Wolfsnächte - William Giraldi - E-Book

Wolfsnächte E-Book

William Giraldi

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Beschreibung

Es herrscht bittere Kälte in Keelut, Alaska. Doch ist das der einzige Grund, warum Wölfe plötzlich Kinder anfallen? Wolf-Forscher Russel Core soll das herausfinden und stößt auf einen unerklärlichen Mord. Ein rasanter Thriller, der von einer faszinierenden Landschaft,, einer dunklen Liebesgeschichte und einem geheimnisvollen Fluch erzählt.

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William Giraldi

Wolfsnächte

Thriller

Aus dem amerikanischen Englisch von Nicolai von Schweder-Schreiner

Hoffmann und Campe

Für Aiden Xavier,

möge das Dunkle in dir nie zum Ausbruch kommen.

Ach, unbelehrbar, willst du dich der schlimmsten, höchsten Wahrheit stellen.

Gerard Manley Hopkins

Wir fürchten die Kälte und das, was wir nicht verstehen.

Doch am meisten fürchten wir das Tun der Achtlosen unter uns.

Eskimo-Schamane zu

Polarforscher Knud Rasmussen

1

Die Wölfe kamen aus den Hügeln und holten die Kinder von Keelut. Zuerst verschwand ein Junge, der seinen Schlitten am Dorfrand entlangzog, in der Woche darauf ein Mädchen, als es um die Hütten am zugefrorenen Teich lief. Jetzt, in den Schneewirbeln des neuen Winters, wurde ein drittes Kind aus ihrem Dorf weggeholt, diesmal vor der eigenen Haustür. Lautlos – kein Schrei, kein Geheul, kein einziger Hinweis.

Die Frauen waren außer sich, die, die ihre Kinder verloren hatten, untröstlich. Eines Nachmittags kam die Polizei aus der Stadt. Sie kritzelten Sätze in ihre Notizblöcke. Sie wirkten hilfsbereit, ließen sich danach aber nie wieder blicken. Frauen und Männer patrouillierten mit Gewehren in den Hügeln und um das Dorf. Selbst die Alten bewaffneten sich mit Pistolen und begleiteten die Kinder von der Schule und der Kirche nach Hause. Aber niemand schickte einen Trupp los, um die Wölfe zu jagen.

Der sechsjährige Sohn von Medora Slone war das dritte Opfer. Sie erzählte den anderen Dorfbewohnern, wie sie die ganze Nacht durch Hügel und Tal gezogen war, bis in die Morgenröte hinein, das Gewehr auf dem Rücken, ein langes Messer ans Bein geschnallt. Ihre Rache sollte nach Metall schmecken. Die Spuren der Wölfe zerstreuten sich, wurden schwächer und verschwanden schließlich in den Flocken, die wie Federn vom Himmel fielen. Mehrmals versank sie bis zu den Knien im Schnee und stellte sich vor, wie ihre Tränen zu Eiskügelchen wurden, die klirrend auf den Raureif und die Felsen schlugen.

In ihrem Brief an Russell Core, drei Tage, nachdem ihr Junge verschwunden war, schrieb sie, sie habe nicht erwartet, ihn lebend zu finden. Eine Blutspur hatte von der Veranda hinter ihrem Haus durch den spärlichen Wald hoch in die Hügel geführt. Aber sie brauchte seine Leiche oder was davon übrig sein mochte, und wenn es nur die Knochen waren. Deshalb schreibe sie Russell, sagte sie. Sie wollte, dass er ihr die Knochen ihres Jungen brachte und vielleicht auch den Wolf tötete, der ihn geholt hatte. Keiner aus dem Dorf würde Jagd auf die Wölfe machen.

»Mein Mann kommt bald aus dem Krieg zurück«, schrieb sie in ihrem Brief. »Ich brauche etwas, das ich ihm zeigen kann. Ich muss Baileys Knochen haben. Ich kann nicht mit leeren Händen dastehen.«

Core war kein Mann, der sich leicht fürchtete. Er hatte als Naturschriftsteller angefangen und war auf der Suche nach einem Projekt in den Norden gegangen, wo ihn im Herbst die Wölfe fanden und ihn eine Woche lang in seinem Zelt und beim Fischen beobachteten. Sie folgten ihm den Fluss entlang und schienen irgendetwas von ihm zu wollen, allerdings nicht seinen Tod, das wusste er. Er glaubte, dass sie eine wahre Geschichte wollten, eine, die nicht von Angst bestimmt war, keinen Mythos. Im Winter darauf reiste er nach Yellowstone. Sein zweites Buch schilderte jenes Jahr, das er unter Wölfen verbracht hatte – eine Geschichte aus ferner Jugend, so lange her, dass Core sie kaum glauben konnte.

Als Nachwort fügte er einen Essay über den einzigen von dort überlieferten Angriff eines Wolfs auf einen Menschen hinzu. Eine Wölfin war auf einen Campingplatz geschlichen und hatte ein Kleinkind geholt, während die Eltern ihren Champagnerrausch ausschliefen. Er erklärte den Vorfall mit Futtermangel, mit wegen des späten Winters abgewanderten Rentierherden und dem achtlosen Eindringen der Menschen in das Terrain der Wölfe: Straßen, Campingplätze, schlecht geölte Motoren, alles ein Affront gegen die einstige Majestät dieser Tiere. Selbst seine Anwesenheit dort war eine Demütigung. Das spürte er täglich. Der Tod des Mädchens war kein Mysterium, kein Mythos. Er war elementar. Hunger.

Man bat ihn um Hilfe an diesem beißend kalten Morgen, ihn, den Naturschriftsteller, der im Zelt inmitten der Sippe des Mörders gelebt hatte. Er konnte nicht nein sagen. Seine Tochter war genauso alt wie das Mädchen, und schon seine Liebe zu ihr fühlte sich an wie ein Verlust. Die Schuld eines Vaters, den die Arbeit von zu Hause wegführt. Zusammen mit den anderen, den Rangern, den Biologen, den Männern in Tarnkleidung, verfolgte er die Wölfin in einem Umkreis von dreißig Quadratkilometern über die Berge im Norden und durch das Lamar Valley. Er fuhr in einem geliehenen Geländewagen und stand in Funkkontakt mit den verhassten Scharfschützen in den Helikoptern. Damit sie ihm nicht in die Quere kamen, schickte er ihnen absichtlich falsche Informationen. Als er die Grenze nach Montana überquerte, fand er sie, krank und allein, und erschoss sie aus vierzig Metern Entfernung auf einer Rinderfarm. Bei dem Gewehr, das man ihm gegeben hatte, spürte man keinen Rückstoß – es war ganz anders als die Waffen, mit denen er als Kind geschossen hatte, in den Bergen mit seinem Vater, als der noch lebte.

An jenem Morgen fand Core seine eigene, bodennahe Kugel respektvoller als die der Ranger, die sich als Götter aufspielten. Durch das Zielfernrohr sah er die weiße Wolfsschnauze, noch rosa gesprenkelt von den Eingeweiden des Kindes. Fetzen von einem gelben Schlafanzug klebten am dunkelroten Blut über den Lefzen. Ihre Augen waren golden. Nicht das glühende Rot oder Grün von Bilderbuch-Horrorwölfen, sondern ein mattes, seltsam würdevolles, menschliches Gold.

Man sieht sich erst ganz, dachte Core, wenn man sich im Auge eines wilden Tieres spiegelt. In dieser Prüfung zeigte sich die Würde eines Menschen, und er hatte versagt.

Die Augen eines Wolfes lassen sich nicht täuschen. Sie sehen alles. Auf diese Weise lernte er sie kennen. Er verschwand direkt, nachdem er sie getötet hatte. Das war sein Buch. Es begann als Hommage und endete im Gemetzel. Ein ganzes Jahr lang hatte er die Wölfin beobachtet. Und sie nach seiner Tochter benannt.

Die Gerichtsmediziner entdeckten einen Großteil des Mädchens zermanscht in ihrem Verdauungstrakt. »Einen verdammten Mörder« nannten die Eltern des Mädchens den Wolf, der sie geholt hatte. »Dieser verdammte Teufel.« Aber Core dachte anders. Räuber, Plünderer, nächtlicher Dieb – sie war nicht dort eingedrungen, weil sie es wollte, sondern weil sie keine Wahl hatte. Wer war hier schuldig? Am liebsten hätte er den Eltern die Meinung gesagt, ihnen ein Bußgeld aufgedrückt, weil sie mutwillig in einem gesperrten Tal gecampt und ihren Plastikmüll neben dem Zelt abgeladen hatten, aber er konnte es nicht.

Die nächsten zehn Jahre musste er dann mit ansehen, wie die Wölfe fast ausgerottet wurden. Von irgendwelchen Feiglingen, die aus dem Hubschrauber auf sie schossen. Er zuckte jedes Mal zusammen, wenn er daran dachte, wie er auf das Weibchen mit den Kleiderfasern in den Mundwinkeln gezielt und abgedrückt hatte. Inzwischen arbeitete er für das Auswilderungsprogramm im Nationalpark, schrieb Zeitungsartikel über die menschliche Hybris, sprach auf Symposien, wo in Khaki gekleidete Alumni wohlwollend nickten, ihn baten, sein Buch zu signieren, und gleich darauf alles vergessen hatten.

In ihrem Brief schrieb Medora Slone: »Sie empfinden Mitleid für dieses Tier. Bitte tun Sie das nicht. Helfen Sie mir und töten Sie es. Die Knochen meines Sohnes liegen irgendwo im Schnee.«

Er hatte ihren Brief zusammengefaltet in seiner Jeansjacke stecken, als er im Pflegeheim ankam, einem ausladenden einstöckigen Gebäude, das früher eine Grundschule gewesen war. Die Klassenräume hatte man zu Schlafräumen umfunktioniert, aber die Flure sahen noch aus wie früher. Eine Reihe von Schließfächern an einem Ende, und die tellergroßen roten Feuermelder, die er noch aus seiner Jugend kannte. Die Frau, mit der er fünfunddreißig Jahre verheiratet war, lag dort, wo sie seit dreizehn Monaten lag, nur teilweise bei Verstand, nachdem ein Schlaganfall ihren Kopf in zwei Teile gespalten hatte. Diese Frau brauchte eine Kraft, die kein Mann und kein Gott ihr geben konnten.

Er ging zum Waschbecken und trank etwas Wasser. Im Spiegel sah er seine weiße Mähne unter dem Baseballcap hervorquellen und auf die Schultern fallen, sah die weiße Krause an seinen Wangen sprießen und das länglich wirkende Kinn. Er hatte keine Ahnung, wann er so gealtert war, seit wann er aussah wie ein Wolf. Vielleicht seit dreizehn Monaten. Zweimal am Tag Mikrowellengerichte. Der unruhige Schlaf der Leidenden, all die Stunden der Stille, die er gezählt hatte. Der Wind war im Winter fast ein angenehmer Gast mit seinem Geheul. Die tägliche Langeweile verwandelte sich in Verzweiflung und dann wieder zurück. Sechzig Jahre alt war er dieses Jahr geworden und sah aus wie achtzig. Brachte nicht mal den Willen auf, zum Friseur zu gehen.

Wie viele Bilder sollte er noch malen von dem Wolf, den er erlegt hatte? Die Wände in seiner Bibliothek waren voll damit. Und immer dieselbe Wölfin. Auf jedem Bild hingen ihr die gelben Fasern um das blutige Maul. Er konnte sie nicht wieder lebendig malen. Er konnte sich sein eigenes Leben nicht wieder zurückholen.

Tausende Titel standen in seiner Bibliothek, alle im Laufe seines Lebens zusammengesammelt und gelesen. Jeden Morgen ging er hin, berührte sie, blätterte in ihnen und roch die Gedichte auf dem Papier. Nur lesen musste er sie nicht mehr. Ein beliebiger Vers oder Absatz, mehr schaffte er nicht. Der Schreibtisch aus Kiefernholz, an dem er seine Bücher schrieb, hatte einmal seinem Vater gehört. Der kastanienbraune Ledersessel war ein Geschenk seiner Frau, nachdem sie geheiratet hatten. Im Entree ihres Hauses wachte ein verstaubtes Kruzifix über Galoschen und Handschuhe, ihr Parka und Schal hingen noch dort, wo sie sie letzten Winter hingehängt hatte. Auf der WILLKOMMEN-Matte war nur noch das KOMMEN zu lesen. Sein früher so ordentliches Atelier auf dem Dachboden war jetzt ein Chaos aus Leinwänden und Farbtuben, aus Pinseln, Staffeleien und Abdeckplanen. Die Waschmaschine war letzten Winter kaputtgegangen, und er hatte sich nicht mehr darum gekümmert.

Durch die Baumwolldecke tastete er nach dem Fuß seiner Frau und umfasste ihn zum Abschied mit einer unsicheren Geste. Er dachte an seine Tochter, die ihm fremd geworden war und weit weg in Anchorage lebte, als Geschichtsprofessorin am College. Daran, was sie sagen würde, wenn sie ihn sähe, wenn er plötzlich ungebeten bei ihr auftauchte. Er nahm seine Tasche und ging. Auf dem Flur wünschte ihm eine Pflegerin im roten Pullover frohe Weihnachten und gab ihm eine Zuckerstange, die in der Krümmung gebrochen war. Core sah auf seine Uhr: Weihnachten war erst in drei Wochen. Er hatte Thanksgiving vergessen. Auf dem Parkplatz vom Pflegeheim, in der kargen Sonne, stand im Leerlauf dasselbe weiße Taxi, das ihn hergebracht hatte.

Vor der Wüstenstadt wirbelte ein heftiger Wind Sand auf. Dunkle senfgelbe Böen zogen vor der Sonne vorbei wie Wolken ausschwärmender Insekten. Sie verfolgten einen mit Männern beladenen rostroten Pick-up, ihr Wagen zog bräunliche Staubwolken hinter sich her. Vernon Slone lehnte an seinem Maschinengewehr und hörte den Sand gegen seine Atemschutzmaske schlagen. Es war schon spät, und das Thermometer zeigte immer noch 38 Grad.

Zu Hause schneite es bestimmt – vom Winter würde er diesmal nichts mitbekommen. Die Stadt hinter ihm lag in Schutt und Asche. Wenn er sich umdrehte, konnte er den Rauch und die Flammen sehen, ein einziges Gomorrha, das sie angerichtet hatten. Vor ihm war nur Sand und Staub, den der Truck fünfzig Meter vor ihnen aufwirbelte. Niemand schoss mehr. Niemand sah irgendwas. Alle paar Sekunden entdeckte Slone zwischen den Sandböen die Heckklappe.

Kurz darauf sah er, wie der Wagen in eine tiefe Rinne geriet und sich im Sandsturm fast lautlos viermal überschlug. Auf ähnliche Weise hatte er Pick-ups und Motorschlitten im aufgeschütteten Schnee umkippen sehen: ohne einen Laut. Die Männer – zu welchem Lager gehörten sie? Aus welcher Gegend stammten sie? – flogen wie Laubsäcke von der Ladefläche. Der Truck rutschte weg und krachte auf sie drauf. Ein paar kamen hinkend hinter dem zerknitterten Wrack hervor und schossen auf Slones Wagen. Das Blei schlug gegen die Panzerung.

Als er zurückfeuerte, rissen die .50er Patronen ihnen die Glieder weg oder hinterließen pflaumengroße dunkelblaue Löcher. Einige von ihnen lagen im benzingetränkten Sand, die anderen saßen noch in das plattgedrückte Führerhaus gezwängt. Ihr Blut spritzte in orangeroten Fetzen in den Wind. Seltsam, wie orange, wie leuchtendes Blut mittags im gleichmäßig matten Wüstenlicht aussieht.

Der Truck fing Feuer, explodierte aber nicht. Sie ließen ihn fünfzehn, zwanzig Minuten lang brennen, bevor sie mit Feuerlöschern anrückten.

Der Junge im Wagen war in Baileys Alter. Die unverbrannte Gesichtshaut glänzte karamellfarben. Ohne Hemd, ohne Schuhe, die Füße so versengt, dass sie geschmolzen wirkten – wie aus Kerzenwachs. Steinsplitter hatten sich in Hals und Kinn gebohrt, die Halsader war ungleichmäßig von Glas aufgeschlitzt, darunter war er bis zu den Knien in ein Kleid aus Blut gehüllt. Slone sah seinem Nebenmann in die wässrigen grauen Augen – ein Mann, dessen einfacher Name, Phil, nicht zu der Finsternis passte, die in ihm schlummerte.

Wer erteilt hier die Befehle? Was für ein schmutziges Spiel wird hier gespielt? Rauchend saßen sie auf ihrem Wagen. Slone sah zu, wie die anderen Taschen und Rucksäcke durchsuchten. Ein paar schossen Fotos vom Wrack, zeigten sie sich gegenseitig und lachten. Phil bückte sich, um den Toten Augen und Zungen rauszuschneiden – als Souvenir.

Core kam in der frühen Dämmerung in Alaska an. Er hatte im Flieger geschlafen, war tief in Träume versunken, in denen er verschwommen die Gesichter seiner Frau und Tochter erkannte, und dann, schemenhaft, von noch jemandem, seiner Mutter, wie er vermutete. Am Flughafen fragte er einen Mann nach dem Weg zur Autovermietung, und der zeigte auf das Schild direkt vor ihnen, auf dem der Firmenname in einem gelben Pfeil leuchtete. In einem Laden grinsten ihm von den Magazinen im Zeitschriftenregal geschminkte Gesichter entgegen, aber er kannte ihre Namen nicht. Die Lokalzeitungen schrieben übers Wetter. Er kaufte einen Schokoriegel.

Für die hundertfünfzig Kilometer ins Landesinnere nach Keelut mietete er einen Pick-up mit Allradantrieb. An der Windschutzscheibe klebte ein Navi, aber so was hatte er noch nie benutzt, außerdem erklärte ihm der Mensch von der Autovermietung, da, wo er hinwolle, komme man mit dem Navi nicht weit. Er gab ihm eine Straßenkarte mit, »eine, die relativ genau ist«, wie er sagte, und zeichnete ihm mit rotem Edding die Route vom Flughafen nach Keelut ein. Core verfuhr sich bei der ersten Gelegenheit und landete mitten im Zentrum. Der Ort kam ihm seltsam vor. Bungalows kauerten neben Hochhäusern, Wasserflugzeuge parkten in Auffahrten, Holzstapel lagen vor einem Computerladen. Verdreckte Landstreicher trabten mit Rucksäcken durch die Gegend, daneben gepflegte Anzugträger am Handy.

Schließlich fand er die richtige Straße, die Stadt schrumpfte im Rückspiegel, die Dezember-Landschaft unsichtbar hinter den grün leuchtenden Armaturen. Am Straßenrand sah er alten und neuen Schnee zu halbrundem Bollwerk aufgepflügt. Die rotweißen stecknadelgroßen Lichter über ihm waren entweder Flugzeuge oder Raumschiffe. Es hätte ihn nicht gewundert, einem scheibenförmigen Luftschiff zu begegnen, aus dem metallene Trolle von einem fernen Planeten stiegen und ihm Fragen stellten, die er nicht beantworten konnte. Eine halbe Stunde vorsichtigen Fahrens, während die Scheinwerfer zwei kegelförmige Bahnen Schnee aus der Dunkelheit schnitten. Was sollte er Medora Slone über den Wolf erzählen, der ihr Kind geholt hatte? Dass Hunger kein Mysterium ist? Dass die natürliche Ordnung keine Rache rechtfertigte?

Er hatte seine Tochter in den letzten drei Jahren nur ein Mal gesehen, als sie am Morgen nach dem Schlaganfall ihrer Mutter nach Hause kam. Drei langsam dahinkriechende Jahre. Das Leben war nicht kurz, wie die Leute immer behaupteten. Bevor sie geboren wurde, hatte er den Zigaretten und dem Whiskey abgeschworen. Er wollte gesund für sie sein, und damals dachte er, dass die zehn Jahre, die ihn Alkohol und Tabak kosten würden, zehn Jahre zu viel waren. Jetzt wusste er, dass diese Zeit es nicht wert war – die silberne Dekade, wenn die ehemals weite Welt auf ein Schlüsselloch zusammenschrumpft. Nicht alles, was Silber ist, glänzt. Seit heute Morgen überlegte er, wieder anzufangen, sowohl mit den Zigaretten als auch mit dem Whiskey. Er bereute, dass er sich auf dem Flughafen nicht mit beidem eingedeckt hatte.

Highways wurden zu Straßen, dann zu Feldwegen, Städte gingen in Wildnis über, und die Lichter wurden immer weniger. Eine verlorene Stunde in die falsche Richtung, in einen finsteren Wald hinein, der ihn zu verschlingen drohte. Dann ein Trucker an einer Tankstelle, der ihm eine bessere Karte gab und ihm den Weg zeigte, obwohl er sich nicht ganz sicher war. Über dem Auge hatte er einen schwarzen Adler tätowiert. »Mir geht es vor allem darum, dass die Straßen befahrbar sind«, sagte Core, und der Trucker antwortete: »Straßen? Hier gibt es keine Straßen.« Als er lachte, sah Core nur drei Zähne unter dem wild wuchernden Bart. Er wusste nicht, was er meinte. Dann hörte es auf zu schneien, und er fuhr weiter.

Stunden später kam Core an einen unbefestigten, unbeschilderten Pass. Es war der Pass nach Keelut. Hinter einer Rechtskurve ging es jetzt direkt neben der Straße bergauf, vorbei an einer verrotteten Hütte, die der Trucker ihm beschrieben hatte. Im Allrad-Modus holperte er den Pass entlang bis ins Dorf. Die Hütten waren klar in zwei Reihen unterteilt, er konnte sie zählen. Die meisten waren einstöckig und bestanden nur aus einem Raum. Die zweistöckigen hatten spitze Dächer, auf denen sich Antennen in die Kälte reckten. Dahinter zeichneten sich schützend oder auch bedrohlich die Hügel ab.

Er parkte und bahnte sich einen Weg durch die Schneewehen. Schlittenhunde lagen angeleint vor den Hütten, angeschirrte Huskys, die sich aneinanderschmiegten, weißgrau und zimtfarben im Mondlicht, der Schnee um sie flachgedrückt, darauf rosa Flecken und die Knochen vom Abendbrot. Sehnig, wie Wölfe, unbeeindruckt von der Kälte und auch ihm gegenüber gleichgültig. Auf einmal sah er im Dunkeln ein Mädchen. Er blieb kurz stehen, um sich zu vergewissern, dass sie echt war, dann fragte er sie nach den Slones. Sie hatte das herzförmige Gesicht der Yupik, hübsch, trotz seines abweisenden Ausdrucks. Nachdem sie auf eine Hütte gezeigt hatte, drehte sie sich um und lief in die Dunkelheit der verschneiten Fichten. Er sah sie zwischen den Zweigen verschwinden und fragte sich, wohin sie wohl abends bei dieser Kälte noch wollte. Warum hatte sie keine Angst, dass die Wölfe sie holten, so wie die anderen?

Der Schnee leuchtete im Mondlicht. Zu seiner Linken zeichnete sich vor dem fast neonblauen Himmel die Silhouette eines Totempfahls ab, der finster am Dorfrand wachte – sechs Meter hoch reichten die bunten Gesichter von Bären, Wölfen und menschenähnlichen, ihm unbekannten Wesen, ganz oben eine riesige Eule mit ausgebreiteten Flügeln und gewaltigem Schnabel. Er wandte sich wieder der Dorfmitte zu – weniger eine Straße als ein Pfad, der zwischen zwei Hüttenreihen durch den Schnee gepflügt worden war und zu einer Art Platz mit einem runden Steinbau führte, halb unter den Schneehügeln begraben. Rechts von ihm stand ein hölzerner Wasserturm mit einem Backsteinsockel, im Winter nutzlos. Dahinter im Schuppen ein grummelnder Generator, der das Dorf mit Strom versorgte. In den orange leuchtenden Fenstern erkannte er runde Gesichter, die ihn musterten. Die Luft war so kalt, dass er kaum atmen konnte.

An der Hütte der Slones prangte ein Rentiergeweih über der Tür – er war nicht sicher, ob zur Begrüßung oder zur Abschreckung.

Medora Slone hatte den Tee fertig, als er eintrat. Ihre weißblonde Jugendlichkeit überraschte ihn. Er hatte ein dunkles Trauergewand und zerzaustes schwarzes Haar erwartet. Ihr Gesicht passte nicht, es gehörte nicht hierher. Es war das blasse, von keinerlei Spuren gezeichnete Gesicht eines molligen, Softball spielenden Teenagers, nicht das einer Frau, deren Junge gestorben und deren Mann im Krieg war. Auch ihre Augen waren blass. In einem bestimmten Lichtwinkel schimmerten sie maisgelb, fast golden.

Ihre Hütte am Rand des Dorfes war komfortabler als die meisten. Zwei Zimmer, die Spalten zwischen den Holzstämmen mit Moos abgedichtet. Eine halbe Küche in die Ecke gequetscht, ein Klafter Holz an der Hintertür, Granitkamin am einen Ende, Gussofen am anderen. Neben dem Ofen ein Eimer Feuerholz, an einem Nagel an der Wand ein Radio. Er konnte mit der Fingerspitze die Decke berühren. Räume mit niedrigen Decken waren leichter zu heizen. Die Fenster waren gegen die Kälte mit Plastikplane abgeklebt. Im Schirmständer stand ein Gewehr, in der Ecke die Luftpistole eines Kindes. Über dem Kamin hingen ein Bogen und ein Köcher Pfeile. Sein Buch über die Wölfe lag zwischen zwei Kissen auf dem Sofa, die Seiten zerknickt, der Umschlag zerrissen. Er fragte, ob er die Toilette benutzen dürfe, und sah dann absichtlich nicht in den Spiegel.

Sie setzten sich einander gegenüber – sie auf dem Sofa, dessen Polster praktisch nur noch aus Schaumstoff bestanden, er tief in einem Sessel versunken –, schlürften Tee und genossen erschöpft die Stille. Sie bot ihm etwas von dem Essen an, das die anderen ihr brachten, seitdem ihr Sohn verschwunden war – Rentiersuppe, Fladenbrot, Elchfleischeintopf, Weizen, Pfirsichkuchen. Aber er hatte keinen Appetit. Der Tee wärmte ihn von innen, wie ein Stück glühende Kohle oder ein brummender Bienenkorb. Er krempelte die Ärmel seines Flanellhemdes hoch. Auf der Armlehne waren die Ringe von einem Kaffeebecher zu sehen – wie das olympische Logo, nur schief und braun.

»Canis lupus«, sagte sie.

»Richtig, Ma’am.«

»Spitzenprädator.« Sie legte das Buch auf den Couchtisch zwischen ihnen. »Überlebender der Eiszeit aus dem späten Pleistozän. Was bedeutet das?«

»Das bedeutet, dass es sie schon lange gibt und dass sie bessere Jäger sind als wir.«

»Das scheint … Sie zu freuen.«

»Das mit Ihrem Sohn tut mir leid, Mrs. Slone.«

»Also werden Sie ihn töten, ja? Sie werden das Tier töten, das ihn geholt hat?«

Er sah sie an, antwortete aber nicht.

»Warum sind Sie dann hier? Ich war etwas überrascht, dass Sie überhaupt auf meinen Brief reagiert haben.«

Er dachte an die erdrückende Stille bei sich zu Hause.

»Ich bin gekommen, um zu helfen, wenn ich kann«, sagte er. »Um es zu erklären, wenn ich kann.«

»Die Erklärung lautet, dass wir verflucht sind. Wenn Sie helfen wollen, dann töten Sie ihn.«

»Wissen Sie, Ma’am, ich bin Autor.«

»Sie haben schon mal einen von denen gejagt und getötet. Das habe ich in Ihrem Buch gelesen.«

»Wo haben Sie das Buch gefunden?«

»Es hat mich gefunden. Ich weiß nicht, wie. Es war einfach eines Tages da.«

Sie ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen und versuchte, es zu erkennen und sich zu erinnern.

»Sie erwähnten, dass ich die Knochen des Jungen finden soll, aber … ich weiß nicht.«

»Ja«, sagte sie. »Ich dachte, sie tauchen auf, wenn es aufbricht.«

»Das Eis?«

»Na ja, im Frühling. Wenn es taut.«

Er sagte ihr nicht, dass das unmöglich war. Die gelben Schneestiefel des Jungen standen wie Wachposten auf der Matte neben der Tür, die gefütterte Jacke am Haken, aber nirgends ein gerahmtes Foto, auf dem er Core zahnlückig vom Kaminsims angrinste, keine Plastiklaster oder Spielzeugpistolen lagen auf dem Teppich. Ohne die Stiefel und die Jacke wäre die Frau hier vor ihm nur eine von vielen gewesen. Mit seinen sechzig Jahren war er halbwegs sicher, jede hörenswerte Geschichte schon einmal gehört zu haben. Morgens auf dem Flughafen hatte er am sonnendurchfluteten Fenster gesessen – ein grausamer Vorgeschmack auf den Frühling – und vergeblich versucht, sich an die Gesichter seiner Eltern zu erinnern.

»Ich hätte ihn selbst getötet«, sagte sie. »Wenn ich ihn gefunden hätte. Ich habe versucht, ihn zu finden. Ich hab es versucht.«

»Ihr Revier ist bis zu zweihundert Quadratkilometer groß. Gut, dass Sie ihn nicht gefunden haben. Das Rudel besteht wahrscheinlich aus acht bis zehn Tieren, maximal zwölf. Denen wollen Sie bestimmt nicht begegnen.«

»Kann ich Sie etwas Persönliches fragen, Mr. Core?«

Er nickte.

»Haben Sie Kinder?«

»Ja, eine Tochter, aber die ist erwachsen. Sie lebt in Anchorage und lehrt an der Uni. Ich werde von hier aus zu ihr fahren.«

»Sie unterrichtet also, wie ihr Vater.«

»Ich bin kein Lehrer. Vielleicht hätte ich einer werden können, aber … sie soll gut sein, habe ich gehört. Sie wollte unbedingt nach Alaska.«

»Das ist nicht Alaska. Hier, wo Sie jetzt sind, fängt Alaska an. Dahinter liegt das Landesinnere.«

Er sagte nichts.

»Mr. Core, haben Sie irgendeine Ahnung, was jenseits dieser Fenster liegt? Wie tief es da hineingeht? Wie dunkel es wird? Dass diese Dunkelheit in Sie dringt? Ich sag Ihnen was, Mr. Core, Sie sind hier nicht auf der Erde.« Sie blickte in ihren dampfenden Becher. »Niemand von uns ist das je gewesen.«

Er sah zu, wie sie einen Schluck nahm. »So ein Gefühl hatte ich auch schon an anderen Orten.«

»Anderen Orten. Das hier ist mit nichts vergleichbar, was Sie bisher erlebt haben.«

Er wartete auf eine Erklärung.

Sie gab ihm keine.

»Aber Sie leben hier«, sagte er schließlich.

»Ich bin eigentlich nicht von hier. Ich bin als Kind hergekommen, deswegen kann ich nicht behaupten, dass ich von hier stamme.«

»Hergekommen von wo?«

»Das weiß ich nicht mehr. Man hat es mir nie gesagt, und ich hab auch nie gefragt. Aber ich weiß, dass dieser Ort anders ist.«

Er stellte sie sich vor, wie sie nackt im Schnee stand, fast durchsichtig, dann schloss er kurz die Augen, und das Bild war weg. »Ja, Ma’am«, sagte er.

Ihr Blick schnellte erwartungsvoll durch den Raum. Sie nahm sein Buch vom Tisch und blätterte es durch. »Ich verstehe nicht, was sie hier wollen«, sagte sie.

»Wer?«

»Die Wölfe.«

»Sie sind seit einer halben Million Jahre hier, Mrs. Slone. Sie sind über die Beringstraße gekommen. Sie leben hier.«

Sie leben hier. Außerdem wusste Core, dass sie bis vor vierhundert Jahren mitgeholfen hatten, diesen Kontinent bewohnbar zu machen. Die Inuit lernten von den Wölfen, wie man Rentiere einkreist. Jäger, die einem anderen Jäger huldigten. Die Farmer dagegen wollten sie ausrotten. Sie zündeten lebende Wölfe an und sahen jubelnd zu, wie sie verbrannten. Wolf und Mensch sind sich so ähnlich, dass wir sie miteinander verwechseln. Lupus est homo homini. Dieses Land hat Gräuel begangen, die zu zählen kaum jemanden interessiert. Wolfsfluch. Aber wir sind der Schierling, der Fluch des Wolfes. Core sagte nichts.

»Ich verstehe nicht, was sie hier zu suchen haben.« Sie streckte kraftlos den Arm aus und zeigte auf eine Stelle auf dem Teppich, wo ihr Sohn wahrscheinlich ein Puzzle vom Sonnensystem zusammengesetzt oder ein Bild von genau dem Monster gezeichnet hatte, das ihn eines Tages holen würde, während seine Strichmänncheneltern hilflos zuschauten.

»Warum passiert mir das, Mr. Core? Was für ein Mythos wird hier wahr?«

»Das sind hungrige Wölfe, Mrs. Slone. Kein Mythos. Einfach nur Hunger. Niemand ist verflucht. Wölfe holen sich Kinder, wenn ihnen nichts anderes bleibt. Das ist Biologie. Das Gesetz der Natur.«

Eigentlich wollte er sagen: Alle Mythen sind wahr. Jeder einzelne ist die einzige Wahrheit, die wir haben.

Sie lachte und hielt sich die Hände vor das tränennasse Gesicht. Ihre Fingernägel waren abgekaut bis auf die Haut. Er wusste, dass sie über ihn lachte, darüber, dass das hier eine Nummer zu groß für ihn war.

»Tut mir leid«, sagte er und blickte auf seine Stiefel. »Ich kann es Ihnen nicht erklären, Mrs. Slone.«

Er wusste nicht, womit er sie hätte trösten sollen. Ihm wurde heiß im Gesicht. Er kam sich auf einmal so überflüssig vor.

Wieder Stille. Dann: »Weiß Ihr Mann Bescheid?«

Schon das Wort schien sie zu erschrecken, offenbar war sie nicht bereit, über ihren Mann zu sprechen.

»Die anderen wollten ihn anrufen, oder jemanden, der es ihm erzählt. Aber ich will es selbst tun, er soll es von mir erfahren. Hat er aber bisher nicht. Ich kann es ihm nicht sagen, solange er dort ist.« Sie machte eine Pause und betrachtete ihre abgekauten Fingernägel. »Er wird es erfahren, wenn er nach Hause kommt. Das, was wir getan haben. Was niemand hat stoppen können.«

»Sie sind hungrig und verzweifelt«, sagte er. »Sonst würden sie ihr Revier nicht verlassen. Wenn möglich, gehen sie den Menschen aus dem Weg. Solange wir sie in Ruhe lassen. Die Wölfe, die in dieses Dorf gekommen sind, müssen tollwütig gewesen sein. Nur ein tollwütiger oder ein hungernder Wolf tut so etwas.«

Er sah über ihre Schulter, suchte nach den Worten, aber er fand sie nicht. »Wahrscheinlich sind die Rentiere früh weggezogen«, sagte er. »Warum auch immer.«

Er hätte ihr noch mehr erzählen können. Dass die Wölfe sozial sehr hoch entwickelt waren und im Vergleich dazu so manche Stadt in Amerika alt aussah. Dass die ersten Stammesgesellschaften sich nicht von einem Wolfsrudel unterschieden. Dass ein gesunder Wolf einen jährlichen Fleischbedarf von bis zu zwei Tonnen haben kann, dass sie sich gegenseitig auffressen, wenn der Hunger zu groß wird. Er hatte das in freier Wildbahn gesehen. Ein sechsjähriger Junge wäre von einem ausgewachsenen Männchen zerfetzt worden wie ein Stück Papier. Es hätte ihm die Kehle durchgebissen und danach die Kleider aufgerissen, um an den Bauch zu kommen und mit der Schnauze unter die Rippen, wo die begehrten Organe lagen.

»Darf ich fragen«, sagte er, »warum niemand hier die Wölfe gejagt hat, nach dem, was passiert ist?«

»Sie haben Angst. Und die, die keine Angst haben, haben Respekt. Vor dem Tier. Wahrscheinlich denken sie, wir hätten es nicht anders verdient.«

»Ich verstehe nicht ganz, Mrs. Slone.«

»Bleiben Sie eine Weile hier, und Sie werden es verstehen. Noch etwas Tee?«

Er winkte dankend ab. Er hatte seinen Becher ausgetrunken und spürte erste Anzeichen von Müdigkeit auf seinen Schultern lasten. Irgendwo im Dorf bellten Schlittenhunde die Sternbilder am schwarzen Firmament an. Medora Slone und er sahen beide zum Fenster. Wo waren die Schlittenhunde, als die Wölfe kamen? Ihm fiel ein russisches Sprichwort ein: Ruf nicht die Hunde, wenn die Wölfe kommen.

Er erinnerte sich an eine Geschichte, bei der er nicht genau wusste, ob sie stimmte oder ob sie eine Parabel war, jedenfalls erzählte er sie ihr: »Im Winter während des Zweiten Weltkriegs herrschte in Russland Lebensmittelknappheit. Kein Fleisch, kein Getreide. Der Krieg dezimierte die Bevölkerung. Die Wölfe fielen über die Dörfer her und stürzten sich auf alles, was ihnen in die Quere kam. Wie eine feindliche Armee. In jenem Winter töteten sie Hunderte von Menschen, und nicht nur Frauen und Kinder. Verkrüppelte oder betrunkene alte Männer, die sich nicht wehren konnten. Sogar Hunde. Es war niemand mehr da, der die Wölfe hätte jagen können. Alle brauchbaren Männer waren im Krieg oder tot. Die Wölfe spürten das und hinterließen Orte des Grauens, fast so schlimm wie nach einem Bombenangriff. Die Ärzte behaupteten, die Tiere seien tollwütig, aber die Dorfbewohner glaubten, dass sie von rachsüchtigen Dämonen besessen waren. Sie hätten geheult wie verwundete Dämonen. Es war Rache, sagten die Alten. Rache für irgendetwas, vielleicht für die Vergangenheit, ich weiß es nicht.«

Sie starrte ihn an – sie verstand ihn nicht. Stattdessen sah sie gekränkt aus.

»Ich will damit sagen, dass Sie nicht allein sind.«

»Doch, das bin ich. Was geschehen ist, kann man nicht rückgängig machen, oder? Sehen Sie, wozu wir fähig sind, Mr. Core.« Sie streckte ihm ihre Handfläche hin. Er wusste nur nicht, warum, und hatte Angst zu fragen.

Sie ließ die Hand sinken und sagte: »Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wo sie die Kinder geholt haben. Sind das Ihre Stiefel?«

Er sah auf seine Füße runter. »Ja, das sind meine Stiefel.«

»Sie brauchen bessere.«

Schnee und Stille hatten das Dorf fest im Griff, über den Hügeln lag eine endlose Weite, eine rauschende Kälte, eigenwillig und undurchschaubar. In den Blockhäusern leuchteten orangegelbe Quadrate, Steintürme stießen Feuerrauch aus. Vor einer Hütte hingen an einem Haken zwei Silberlachse an einer Kette. Core sah umgekippte Hundeschlitten, Kanus und Aluminiumboote, freiliegende Holzstapel, Pick-ups mit Schneeketten. An manche Hütten grenzten die Sperrholzzwinger der Schlittenhunde. Unbeschriftete, rostfarbene Benzinfässer, die meisten oben aufgeschweißt. Schaufeln, Kettensägen und Motorschlitten, zerbeulte, kaputte Petroleumlampen. Benzinbetriebene Eisbohrer. Ein in blaue Plane gewickelter Motor auf Sägeböcken. Mehrere Fahrzeuge, die vom Schnee überrascht worden und stecken geblieben waren. Die Kirche ein unlackiertes Nurdachhaus neben der Schule. Und um sie herum überall Hügel, aus denen es heulte.

Er war bis tief ins Innere von Montana, Minnesota, Wyoming und Saskatchewan vorgedrungen, aber noch nie hatte er sich so seltsam oder fremd gefühlt wie an diesem Ort. Ein Hüttendorf am Rande der Wildnis, das sich ihr widersetzte und sie gleichzeitig willkommen hieß.

»Es ist wunderschön hier«, sagte er. Seine Worte klangen verhangen. Es war eine Lüge, und er wusste, dass sie es wusste.

Sie sah ihn an. »Sie verstehen das nicht.«

»Was verstehe ich nicht, Mrs. Slone?«

Sie verspannte sich weder angesichts der Kälte, noch schien sie im Gesicht oder an den Händen zu frieren.

»Das Wilde hier ist in uns«, sagte sie. »In allem.«

Sie deutete über die Hügel hinaus auf die unendliche Weite, die größere Dimensionen hatte, als sie beide sich vorstellen konnten.

»Sind Sie glücklich hier?«, fragte er.

»Glücklich? Die Frage stelle ich mir nicht. Ich sehe Bilder in Zeitschriften, Urlaubsbilder von Inseln, von grünem Wasser und Sand, Mädchen in Badeanzügen, und es erscheint mir alles so vollkommen fremd. Nicht weit von hier, etwa drei Stunden zu Fuß, liegt eine heiße Quelle, für mich ein besonderer Ort, versteckt am anderen Ende des Tals. Das ist meine einzige Berührung mit Wärme und Wasser.«

»Eine heiße Quelle klingt nicht schlecht.«