer, legte sie auf den Diwan und sagte kurz:

»Nehmt euch ihrer an, während wir drei Männer uns auf die Suche begeben. Bei diesem Höllenwetter wahrscheinlich kein Vergnügen.«

Damit eilte er dem Onkel und Franz nach, um sich zu dem schweren Weg zu rüsten. Zehn Minuten später trafen sie wieder in der Halle zusammen, im pelzgefütterten Skidreß, den Kragen hochgeschlagen, die Mütze tief ins Gesicht gezogen, die Augen durch eine große Schneebrille geschützt. Im Rucksack, den Franz trug, steckte außer anderen wichtigen Dingen auch eine Gurtentrage.

Draußen schlüpften sie in die Bretter und schlugen den Weg zur Scheune ein, die beiden Hunde zur Seite. Heulend umbrauste sie der Sturm, jagte ihnen den Eisschnee ins Gesicht, die Nadeln stachen wie spitze Messer. Im Nu waren Pelzkragen und Pelzmütze bereift.

Des ungeachtet strebten die drei Männer vorwärts, mit dem starken Schein ihrer Taschenlampen, die sie am Riemen um den Hals trugen, die weiße Fläche absuchend.

So mühsam der Weg auch war, sie mußten ihn gehen. Ein Mensch befand sich in Gefahr.

Und dann waren es die beiden Hunde, welche die Gesuchte aufspürten. Wie ein Häuflein Unglück kauerte sie am Boden, schon halb von Schnee bedeckt, über den sich bereits eine Eiskruste gebildet hatte. Als Arvid sie vorsichtig aufrichtete, stöhnte sie und griff mit der im dicken Fäustling steckenden Hand nach dem rechten Knie, worauf der Mann es behutsam abtastete.

»Etwa ausgeschlagen?« fragte Rupert kurz.

»Nein. Wahrscheinlich nur verrenkt oder durch Fall verletzt.«

Fünf Minuten später lag die Halberstarrte, fest in eine Decke gewickelt, auf der Bahre, die aus stabilen Gurten und zusammenlegbaren Stäben bestand. Arvid hatte dieses praktische Utensil im Nachlaß des Onkels gefunden, das nun gute Dienste leistete. Ohne es hätte man den Findling tragen müssen, was bei der Entfernung von gut zwei Kilometern und vor allen Dingen bei dem eisigen Schneesturm wohl kaum möglich gewesen wäre. So jedoch spürten der Baron und sein Diener die Last kaum, als sie auf den Skiern dahinglitten, zwischen sich die Trage. Günstig war noch, daß man jetzt den Wind im Rücken hatte und somit nicht gegen ihn anzukämpfen brauchte. Außerdem ließ das Schneegestöber nach, und man hatte bessere Sicht.

Wie dunkle Schemen wirkten die Gebäude des Gehöfts, auf das man Kurs nahm. Voran die beiden Hunde, hinterher die drei Samariter, so strebte man durch die weiße eisige Winternacht der warmen Stube zu.

Indes war man auch im Herrenhause nicht müßig gewesen. Hatte sich um die im wahrsten Sinne des Wortes Hereingeschneite emsig bemüht, ohne sie nach Nam’ und Art zu fragen. Hatte der völlig Erschöpften die nassen Kleider vom Körper gezogen, sie in ein warmes Flanellhemd aus Sephchens Bestand gehüllt, sie mit vereinten Kräften nach dem Fremdenzimmer getragen, wo das Hausmädchen indes den Kachelofen »eingeknallt« und das Bett mit warmen Krucken versehen hatte.

Kurz und gut, man hatte alles getan, was sich nur tun ließ, und wartete nun unten im Wohnzimmer bangklopfenden Herzens auf die zweite Fremde, während Grete oben bei der ersten Wache hielt. Und gerade, als die drei ersehnten Samariter mit der Trage über die Schwelle der Portaltür schritten, holte in der Halle die alte, behäbige Standuhr zu zwölf Schlägen aus.

»Prosit Neujahr«, sagte Rupert trocken. Und so mußte man lachen, obwohl das jetzt gar nicht angebracht war.

Oder doch? Denn sie lebten ja, die beiden hereingeschneiten Gäste, und das war wohl die Hauptsache.

»Wohin mit ihr?« fragte Arvid.

»Ins Fremdenzimmer«, gab die Mutter ebenso kurz Antwort, worauf man denn schweigend die breite, kunstvoll geschnitzte Treppe mit den recht abgewetzten Läufern erstieg, mit vollzähligem Gefolge.

Es war ein geräumiges Zimmer, in dem die beiden Träger die Bahre abstellten. Nicht gerade elegant wirkend mit seinem zusammengewürfelten Hausrat, aber urgemütlich. Noch war es kalt in dem Raum, weil ja der Kachelofen erst vor einer halben Stunde geheizt worden war, aber die prasselnden Holzscheite würden bald für Wärme sorgen.

»So, nun waltet ihr Weibsen weiter eures Amtes«, brummte Rupert, dabei einen scheuen Blick nach dem Bett werfend, wo nichts weiter als ein dunkler Schopf sichtbar ward, so tief war der erste Fremdling unter das wärmende Deckbett gekrochen. Schleunigst entfernten sich die beiden Herren nebst ihrem Diener, und als erstere eine Weile später das Wohnzimmer betraten, wo sich indes auch die beiden Damen eingefunden hatten, waren sie frisch gekleidet von Kopf bis Fuß.

»Nun, wie geht’s unserm Findling?« erkundigte sich Rupert. »Ist er schon aufgetaut?«

»Das schon«, gab die Schwester zögernd Antwort. »Nur hat sich die junge Dame das Knie verletzt. Zwar zeigt es keine Wunde, ist jedoch erheblich geschwollen. Sephchen meint wohl, daß ihre Wundersalbe helfen wird, aber wenn es nicht der Fall sein sollte, werden wir den Arzt zu Rate ziehen müssen.«

»Wie ist ihr Zustand sonst?«

»Sie ist völlig erschöpft, wie ihre Begleiterin auch. Kaum daß diese imstande war, Nam’ und Art zu nennen, da übermannte sie auch schon wieder der Schlaf.«

»Und wer sind die Damen?«

»Die jüngere ist die Tochter des Industriellen Wiederbach aus der Kreisstadt, die ältere, deren Verwandte, ein Fräulein Arnhöft.«

»Nanu, wie kommen solche Damen der ersten Gesellschaft um Mitternacht in unsere einsame Gegend, dazu noch bei dem Winterwetter?«

»Das konnte sie nicht mehr erklären, weil sie zu erschöpft war. Als ich sie fragte, ob man Herrn Wiederbach benachrichtigen müßte, meinte sie, daß es nicht erforderlich wäre.«

*

Am Neujahrsmorgen hatte wohl der Sturm nachgelassen, aber es schneite unentwegt weiter.

Auf dem riesengroßen Gutshof herrschte heute Feiertagsruhe. Selbst das Geflügel befand sich bei der Kälte von minus 16 Grad in dem warmen hellen Stall.

Erst kaum vernehmbar, dann immer lauter drang in diese feierliche Stille ein Geratter. Es rührte von der Kleinbahn her, die sich eilfertig die Schienen entlangschlängelte und dann zischend vor der Wellblechbude hielt, die auf Hörgishöfer Gelände stand und dessen Bewohnern, zu denen ja auch die Leute aus den Insthäusern zählten, eine bequeme Verbindung zur Stadt bot. Gleichfalls den Kleinbauern, die ihre Höfe in der Nähe hatten und über kein Auto verfügten.

Heute jedoch stieg kein Fahrgast weder aus noch ein. Denn erstens war Feiertag, wo es für die Landbewohner in der Stadt nichts zu besorgen gab, und dann war es, wie schon gesagt, bitter kalt. Da blieb man, wenn man nicht unbedingt hinaus mußte, in der warmen Stube, wohin auch die beiden Männer strebten, nachdem sie die Milchkannen eingeladen hatten. Eine tägliche Beschäftigung, die selbst an Sonn- und Feiertagen ausgeführt werden mußte.

Bevor die Lokomotive sich wieder schnaufend und zischend in Bewegung setzte, stieß sie einen grellen, langgezogenen Pfiff aus, der im Herrenhaus ein junges Mädchen aus tiefem Schlaf riß. Erschrocken fuhr es aus dem Kissen hoch, um gleich wieder mit einem Wehlaut zurückzusinken. Die Hand tastete zum rechten Knie, das mit einer Binde umwickelt war. Die Augen hasteten durchs Zimmer und blieben dann an dem gegenüberstehenden Bett hängen, unter dessen Zudecke es sich nun auch zu regen begann. Ein dunkelhaariger Kopf hob sich, zwei grüngraue Augen trafen sich mit zwei blauen.

»Guten Morgen, Gun«, sprach dann eine lachende Stimme. »Du machst ja ein Gesicht, als ob die Katz donnern hört.«

»Mach jetzt keine Witze«, kam es ungnädig zurück. »Sag mir lieber, wo wir uns befinden.«

»Im Hause unserer Retter.«

»Und wer sind die …?«

»Keine Ahnung. Als du stürztest und nicht wieder hochkommen konntest, bin ich losgetaumelt, immer dem Lichtschein zu, der von irgendwo blinkte und Rettung verhieß – die uns dann auch wurde, sonst lägen wir bestimmt nicht in so molligen Betten. Aber was das für Menschen sind, die sich unserer Not erbarmten, weiß ich nicht, ich war zu futsch und weg. Kein Wunder, nach dem entsetzlichen Weg durch den Eissturm, durch den ich mich mühsam Schritt für Schritt ringen mußte. Und alles nur wegen deiner verflixten Flirterei und der Feigheit, die Konsequenzen zu tragen.«

»Schilt jetzt nicht«, warf die andere kläglich ein. »Mein Knie tut mir so weh.«

»Geschieht dir ganz recht«, kam es brummend zurück. »Was man mit dir für Scherereien hat, steht wohl einzig da.«

»Willst du nicht mal nach meinem Bein sehen, liebes Karlchen?«

»Wollen bestimmt nicht, höchstens müssen, da ich Ärmste ja so eine Art Sklavin von dir bin.«

Also stand sie auf und stolperte mal erst über das Nachthemd, das für ihre zierliche Figur viel zu lang und zu breit war.

»Du meine Güte, wem mag der Talar wohl gehören?« beäugte sie neugierig das Kleidungsstück aus buntgemustertem Flanell, das lange Ärmel hatte und bis zum Hals geschlossen war. Dann hob sie das Gewand an beiden Seiten hoch und bekam so die Füße frei. Drei Schritte, dann stand sie vor dem anderen Bett und sagte lachend:

»Deine Umhüllung scheint das Pendant zu meiner zu sein, so richtig solide siehst du aus. Schade, daß deine Anbeter dich nicht so sehen können.«

»Ich wüßte nicht, daß ich mich jemals meinen Anbetern im Nachthemd gezeigt hätte.«

Es klopfte, und gleich drauf steckte sich ein Kopf durch den Türspalt.

»Ist’s erlaubt einzutreten?«

»Man immer zu«, ermunterte Karola, worauf denn Josepha sichtbar wurde. Sie bot einen guten Morgen und trat zu den beiden Mädchen, die ihr mit begreiflicher Neugier entgegensahen.

»Nun, wie geht’s denn den Damen?«

»Danke, Frau …?«

»Ich bin keine Frau, ich bin die Mamsell«, wurde Karola kurz belehrt. »Was macht denn Ihr Bein?«

»Es tut weh. Allerdings nur, wenn ich es bewege.«

»Dann halten Sie es still. Lassen Sie mal sehen.«

Nachdem Josepha das Knie kritisch betrachtet hatte, nickte sie zufrieden.

»Die Geschwulst ist erheblich zurückgegangen. Kein Wunder bei meiner Salbe.«

»Und doch sieht das Knie immer noch böse genug aus«, wagte Karola einzuwenden. »Könnten Sie vielleicht einen Arzt herkommen lassen?«

»Können schon. Aber warum den Mann bei so einem bißchen aus der warmen Stube jagen, dazu noch am Feiertag. Das da krieg ich mit meiner Salbe sehr gut hin.«

Sie zog aus der Schürzentasche ein Büchschen mit der Wundersalbe, die sie auf das verletzte Knie des Mädchens schmierte.

So grob die Hände auch aussahen, so behutsam gingen sie um. Dann wurde wieder die Binde umgetan, ein ­kleines Kissen unter die Kniekehle geschoben und Karola eingehend betrachtet.

»Na, Sie sehen ja ganz munter aus. Gehen Sie wieder ins Bett zurück, damit Sie sich nicht erkälten.«

»Die ist vielleicht kurz angebunden«, sagte Gun unbehaglich, nachdem sich die Tür hinter Josepha geschlossen hatte. »Die macht ja gar kein Hehl daraus, wie unerwünscht wir hier sind.«

»Wundert dich das etwa?« fragte Karola achselzuckend, während sie sich unter das wärmende Deckbett streckte. »Ich weiß nicht, ob wir sehr liebenswürdig wären, wenn zwei Wildfremde störend in unsere Silvesterfeier hineinplatzten und eine davon bei einem mörderischen Schneesturm auf der Bahre ins Haus geholt werden müßte, wie es ja bei dir der Fall war. Ich habe zwar so gut wie gar nichts von dem allen mitgekriegt, weil ich total fertig war, aber soviel immerhin, daß wir das Haus hier gewissermaßen auf Stützen stellten. Und das alles in der Silvesternacht – peinlich genug.«

Sie wurde durch den Eintritt Josephas unterbrochen, die ein besetztes Tablett trug, während das Hausmädchen Grete mit einem zweiten folgte, lachend über das ganze rotbackige Gesicht.

»Stell das Tablett auf das Tischchen, und dann hilf mir das Fräulein da aufsetzen«, gebot Josepha brummig. »Aber sei dabei bloß vorsichtig, das rate ich dir.«

»Ich werd’ schon«, versprach die dralle Maid und packte dann doch so herzhaft zu, daß es bestimmt blaue Flecken auf den zarten Mädchenarmen hinterließ. Aber Gun saß, und das war ja schließlich die Hauptsache. – Sie bekam ein Tablett vorgesetzt, Karola das zweite, und Sephchen knurrte:

»Jetzt essen Sie, alles Weitere wird sich finden.«

Gewichtigen Schrittes ging sie, von Grete gefolgt, hinaus, und die beiden Mädchen machten sich über das Frühstück her, obwohl es ihnen nicht gerade freundlich gereicht worden war. Sie hätten es gewiß abgelehnt, wenn sie nicht so hungrig gewesen wären; denn sie hatten seit gestern mittag nichts mehr gegessen. Also ging der Hunger über ihren Stolz, und sie ließen sich das ländliche Frühstück gut munden.

*

Bevor Karola nach unten ging, sah sie sich hier oben erst einmal um und bemerkte einen langen, breiten Korridor, der rechts eine Anzahl Flügeltüren und links Nischen mit Fenstern aufwies. Obwohl das alles dringender Reparatur bedurfte, machte es dennoch irgendwie einen feudalen Eindruck, wie man diesen nur in alten Herrenhäusern findet. Ein Duft umwehte sie wie von Rosen und Lavendel.

Langsam stieg Karola die breite, kunstvoll geschnitzte Treppe hinab, deren Läufer immer noch dick und weich war, obwohl er abgetretene Stellen aufwies.

Und dann die Halle mit ihrem Mosaikboden, den altertümlichen Truhen und Schränken, den wuchtigen Sesseln vor dem Marmorkamin, den nachgedunkelten Bildern in schweren Gold­rahmen, den Fellen, altertümlichen Waffen – das alles machte Karola Arnhöft, die als Pflegekind der reichen Wiederbachs an allerlei Pracht gewöhnt war, nun doch beklommen. Wo war sie hier nur hingeraten!

Zögernd stand sie da, nicht wissend, welche der vielen hohen und reichgeschnitzten Türen sie öffnen sollte, bis sie hinter einer Stimmen hörte, da gab sie sich einen Ruck, klopfte.

Und stand gleich darauf in dem Wohngemach, wo Familie Hörgisholm vollzählig versammelt war. Mollig warm war es darin und ungemein traulich. An dem Sekretär, ein Prunkstück alter solider Wertarbeit, saß die Hausherrin und machte Eintragungen ins Wirtschaftsbuch. Ermenia strickte, und die beiden Herren lasen landwirtschaftliche Berichte. In einer Ecke tickte die Standuhr, auch ein altes Prachtstück mit gemütlichem Brummton, in der Ofenröhre summte das Wasser. Die einzigen Geräusche in dieser friedlichen Stille, die dann der Eintritt des Fremdlings unterbrach. Die beiden Herren sprangen auf, Rupert von Bärlitz trat auf sie zu – und als Karola in das hagere Aristokratengesicht mit dem Monokel sah, da festigte sich die Vermutung, die sie auf dem Weg hierher hatte.

»Oha, da haben wir ja schon eines unserer Schneevöglein, die uns die eisige Silvesternacht ins Haus wehte«, klang seine tiefe Stimme auf. »Darf ich nachholen, was wir angesichts Ihrer gestrigen Erschöpfung unterlassen mußten, und Sie willkommen heißen? Gestatten: Rupert Bärlitz, und die andern, meine Schwester mit ihrem Sohn und ihrer Schwägerin, nennen sich Hörgisholm.«

Nachdem die allgemeine Begrüßung erfolgt war, nahm man Platz, und Erdmuthe sagte nach einem prüfenden Blick in das Gesicht des Gastes:

»Angegriffen sehen Sie schon noch aus, Fräulein Arnhöft. Schließlich auch kein Wunder nach der entsetzlichen Strapaze.«

»Die ich jedoch ganz gut überstanden habe«, entgegnete Karola verlegen. »Es ist mir nur so schrecklich peinlich, daß ich Ihnen hier die Silvesterfeier störte.«

»Nun, nun«, wehrte die Hausherrin liebenswürdig ab. »Es braucht Ihnen gewiß nicht peinlich zu sein, was wir als Selbstverständlichkeit erachten. Wie geht es Fräulein Wiederbach?«

»Auch sie hat alles ganz gut überstanden – bis auf das Knie. Wohl ist die Geschwulst erheblich zurückgegangen, aber vielleicht ist es doch besser, wenn meine Verwandte in ärztliche Behandlung kommt. Daher werde ich zu Hause anrufen und den Wagen bestellen, ich müßte nur wissen, welchen Weg der Chauffeur einschlagen muß. Wollen Sie mir bitte den Weg erklären?«