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Ragnarök, das ich einleiten sollte, begann, ohne dass ich irgendetwas getan hatte! Voller Wut blickte ich die Szenerie vor mir an. Weiß geflügelte Wesen drangen in die Welt der Götter ein und vernichteten alles, was ihnen vor die flammenden Schwerter kam. Mein Name ist Fenrir. Ich bin der Sohn des nordischen Gottes Loki und konnte meine Pflicht nicht erfüllen, meine Rache nicht erhalten. Getrennt von meinen Geschwistern wurde ich halb tot nach Midgard geschleudert. Midgard, die Ebene der Menschen. Eine Welt, die mir einst alles nahm, die mich wüten ließ. Ihr Menschen wollt meinen Zorn, meinen Hass? Den sollt ihr zur Genüge bekommen. Doch ehe ich mich an all jenen rächen konnte, wurde mein Schicksal neu geschrieben und die Nornen lachten mich aus. Mein Weg wird mich zu dem wahren Bösen führen. Der alte Feind bahnt sich seinen Weg nach Midgard und wird den Vorhang zur Vernichtung öffnen.
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Seitenzahl: 487
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Impressum
Daniel Boyer
»Wolfskult«
www.edition-winterwork.de
© 2023 edition winterwork
Alle Rechte vorbehalten.
Satz: edition winterwork
Umschlag: edition winterwork
Lektorat: Birgit Rentz, http://www.fehlerjaegerin.de/
Wolfskult
Aufgeschlagen liegt es da, seit Anbeginn der Zeit bewacht …
Schwere Schritte hallten durch den Korridor der absoluten Finsternis. Nichts anderes war zu hören. Kein Rascheln, kein Atmen. Plötzlich erklang aus der Ferne ein böses Kichern. DERJENIGE, der durch die Finsternis schritt, hob die behandschuhte Hand, und schließlich kehrte wieder Stille ein. Niemand außer IHM hatte das Recht, hier in diesem Korridor Geräusche zu verursachen. ER schritt weiter voran, hatte keine Eile. Bald stand er vor einem strahlend weißen Altar, der das einzige Licht in dieser von Dunkelheit gefluteten Welt erzeugte. Auf der steinernen Oberfläche, die glatt und rau zugleich war, lag ein schwerer Einband. Dieses uralte Buch war von Licht und Finsternis gleichermaßen erfüllt. Alles Wissen des Universums wurde darin festgehalten und nur die höchste aller höchsten Lebensformen und Wesen konnte in diesem schweren, grauen und großen Werk lesen. ER trat vor den leuchtenden Altar, streckte seine behandschuhte Hand nach dem Einband aus, und bevor ER es auch nur berührte, klappte das Grimoire wie von Zauberhand auf. ER versuchte zu lesen, doch die Seiten waren leer. Donnergrollen rauschte durch die Dunkelheit und ließ den Altar erzittern. Das Buch schloss sich wieder und ER stapfte durch die Dunkelheit davon. Das Donnergrollen wurde immer lauter, bis es SEINE schweren Schritte gänzlich übertönte. Es war an der Zeit, den Rat der Sieben zusammenzuführen und über die leere Zukunft zu entscheiden. Vor einigen Zeiten war der Rat das erste Mal zusammengekommen, doch ER hätte niemals mit einer so frühen Wiederkunft gerechnet. Es gab nur eine Gewalt, die über IHM stand, und diese hatte entschieden …
»Nein!«, schrie ich aus voller Kehle. Mussten diese niederen Kreaturen mir denn alles wegnehmen? Sie waren so zahlreich und hinderten mich daran, die Frau, die ich liebte, zu retten. Mühsam und mit aufgeschlitzter Kehle wandte meine Frau in der Ferne den Kopf zu mir um. An ihren Lippen konnte ich ihre vorwurfsvollen und von Wut erfüllten Worte ablesen. »Warum hast du mich umgebracht? Du bist schuld! Nur du allein! Ich verfluche dein Leben!« Natürlich wusste ich, dass ich träumte, doch jede Nacht erneut erleben zu müssen, wie meine geliebte Frau von den Menschen grausam hingerichtet und geopfert wurde, war einfach zu viel. Jede Nacht derselbe Albtraum. Jede Nacht vernichtete ich in meinen Träumen dieselben Menschen, und jede Nacht konnte ich sie nicht retten. Warum hatte ich bloß ständig diese Träume, in denen mir meine Liebsten weggenommen wurden? Bereits mein ganzes Leben lang war mir immer wieder das Glück gestohlen worden und ich hatte nie etwas dagegen unternehmen können. Die Götter verabscheuten mich, die Menschen hassten mich und die Sieben ließen mich im Stich. Doch als ich eines Tages mein Glück gefunden hatte, war es mir von Odins Sippe erneut genommen worden. Ich war von meinen Schwestern getrennt, mir war die Mutter geraubt worden und mein Vater hatte mich im Stich gelassen. Nein, er hatte mich nicht im Stich gelassen. Er war genauso von den Göttern gefangen, gefoltert und gefesselt worden. Und das alles nur, weil er anders war als sie.
Die Träume folterten mich die gesamte Nacht hindurch.
»Ist es nicht allmählich genug, Thor?«, fragte ein junger Schönling mit schwarzem Haar den Gott des Donners.
»Nein! Mach weiter! Dieses Monster muss für seine Taten auf ewig gestraft werden!« Hasserfüllt starrte der Berg von einem Mann auf das Wesen vor ihm herunter. »Das Ungetüm hat zu vielen Menschen das Leben geraubt! Ich als Beschützer der Menschheit muss etwas gegen ihn unternehmen, und du kennst doch bestimmt seine Prophezeiung!« Die Stimme des Hünen troff nur so von Hass. »Er hat einem unserer Brüder die Rechte genommen. Dafür muss er streng bestraft werden!«
»Aber ich zeige ihm schon seit Jahren denselben Traum. Irgendwann muss doch auch mal Schluss sein.«
»Morpheus! Du bist ein verweichlichter kleiner Junge! Vor dir liegt das Wesen, das die Menschen in den Rang eines Gottes erhoben haben. Töten dürfen wir das da nicht!« Mit seinem schweren Hammer zeigte Thor auf den gefesselten Gott zu seinen Füßen. Doch seine Wut ebbte einfach nicht ab. »Ich werde es bestimmt nicht akzeptieren, dass ein derart widerliches Monster durch die Gesetze der Sieben überleben wird!«, grollte der Donnergott. Gerade als seine Aura, beherrscht von Dutzenden von Blitzen, sichtbar wurde, krümmte sich der Jüngling zusammen. In den Augen von Odins Sohn war weder Mitleid noch Sorge zu lesen. Stattdessen blickte er voller Abscheu auf den Gott des Traumes herab.
Doch plötzlich begann der junge Gott zu zittern. Erst waren es nur dessen Arme, dann schlugen die Beine wild um sich. Schließlich riss Morpheus seinen Kopf hin und her, rauf und runter. Die Finsternis färbte seine strahlend blauen Augen pechschwarz, bis nur noch zwei abgrundtiefe Höhlen übrig blieben. Erst jetzt realisierte Thor, dass dies ganz gewiss nicht normal war. Sein Komplize wurde von etwas Uraltem übernommen, das keinen Widerstand duldete. Als dieses Etwas versuchte, durch die Stimme des Gottes der Träume zu sprechen, verlor der Sohn Odins die Kontrolle über den Donner.
Nach einer Weile begann die uralte Gewalt zu sprechen. »Keinen Augenblick länger dulde ich diese niederträchtige Folter dieses Welpen!« Das begleitende Donnergrollen trieb Furcht in die Knochen des Donnergottes und des Beschützers der Menschen. Aus Morpheus’ finsteren Augenhöhlen lösten sich pechschwarze Tränen. In gemächlichem Tempo floss die dickflüssige, schwarze und nach Tod riechende Masse seine hohen Wangen hinab und tropfte auf den mit Marmor gefliesten Boden. Letztendlich würde der Gott der Träume durch die Besessenheit sterben. »Gott des Donners, ich befehle dir, den Welpen von nun an nicht mehr zu belangen!« Der tiefe, alles gebietende Tonfall passte so gar nicht zu der hellen und lebenslustigen Stimme, die dem Besitzer dieses Körpers für gewöhnlich innewohnte.
»W-Was bi-bist du?«, fragte der Sohn Odins stotternd. Der ihm verbliebene Stolz erlaubte es ihm nicht, auch nur einen Schritt vor dem Besessenen zurückzuweichen.
»Du kleiner Gott bist nicht in der Position, mir Fragen zu stellen!« In die uralte Stimme mischte sich Wut, ein Quäntchen nur, das ausreichte, um den Gott des Donners am gesamten Körper erzittern zu lassen. »Ich werde dem Welpen nun eine Vision der Zukunft schenken.«
Thor verstand nicht, was dieses Wesen sagte – sein Geist begriff es nicht. Angst lähmte ihn.
Als Morpheus seine geschmeidigen Hände auf den Kopf des Gefesselten legte, erbebte dessen Körper noch einmal, bevor er zu schwarzem Staub zerfiel. Der Gott der Träume löste sich einfach auf. Ein Gott starb, doch schon bald würde es einen neuen geben.
Mühsam öffnete ich die Augen und versuchte zu erblicken, woher der Lärm kam. Doch Gleipnir hielt, bewegte sich keinen Millimeter. Einzig aus den Augenwinkeln sah ich die Schemen der Feinde, die im Begriff waren, Asgard zu zerstören. Sie waren in weiße Roben gekleidet. Glänzende, strahlende Flügel stachen aus ihrem Rücken hervor. Alles an ihnen war grell, weiß, und ihre Schwerter standen in Flammen. Jeder Streich löschte Leben aus, Körper zerfielen zu Asche. Unsere Kunstwerke wurden durch mir unbekannte Magien und Zauberei vernichtet. Jahrtausendealte fortschrittliche Technologie fiel der Zerstörung anheim. Während mich die Geflügelten verschonten, riss einer von ihnen meinen verhassten Onkel Thor regelrecht auseinander. Er hatte nicht den Hauch einer Chance, sich zu wehren. Mein Blick wanderte zu der riesigen Weltenesche Yggdrasil. Der Baum des Lebens stand in Flammen und Verdrfölnir, der Habicht, der zwischen den Augen des Adlers saß, fiel tot und brennend aus der Krone. Ratatöskr rannte auf mich zu und geriet dabei unter die Füße eines der Angreifer. Blut, Fett, Fleisch und Knochen spritzten zu allen Seiten weg. In mir brannte eine ungeheuerliche Wut, doch ich konnte nichts tun.
Plötzlich schoss Schmerz durch meinen Kopf und ich erwachte schwitzend aus meinen verabscheuungswürdigen Träumen. Tyr, der Gott des Kampfes und des Sieges, stand vor mir und hatte seine verbliebene Linke zur Faust geballt. Hämisch grinste er von oben auf mich herab. Wiederholt fügte das Arschloch mir starke Schmerzen zu. Offenbar hatte er Gefallen daran gefunden. Erwehren konnte ich mich nicht, meine Fesseln waren zu stark. In Gedanken verfluchte ich den Gott tausendfach. Selbst meine Zunge lag in Ketten. Einfach demütigend. Aber so waren die nordischen Götter der Hauptfamilie. Sadistische Arschlöcher, wie sie im Buche standen. Vor mir erblickte ich die Reste von schwarzem Staub und ich konnte spüren, dass sich darin eine große Macht befand. Die Signatur dieser Aura kam mir bekannt vor. Irgendwo hatte ich diese Macht schon einmal …
»Hey, du dumme Töle! Hier spielt die Musik!« Erneut schlug mich Tyr. Sein bester Freund Thor stand böse grinsend neben ihm. Doch der Gott des Donners rührte keinen Finger. Aus Trotz blickte ich geradeaus. Mit dieser Reaktion handelte ich mir zwar noch mehr Schmerzen ein, doch ich wollte mich auf gar keinen Fall ergeben. »Thor! Jetzt tu doch auch mal was! Schlag ihn mit deinem Hammer!« Tyrs Stimme troff vor Hass.
Die Götter Asgards hatten mich zuallererst angegriffen, hatten mir alles genommen, und nun fesselten sie mich, schimpften mich ein Monster. Die Menschen hatten mir die Rolle eines Dämons zugesprochen, hatten mein Schicksal geändert und mich in die jetzige Position gezwungen. Allerdings würde ich ihnen niemals verzeihen, was sie mir angetan hatten!
Als der eine Tag dann endlich gekommen war, erhoben sich alle Götter, und Heimdall führte die Einherjer in die letzte große Schlacht. Die verstorbenen Krieger rüsteten sich. Ihre Waffen und Rüstungen bekamen sie aus den Waffenkammern Walhalls. Alles aus Zwergenhand. Ich hatte mich schon immer gefragt, warum die Waffenkammern von Asgard stets erweitert wurden, jetzt kannte ich den Grund. Doch ich durfte nicht weiter darüber nachdenken, ich musste versuchen zu handeln. Ich zerrte an meinen Fesseln, aber sie gaben nicht nach. Ich, der eigentlich alles hätte durchbeißen können, vermochte die Fesseln nicht zu sprengen. Die Zwerge hatten gute Arbeit geleistet. Gleipnir hielt meinen Versuchen weiterhin stand. Aufgrund meines magischen Gespürs konnte ich unzählige aufsteigende fremde Auren wahrnehmen. Ganz gleich, wie oft ich versuchte, diese zu zählen, es gelang mir nicht. Mein Geist konnte die erforderlichen Zahlen nicht erkennen. Zu den vielen kleinen Auren gesellten sich fast zwei Dutzend riesengroße. Entsetzt bemühte ich mich zu erspüren, welch gewaltige Armee hier in Asgard eindrang.
In all der Hektik hatte man mich, den Gott der Wölfe, anscheinend vergessen. Dann, plötzlich, vernahm ich ein mächtiges Röhren und wurde von einem gleißenden Lichtstrahl getroffen, der mir binnen eines Augenblicks das Bewusstsein raubte. Ich glaubte erst, dass dies mein Tod sei, aber zu meinem Glück und deren Pech überlebte ich den Angriff knapp. Dies war dann auch schon alles, was ich von dem einen Tag miterlebt hatte. Wie genau der Krieg vonstattenging? Keine Ahnung. Bald würde ich realisieren, dass ich meine angestaute Wut gegen andere Wesen richten musste. Denn Tyr und seine Kumpane würden tot sein und meine Rache bliebe auf ewig unvollendet. Mein vorbestimmtes Schicksal konnte nicht erfüllt werden.
Als ich wieder zu mir kam, spürte ich weichen Boden unter mir. Warme Blätter und Laub trennten mich vom kalten Erdboden. Die Luft schmeckte sauber und rein. Ich konnte meine Augen nicht öffnen, mir fehlte die Kraft dazu. Der Lichtstrahl, der mich getroffen hatte, musste Gleipnir gesprengt und mich beinahe getötet haben. Ich war nicht vergessen worden, sondern von mir ging nicht die geringste Gefahr aus. Ein monströser Schmerz brannte sich durch meinen Körper und ließ ihn zusammenzucken. Aus irgendeinem Grund übermannte mich ein tiefer Schlaf. Die gewaltigen Reserven meiner göttlichen Kraft waren beinahe aufgebraucht. Um diese auffüllen zu können, musste ich lange ruhen. Während ich schlief, träumte ich viel. Einige dieser Träume waren Erinnerungen aus meiner Vergangenheit, viele davon grausam. Doch einer war so real, dass ich glaubte, frisches Blut auf der Zunge zu spüren. Doch wenn ich daran dachte, wie viel Pech ich in meinem bisherigen Leben gehabt hatte, war es mit Sicherheit kein Traum …
Ein erneuter Schmerz ließ mich aus meinem gedachten Traum aufschrecken. Ich bekam gerade noch mit, wie eine glänzende, eiserne Spitze, die nicht sonderlich fein gearbeitet war, von vorn auf mich zuschoss. Blitzschnell war ich auf den Beinen und machte einen Satz zur Seite. Dieses Ding, das mich nur um Haaresbreite verfehlte, drang mit einem dumpfen Schlag in die Rinde eines seltsam anmutenden Baumes hinter mir ein. Eine ungeheuerliche Wut loderte in mir auf. Meine Krallen gruben sich in den weichen Erdboden und wirbelten ihn auf, als ich auf mein Ziel zusprintete. Von der Seite näherte sich eine Kreatur und versuchte mich zu packen. Auf den ersten Blick konnte ich erkennen, dass sie die gleiche Schulterhöhe von vier Fuß maß wie ich. Der zweite Blick verriet die katzenartige Gestalt. Ich wich aus und konzentrierte mich auf mein eigentliches Ziel – in meiner Wut konnte ich die Spezies vor mir nicht schnell genug bestimmen. Haken schlagend verringerte ich den Abstand zwischen ihr und mir immer weiter. Währenddessen bemerkte ich, dass dieses Mistvieh neben mir zwar erstaunlich wendig war, mit meiner wachsenden Geschwindigkeit jedoch schon bald nicht mehr mithalten konnte. Jetzt war ich endlich vor meinem Peiniger. Furcht war in dem mir fremden Gesicht zu erkennen, doch ich war so wütend, das ich dem Wesen einfach den Kopf abbiss. Die Erfahrung war scheußlich und das Blut schmeckte ranzig. Ich wirbelte herum und starrte dem anderen Vierbeiner in die Augen, konnte ihn aber nicht dazu bewegen, die Flucht zu ergreifen. »Du stures Ding«, grummelte ich.
Nachdem ich auch die Katze zerrissen und mich daran gütlich getan hatte, untersuchte ich meine Umgebung und musste feststellen, dass ich mich nicht mehr im Reich der Götter befand, sondern in der Welt der Menschen, Midgard. Der Boden war zum Teil mit verwelktem Laub bedeckt und die Luft war erfüllt von einem metallischen Geruch. Offenbar befand ich mich auf einer Lichtung. Sonnenlicht fiel durch eine Lücke in den Baumkronen auf mich herab. Mein Blick schweifte umher und ich sah nun klar und deutlich, dass ich von Bäumen, niedrigen Büschen und Sträuchern umringt war. Und das Wesen, dem ich den Kopf abgebissen hatte, war einer dieser Menschen. Eine dieser entsetzlichen Kreaturen, die ich schon mein gesamtes Leben lang gehasst hatte. Diese Spezies hatte meinen Zorn auf sich gezogen, und dies wohl für alle kommenden Zeitalter. Worum es sich bei der anderen Kreatur gehandelt hatte, wusste ich nicht, und es interessierte mich auch nicht. Wie konnte sich ein Tier nur von einem solch niederen Wesen halten und sich von ihm Befehle erteilen lassen? Unverständnis zog sich durch meine Gedankengänge.
Nach einer Weile hob ich den Kopf und blickte in den makellos blauen Himmel. Schon seit Ewigkeiten hatte ich einen solchen nicht mehr mit eigenen Augen gesehen. Die Umgebung zu erkunden und den Wald – mein neues Zuhause – kennenzulernen, war das Nächste, um das ich mich kümmern wollte. Vielleicht gab es ja noch andere Wölfe hier und ich musste untersuchen, ob ich auch weiterhin über meine göttlichen Kräfte verfügte. Sollte das nicht der Fall sein … Nein! Das durfte nicht sein! Bei den Sieben! Ein solches Schicksal wollte ich nicht erleiden! An dem Tag, an dem ich nur noch ein gewöhnlicher Wolf war, würde ich mir das Leben nehmen. Das einzig Tröstliche wäre in dem Fall, dass ich im Jenseits wieder mit meiner geliebten Frau vereint wäre. Aber ich glaubte nicht daran, dass ich keine Macht mehr besaß. Ansonsten wäre ich spätestens durch dieses Katzending gestorben.
Die Zeit verging hier in der Welt der Menschen wie im Flug. Mein Zeitgefühl war dahin. Das Einzige, was ich sagen konnte, war, dass jedes Mal, wenn der Mond voll leuchtete, ein Mensch und eines dieser Wesen meinen Wald betraten und meine Beute jagten. Die Menschen verwundete ich nur, damit sie ihren Artgenossen von den Schrecken erzählten, die in meiner Gegenwart lauerten. Einmal hörte ich, wie ein Mensch sein hässliches Wesen als Streitkatze bezeichnete. Aber so hässlich und schwächlich diese Streitkatzen auch waren, sie schmeckten mir!
Mithilfe einer alten Magie, die ich bereits in Kindertagen gelernt hatte, suchte ich ein paar Tage später in dem Geist eines Menschen nach Informationen, die ich dringend brauchte. Dadurch erlernte ich die Sprache dieser Kreaturen.
Die Winter kamen und gingen. Jahreszeiten wechselten sich ab und jeder Sommer erschien mir unerträglich heiß. Während der Zeit, in der ich in Midgard aufgewachsen war, waren die Sommer nie so brutal gewesen. Hatte sich die Natur in den Jahrhunderten so sehr verändert? Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich in dieser Zeit lieber in Helheim bei meiner kleinen Schwester gewesen. Doch diese Annehmlichkeit blieb mir verwehrt, aus welchen Gründen auch immer. Da kam mir ein trauriger Gedanke: Existierte das Reich der eisigen Hölle überhaupt noch? Nach Ragnarök? War dies vielleicht der Grund, weshalb ich mich nicht mehr dorthin begeben konnte? Je länger ich hier in der Menschenwelt war, desto mehr Fragen kamen auf, deren Antworten mir für lange Zeit verwehrt blieben.
Dieser Wald war riesig und es gab auch einige andere Wölfe. Entschieden tötete ich deren Anführer und machte mir die übrigen Tiere untertan. Ich erteilte ihnen den Befehl zu jagen und sie durften mir nur das beste Wild bringen. Am liebsten waren mir die Rehe, die ihre Jungen noch in sich trugen. Doch die Wölfe wurden mit der Zeit immer weniger und nach einigen Jahren war ich der einzige noch lebende Wolf in meinem Wald. Natürlich beanspruchte ich dieses Gebiet als mein Territorium. Sollte doch einer kommen und das Gegenteil behaupten! Die Menschen jagten meine Untertanen und raubten ihre Felle. Als ich zum ersten Mal sah, dass ein Mensch ein Wolfsfell trug, loderte der Hass in mir. In meinem Geist wurden alte Wunden aufgerissen, und ehe ich michs versah, hatte ich diese niedere Lebensform auch schon in Stücke gerissen. Blut tropfte mir von der Schnauze und ich entließ mein bösartiges Heulen in die Nachtluft. Nie wieder würde ich es geschehen lassen, dass ein solches Lebewesen einen meiner Untertanen tötete. Sie wollten meinen Hass? Dann sollten die Menschen diesen zur Genüge zu spüren bekommen!
Jedes Mal, wenn einer von ihnen meinen Wald betrat, hauchte ich dessen Leben aus. Bis zum Winter hatte ich mehrere Dutzend Menschen auf dem Gewissen und liebte mittlerweile das Fleisch der Weibchen. Die Männer entstellte ich auf das Grausamste. Bei ihnen kannte ich keine Gnade, denn sie waren die Schlimmsten ihrer Spezies.
Über den Winter betrat niemand mehr den Wald und auch bis zum nächsten Winter war es still um mich herum. Ich hatte mein Ziel erreicht. Keine Arschlöcher mehr zu Besuch, bedeutete für mich meine wohlverdiente Ruhe. Meine Kräfte hatte ich längst wiedererlangt. Die Auswirkungen des feindlichen Lichtstrahls waren, wie es schien, endgültig vergangen. Jetzt konnte ich ohne Gefahr den Wald verlassen. Die Menschen konnten mir nichts mehr tun. Und von den Göttern hörte ich nichts mehr. Schade, ich hätte dem Idioten Tyr gern auch noch seine Linke genommen. Ohne Hände kämpfte es sich bekanntlich besonders gut.
Als ich im neuen Jahr zum ersten Mal meinen Wald verließ, war ich sprachlos. Weite Ebenen, riesige Getreidefelder und Menschen, so weit das Auge reichte. Mir bot sich der Anblick eines reichen Landes. In der Luft war eine Menge natürlicher Magie zu spüren. Einige Felder waren von Holzzäunen umgeben, die wilde Tiere fernhalten sollten. In der Nähe des fernen Dorfes waren außerhalb der Palisaden einige Dutzend Tiere eingepfercht und die Menschen ritten auf kleinen Pferden. Doch aus irgendeinem Grund nahmen sie mich nicht wahr. Das Wetter war gut. Die Sonne schien und nur vereinzelte dünne Wölkchen standen über dem ansonsten klaren Horizont. Vielleicht nahmen die Menschen mich nicht wahr, weil meine Gestalt einfach zu winzig für einen Gott war. Auch wenn ich die Menschen verabscheute, musste ich zugeben, dass sie sich an diesem Ort ein gutes Leben aufgebaut hatten.
Weit vor mir roch ich Angst, Angst vor dem Tod, und meine Sinne schärften sich. Nun sah ich auch, was den süßlichen Duft der Angst verströmen ließ. Es waren die eingepferchten Schafe und Ziegen – fette Schafe und Ziegen. Mir lief das Wasser im Maul zusammen, mein Magen knurrte und ich konnte nicht mehr an mich halten. Das Fleisch rief mich zu sich. Ungeachtet dessen, ob man mich endlich wahrnahm, lief ich zu den jämmerlichen Kreaturen, durchbrach das hölzerne Tor und riss dem erstbesten Vieh den Kopf mit einem Hieb vom Rumpf. Fleisch- und Hautfetzen flogen durch die Luft und überzogen die kleine Weide mit neuen Farbtönen. Das Blut des Tieres schoss in Fontänen aus dem zerfetzten Hals und benetzte mein weißgraues Fell. Dem nächsten Tier riss ich die Flanke auf. Mit einem hässlichen Schmatzen platschten die Gedärme auf die Weide und ein übler Gestank von unverdautem Gras machte sich breit. Etwas Spitzes prallte von meiner linken Flanke ab und fiel schließlich klirrend zu Boden. Doch ich ließ mich nicht beirren und nahm mir auch schon die nächste Ziege vor, die ich ebenfalls grausam zurichtete. Ich genoss den Vorgang des Zerfetzens. Glück durchströmte meinen Körper. Nachdem ich mich ausgetobt und die halbe Herde vernichtet hatte, stopfte ich mir das Maul voll und wandte mich in Richtung Wald. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie einige Krieger meine Verfolgung aufnahmen, aber ich war zu schnell für ihre kleinen Pferde. Natürlich nahm ich nicht die ausgetretenen Pfade, stattdessen führte mich mein Weg quer über die Felder. Die Zäune hielten mich nicht im Geringsten auf. Ich durchbrach das Holz, als wären es Blätter.
Während der nächsten Monde war es für mein Empfinden relativ ruhig. Einige Menschen waren auf Rache aus, bezahlten jedoch mit dem Leben, nachdem sie mein neues Reich betreten hatten. Ich kannte keine Gnade. Sie hatten einst die Wölfe umgebracht, doch jetzt herrschte ich in diesem Wald und duldete keine anderen Jäger.
Eines Tages – ich hatte die Zeit vergessen und mich nicht mehr um die Menschen gekümmert, weil niemand mehr den Wald betrat – kehrte der Geruch von Angst in mein Reich zurück. Weil mich die Neugier packte, schlich ich lautlos zu dem Ursprung der Angst und entdeckte einen kleinen Menschen. Es war ein Weibchen, höchstens vier Sommer alt. Erst wollte ich es nur beobachten, um zu sehen, was es tat. Auch wenn ich die Menschen schon immer abgrundtief gehasst hatte, Kinder brachte man nicht einfach so um. Dies war ein uraltes, ungeschriebenes Gesetz, das selbst die grausamsten Götter beherzigten. Dann trat plötzlich ein großgewachsener Mann in Erscheinung und redete wütend auf die Kleine ein. Um seine Sprache zu verstehen, tauchte ich in den Verstand des Mannes ein, holte mir alle Informationen, die ich brauchte, und schlüpfte wieder hinaus. Dieser Vorgang dauerte keine drei Herzschläge. Beim Eindringen in den Geist des dreckigen Menschen hatte ich keinen Widerstand gespürt. Entweder war er entsetzlich dumm oder er besaß nicht einen Funken magischen Talents. Ich nahm an, dass beides der Wahrheit entsprach. Auch die Menschen, die ich vor meiner Gefangennahme getroffen hatte, waren nicht die Hellsten gewesen.
»Du verzogenes, missratenes kleines Ding!«, schrie der Mann das Mädchen an. »Wie kannst du es wagen, in den verfluchten Wolfswald zu gehen?«
Angesichts des Gekreisches wallte Wut in mir auf, doch ich schluckte sie hinunter. Diese raue, nordische Sprache verursachte ein leichtes Ziehen in meinem Kopf. Ich verstand viele Sprachen und sprach die meisten fließend, doch diese hier erschien mir neu. Allerdings wusste ich auch nicht, seit wie vielen Jahren ich seit Ragnarök wieder in Midgard war.
»Es tut mir leid!« Das Mädchen heulte. »Ich wollte doch nur sehen, ob es wirklich einen Wolf gibt, der so groß ist wie ein Pferd!« Es hatte lange schwarze Haare, die ihm bis auf die Schultern fielen. Seine Augen waren von einem ausdrucksvollen Braun.
»Du wolltest was?!« Die kehlige Stimme des Mannes verärgerte mich zusehends, doch ich wollte mehr von dem Gespräch mitbekommen, also musste ich mich still verhalten. Etwas an dem Fremden kam mir bekannt vor. Seine dreckig-blonden Haare waren kurz, reichten nicht einmal über die Ohren. Von Kopf bis Fuß maß er vielleicht sechs Fuß. Für einen Nordmann war er recht groß und aus Prügeleien unter seinesgleichen würde er wohl als Sieger hervorgehen. Doch je intensiver ich ihn musterte, desto mehr fiel mir auf, dass sein magisches Talent praktisch gar nicht existierte. Außer seinen Muskeln schien dieser Mann nichts Besonderes zu bieten zu haben. »Du weißt, was der oberste Rat gesagt hat«, fuhr er ungeduldig fort. »Niemand darf diesen Wald mehr betreten!«
Da haben wir es doch! Irgendwelche niederen Kreaturen haben entschieden, dass ich meine Ruhe bekomme. Vielleicht gab es ja doch eine Handvoll Menschen, die über so etwas wie Intelligenz verfügten.
»Aber es ist schon sehr lange her, seit das Monster gesehen wurde«, protestierte das Mädchen. »Vielleicht lebt es gar nicht mehr!«
Ich? Der Gott der Wölfe ein Monster? Wut bahnte sich einen Weg durch meinen Geist, doch mit größter Mühe bändigte ich das aufwallende Gefühl.
»Willst du es denn herausfinden? Willst du wirklich so früh sterben, Rani?«
»Ich habe es dir schon einmal gesagt! Das letzte Mal, als dieses Monster gesehen wurde, war zwei Monde vor deiner Geburt!«
Aha, das Mädchen heißt also Rani, dachte ich. Nun würde ich meinen Teil zu der Unterhaltung beitragen. Wenn ich das Balg zu mir locken könnte, hätte ich zusätzliches Futter zur Verfügung. Das kleine Vieh will sterben? Nur zu! Es gab immer Schlupflöcher in den Gesetzen, egal um welche Spezies es sich handelte.
»Rani! Geh tiefer in den Wald!« Meine Stimme, die aus einer undefinierten Richtung kam, klang dunkel und ich ließ ein dämonisches Grollen folgen.
Im Gesicht des Mannes erkannte ich Furcht, als er sich suchend umsah, das Mädchen hingegen schien sich zu freuen. Hä?
»Rani, komm zu mir!«, grollte ich als Nächstes.
Immer noch voller Angst, blickte sich der Mann um »Komm sofort aus deinem Versteck, du elendes Mistvieh!«, zeterte er.
Ein weiteres tiefes Knurren entrang sich meiner Kehle. Um nicht mehr gehört zu werden, wob ich einen Zauber, der mich lautlos machte. Mein Ziel hatte ich erreicht: Dank der magischen Suggestion würde das Mädchen wiederkommen.
»Los, Rani!« Die Stimme des Mannes zitterte. »Wir verschwinden auf der Stelle und werden diesen verfluchten Wald nie wieder betreten! Nie wieder!«
Das war das Letzte, was ich für lange Zeit hören sollte. Ich hatte genug getan. Jetzt konnte ich mich in Ruhe schlafen legen, und schon bald würde es neues, schmackhaftes Fleisch geben. Hier in Midgard musste ich erst wieder lernen, mir meine Kräfte einzuteilen. Allein diese winzigen Zauber hatten mich bereits ermüdet. Vielleicht würde Schlaf alles in gewohnte Bahnen lenken.
Ein Knistern weckte mich. Etwas näherte sich mir. Ruhig liegen bleiben und abwarten, beschwor ich mich. Doch die Müdigkeit übermannte mich erneut. Nach einer Weile krachte etwas Hartes auf meinen Rücken und riss mich endgültig aus dem Schlaf. Als ich meinen Kopf heben wollte, wurde dieser mit brachialer Kraft nach unten gedrückt. Da riss mir der Geduldsfaden und meine übernatürlichen Kräfte wurden geweckt. Ruckartig stand ich auf und wirbelte herum. Mein gesamter Körper schwoll an und ich erreichte die Größe eines Kampfhengstes. Mein Gegenüber taumelte und prallte gegen einen Baumstamm. Der Stoß ließ die Baumkrone erzittern. Die Menschen bezeichneten meinen neuen Gegner wohl als Bären. Es handelte sich um ein riesiges braunes Mistvieh, das – verflucht noch mal – stark war. So ein Ungetüm hatte ich bisher noch nie gesehen. Und ich wusste: Mit leerem Magen kämpfte es sich nicht gut. Dann vernahm ich das Knacken von kleinen Ästen. »Wolf! Spring zur Seite!«, ertönte eine melodische Stimme hinter mir. Ich kannte diese Stimme und brachte sie mit dem kleinen Mädchen in Verbindung, das ich einige Stunden zuvor mit einem leichten Zauberbann belegt hatte. Doch die Stimme klang älter, wie ich bemerkte. Vielleicht eine Schwester? Mir lief das Wasser im Maul zusammen. Ein Surren ertönte und aus alter Gewohnheit sprang ich zur Seite. Gerade noch rechtzeitig, wie mir in diesem Moment bewusst wurde. In das linke Auge des Bären bohrte sich eine eiserne Pfeilspitze. Das Mistvieh erstarrte mitten in der Bewegung und fiel tot nach hinten um. Mein Magen meldete sich erneut, diesmal ungewöhnlich laut. Ich musste fressen und dieser Bär kam mir gerade recht. Als ich mit ihm fertig war, hätte ich mir gerne noch den weiblichen Zweibeiner gegönnt, doch aufgrund der Gesetze der alten Götter blieb mir dieser Genuss verwehrt.
»Oh! Da hatte aber jemand Hunger«, sprach die Stimme hinter mir vergnügt.
Ich drehte mich zu der niederen Kreatur um und verspritzte einiges von dem Blut, das mir in Strömen aus dem Maul troff. Was ich sah, war eine für Menschen bildhübsche junge Frau mit einem schlanken, aber starken Körper. Ich schätzte sie auf etwa neunzehn Sommer. Ihre Haut war straff und glänzte in der kühlen Morgenluft.
»Du bist doch die kleine Rani?«, fragte ich mit einem tiefen Knurren.
»Ja, das bin ich. Sechzehn Jahre lang haben wir im Dorf nichts mehr von dir gehört oder gesehen.« Sie hielt kurz inne, dann fragte sie ganz unverblümt: »Was ist geschehen?« Ihr Gesicht verriet nicht die Spur von Furcht und ich roch auch nichts dergleichen. Dieser Umstand verwirrte und entsetzte mich zugleich. Wie konnte es sein, dass dieses Wesen keine Angst vor mir hatte? Sechzehn Jahre? Dann hatte ich mich damals ziemlich verschätzt, als es um das Alter des Kindes gegangen war. Zudem überraschte es mich, dass ich so lange geschlafen hatte.
»Wolf, ich sehe es in deinem Gesicht. Dieser fragende Blick sagt mehr als tausend Worte!« Sie lachte.
Ihre Sorglosigkeit irritierte mich und ich hielt perplex inne. Für eine Weile stand ich reglos da und versuchte, meine Gedanken zu sortieren.
Plötzlich riss mich ein beinahe unhörbares Geräusch aus meiner Starre und richtete meine Aufmerksamkeit auf eine Gestalt, die sich Rani von hinten näherte. Das Wesen schlich auf allen vieren und hatte leuchtend blaue, geschlitzte Augen. Mein Knurren durchdrang die Nacht und das Zwitschern der Vögel verstummte augenblicklich. Rani wich einige Schritte vor mir zurück. Endlich versprühte sie den süßlichen Duft der Angst. Ich ließ meine Kräfte anschwellen, ließ ihnen die Flucht aus meinem Körper. Weißer Rauch stieg aus meinem Fell empor und erhellte die Lichtung, auf der wir uns befanden. Nun war das Wesen hinter Rani gut zu erkennen. Es war pechschwarz, hatte kurzes Fell und musste mir bis zu den Schultern reichen. Laut den Informationen, die ich mir vor Jahren aus dem Kopf dieses einen Menschen gestohlen hatte, nannte man dieses Wesen wohl einen Riesenpuma. Nach einer langen Zeit des Züchtens hatten es die Menschen anscheinend geschafft, ein solches Ungetüm zu kreieren. Doch irgendetwas störte mich an der Aura des Tieres. Für gewöhnlich waren entsprechende Auren klein und mickrig, doch diese hier strahlte eine unnatürliche Stärke aus. Aber mir, einem der alten Götter, war das Tier nicht gewachsen. Auch wenn Ragnarök vorüber war, banden mich die alten Gesetze noch immer. Hätte ich gegen diese verstoßen, würden die Sieben herabsteigen, mir die Lebenskraft entziehen und mich schlussendlich töten.
Ich fletschte die blutverschmierten Zähne und begab mich in Angriffsstellung. Für einen kurzen Augenblick wallte Wut in mir auf. Das war ausreichend, damit der Puma erbärmlich wimmerte. Die junge Frau, die das Wimmern offenbar bemerkte, wandte sich, ein Auge auf mich gerichtet, zu dem schwarzen Ungetüm um. Ich wusste, sie verspürte jetzt Angst, ungeheure Angst. Genauso sollte die Ordnung der Welt sein. Die Menschen mussten sich vor Göttern fürchten, alles andere ergab in meinen Augen keinen Sinn.
»Ach, du bist es nur, mein treuer Begleiter«, sagte Rani. »Was hast du denn da?« Sie erbleichte, als sie erkannte, was die Katze im Maul trug. Dieses Ungeheuer mit einer Schulterhöhe von fast sechs Fuß hielt ein zuckendes Rehkitz mit seinen Zähnen gefangen.
»Spuck das sofort wieder aus!«, befahl Rani ihrem Puma. Einen Augenblick später schien ihr die völlige Ruhe bewusst zu werden, die sie umgab. Die Lichtung war wieder so dunkel wie zuvor und ich, der große weiße Wolf, war verschwunden. Dies war mein Wald und ich erlaubte es niemandem, darin zu jagen, schon gar nicht einem gewöhnlichen katzenartigen Wesen! »Wo bist du, Wolf?«, fragte sie in die Dunkelheit hinein. »Bitte tu meinem Begleiter nichts!«
Plötzlich wurde die Lichtung abermals von hellem Licht geflutet und ich stand hinter dem Puma. Meine Gestalt hatte sich verändert. Mein Körper war gewachsen. Ich war jetzt so groß wie zwei starke Krieger übereinander und ich hatte noch lange nicht meine volle göttliche Größe erreicht.
»Nun gut«, sagte ich. »Du hast mir das Leben gerettet, deshalb gewähre ich dir einen Wunsch.« Dass mich die sieben Ursprünglichen beobachten würden, konnte ich mir natürlich denken. Um die Gesetze zu wahren, musste ich diese Floskeln ernst vortragen. Doch die Gesetze der Schattengötter hinderten mich nicht daran, mein Revier zu verteidigen.
»Pumalein, geh ins Dorf zurück und sag dem Ältesten, dass es mir gut geht«, bat Rani die Katze.
Diese nickte nur. Als sie im Begriff war, sich umzudrehen und zu verschwinden, gruben sich meine Klauen tief in ihre Flanken und ich biss zu. Als das Mistvieh nach unzähligen wütenden Bissen starb, fraß ich dessen Fleisch.
»Also nenne mir deinen Wunsch, Mensch!«, forderte ich Rani auf.
Ihren Blick ununterbrochen auf die zerfetzte Leiche der Katze gerichtet, zitterte das Weibchen. Hoffentlich bettelte es um sein kurzes Leben. Ich wünschte es mir inständig.
»Bitte rede mit mir! Ich will mich mit dir unterhalten. Ich will wissen, wo du herkommst, und ich will deinen Namen erfahren«, sprudelte es aus Rani heraus.
»Das ist alles?«, hakte ich nach. »Eine simple Unterhaltung? Du verspürst große Angst und im selben Moment willst du dich mit mir unterhalten?«
»Ja«, sie nickte, »mehr will ich gar nicht. Das ist alles.«
Was für ein Mist!, ging es mir durch den Kopf. Wenn sie um ihr Leben gebettelt hätte, hätte ich sie fressen dürfen … aber jetzt?
»Dann machen wir es uns erst mal gemütlich«, sagte ich und legte mich mitten auf die Lichtung. Hier sah es aus wie auf einem Schlachtfeld. Überall klebten Fleischfetzen und Hirnmasse. Meinen Kopf bettete ich auf meine Vorderbeine. Dann ordnete ich meine Gedanken und ließ einen Seufzer ertönen. Dabei versprühte ich fremdes Blut. Rani bewegte sich kein Stück. Es schien, als wollte sie mich etwas fragen, wartete aber auf meine Erlaubnis. »Los, frag schon!«, forderte ich sie genervt auf. Das Katzenfleisch lag mir schwer im Magen. Nie wieder würde ich einen Puma fressen, und schon gar keinen hochgezüchteten.
»Darf ich mich zu dir setzen und mich an dich lehnen?«
»Äh …«, begann ich. Erst wollte ich sie anbrüllen, dass ich ein Gott sei und so etwas Frevelhaftes nicht erlauben würde, doch sie wusste ja gar nicht, wer ich war. »Ja, setz dich«, ergänzte ich, nachdem meine Überraschung abgeklungen war.
Als sie einen Platz gefunden hatte, an dem es kein Blut gab – pingeliges Weibsstück – und an mich gelehnt dasaß, stöhnte sie leise. »So schön weich und sanft. Diese besondere Wärme, die du ausstrahlst, ist so wunderbar«, flüsterte sie. Ich kommentierte ihre Worte nicht und ließ Rani einfach gewähren. Gäbe es diese Gesetze nicht …
»Dann werde ich mal mit meiner Geschichte anfangen«, begann ich. Der Waldboden unter mir war weich und fühlte sich sehr bequem an. Ich konnte mich also entspannen und noch einmal durchatmen. Nach einer Weile des Zur-Ruhe-Kommens begann ich zu erzählen. Mittlerweile rückte der Abend näher. »Mein Name ist Fenrir. Ich komme aus Asgard und Loki war mein Vater. Ich bin aber nicht bei den Göttern aufgewachsen, sondern hier in der Welt der Menschen, Midgard.« Aus gutem Grund erzählte ich der jungen Frau nur das Nötigste über meine Familie.
»Was ist Asgard?«, fragte sie, während sie an meiner rechten Flanke lehnte und sich an mich kuschelte. Ich nahm mir vor, mir später ihre Seele und ihre Aura anzusehen. Ganz richtig im Kopf kann diese niedere Lebensform ja wohl nicht sein …
»Asgard ist die Welt der Asen und Vanen. Kurz gesagt, das Reich der Götter.«
»Es gibt sie also wirklich, die Götter? Ist einer von ihnen Wotan?«
»Ja«, bestätigte ich, »doch sein wahrer Name lautete Odin. Er war der Göttervater und mit Freja, der schönsten aller Göttinnen, verehelicht.« Wenn ich nur an dieses Arschloch denke … Wut loderte in mir auf. Letztendlich war es sein Befehl gewesen, der mir alles genommen hatte. Und die Menschen hatten ihren nicht unerheblichen Teil dazu beigetragen.
»Wieso sprichst du in der Vergangenheit, Fenrir?« Rani riss mich aus meinen hasserfüllten Gedanken. Ihre Frage hatte sie fast geflüstert. Der Geruch von Angst bahnte sich seinen Weg in meine Nase.
»Ragnarök ist schon und alle anderen Götter sind vermutlich dabei gestorben. Ja, man kann Götter töten, doch über das Wissen, wie man es anstellt, verfüge ich nicht. Und ich werde meine Rache nicht mehr bekommen.« Das war natürlich gelogen, aber ich würde dieses Wissen bestimmt nicht mit einem dahergelaufenen Menschen teilen. Obwohl … dieses Weibchen war anders, völlig anders als die anderen Menschen. Bis eben hatte ich noch Ranis Angst wahrgenommen, doch dann war sie verraucht. Ich verstand diesen Wechsel nicht. Konnte sie ihre Emotionen nur schwer steuern oder war es ihr unmöglich zu entscheiden, was sie letztendlich fühlen sollte? Für mich war es anstrengend und es machte mich nebenbei auch noch wütend.
»Deswegen können unsere Schamanen die Stimmen der Götter nicht mehr vernehmen«, warf Rani ein.
»Ja«, ich nickte, »so wird es sein.« Als hätte Odin oder einer aus seiner Sippe jemals mit einem Menschen gesprochen! Selbst als einige Verblendete mich angebetet hatten, hatte ich mich doch nicht dazu herabgelassen, ihnen zu antworten.
»Aber was für ein Gott bist du?« Wieder sah ich die Neugier in Ranis Blick.
»Ich bin der Gott aller Wölfe und war der Bote des Ragnarök. Aber ich kann dir nicht sagen, wie lange der Götterfall schon vorüber ist. Ich habe während der Zeit, die ich hier in Midgard aufwuchs, einige schlimme Dinge vollbracht, für die ich zur Genüge bestraft wurde. Nun versuche ich nur noch, meinen neuen Weg zu finden und den Grund für mein Überleben herauszufinden.« Auch wenn ich von »Bestrafen« gesprochen hatte, für mich war die Erinnerung daran die reinste Folter …
Ich sprach noch lange von Asgard, schwelgte in Erinnerungen und erzählte von meiner Gefangennahme, doch das meiste bekam Rani nicht mehr mit, denn sie war an meiner Seite eingeschlafen. Ich lag noch einige Zeit wach, lauschte ihrem ruhigen Herzschlag und spürte ihre Wärme. Seltsamerweise … Nein! Ich war der Dämonenwolf Fenrir!
Ein scharrendes Geräusch weckte mich. Irgendeine niedere Kreatur stand breitbeinig vor mir und stieß etwas zum wiederholten Mal auf meinen Schädel. Ich spürte den Luftzug des herannahenden Objektes und schnappte danach. Aufgrund meiner plötzlichen Bewegungen wachte auch Rani auf.
»Fenrir, was ist denn los?«, fragte sie und rieb sich schlaftrunken die Augen.
Mein Biss ging ins Leere. Ich raffte mich auf, während Rani fluchte, weil sie nach hinten fiel. Im nächsten Moment lag sie direkt unter mir und erblickte meinen muskulösen Bauch sowie meinen riesigen Penis. Binnen Sekunden schoss ihr die Röte ins Gesicht, dann wandte sie sich ab. Mich juckte das kein bisschen. In mir brodelte die altbekannte Wut.
Vor mir stand ein muskelbepackter Mann mit einem riesigen Speer in der Hand. Er funkelte mich böse an und ging sogleich zum Angriff über.
Mitten in der Bewegung wurde er von Rani gestoppt. »Vater!«, schrie sie meinen Angreifer an. »Was soll der Scheiß?« Ihr Blick war voller Wut.
»Das ist also dein Vater?«, knurrte ich. Unbändige Wut stand auch mir ins Gesicht geschrieben. Es fehlte nicht viel, dann wäre sie in Hass umgeschlagen.
»Rani, geh sofort von diesem Monster weg!«, brüllte der Mann. »Hast du mich verstanden?«
Allmählich reichte es mir. Warum mussten die Menschen denn immer gleich schreien? »Geh schon!«, knurrte ich und machte mich davon.
»Werde ich dich wiedersehen, Fenrir?«, hörte ich Rani fragen, doch so mies gelaunt, wie ich mich fühlte, blieb ich ihr eine Antwort schuldig. Und Männer schmeckten mir einfach nicht – sie waren zu zäh.
»Ha! Jetzt rennt das feige Vieh auch noch davon!«, rief Ranis Vater mir hinterher. »Ich hätte dein Fell gut gebrauchen können!«
Dieser Tropfen brachte das Fass zum Überlaufen. Blitzschnell drehte ich mich um und ließ meine göttlichen Kräfte frei. Mein Körper schwoll an und färbte meine gesamte Erscheinung in ein tiefes Schwarz, während meine Augen in einem gefährlichen Purpur brannten. Unter meinen Schritten erbebte der Waldboden. Meine Größe betrug jetzt etwa zehn Fuß, vom Boden bis zu meiner Stirn gemessen. Äste und kleine Baumstämme brachen unter meinem Gewicht entzwei. Ich fletschte die Zähne und entblößte viele dolchähnliche Mordwerkzeuge, an denen noch die Blutreste der zuvor erlegten Tiere klebten.
»Niemand nennt mich einen Feigling!«, knurrte ich. Beleidigungen würde ich niemals zulassen. Meine Mordlust ließ den Mann mit dem Speer ängstlich zurückweichen. Auch Rani hatte Angst, das spürte ich. Die Wut in meinem Innern wich Hass und die beiden Menschen erstarrten. Ich hätte niemals damit gerechnet, dass mich jemand feige schimpfen würde. Doch was dachte ich darüber auch nach? Menschen konnte ich nicht mit Intelligenz gleichsetzen.
»Gott der Wölfe, höre mich an!«, flehte Rani verzweifelt. Tränen waren ihr in die Augen getreten. »Bitte zügele deine Lust zum Töten und verschone meinen Vater!«
»Aber nur dieses eine Mal! Und jetzt verschwindet aus meinem Wald!«, brüllte und knurrte ich zugleich. Ich ließ jede Vorsicht fahren und stapfte in den Wald hinein. Ein weiteres Wort gegen mich würde genügen. Doch zum Glück für die beiden Menschen drang kein Ton mehr aus ihren widerwärtigen Mäulern.
Schließlich war es still in meinem Wald. Alle übrigen Bewohner meines Reiches spürten meinen Hass und gaben keinen Ton mehr von sich. Wohl oder übel hatten sie mich als ihren Herrscher und Gott akzeptiert.
»Vater!«, hörte ich wenig später Rani brüllen. Missmutig wandte ich mich zu ihr und dem Mann um. »Du hättest den Wolf nicht verärgern dürfen! Und außerdem: Was hast du dir dabei gedacht, mir zu folgen?«
Die beiden standen immer noch auf der Lichtung und ich konnte ihren Streit trotz der inzwischen zurückgelegten Entfernung hören. Ich war bis zu einem See vorgedrungen, an dem ich mich niederließ, um mich auszuruhen. Meine Emotionen kochten über. Hinzu kam, dass die Morgensonne gnadenlos brannte, was wiederum die beiden Menschen zum Schwitzen brachte. Diese niederen Lebensformen stanken entsetzlich. Es war mitten im Sommer und der Himmel zeigte sich wolkenlos und so blau wie das Meer. Selbst mein Hass auf die Sonne wuchs in diesem Augenblick in ungeahnte Höhen.
»Aber ich dachte, dieses Monster würde dich …«
Schon wieder schimpft jemand mich ein Monster!
»Ja, ich höre?« In Ranis Stimme schwangen Wut und Enttäuschung mit.
»Egal! Wie hast du das Ungetüm genannt? Gott der Wölfe? Fenrir? Du weißt doch, dass dieser Fenrir nicht echt sein kann.«
Und wie ich das sein kann, wenn diese törichten Menschen nicht schnellstens verschwinden!
»Sag mal, hast du was mit den Ohren?«, wetterte Rani. »Der Wolf hat gerade gesprochen. Und er hat dir das Leben geschenkt!«
Würde dieser Mann eine Fliege verschlucken, hätte er mehr Hirn im Magen als im Kopf …
»Na und?«, kam es von Ranis Vater zurück. »Ich hätte das Ding schon irgendwie getötet.«
»Na klar, mit dem Zahnstocher da?« Rani zeigte auf die fünf Fuß lange Lanze mit der einfachen Spitze.
»Verschwindet endlich aus meinem Wald, bevor ich es mir anders überlege und euch auf grazile Weise zu Matsch verarbeite!«, übermittelte ich ihnen mit einem lauten Knurren.
Die beiden erschraken und suchten das Weite. Jawohl, ich hatte ihnen Furcht eingeflößt!
Als Rani und ihr Vater den Wald hinter sich gelassen hatten, verweilten sie am Rande eines Feldweges, der zu einem Dorf mit einer Mauer aus Palisaden führte.
»Alle, die ohne Erlaubnis mein Reich betreten, sind des Todes!«, brüllte eine dämonische Stimme den beiden hinterher. Sie zuckten zusammen und drehten sich irritiert um.
»Komm«, sagte Rani, »lass uns nach Hause gehen, da können wir das in Ruhe ausdiskutieren.«
Schweigend folgten die beiden dem Feldweg. Die leichte Brise konnte nicht über die brütende Hitze hinwegtäuschen.
In der Ferne war plötzlich eine Explosion zu hören. Der Lärm kam aus dem Wald, und als sich Rani und ihr Vater umdrehten, wurden sie Zeuge, wie eine gigantische Eiche umfiel. Außer ihnen war keine Menschenseele zu sehen. Zurzeit war es gefährlich, ohne Geleitschutz zu wandern. Banditen konnten an jeder Ecke lauern und man erzählte sich, dass auch welche in dem verfluchten Wald ihr Lager aufgeschlagen hatten. Doch Rani glaubte nicht daran. Jetzt, da sie Fenrir kennengelernt hatte, wusste sie, dass er niemanden in seinem Wald duldete. Der Wolf würde Eindringlinge auf grausame Weise hinrichten, da war sie sich sicher.
Schon bald erreichten sie den Eingang ihres Dorfes und die Wachen grüßten sie freundlich.
»Guten Tag, erste Jägerin Rani«, sagte einer der beiden. Sein Gesicht war durch eine lange Narbe verunstaltet, die sich quer über seine Nase zog. Groß gewachsen, muskulös und mit einem Speer bewaffnet trotzte er der Hitze und schaute auf die junge Frau hinab. Der andere wirkte zunächst teilnahmslos und nickte ihr erst zu, nachdem er sich einen leichten Schlag von seinem Kollegen eingefangen hatte.
»Er ist ziemlich wortkarg und redet auch sonst nicht viel. Bitte verzeiht ihm«, sagte der mit der Narbe.
»Natürlich, ist doch gar kein Problem«, erwiderte Rani lächelnd.
Im Dorf gab es zwei Dutzend Hütten, die aus Lehm und Stroh bestanden. Rund um die Hütten war eine starke hölzerne Palisade angelegt, die einen guten Schutz gegen Banditen und Räuberbanden bot. Auf dem Dorfplatz fand gerade eine Versammlung statt. Viele Dutzend Menschen hatten sich dort zusammengefunden. Einige kamen aus nahe gelegenen Dörfern, andere lebten hier. Alte, in grüne, verwaschene Tuniken gekleidete Männer mit krummem Rücken und runzligem Gesicht standen, jeweils auf einen knorrigen Stab gestützt, in einem Kreis zusammen.
»Die Schamanen versuchen mal wieder, mit den Göttern zu sprechen«, flüsterte Ranis Vater. »Aber wenn du die Wahrheit gesagt hast, befindet sich einer der alten Götter gerade in unserem Wald.« Die Furcht, die ihn noch vor Kurzem im Griff gehabt hatte, war wie weggeblasen. Innerhalb des Dorfes fühlte er sich sicher.
»Ah! Da bist du ja wieder, Rankar! Wo hast du den ganzen Morgen über gesteckt?«, fragte jemand aus der Menge und bahnte sich einen Weg zu ihnen. Der Mann war einen ganzen Kopf kleiner als Rani und zeichnete sich durch einen Berg an Muskeln aus. Hätten die Götter ihn erblickt, hätten sie diesen Winzling wohl als Kampfzwerg betitelt. Sein Gesicht war vom Wetter gegerbt und kantig. Die hellbraunen Haare fielen ihm bis auf die Schultern und der gleichfarbige Bart reichte ihm bis zum Ende seines Halses. Alles in allem hatte der Krieger starke Ähnlichkeit mit einem Zwerg aus den Mythen. Andere Zwerge hätten Sawar als Schönling bezeichnet.
»Sawar!«, begrüßte ihn Ranis Vater. »Lange nicht mehr gesehen! Entschuldige, dass ich unsere Verabredung vergessen habe, aber ich musste mich um meine törichte Tochter kümmern. Die hat sich schon wieder in den verfluchten Wald geschlichen.« Ein wehleidiger Ausdruck machte sich in seinem Gesicht breit.
»Wirklich schon wieder? Hast du das Monster denn dieses Mal zu Gesicht bekommen, Rani?« Neugier war in seinem Gesicht zu lesen.
»Ja, habe ich. Ich habe mich sogar mit ihm unterhalten!«, antwortete Rani aufgeregt. »Und ich habe herausgefunden, wie dieses Monster, wie du es nennst, heißt und woher es stammt.«
»Was du nicht alles kannst! Jetzt sprichst du sogar mit ihnen.« Sawar lachte vergnügt. Er ließ durchblicken, dass er Rani kein einziges Wort glaubte. Aber der Winzling war schon immer so gewesen. Nur dem, was er mit eigenen Augen sah, schenkte er Glauben.
»Jetzt aber Schluss, ihr zwei!«, donnerte Ranis Vater. Er hasste es, wenn die beiden über solche Themen sprachen. Mythen und Legenden waren Teil ihrer Geschichte, gehörten aber nicht ins echte Leben. Er wusste jedoch, dass er allmählich seine Weltvorstellung überdenken musste. Immerhin hatte er sich mit einem Gott angelegt …
»Ach komm schon, Rankar! Verdirb uns nicht den Spaß, alter Junge!« Sawar lachte noch immer. Nie verließ ihn die Fröhlichkeit. Selbst in Schlachten oder Scharmützeln lachte er vor sich hin, während er Kehlen zerriss und Bäuche aufschlitzte. In solchen Fällen war es abscheulich, ihn in einer derartigen Stimmung zu sehen. Letztendlich musste sein alter Freund sich stets aufs Neue daran gewöhnen.
»Komm«, mischte sich Rani ein, »gehen wir zum Ritual und schauen mal, ob die Schamanen es heute schaffen.« Die junge Jägerin wusste es besser. Nachdem sie sich mit dem alten Wolfsgott unterhalten hatte, kannte sie die Wahrheit. Eigentlich hatten die Schamanen immer versucht, die Stimmen der Götter zu vernehmen, doch nun war es anders. Auch sie mussten erkannt haben, dass Ragnarök vorüber war. Den Bewohnern berichteten sie nichts davon, denn die alten Säcke wollten selbst Macht erlangen, unsterbliches Leben von anderen Wesen erhalten. Sie versuchten, Dämonen zu beschwören. Die Hexer wussten, dass die Götter nicht mehr antworten konnten, und dieses Mal nutzten sie ihre Gelegenheit, um Macht aus dem Totenreich zu entwenden. Im Endeffekt verfügten die Alten über ein gefährliches Halbwissen.
Der Dorfplatz war groß genug, um allen Menschen Platz zu bieten, und man stand auch nicht eingeengt. Die Schamanen wurden gerade in die Mitte des Platzes geführt, als es auch schon seltsam unangenehm wurde. Diese alten Männer hatten nicht einmal mehr die Kraft, alleine zu gehen. Wie zerbrechlich die Menschen doch wurden, wenn sie ein bestimmtes Alter erreicht hatten. Die Luft schmeckte nach Abgestandenem und Rani fühlte sich unwohl.
Im selben Moment wandte sich Sawar an ihren Vater. »Rankar, weißt du vielleicht, was die Schamanen dort veranstalten? Das ist nicht das typische Ritual.« Seine Mimik verriet Unsicherheit. Der Zwerg war selten unsicher.
Ein Anflug von Überraschung huschte über Rankars Gesicht. »Ich weiß es nicht, aber mein Vater erzählte mir mal von einem uralten Ritual, mit dem man angeblich die Mächte des Bösen herbeirufen kann. Ich jedoch glaube, dass die da vorne versuchen, mit den alten Göttern in Kontakt zu treten.« Sein Blick war zweifelnd.
»Ich bin nicht so ganz überzeugt«, murmelte der kleine Dauerlächler. Als wollte der Himmel ihm zustimmen, schickte er ein paar Wolken vor die Sonne. Definitiv ein schlechtes Omen.
Plötzlich klapperte etwas auf einer Holzplatte im Inneren des Menschenkreises. Knochen und Artefakte wurden geworfen – kleine weiße Fingerknochen, die von Säuglingen stammten. Es war abscheulich! Um immer wieder neue Knochen zu gewinnen, wurden den Kleinsten der Neugeborenen mittels purer Manneskraft die Finger einzeln abgerissen. Im weiteren Verlauf der Zeremonie wurden sie bei lebendigem Leibe aufgeschlitzt. Ein Schamane trat vor das sterbende Kind, griff in dessen geöffneten Bauch, suchte das Herz und zerquetschte es. Die Schamanen behaupteten, dass die Seelen der getöteten Kinder so im Einklang mit der Natur wären und nach einem solchen Ritual schneller wiedergeboren würden.
Nachdem die unheimlichen Knochen mehrere Male auf die hölzerne Platte geworfen worden waren, stocherten die Mörder in dem wirren Haufen herum und schauten abwechselnd neugierig, wütend oder überrascht. Die etwas Stärkeren unter ihnen knieten sich in den Dreck und wühlten mit den Händen durch den Knochenhaufen. Aber nur für einen kurzen Moment, für mehr reichte ihre Kraft nicht aus. Die Schamanen standen auf und kehrten sichtlich erschöpft in ihre Hütte zurück. Einer von ihnen blieb jedes Mal länger, um das Ergebnis zu deuten und es den Umstehenden mitzuteilen.
»Leider konnten wir auch heute nicht die Stimmen der Götter vernehmen!«, verkündete dieser dann laut. Die Stimme dieses Widerlings war hoch und klang uralt. Schließlich zog auch er sich zurück. Diese Leute waren schon seltsam. Warfen unbedeutende Knochen umher und wollten damit die Stimmen der Götter vernehmen? Lächerlich!
»Sawar«, sagte Rankar, »bereite dich auf morgen vor, wenn die alten Säcke wieder die Rituale durchführen wollen. Komm bitte in voller Ausrüstung hierher. Ich werde es auch tun.«
»Hast du ein schlechtes Gefühl bei der Sache, mein Freund?«
»Ja, denn irgendwas war heute befremdlich.« Insbesondere die Existenz des Wolfes bereitete Rankar Sorgen. Auch seine Tochter verhielt sich immer seltsamer, seit sie zum ersten Mal mit dem Monster gesprochen hatte.
»Okay, gut, ich werde entsprechend ausgerüstet zur Stelle sein. Du weißt doch, dass ich auf deinen Instinkt vertraue«, sagte Sawar mit einem unheimlichen Lächeln auf den Lippen. Die Lust aufs Töten stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Rankar bat Rani, morgen ebenfalls in voller Ausrüstung zum Fest zu kommen. »Sag auch den anderen Jägern Bescheid«, flüsterte er ihr ins Ohr.
»Ja, natürlich tue ich das«, flüsterte sie zurück und fuhr fort: »Ich werde gleich noch mal zum Wolf gehen, denn ich will ihn zu meinem Begleiter machen, jetzt, wo er meine Katze so grausam geschlachtet hat.« Während sie Fenrir erwähnte, schlich sich eine gefährliche Emotion in ihre Züge.
Unsicher erwiderte ihr Vater. »Gut, dann sehen wir uns morgen. Rani, ich kann dich nicht aufhalten, doch wisse, dass du mich enttäuschst.« In seine Augen hatte sich ein trauriger Ausdruck geschlichen.
»Rani!«, rief Sawar lachend. »Wenn du IHN triffst, dann lass ihm meine besten Grüße zukommen, okay?« Er folgte ihr mit seinem Blick. »Warte mal kurz, Großer …«, sagte er wenig später an Rankar gewandt. »Stimmt es, dass deine Tochter dieses Monster getroffen hat?«
»Ja, und auch ich habe den riesigen Wolf gesehen. Dieses Vieh darf man auf keinen Fall verärgern! Ich werde es bestimmt nicht noch einmal versauen«, erklärte Rankar. Dann drehte er sich um und entfernte sich eiligen Schrittes von dem Dorfplatz.
»Wenn das wirklich wahr sein sollte und der Wolf echt ist …« Grimmig blickte der Zwerg in Richtung des Waldes.
Die Feldwege waren menschenleer und die Dämmerung hatte eingesetzt. Endlich war es nicht mehr so heiß wie am Tag. In der Abendsonne schimmerten die Äcker und die Felder golden. Bald würde die Erntezeit beginnen und die Leute würden sich auf den Winter vorbereiten. Grillen zirpten und der Geruch von trocknendem Gras hing in der Luft. Eine Schar Tauben begleitete die Jägerin in Richtung Wald. Bevor Rani aufgebrochen war, hatte sie noch im See gebadet und sich anschließend mit Blütenblättern eingerieben. Vielleicht mag Fenrir den Duft von Blüten, überlegte sie. Als sie schließlich den Waldrand erreichte, stieg ihr der Geruch vergossenem Blutes in die Nase. Er musste in der Nähe sein und gerade gejagt haben.
»Fenrir, bist du da?«, rief sie in den dunkler werdenden Wald hinein. Ein tiefes Knurren war die Antwort. Plötzlich regte sich etwas in den Büschen. Es raschelte laut. Voller Unbehagen nahm Rani den Bogen vom Rücken und zog einen Pfeil aus dem Köcher, der an ihrer Hüfte hing. Schon früh hatte die junge Frau lernen müssen, niemals unbewaffnet außerhalb des Dorfes unterwegs zu sein. Ihre Mutter hatte immer gewollt, dass Rani als Bäuerin aufwuchs, doch mit viel Mühe hatte sie sich deren Fängen entzogen und war zur starken Jägerin herangewachsen. Bis heute hatte sie ihre Entscheidung nicht bereut. Nur aufgrund ihres Eigenwillens hatte sie den Monsterwolf kennenlernen dürfen, und dieser Umstand freute sie ungemein.
Und dann eine Bewegung! Doch das Wesen, das in diesem Moment aus dem Busch sprang, war zu klein, also schoss sie blitzschnell den Pfeil ab und tötete es. Als sie genauer hinsah, ließ das Pochen in ihrer Brust nach. Es war nur ein Hase. Diesen konnte sie mitnehmen und Fenrir als Geschenk anbieten. So als kleinen Bissen für zwischendurch, dachte sie gut gelaunt. Doch die fortschreitende Dämmerung bereitete der Jägerin Unbehagen. Während ihrer Ausbildung hatte sie sich an die Dunkelheit der Nacht gewöhnt, doch seit sie wusste, dass in ihrer Welt Götter umherwanderten, war alles anders? Gerade bei dem Gedanken an Fenrir wurde ihre uralte Angst vor der Finsternis wieder geweckt. Irgendwas anderes lauert doch da in den Schatten! Der Gott ist es nicht, das spüre ich irgendwie! Doch was mag das sein? Die Gedanken der Jägerin wirbelten für einen Moment. Sie wusste instinktiv, dass diese Angst vor Dunkelheit nicht normal war.
Sie zog den Pfeil aus dem toten Leib und wischte die Spitze am auf dem Boden liegenden Laub ab. Im nächsten Moment war da wieder ein Rascheln, doch dieses Mal erzitterten die Büsche regelrecht und Rani hörte die Äste knacken, als sich etwas Großes näherte. Die Sonne schickte gerade ihre letzten Strahlen über das Land.
»Was willst du hier, Rani?«, fragte eine tiefe, aber mächtige Stimme.
»Ich habe dir einen Hasen mitgebracht.« Rani versuchte sich an einem Lächeln, doch sie brachte es nicht zustande, weil ihr die plötzliche Stille, gepaart mit der Dunkelheit, Angst einjagte. Furcht kroch ihr in die Knochen.
»Hast du etwa Angst?«, spottete die Stimme.
»N-Nein, habe ich nicht«, antwortete sie zaghaft und ein tiefes Grollen durchzog den Wald. Zwischen den Bäumen erschien ein großer weißer Wolf mit blutverschmierter Schnauze. Fenrir sieht müde aus, bemerkte Rani besorgt.
In mir brodelte die Wut.
»Nun sag schon, was du hier willst!«, forderte ich meine Besucherin zum zweiten Mal auf. Wirklich froh, dieses Weibchen zu sehen, war ich nicht. Wenn die Kreatur lediglich gekommen war, um mich zu sehen, konnte es passieren, dass ich sie umbrachte.
»Ich möchte mit dir reden«, antwortete sie gefasst. Meinen Unmut nahm sie nicht wahr. Diese Ruhe in ihrer Tonlage gefiel mir nicht. Das war nicht dieses Kuschelgehabe, das ich bereits von ihr kannte.
»Dann lass uns gehen. Du riechst jetzt anders.« Das Menschenweib hatte sich sauber gemacht. Also war die Hoffnung auf Intelligenz doch noch nicht ganz verloren.
»Bei dir klingt das so beiläufig«, sagte Rani verstimmt. »Aber gut, dass du es gemerkt hast.«
Hatte ich irgendetwas falsch gemacht? Nein, eigentlich nicht, dachte ich im Stillen. Dieses Weib hatte keinen Grund, verärgert zu sein.
»Worüber willst du reden?« Ich bahnte uns einen Weg durch den dichten Wald.
»Ich hatte heute beim Dorffest ein komisches Gefühl«, erzählte Rani schaudernd. »Als würde etwas Böses auf mich lauern.«
»Ist dir kalt?«, fragte ich. Zwar war die Sonne bereits untergegangen, doch noch immer lag die Wärme des Tages in der Luft. Es konnte gar nicht so kalt sein, dass man frieren musste.
»Dir etwa nicht, Fenrir?«
»Nein, mir ist angenehm warm.«
Wir erreichten die Lichtung, auf der wir heute Morgen schon gewesen waren, und ich legte mich wieder hin. Der Boden war noch immer blutverschmiert und es stank nach Verwesung. Allerdings vertrieb der Geruch lästige Gesellen, die sich neuerdings wieder in meinem Wald aufhielten, dabei aber nie näher als dreihundert Schritt an mich herankamen.
»Setz dich zu mir«, sagte ich, »dann wird dir schnell wieder warm.« Was beim haarigen Arsch Thors redete ich da? Ich sollte Wut in mir spüren und Hass, doch in diesem Moment war beides nicht existent …
»Äh, danke … Aber ist das denn in Ordnung? Du bist ein Gott …« Natürlich zögerte das Weibchen.
»Das habe ich mich auch gerade gefragt, doch ich finde es in Ordnung. Und jetzt gib mir den Hasen!«, forderte ich sie auf. In diesem Moment wusste ich nicht, was mit mir los war.
»Hast du etwa noch Hunger?«, fragte sie.
»Ja, ein Häppchen kann ich noch vertragen. Also reden wir.«
Sie nickte. »Ich erzählte dir ja gerade, dass ich heute während unseres Dorffestes ein ungutes Gefühl hatte.«
»Stimmt. Das hast du erwähnt.«
»Irgendwas an dem Ritual unserer Schamanen war seltsam …« Während sie grübelte, schmiegte sie sich an mich und kuschelte sich in mein Fell. Erst wollte ich wegrücken, doch dann beließ ich es dabei.