Wolves - Die Jagd beginnt - Daniel Cole - E-Book
SONDERANGEBOT

Wolves - Die Jagd beginnt E-Book

Daniel Cole

0,0
11,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 12,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der neue Thriller des Bestsellerautors Daniel Cole Ein toter Mann liegt in einem Zimmer, eine Pistole in der Hand. Tür und Fenster sind von innen verriegelt. Selbstmord, offensichtlich. Wäre der Tote nicht der ehemalige Polizist Finlay Shaw. Und wäre Finlay Shaw nicht der väterliche Freund von William "Wolf" Fawkes. Denn der will es einfach nicht glauben. Mit der Kraft des Verzweifelnden kämpft er gemeinsam mit Emily Baxter gegen das Offensichtliche. Erfolglos. Zunächst. Bis Wolf etwas entdeckt. Der Tod Finlays könnte mit einem spektakulären Drogenfund in Verbindung stehen, der ihn vor 37 Jahren zum Helden machte. Aber Helden sind entweder unsterblich oder werden ermordet. Und selten von einem Feind…

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 442

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Wolves - Die Jagd beginnt

Der Autor

Daniel Cole wurde 1983 geboren. Seine Romane erscheinen in 34 Ländern. Bevor er mit dem Schreiben begann, hat er als Sanitäter, Tierschützer und Seenotretter gearbeitet.Cole lebt im sonnigen Bournemouth in Südengland.

Das Buch

Ein toter Mann liegt in einem Zimmer, eine Pistole in der Hand. Tür und Fenster sind von innen verriegelt. Selbstmord, ganz eindeutig. Wäre der Tote nicht der ehemalige Detective Sergeant Finlay Shaw, Freund und Ziehvater von Detective William »Wolf« Fawkes. Denn Wolf will es einfach nicht glauben. Gemeinsam mit Emily Baxter kämpft er gegen das scheinbar Offensichtliche. Erfolglos, zunächst. Doch dann macht Wolf eine Entdeckung. Finlays Tod könnte mit einem spektakulären Drogenfall in Verbindung stehen, der vor Jahren aus dem einfachen Polizisten über Nacht einen Helden machte – und seinen Tod besiegelte?

Daniel Cole

Wolves - Die Jagd beginnt

Thriller

Aus dem Englischen von Conny Lösch

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Februar 2020© für die deutsche AusgabeUllstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020© 2019 by Daniel ColeTitel der englischen Originalausgabe: Endgame (Trapeze / Orion, London)Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®, MünchenE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-8437-2131-8

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.

Hinweis zu UrheberrechtenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Inhalt

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Epilog

Empfehlungen

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

Motto

»Halte mich nicht für einen Helden …

Ich würde das letzte lebendige Wesen auf Erden töten, um dich zu retten.«

Prolog

Montag, 4. Januar 201611:13 Uhr

»Es war einmal … nicht mehr.«

Die schneebedeckte Vorstadt zog an den schmutzigen Fenstern vorbei, schwaches Sonnenlicht wärmte den lederbezogenen Innenraum, während sie ihrem Ziel entgegenzuckelten.

»Aber Sie sind es doch, oder?«, bohrte der Mann am Steuer weiter nach. »Sie sind William Fawkes.«

»Einer muss es ja sein«, seufzte Wolf. Der Mann beobachtete ihn im Rückspiegel und richtete den Blick nur hin und wieder zurück auf die Straße. »Gleich hier links ist es.«

Das schwarze Taxi fuhr an den Straßenrand, kam vor einer Auffahrt zum Stehen, der Fahrer ließ den Motor stotternd weiterlaufen.

Wolf zahlte bar, auch wenn es darauf jetzt auch nicht mehr ankam, und stieg aus. Der Wagen fuhr mit Tempo an, noch bevor Wolf überhaupt die Tür hinter sich zuschlagen konnte, und bespritzte ihn mit eisigem Schneematsch, dann verschwand das Taxi um die nächste Ecke. Wolf bereute es bereits, dem aufdringlichen Spitzel ein Trinkgeld gegeben zu haben, und vermutete, dass es ohnehin zu optimistisch gedacht war, sich mit einem Bestechungsgeld in Höhe von einem Pfund vierunddreißig das Schweigen des Mannes für längere Zeit sichern zu wollen. Er wischte sich mit dem Ärmel des langen schwarzen Mantels, der einst Lethaniel Masse – dem Ragdoll Killer – gehört hatte, über die Hose – ein Souvenir aus einem vergangenen Leben, eine Art Trophäe, die ihn an all die Menschen erinnerte, für die er hätte da sein müssen.

Erfolgreich verschmierte er die nassen Spritzer zu noch auffälligeren schmutzigen Striemen und merkte, dass er noch immer beobachtet wurde. Obwohl er weit über zehn Kilo abgenommen und sich einen beeindruckend zotteligen Bart hatte stehen lassen, verrieten ihn seine stattliche Größe und seine strahlend blauen Augen, sobald jemand aufmerksam genug war und einen zweiten Blick riskierte. Auf der anderen Straßenseite stand eine Frau, starrte ihn an und machte sich dabei an einem Kinderwagen und einem vermutlich unter einem Berg Decken versteckten Baby zu schaffen. Sie zog ihr Handy heraus und hielt es sich ans Ohr.

Wolf rang sich ein trauriges Lächeln ab, dann wandte er sich um und trat durch das Gartentor. Ein ihm unbekannter Mercedes, nur zu erkennen an dem aus der Schneeschicht herausragenden Stern, parkte majestätisch und unbeachtet in der Auffahrt. Das vertraute Haus selbst war seit seinem letzten Besuch um ein Drittel gewachsen. Da die Haustür, wie er wusste, immer unverschlossen war, machte er sich nicht die Mühe anzuklopfen, sondern stampfte sich den Schnee von den Schuhen und trat ungebeten in das schwermütige Halbdunkel, das die Diele trotz des wolkenlosen Himmels draußen erfüllte.

»Maggie?«, rief Wolf, dessen Stimme schon brach, nur weil er sich wieder in dem Haus befand und gierig einen tiefen Atemzug aufgesogen hatte – die Luft hier roch nach alten Büchern, Blumenparfüm, gemahlenem Kaffee und hundert anderen Dingen, die unaufgefordert Erinnerungen an glücklichere Zeiten heraufbeschworen. Dies war der Ort, an dem er sich mehr zu Hause gefühlt hatte als an jedem anderen Ort der Welt, die einzige Konstante, auf die er sich seit seinem Umzug in die Hauptstadt hatte verlassen können. »Maggie?!«

Ein Knarzen im oberen Stockwerk durchbrach die Stille.

Auf dem Weg zur Treppe hörte er leichte Schritte über die Dielen huschen.

»Maggie?!«

Eine Tür ging auf. »Will …? Will!«

Kaum hatte Wolf die oberste Stufe erreicht, als Maggie auch schon so stürmisch die Arme um ihn warf, dass sie ihr Wiedersehen beinahe unten in der Diele hätten feiern müssen.

»Oh Gott! Du bist es wirklich!«

Sie umarmte ihn so fest, dass er kaum noch Luft bekam und nichts anderes tun konnte, als sie seinerseits zu drücken, während sie an seiner Brust weinte.

»Ich wusste, dass du kommen würdest«, schluchzte sie mit bebender Stimme. »Ich kann nicht glauben, dass er nicht mehr ist, Will. Was soll ich nur ohne ihn machen?«

Wolf löste sich aus der Umarmung, hielt Maggie auf Armeslänge Abstand, um mit ihr zu sprechen. Die sonst so makellose Frau war Mitte fünfzig, und aufgrund des verschmierten Make-ups und ihrer uneleganten schwarzen Kleidung sah man es ihr ausnahmsweise auch an. Ihre dunklen Locken, die sie sonst altmodisch hochsteckte, was aber natürlich längst wieder modern war, trug sie jetzt offen.

»Ich hab nicht viel Zeit. Wo … wo ist es passiert?«, fragte er und hatte schon mit der ersten der vielen unangenehmen Fragen, die er ihr stellen musste, große Mühe.

Mit zitternder Hand zeigte sie auf einen gesplitterten Türrahmen auf der Seite des Treppenabsatzes, die nicht mit einem Teppich bedeckt war. Er nickte und drückte ihr sanft einen Kuss auf die Stirn, dann betrat er den jüngsten Anbau an das Haus, während Maggie zurückblieb und an der Schwelle zu dem kargen Zimmer wartete. Wolf betrachtete stolz das letzte Projekt seines Freundes, das dieser entsprechend den strengen Maßstäben ausgeführt hatte, die er an alles legte, was seine Enkelkinder betraf. Es hätte ihr neues Zimmer werden sollen, wenn sie zu Besuch kamen, jetzt, da er pensioniert war und sie endlich mehr Zeit miteinander hätten verbringen können.

Mitten im Raum lag ein umgekippter Stuhl, darunter befand sich ein dunkelroter Fleck, der tief in die Bodendielen eingedrungen war.

Wolf hatte sich eingeredet, wenn er das Haus erst einmal betreten hatte, würde er ruhiger werden, unvoreingenommen und professionell mit der Situation umgehen, wie an jedem anderen Tatort auch …

Aber natürlich hatte er sich geirrt.

»Er hat dich geliebt, Will«, sagte Maggie von der Tür aus.

Wolf konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten, rieb sich die Augen, hörte jemanden draußen auf dem Kiesweg.

»Du musst gehen«, drängte Maggie ihn, ignorierte das höfliche Klopfen. »Will?«

Die Haustür knarrte, jemand trat ein, und Maggie eilte die Stufen hinunter, um ihn abzufangen. Ihre Gesichtszüge entspannten sich, als ihr ein blonder, rattengesichtiger Mann entgegenkam. »Jake!«, seufzte sie erleichtert. »Ich dachte schon, du bist … ach, egal.«

Wolf betrachtete die beiden misstrauisch, als sie sich wie alte Freunde umarmten.

»Hab dir ein paar Kleinigkeiten besorgt«, sagte der Mann zu Maggie und reichte ihr ein paar Einkaufstüten.

»Lässt du uns kurz allein?«, fragte er und machte dadurch den ersten Anschein zunichte, es handele sich lediglich um einen Freundschaftsbesuch.

»Mach ruhig, Maggie«, sagte Wolf.

Besorgt ging sie die Treppe hinunter, um die Einkäufe zu verstauen.

»Saunders«, begrüßte Wolf seinen ehemaligen Kollegen, als dieser in den Raum trat.

»Wolf. Lange nicht gesehen.«

»Na ja, hab ein bisschen Zeit für mich gebraucht«, erwiderte er, als draußen auf der Straße ein Wagen vorfuhr. »Wusste gar nicht, dass ihr beiden euch kennt.«

»Tun wir eigentlich auch nicht«, erwiderte Saunders schulterzuckend, hielt dabei trotz des sehr höflichen Gesprächs einen gewissen Sicherheitsabstand. »Jedenfalls haben wir’s nicht getan, bevor das alles … passiert ist.« Er seufzte schwer. »Tut mir aufrichtig leid, das mit Finlay. Ehrlich.«

Wolf nickte dankend und blickte erneut auf den Fleck am Boden.

»Was willst du hier?«, fragte Saunders geradeheraus.

»Ich musste es selbst sehen.«

»Was?«

Wolf senkte die Stimme in Rücksicht auf Maggie. »Den Ort des Verbrechens.«

»Verbrechen?« Saunders rieb sich müde das Gesicht. »Ich war selbst dabei, mein Freund. Er wurde allein gefunden … in einem verschlossenen Raum … die Waffe lag neben ihm.«

»Finlay würde sich nicht umbringen.«

Saunders schaute ihn mitleidig an. »Man steckt nie drin in einem Menschen.«

»Apropos, du warst ganz schön schnell hier.«

»Ich war schon unterwegs … als der Anruf kam.«

Als sie noch Kollegen waren, hatte Wolf nie viel für den vorlauten Detective Constable übriggehabt, aber allmählich sah er ihn in neuem Licht.

»Danke, dass du dich um sie kümmerst.«

»Nicht der Rede wert.«

»Und … wie viele seid ihr da draußen?« Wolf stellte ihm die Frage, als wollte er sich nach der Uhrzeit erkundigen. Die Atmosphäre im Raum schlug sofort um.

Saunders zögerte.

»Zwei vorne, zwei hinten. Einer bei Maggie im Haus, und wenn es gut läuft, noch einer etwas über einen Meter von uns entfernt, da, hinter der Wand.« Er drehte sich zum geöffneten Türeingang um. »Gib mal Laut!«

Von der Treppe her ertönte das Geräusch eines Ladestreifens, der in ein halb automatisches Gewehr geschoben wurde. Er lächelte entschuldigend und zog Handschellen aus der Tasche.

»Ich hab denen versprochen, dass du nicht abhaust. Bitte lass mich nicht wie einen Idioten dastehen.«

Wolf nickte und ließ sich langsam auf die Knie hinunter. Er hob die Arme, verschränkte die Finger hinter dem Kopf und starrte durch das verschneite Fenster – es musste das Letzte gewesen sein, was sein Mentor vor seinem Tod gesehen hatte.

»Tut mir leid, mein Freund«, sagte Saunders, trat einen Schritt vor und ließ die Handschellen um seine Gelenke zuschnappen. »Verdächtiger festgenommen!«

»Will?!« Maggie rief von der Küche herauf, als ihr Haus von bewaffneten Polizisten gestürmt wurde. Schwere Stiefel trampelten die Treppe hinauf, Maggie folgte ihnen.

»Könnt ihr was für mich tun?«, fragte Wolf, schaute von Saunders, der die üblichen Befehle bellte, zu Maggie, als der Letzte der Beamten durch die kaputte Tür stürmte. »Sagt ihr noch nicht, dass ich wieder da bin.«

»Aber Will …«, rief sie verzweifelt und außerstande, einen Fuß in den Raum zu setzen, in dem ihr Mann tot aufgefunden worden war.

»Schon in Ordnung, Maggie. Schon in Ordnung«, beruhigte er sie. »Ich laufe nicht mehr davon.«

Kapitel 1

Montag, 4. Januar 201611:46 Uhr

Der stumm gestellte Fernseher lenkte Thomas Alcock ab, als er sich gerade einen Tee kochen wollte.

»Scheiße!«, flüsterte er, verschüttete siedend heißes Wasser auf der Arbeitsfläche … das ihm zu allem Überfluss auch noch über die Hand lief. »Verkackte Pisswichse!« Er zuckte zusammen, unterdrückte den Schmerz, schüttelte ihn ab, ohne dabei den Blick vom Bildschirm zu nehmen.

Auf Sky News kreiste ein Helikopter über dem Schauplatz der Verwüstungen, die die Hauptstadt zwei Wochen zuvor heimgesucht hatten. Immer wenn er sich vor die Sonne schob, wanderte ein dunkler Schatten scheinbar schwerelos über die Trümmer am Boden. Mindestens zwei weitere kreisten wie Geier über einem frischen Kadaver. Anscheinend war das Flugverbot aufgehoben worden, das während der Feiertage für ungeahnten Kummer und Verkehrsbehinderungen gesorgt hatte, und nun durfte die Welt das Ausmaß der Zerstörung betrachten.

Die Katastrophe war gerade noch abgewendet worden, aber auch das hatte seinen Preis gehabt.

Auf die Explosion, die sich auf eine Reihe unterirdischer Toilettenräume am Ludgate Hill beschränkt hatte, war routine­mäßig die Evakuierung der umgebenden Gebäude gefolgt, damit die Statiker alles überprüfen konnten. Nachdem ein Tourist mit Adleraugen frische Risse an der Westfront der St Paul’s Cathedral entdeckt hatte, wurden eiligst Instandsetzungsarbeiten in Auftrag gegeben. Aber noch bevor das Gerüst aufgebaut werden konnte, stürzte schon der Nordturm ein. Dann waren im Verlauf von drei Tagen sämtliche Säulen des riesigen Eingangsportals wie dünne Beinchen unter einem massigen Körper eingeknickt – das Wahrzeichen der Stadt schien seinen Verletzungen zu erliegen.

Ein wahrhaft surrealer Anblick: ein fehlendes Puzzleteilchen.

Thomas brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass es sich bei dem bunt gescheckten Grenzwall, der das Gelände einhegte, tatsächlich um hoch aufgetürmte Blumen und Kränze handelte, die vor den Absperrungen abgelegt waren: Im Gedenken an jene, die es am Piccadilly Circus nicht mehr nach oben geschafft hatten, an Constable Kerry Coleman und alle, die ihr Leben auf dem Times Square ließen – eine rührende, bei Temperaturen unter null aber leider kurzlebige Geste.

Er trank seinen Tee.

Blinkende Lichter pulsierten irritierenderweise über die gelben Untertitel, als ihn das Gerippe des Weihnachtsbaums im Zimmer nebenan daran erinnerte, dass dieser immer noch dort stand. Auf den hoch aufgetürmten Geschenken darunter sammelten sich trockene Tannennadeln. Geistesabwesend streichelte Thomas Echo und kehrte zum wiederholten Male zu egoistischen Gedanken zurück: Wie dankbar er war, dass keiner seiner eigenen Freunde und Bekannten sich unter den Toten oder Verletzten befunden hatte. Wie glücklich er sich schätzen durfte, seine Freundin unversehrt wiederbekommen zu haben. Schändlicherweise und insgeheim hoffte er, die Schrecken der vergangenen Monate, die sich zu einem die nationale Sicherheit gefährdenden Drama zugespitzt und den vorzeitigen Tod eines guten Freundes seiner Freundin zur Folge gehabt hatten, hätten ihr vielleicht den entscheidenden Anstoß gegeben, all das hinter sich zu lassen und mit dem zufrieden zu sein, was sie hatte.

Baxters Handy brummte auf dem Küchentisch.

Thomas sprang quer durch den Raum, ging dran und flüsterte leicht genervt: »Das ist Emilys Handy … ich fürchte nicht. Sie schläft. Kann ich … Mittwoch … neun Uhr vormittags … ich sage ihr Bescheid. Okay. Wiedersehen.«

Er legte das Telefon auf die Ofenhandschuhe, falls es noch einmal brummen sollte.

»Wer war das?«, fragte Baxter vom Kücheneingang aus, erschreckte ihn.

Sie trug einen seiner ausgeleierten Pullis über ihrer karierten Schlafanzughose, die gemütliche Kleidung war eine willkommene Abwechslung zu dem, was die fünfunddreißigjährige Baxter als Detective Chief Inspector normalerweise tragen musste. Thomas wurde erneut schlecht, als er die Frau betrachtete, die er liebte, und sah, welchen Tribut ihr Beruf ihr abverlangte. Ihre Oberlippe hatte genäht werden müssen. Zwei ihrer Finger waren aneinandergeschient, ragten aus der Schlinge, mit der sie widerwillig ihren verletzten Ellbogen ruhigstellte, während ihr zerzaustes dunkelbraunes Haar die Kratzer und Narben größtenteils verbarg, die sich über ihr gesamtes Gesicht verteilten.

Er rang sich ein kaum überzeugendes Lächeln ab. »Willst du was frühstücken?«

»Nein.«

»Ein Omelett?«

»Nein. Wer war am Telefon?«, fragte sie erneut, wobei sie dem Blick ihres Freundes standhielt und zuversichtlich davon ausging, dass ihn selbst ein so geringfügiger Konflikt überforderte.

»Jemand von der Wache«, seufzte er, sauer auf sich selbst.

Sie wartete auf weitere Auskünfte.

»Ein Mike Atkins wollte dir mitteilen, dass du am Mittwochvormittag einen Termin mit ihm und dem FBI hast.«

»Ah«, erwiderte sie benommen, streichelte Kater Echo über den Kopf, als dieser über die Arbeitsfläche schlich, um alles Mögliche dort anzulecken.

Thomas ertrug es nicht, sie so zerbrechlich und angeschlagen zu sehen. Er ging zu ihr, wollte sie umarmen, war aber nicht sicher, ob sie überhaupt mitbekam, dass er sie in den Armen hielt, so kraftlos, wie sie dastand.

»Hat Maggie heute angerufen?«, fragte sie ihn.

Er ließ sie los. »Noch nicht.«

»Ich will nachher zu ihr.«

»Ich fahr dich hin«, bot Thomas an. »Ich kann im Wagen sitzen bleiben, oder ich hole mir einen Kaffee, solange du …«

»Mir geht’s gut«, beharrte sie.

Die knappe Erwiderung hob Thomas’ Laune. Irgendwo tief unter der lädierten Oberfläche war Baxters Tonfall schon wieder die alte Bissigkeit anzuhören.

Sie war noch da. Sie brauchte nur Zeit.

»Okay«, er nickte, lächelte freundlich.

»Ich werde …« Sie beendete den Gedanken, indem sie nach oben gestikulierte. »Aber mir geht’s gut«, nuschelte sie, als sie dicht gefolgt von Echo in die Diele ging. »Mir geht’s gut.«

Die Hecke hätte ausgesehen wie jede andere Hecke, wäre dahinter nicht ein greller orangefarbener Haarschopf auf- und wieder abgetaucht.

Alex Edmunds’ erster Auftrag als Privatermittler war eher unspektakulär und hatte ihn auf ein Brachgelände voller abgestellter Einkaufswagen gegenüber dem Sainsbury’s Supermarkt in seinem Viertel geführt. Trotzdem kehrte jetzt, wo er sein Zielsubjekt im Visier und sein Team sämtliche Ausgänge blockiert hatte, das alte Jagdfieber zurück.

Er rückte näher heran …

Sein Zielsubjekt sauste schneller als erwartet davon, floh direkt auf die Falle zu.

»PI2!«, brüllte er in sein Walkie-Talkie von Toys ›R‹ Us. »PI2, bereit machen zum Abfangen!«

»Muss das sein?«

»Bitte!«, schnaubte Edmunds und sah, wie sich alle Phasen wie bei einer durchgeprobten Choreografie nach Plan abspulten. Seine Verlobte tauchte aus dem Nichts auf, blockierte mit dem Kinderwagen den Weg.

Das Zielsubjekt machte abrupt halt, überlegte kurz und kletterte anschließend auf den wohl höchsten Baum von ganz London, trat dabei Schnee von den oberen Ästen und verschwand außer Reichweite.

»Mist!«, fluchte Edmunds, verzog das Gesicht, hielt sich die Hand vor Seitenstechen und starrte nach oben.

»PI1, Frettchen klettern auf Bäume«, teilte ihm Tia mit verzerrter Stimme über Funk mit, während sie bereits mit Leila angeschoben kam.

»Und jetzt?«, fragte sie, wofür sie kein Walkie-Talkie mehr brauchte.

»Das … das ist gar nicht so schlecht«, behauptete Edmunds zuversichtlich. »Es sitzt in der Falle.«

»Meinst du wirklich?«, fragte sie, zog die Katzentoilette hinten aus dem Kinderwagen und stellte sie auf den gefrorenen Boden.

»Gut, ich kletter da rauf«, sagte Edmunds entschlossen in der Erwartung, dass Tia protestieren würde.

Was sie nicht tat.

»Auf den ganz großen Baum da«, stellte er klar.

Sie nickte.

»Na gut«, nickte er zurück. »Haltet euch in sicherem Abstand, falls ich runterfalle … und sterbe.«

»Meinst du, zu Hause wären wir sicher genug?«, schlug Tia vor.

»Klar«, erwiderte er schulterzuckend, aber ein bisschen erstaunt, dass sie sich den ganzen Spaß entgehen lassen wollte. Er trat näher an den Baum und packte einen dicken Ast über seinem Kopf. »Aber das macht doch Spaß. Endlich unternehmen wir mal wieder mehr zusammen.«

Tia antwortete nicht.

»Ich hab gesagt …« Er versuchte es noch einmal, nachdem er am Stamm heruntergerutscht war. »Oh, du bist schon weg.«

Sie war bereits ein ganzes Stück den Uferweg entlang weitergegangen.

»Na ja, jedenfalls finde ich, dass es Spaß macht«, brummte Edmunds vor sich hin. »Okay, liebes Frettchen«, rief er ins Geäst hinauf. »Dein Terrorregime ist beendet!«

Wolf schnarchte laut.

Er war jetzt seit über drei Stunden in einem Raum der Hornsey Police Station eingesperrt und hatte zweieinhalb davon so erholsam geschlafen wie seit Wochen nicht. Als im Gang eine Tür zuschlug, schreckte er auf. Kurzzeitig verwirrt angesichts der unbehaglichen Umgebung, halfen ihm seine Handschellen, die gegen den Metallstuhl klapperten, sich an den ereignisreichen Vormittag zu erinnern. Leicht verärgert über den rücksichtslosen Türenknaller musste er nun dringend pinkeln und ging ein paar Minuten auf begrenztem Raum auf und ab, womit er gleichzeitig hoffte, seine linke Pobacke wiederzubeleben.

Als er gerade noch dabei war, den Krampf herauszumassieren, hörte er Absätze im Gang klappern. Die Tür wurde aufgeschlossen, und ein eleganter Mann Mitte fünfzig betrat den Raum, dessen maßgeschneiderter Anzug in krassem Kontrast zu den graubraunen Wänden stand.

»Hm?«, begrüßte Wolf den gut gekleideten Fremden. »Ich dachte, Sie wären eine Dame.«

Der grau melierte Mann schaute irritiert, tiefe Falten bildeten sich auf seiner lederartigen Stirn.

»Aber Sie sind gar keine«, stellte Wolf fest.

Im Gesicht des Mannes zeigte sich die Andeutung eines Lächelns. »Und ich hatte schon befürchtet, Ihre detektivischen Fähigkeiten hätten im Zuge Ihrer unentschuldigten Abwesenheit gelitten.«

Er zog einen Stuhl heran und setzte sich.

»Apropos«, fing Wolf an, dem plötzlich etwas eingefallen war. »Ich möchte nicht kleinlich klingen, oder so, aber als die Sache mit Masse passiert ist, hatte ich noch fünfzehn Tage Jahresurlaub offen. Ich weiß nicht, ob es möglich ist …«

Der Mann grinste amüsiert, unterbrach Wolf mitten im Satz, seine eisweißen Zähne überstrahlten seine orangefarbene Haut.

»Wahrscheinlich haben Sie recht. Wir klären das ein anderes Mal«, nickte Wolf und blies die Wangen auf, als angespannte Stille seiner Bemerkung folgte.

»Erkennen Sie mich nicht, Will?«

»Ähhh …«

»Das ist Commissioner Christian Bellamy«, verkündete die ihm leider vertraute Stimme von Commander Geena Vanita, während diese mit einem für ihre Verhältnisse relativ geschmackvollen Ensemble bekleidet den Raum betrat: eine schwarze Jacke über einer Vielzahl nicht zueinanderpassender Kleidungsstücke darunter. Vielleicht hatte er zu viele schlechte Fernsehsendungen gesehen, aber hätte er ihr Outfit beschreiben müssen, hätte er es wohl als »Teletubby Beerdigungs-Chic« bezeichnet.

Sie redete immer noch.

»Verzeihung, was?«, fragte Wolf, dem ihre Worte vollständig entgangen waren, da er mit den Gedanken längst bei wichtigeren Angelegenheiten war: Dipsy als Drogentoter – gestorben an einer Überdosis Heroin.

»Ich habe gesagt, es war nur eine Frage der Zeit, bis wir Sie erwischen«, wiederholte die zierliche Frau.

»Sie wissen, dass Sie mich genau betrachtet gar nicht erwischt haben, oder?«, fragte Wolf. »Ich habe mich gestellt.«

Vanita zuckte mit den Schultern, formulierte in Gedanken bereits die Presseerklärung, um seine Festnahme bekannt zu geben. »Das kann man so sehen oder so … ich sage …«

»Schändliche Propagandisierung?«, schlug er vor.

»Hören Sie, wir sind nicht Ihre Feinde, Will«, schaltete sich Christian ein, bevor sie das Geplänkel fortsetzen konnten. Als er die bösen Blicke sah, die auf der anderen Seite des Tisches gewechselt wurden, beschloss er, seine Behauptung zu korrigieren. »Ich bin nicht Ihr Feind.«

Wolf grunzte verächtlich.

»Wissen Sie, wir sind uns schon einmal begegnet«, fuhr Christian fort. »Zugegeben, schon lange her. Und …« Zum ersten Mal geriet der scheinbar so aalglatte Mann ins Stocken. »Wir beide haben diese Woche einen sehr lieben Freund verloren. Glauben Sie nicht, dass Sie der Einzige sind, der trauert.«

Wolf betrachtete den Mann skeptisch.

»Also …«, begann Vanita. »William Oliver Layton-Fawkes.«

Er zuckte zusammen.

»Jetzt, wo Sie gefasst wurden …«

»Ich habe mich gestellt!«, ächzte Wolf erneut.

»… steht Ihnen aufgrund der beträchtlichen Reihe an Vergehen, derer Sie sich schuldig gemacht haben, eine ziemlich lange Haftstrafe bevor.«

Wolf fiel auf, dass Christian seine Untergebene mit einem missbilligenden Stirnrunzeln bedachte, als diese fortfuhr:

»Unterschlagung von Beweismaterial, Meineid, unerlaubtes Fernbleiben vom Dienst, Körperverletzung …«

»Höchstens leichte Körperverletzung«, widersprach Wolf.

»Die Liste ist lang«, schloss Vanita und verschränkte zufrieden die Arme. »Sie haben es im Verlauf der Jahre immer wieder geschafft, sich aus dem Schlamassel zu ziehen, aber dieses Mal scheint es, als hätten Ihre Sünden Sie endlich eingeholt. Haben Sie etwas zu Ihrer Verteidigung zu sagen?«

»Ja.«

Sie wartete gespannt.

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, mich an der Nase zu kratzen?«, fragte er Commander Vanita.

»Wie bitte?«

»Meine Nase«, wiederholte Wolf freundlich, während die Handschellen hinter seinem Rücken klapperten. »Würden Sie …?«

Vanita wechselte einen Blick mit Christian und lachte. »Haben Sie überhaupt zugehört, Fawkes?«

Wolf traten Tränen in die Augen.

»Sie werden für sehr lange Zeit ins Gefängnis gehen.«

»Kommen Sie schon, bitte«, sagte Wolf und versuchte vergeblich, sich die Nase an der eigenen Schulter zu reiben.

Vanita stand auf. »Für so was habe ich keine Zeit.«

Sie hatte die Tür fast erreicht, als Wolf erneut das Wort an sie richtete.

»Léo … Antoine … Dubois.«

Vanita hielt inne, stand mit einem Fuß bereits draußen. Ganz langsam drehte sie sich um.

»Was ist mit ihm?«

»Erst die Nase«, versuchte Wolf es noch einmal.

»Nein! Was ist mit Dubois?«

»Verzeihen Sie mir meine Unwissenheit«, schaltete Christian sich ein, »aber … wer?«

»Léo Dubois«, schnaubte Vanita und erinnerte sich an das behördenübergreifende Fiasko, das sie in den vergangenen Jahren erfolgreich aus ihrer Erinnerung verdrängt hatte. »War ein großer Fall für die Abteilung: Mord, Menschenhandel, Drogenschmuggel. Fawkes war involviert, weshalb es nicht verwunderlich ist, dass sich die Angelegenheit zu einem beispiellosen Chaos auswuchs.«

Sie drehte sich wieder zu Wolf um, als dieser laut gähnte. »Was ist mit Dubois?«

»Aktueller Aufenthaltsort, Namen und Fotos von seinem gesamten Netzwerk, Kontonummern, der Name des Schiffs, das unsere Küste ansteuert, voll bis oben hin mit Sexarbeiterinnen …«

Unbewusst trat sie einen Schritt in den Raum zurück.

»Ach so, natürlich auch Fahrzeugkennzeichen«, fuhr er fort, »Geldwäsche … und ich bin mir ziemlich sicher, dass er sich in einen fremden Netflix-Account gehackt hat.«

Vanita schüttelte den Kopf. »Das sind die verzweifelten Versprechungen eines gefassten Straftäters.«

»Ich habe mich gestellt«, erinnerte Wolf sie.

Christian schwieg, ihm fiel die Veränderung an seiner Kollegin auf.

»Ich habe das Gefühl, dass ich Sie entsetzlich falsch eingeschätzt habe, Fawkes«, setzte Vanita theatralisch an. »Die Skeptikerin in mir hatte immer vermutet, Sie seien geflohen, um Ihren eigenen Arsch zu retten, nachdem Sie die Dienste eines Serienkillers in Anspruch genommen hatten. Aber tatsächlich haben Sie es auf sich genommen, einen bekannten Verbrecher im Alleingang zu Fall zu bringen!« Sie lachte über ihren eigenen Witz. »Das ist lächerlich! Sie können nicht im Ernst erwarten, dass Ihnen das jemand glaubt …«

»Ich erwarte, dass Sie mir glauben«, fiel Wolf ihr ins Wort, »dass ich seit dem Moment, in dem ich den Gerichtssaal verlassen habe, alles dafür getan habe, in mein altes Leben zurückkehren zu können. Ich habe mich genau auf diesen Augenblick vorbereitet, damit ich Ihnen ein Angebot unterbreiten kann, das Sie unmöglich ablehnen können.«

»Und ob ich es ablehnen kann«, fauchte Vanita zurück, die offenbar vergessen hatte, dass sie von den drei anwesenden Personen keineswegs die ranghöchste war. »Dann hat Dubois den Mann nicht erkannt, der monatelang versucht hat, ihn aus dem Verkehr zu ziehen? Er hat nicht den geringsten Verdacht geschöpft?«

»Und wie er Verdacht geschöpft hat«, erklärte Wolf. »Aber nichts untermauert die Geschichte eines Verdächtigen stärker, als wenn sämtliche Zeitungen mit seinem Bild gepflastert sind … Sie müssen mich jetzt wirklich an der Nase kratzen.«

Sie öffnete den Mund, wollte sich weigern.

»Jetzt kratzen Sie ihn doch endlich an der Nase«, bellte Christian, der unbedingt fortfahren wollte.

Mit angewidertem Blick zog Vanita einen teuren Füller aus der Tasche, kratzte Wolf damit an der Nase, wobei sie sich keinerlei Mühe gab, ihren Unwillen zu verbergen.

»Ein bisschen weiter rechts«, dirigierte Wolf sie. »Noch weiter. Oh ja, da. Sie haben den falschen Beruf, wissen Sie das?«, sagte er und setzte hinzu: »Das war übrigens eine Bemerkung ohne jeden Zusammenhang, die mit Ihren Fähigkeiten als Nasekratzerin nichts zu tun hat.«

Er lehnte sich zurück, lächelte triumphierend, während Vanita ihren Lieblingsfüller auf den Tisch warf, damit jemand anders ihn einstecken möge.

»Was wollen Sie, Fawkes?«, fragte sie durch aufeinandergebissene Zähne.

»Hafterlass.«

Sie lachte laut.

»Der Öffentlichkeit ist bekannt, was Sie getan haben. Zumindest zum Teil. Das Beste, worauf Sie realistischerweise hoffen dürfen, ist ein polizeifreundlicher Trakt.«

»Dann ist es also die Öffentlichkeit, um die wir uns Sorgen machen? Daher auch die unermüdliche Fahndung nach mir«, grinste Wolf. »Nur dass man wohl weniger von ›unermüdlich‹ als von ›gemütlich‹ und weniger von einer ›Fahndung‹ als von einem ›Ausschauhalten‹ sprechen muss.«

Vanita verspannte sich zusehends.

»Ein Monat. Mit Freigang«, bot er an.

»Ein Jahr«, konterte Vanita, die ihre Kompetenzen überschritt, wogegen Christian jedoch keine Einwände erhob, der Verhandlung vielmehr wie ein Zuschauer bei einem Tennis-Match folgte.

»Zwei Monate«, schlug Wolf vor.

»Sechs!«

»Drei … aber ich habe Bedingungen.«

Vanita hielt inne. »Weiter.«

»Niemand verrät Baxter, dass ich wieder da bin, außer mir selbst.«

Durchaus froh darüber, einem Gespräch mit ihrer reizbaren Mitarbeiterin Detective Chief Inspector Baxter zu entgehen, überlegte Vanita kurz, ob sie Wolf aus lauter Dankbarkeit eine weitere Woche Haft erlassen sollte; stattdessen aber nickte sie, täuschte Widerwillen vor.

»Und …«, fuhr er fort, »wahrscheinlich ist dies der geeignete Moment, Ihnen mitzuteilen, dass ich während der Zeit, in der ich mich in Dubois’ Truppe eingeschlichen habe, gemeinsam mit anderen einen konkurrierenden Sexhändler verprügelt habe, der daraufhin mit lebensbedrohlichen Verletzungen im ICU gelandet ist.«

»Herrgott, Fawkes!«, sagte Vanita und schüttelte den Kopf.

»Aber er hat sich vollständig davon erholt!«, setzte Wolf rasch hinzu.

»Okay, ich bin sicher, damit können wir arbeiten.«

»Allerdings sind wir dann noch mal hin und haben ihn erschossen.«

»Sonst noch was?!«, ächzte Vanita, die allmählich mit ihrer Geduld am Ende war.

»Ja. Der Strafvollzug muss ausgesetzt werden«, sagte Wolf todernst.

»Selbstverständlich!«, erwiderte sie sarkastisch. »Und nur so aus Interesse, an wie lange hatten Sie gedacht?«

»Solange es dauert.«

»Was?«

»Einen letzten Fall aufzuklären«, sagte er, wobei Großspurig­keit und Schalk jetzt aus seinem Tonfall verschwunden waren.

»Sie verschwenden meine Zeit, Fawkes«, sagte Vanita, stand auf und wollte gehen.

»Warten Sie«, schaltete sich Christian ein, ergriff seit Minuten zum ersten Mal wieder das Wort.

Vanita funkelte ihren Vorgesetzten böse an und setzte sich gehorsam wieder.

»Welchen Fall, Will?«, fragte Christian.

Wolf drehte sich zum Commissioner um. »Den Mord an Detective Sergeant Finlay Shaw.«

Niemand sagte etwas, während Vanita und Christian das absurde Anliegen verarbeiteten. Christian räusperte sich und hob die Hand, gerade als Vanita etwas entgegnen wollte.

»Will, es war Selbstmord. Sie wissen das … es tut mir leid, aber es gibt keine Ermittlungen, in die Sie sich einschalten könnten.«

»Waren Sie mit ihm befreundet?«, fragte Wolf zurück.

»Ich war sein ältester Freund«, sagte Christian stolz.

»Dann beantworten Sie mir folgende Frage«, forderte Wolf ihn auf und sah ihm in die Augen. »Ist ein Szenario denkbar, in dem Finlay bereit gewesen wäre, Maggie zu verlassen?«

Vanita begriff, dass sie an dem Gespräch nicht mehr beteiligt war, und schwieg. Sie hätte nicht einmal sicher sagen können, ob Finlay überhaupt verheiratet gewesen war.

Christian seufzte schwer und schüttelte den Kopf. »Nein. Keins. Aber die Beweise sind erdrückend.«

»Als sein Freund haben Sie doch sicher kein Problem damit, wenn ich dies über jeden möglichen Zweifel hinaus überprüfen möchte? Danach können Sie mich haben«, versprach Wolf.

Christian wirkte hin- und hergerissen.

»Sie denken doch wohl nicht ernsthaft darüber nach?«, fragte Vanita.

»Wären Sie so gut, einfach mal den Mund zu halten?!«, fuhr Christian sie an, dann wandte er sich wieder an Wolf. »Das wollen Sie Maggie wirklich antun?«

»Sie würde es verstehen … wenn ich es bin.«

Christian wirkte immer noch unsicher.

»Kommen Sie schon. Was haben Sie zu verlieren?«, fragte Wolf, der sich zum ersten Mal seine Verzweiflung anmerken ließ. »Ich überprüfe, ob es Selbstmord war; ihr bekommt dafür Dubois.«

Er sah, wie der Commissioner die Alternativen abwägte. »Okay, legen Sie los.«

Vanita stand auf und stürmte aus dem kleinen Raum, ließ die beiden Männer allein.

»Ich lasse Ihnen die Akte mit einer unterzeichneten Kopie unserer … Vereinbarung zukommen«, lächelte Christian mit funkelnden Augen. Er klopfte Wolf liebevoll auf den Rücken, genauso, wie Finlay es immer gemacht hatte, wobei er sicherlich einen blauen Fleck hinterließ, auf den sein Mentor stolz gewesen wäre. »Also, wo fangen wir an?«

»Wir?«

»Glauben Sie, ich lasse Sie das allein machen? Es geht um Fin!«

Wolf grinste. Allmählich wurde ihm Finlays ältester Freund sympathisch.

»Also, wo fangen wir an?«, fragte Christian erneut.

»Von vorne.«

Kapitel 2

Montag, 5. November 1979Guy Fawkes Night17:29 Uhr

Christian schlug die Augen auf und wurde geblendet vom grellen Licht der Glühlampe, die an der Wellblechdecke baumelte. Er drehte sich um, spürte, wie der Boden unter ihm nachgab. Mit einer Hand griff er sich an das schmerzende Kinn und schlug sich dabei mit einem schweren Boxhandschuh ins Gesicht. Stück für Stück fiel ihm alles wieder ein: Sein Partner und er hatten sich beim Sparring gegenübergestanden … er war auf dem besten Wege zu einer kläglichen Niederlage gewesen, hatte es verwegen mit einem Kinnhaken versucht … und seinen Gegner verfehlt … er erinnerte sich noch, dass dieser zu einem linken Haken ausgeholt hatte … dann war um ihn herum alles schwarz geworden.

Über ihm tauchte Finlays unschöne Visage auf. Der vierundzwanzigjährige Schotte war ein Baum von einem Mann, sein rasierter Schädel beinahe ebenso knorrig und unsymmetrisch. Seine Nase war platt und schien mit jedem Besuch der Sporthalle ihre Ausrichtung zu ändern. »Steh auf, du Mädchen«, höhnte er mit rauem Glasgower Akzent.

Stöhnend setzte sich Christian in der Mitte des Rings auf. »Du sollst mir was beibringen und mich nicht verdreschen!«

Finlay zuckte mit der Schulter, das Spiel der Muskeln unter der Haut erinnerte Christian auf eigenartige Weise an sein Date vom Vorabend, an die junge Streifenpolizistin, die sich im Schlaf unter der Decke noch einmal umgedreht hatte, als er sich aus ihrem Zimmer schlich.

»Ich bringe dir ja was bei«, erklärte Finlay lächelnd. »Das nächste Mal ziehst du den Kopf ein.«

»Du bist ein Arsch, weißt du das?«

Schmunzelnd zog ihn Finlay auf die Füße.

»Wie sehe ich aus?«, fragte Christian besorgt, da er plante, ihre gemeinsame attraktive Kollegin nach Ende ihrer Nachtschicht-Woche erneut auszuführen.

»Wunderbar«, grinste Finlay. »Ein bisschen mehr so wie ich.«

»Oh Gott! Dann hättest du mir lieber den Gnadenstoß versetzen sollen«, erwiderte Christian und zog sich einen letzten Schlag in die Nieren zu.

Christian war knapp drei Jahre jünger als sein Partner und das absolute Gegenteil seines besten Freundes: Er war ein gut aussehender und beliebter junger Mann mit schulterlangem sandfarbenen Haar, wie die Popstars im Fernsehen. Er war intelligent, wenn er wollte, aber auch faul und eigentlich meist mehr damit beschäftigt, Frauen aufzureißen, als Verbrecher zu jagen. Die beiden hatten jedoch einiges gemeinsam: Beide waren Kinder von Soldaten, besaßen ein verblüffendes Talent, Schwierigkeiten anzuziehen, und hegten große Abneigung gegenüber ihrem neuen Chef.

»Komm schon. In einer Stunde ist Dienstbeginn«, murmelte Finlay und löste seine Handschuhe mit den Zähnen.

»Mal sehen, was der Chef heute wieder für einen Blödsinn für uns hat.«

»Ich weiß, das mag wie Blödsinn klingen«, fing DCI Milligan durch die dunstige Rauchwolke an, die der versmogten schottischen Hauptstadt draußen entsprach. Die Asche am Ende seiner Zigarette bog sich herunter und fiel schließlich auf seine Hose.

»Vielleicht klingt es ja wie Blödsinn … weil es Blödsinn ist?«, meinte Christian.

Milligan verwischte die Asche zu einem großen grauen Fleck und wandte sich an Finlay. »Was hat er gesagt?«

Finlay zuckte mit den Schultern.

Milligan wandte sich wieder an Christian. »Wir können Sie nicht verstehen, Kleiner. Woher kommen Sie noch mal?«

»Aus Essex!«, erwiderte Christian.

Milligan betrachtete ihn argwöhnisch, dann fuhr er fort:

»Ihr zwei Pisser geht heute Abend zum Observieren in die Werft. Punkt Ende aus.«

»Können French und Wick das nicht machen?«, beschwerte sich Finlay.

»Nein«, erwiderte Milligan, der allmählich ihrer überdrüssig wurde. »French und Wick observieren die Fernfahrerkneipe.«

»Wo der Deal eigentlich stattfindet«, schnaubte Christian.

Milligan ignorierte ihn oder verstand ihn nicht.

»Das ist Zeitverschwendung«, sagte Finlay.

»Wenn das so sein sollte, dann werdet ihr beiden faulen Scheißer dafür bezahlt, dass ihr die ganze Nacht auf einem Parkplatz pennt. Dann haben alle was davon! Ihr dürft jetzt gehen.«

»Aber …«

»Ihr dürft … gehen.«

Um 19:28 Uhr hielt Finlay vor einer der Seiteneinfahrten zur Werft. Er parkte wenige Zentimeter vor dem Tor, von dem aus sie einen unverstellten Blick auf die mit Flutlicht bestrahlten Lagerhäuser und die bunten Frachtcontainer dahinter hatten, die wie Legosteine zu einem riesigen Wall aufgestapelt waren. Ein einsamer Gabelstapler war für die Nacht abgestellt worden, und die Legosteine spiegelten sich zittrig im dunklen River Clyde. Die ersten Regentropfen trafen die Windschutzscheibe, die bunten Tupfen verschwammen, verliefen wie Farbe auf einer Leinwand. Der Schauer wuchs sich zu einem Wolkenbruch aus, während sie sich Wimpy Burger und das erste warme Bier des Abends gönnten – eine Tradition bei Observierungen, beides gehörte dazu wie der nicht als Polizeifahrzeug gekennzeichnete Ford Cortina. Nach elf Jahren im Dienst fiel den kriminellen Elementen Glasgows die klapprige Karre dabei wahrscheinlich ebenso ins Auge wie ein Streifenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht, aber wer wollte schon die Entscheidungen derjenigen weiter oben in der Nahrungskette anzweifeln?

»Wieso«, fing Christian zwischen zwei Bissen an, »bekommen wir beide immer die Scheißjobs?«

»Politik«, erklärte ihm Finlay weise. »Manchmal musst du einfach wissen, wem du in den Arsch kriechen solltest. Wirst du auch noch lernen … außerdem ist Milligan Rassist, da bin ich sicher.«

»Ich stamme aus Essex!«

Finlay beschloss, lieber das Thema zu wechseln. »Wie läuft es mit der Friseuse?«

»Sie hat das mit der Masseuse mitgekriegt.«

»Oh«, sagte Finlay, biss erneut in seinen Burger und fragte: »Eine Kundin von ihr?«

»Ihre Schwester.«

»Ach so. Na, und wie läuft es mit der Masseuse?«

»Die fand’s nicht toll, dass ich mich mit der Streifenpolizistin getroffen hab.«

»Okay … Und wie läuft es …«

»Super«, erwiderte Christian. »Am Donnerstag führe ich sie wieder aus. Ich glaube, es läuft dieser Mistress of the Apes-Film im Kino.«

Finlay hob die Augenbrauen, sprach seine Bedenken hinsichtlich der Filmauswahl seines Freundes lieber nicht aus. Er griff in seine Hemdtasche und zog stolz eine Kassette daraus hervor.

»Nein! Ah komm! Nicht schon wieder Status Quo!«, beschwerte sich Christian. »Bitte nicht Quo!«

Die klobige Mechanik verschluckte sie im Ganzen und jagte zum Auftakt erst mal Feedback durch die Lautsprecher …

Es war Status Quo.

Eine Stunde war vergangen.

»Sean Connery?«, riet Christian, ließ sein Fenster einen Spaltbreit herunter, um nicht zu ersticken, da beide den ganzen Abend lang Kette rauchten.

»Wie zum Teufel kommst du auf Sean Connery?«

»Deine nachgemachten Stimmen klingen alle gleich!«

Finlay guckte beleidigt.

»Ich habe mir sagen lassen, dass ich ein sehr gutes Ohr für Akzente habe.«

»Kann sein«, sagte Christian. »Aber dann lässt dich deine Zunge im Stich.«

»Okay. Versuch’s damit …«, sagte Finlay genervt.

Christian lauschte aufmerksam, schloss die Augen, während er sich das Hirn zermarterte.

Finlay wiederholte es noch einmal ein bisschen langsamer.

»Sean Connery?«

»Oh Mann, du kannst mich mal!«

Die zarten Zeiger der Uhr am Armaturenbrett zeigten 21 Uhr, als die ersten farbenprächtigen Explosionen den Himmel erleuchteten.

»Ich sehe was, was du nicht siehst … und es beginnt mit … F.«

»Feuerwerk?«, fragte Finlay gelangweilt, aber einigermaßen zuversichtlich, da sie »Fahrzeug« und »Frachtschiff« sowie ihn selbst schon hatten.

Das Knallen und Knistern drang gerade so hörbar durch das leicht geöffnete Fenster zu ihnen.

»Genau … Feuerwerk«, seufzte Christian und suchte im Handschuhfach nach einer anderen Beschäftigungsmöglichkeit.

Finlay sah sich im Wagen um. »Okay. Ich sehe was … was du nicht siehst … und es beginnt mit …«

Beide schreckten zusammen, als etwas laut auf das Autodach knallte, schwere Schritte drückten das dünne Blech über ihren Köpfen herunter. Dann trampelte eine große Gestalt über die Motorhaube, sprang hinunter und versuchte, über das Tor zu klettern. Finlay und Christian schauten mit offenen Mündern zu, wie der Eindringling, der einen Vokuhila trug, das Tor überwand und akrobatisch auf der anderen Seite landete. Er holte einen Bolzenschneider aus dem Rucksack hervor, knackte die Kette und zog die großen Tore auf.

Plötzlich glitzerte der Regen, Scheinwerfer hinter ihnen beleuchteten die Szene. Da sie begriffen, dass sie nun auf besorgniserregende Weise den Blicken aller ausgesetzt waren, rutschten Finlay und Christian tiefer in ihren Sitzen, sahen fünf dunkle Gestalten nur wenige Zentimeter entfernt am Beifahrerfenster vorbeigehen. Ihnen folgte ein schwarzer Transporter. Das Motorengeräusch wurde vom Regen übertönt, während das Fahrzeug in Schrittgeschwindigkeit auf das Werftgelände rollte.

Finlay griff blindlings nach dem Funkgerät. Über das Armaturenbrett hinweg konnte er sehen, wie die Gruppe vor dem größten Lagergebäude auf dem Werftgelände ausströmte. Er hielt sich die klobige Sprechmuschel des Funkgeräts vor den Mund. »Crystal?«, flüsterte er, da er im Verlauf des Abends die Stimme seiner Lieblingsdisponentin bereits mehrfach gehört hatte. »Crystal!«

Das Dröhnen der Reifen auf dem nassen Asphalt übertönte den Regen, als der Transporter aggressiv in Richtung Lagerhaus beschleunigte und schließlich genug Tempo aufgenommen hatte, um die riesigen Schiebetüren zu durchbrechen. Das Team eilte zu Fuß durch die so entstandene Öffnung, kurz darauf wurde das ohrenbetäubende Stottern von Schüssen aus Automatikwaffen laut.

Im Funkgerät fiepte es. »Fin, bist du das?«

»Wir sind im Govan Shipyard und brauchen schnell Verstärkung.«

Irgendwo im Gebäude kam es zu einer Explosion. Offensichtlich war die Detonation auch über Funk übertragen worden, denn der freundliche Plauderton der Disponentin wich abrupt einem dienstbeflisseneren »Verstärkung ist unterwegs. Ende«.

Finlay hatte das Funkgerät gerade wieder abgelegt, als eine zweite Explosion den Mann mit dem Vokuhila aus einem Fenster im ersten Stock katapultierte, sein hell angestrahlter Körper blieb am Boden liegen.

»Boah!«, lachte Christian und legte sich insgeheim bereits zurecht, wie er die Geschichte seinen Kollegen möglichst spektakulär schildern wollte. Dann aber streckte der gemarterte Mann unglaublicherweise einen Arm aus und rappelte sich wieder auf. Er zog seine Waffe aus einer Pfütze und humpelte erneut in das Lagergebäude.

»Da ist aber jemand hartnäckig«, sagte Christian und aß seinen Burger auf.

Finlay drehte sich verärgert zu ihm um. »Wie kannst du jetzt essen?«

Christian zuckte unschuldig mit den Schultern. »Gehen wir rein?«

»Warum nicht?«, sagte Finlay und kurbelte die Scheibe runter, um das magnetische Warnlicht aufs Dach zu stellen.

Das Feuerwerk in der Ferne ergoss sich über die Stadt, während er den Motor anließ und erneut Rockin’ All Over the World von Status Quo losdudelte. Sie rasten planlos, aber mit eingeschalteter Sirene auf das Lagerhaus zu, hofften nur irgendwie, dass das Erscheinen zweier Polizisten die Erwartung weckte, dass die Ankunft weiterer unmittelbar bevorstand.

»Vokuhila ist wieder da!«, warnte Christian Finlay, als der Mann aus dem Gebäude taumelte und mit hoch erhobener Waffe auf den herannahenden Ford Cortina schoss.

»Tritt verdammt noch mal aufs Gas!«, brüllte Christian, als der Wagen erneut mit Einschusslöchern gesprenkelt wurde.

»Bin schon am Anschlag!«, schrie Finlay und riss das Steuer herum, sodass der Wagen ins Schlittern geriet und den Schützen versehentlich mit dem hinteren Teil rammte.

Ein widerlicher dumpfer Schlag war zu hören, dann rollte der erschlaffte Körper Richtung Fluss. Das Fahrzeug kam zum Stehen, der eine noch intakte Scheinwerfer beleuchtete den blutverschmierten Toten zwanzig Fuß von der Unfallstelle entfernt. Christian und Finlay keuchten heftig, wechselten nervöse Blicke, als ihnen bewusst wurde, dass sie sich möglicherweise mehr zugemutet hatten, als sie leisten konnten … dann sahen sie durch den auf die kaputte Motorhaube prasselnden Regen, wie die schlaksige Gestalt erneut zum Leben erwachte.

»Was zum Teufel?!«, keuchte Christian entsetzt.

Mit zitternden Armen stieß sich der langhaarige Mann ab.

Finlay ließ den Motor bedrohlich aufheulen.

»Fahr ihn noch mal an!«, brüllte Christian.

Trotz eines offensichtlich gebrochenen Arms kam der durchnässte Mann wieder auf die Beine. Leicht schwankend starrte er die beiden verblüfften Gesichter an, die ihn durch die gesprungene Windschutzscheibe anstarrten. Ohne auch nur einen einzigen Augenblick zu zögern, drehte er sich um und tauchte in das dunkle Wasser.

»Hä«, nickte Finlay, den Blick starr auf den Fluss gerichtet. »Was auch immer die dem bezahlen, es kann nicht genug sein.«

Sie stiegen aus dem Wagen und rannten zu dem zerstörten Lagerhaustor.

Als sie hineinschauten, hatte sich eine unheimliche Stille über den Schauplatz gelegt. Der schwarze Transporter stand zwischen den Trümmern an der Laderampe, die Hinterreifen drehten sich wirkungslos knapp einen halben Meter über dem Boden. Eine Stahltreppe führte weiter hinten zu einer augenscheinlich massiven Tür hinauf.

»Die Luft scheint rein zu sein«, flüsterte Christian.

Er band sich die Haare zum Pferdeschwanz und eilte hinüber zu dem Transporter. Ein kurzer Blick in die leere Fahrerkabine ergab, dass das Gaspedal mit einem Stock heruntergedrückt worden war. Er winkte Finlay zu sich.

»Nach oben?«, schlug sein Partner vor.

»Nach oben«, stimmte Christian zu.

Sie stiegen die Treppe bis zu der ovalen Stahltür hinauf, die auch in einem U‑Boot nicht deplatziert gewirkt hätte, durch ein Einschussloch in der Scheibe zischte kühle Luft.

»Druckschleusen«, sagte Finlay mit gerunzelter Stirn, fuhr mit der Hand durch den Luftstrahl.

Er hatte Mühe, die Tür aufzuziehen, und hörte von irgendwoher aus dem Gebäude eine andere zuschlagen, als sie in den eisig kalten Gang traten. Zwei Tote lagen einander gegenüber zusammengesackt an den Wänden. Einer hatte dem Team der Eindringlinge angehört, der andere trug von Kopf bis Fuß Schutzkleidung.

»Bleib hinter mir«, fauchte Finlay, nahm dem ersten Toten die Waffe ab und checkte dann systematisch die geöffneten Türen, wie er es in der Ausbildung gelernt hatte: Industriewaagen, Geldzählmaschinen, Pritschenwagen.

Sie gingen weiter, stemmten sich gegen den Luftstrom der weiterhin entweichenden Luft, als sie von irgendwo unter sich erneut einen dumpfen Knall hörten.

Beide erstarrten.

»Das klang nicht gut«, flüsterte Christian.

Finlay schüttelte den Kopf. »Lass uns schnell machen.«

Sie eilten ans Ende des Gangs, wo ihnen eine zweite Druckschleuse den Weg versperrte. Finlay packte den langen Türgriff und hebelte sie auf. Christian taumelte durch die Tür, spürte das Rauschen der Luft, als sich die ungleichen Druckverhältnisse einander anglichen.

Finlay hatte Mühe, die schwere Tür offen zu halten, schob sich durch den Spalt und ließ sie anschließend mit Wucht hinter sich zuschlagen.

»Mach dir keine Sorgen um mich …«, sagte er zynisch, aber sein Partner antwortete nicht. Christian starrte ehrfürchtig die Päckchen mit cremefarbenem Pulver an, die sich anderthalb Meter hoch stapelten, dicke Bündel Bargeld lagen daneben. Finlay gab Christian die Waffe und ging darauf zu. Er riss ein kleines Loch in einen der Säcke, leckte sich den Finger ab und spuckte aus. »Heroin.«

»Wie viel wird das sein?«, fragte Christian. Auf der Straße hatte er nie mehr als ein Kilo gesehen.

»Keine Ahnung … Tausende.«

Unter sich hörten sie erneut etwas poltern. Als sie das warme Glühen an der Wand tanzen sahen, trat Finlay an die Tür, um nachzusehen. Durch die Öffnung kam ihm heiße Luft entgegen. Er spähte durch das kleine Fenster, sah einen Laufsteg, der um die gesamte obere Ebene des Lagerhauses herumführte. Die verbogene Tür schlug auf, als er die Schwelle überquerte und sich zögerlich dem wütend tobenden Feuer näherte.

Im selben Moment, in dem er hinaustrat, musste er auch schon seine Augen vor der infernalischen Hitze abschirmen. In dem, was einst ein Drogenlabor auf dem neuesten Stand der Technik war, flogen nun Tanks und Kanister einer nach dem anderen in die Luft. Die diversen Leichen, die auf dem Boden verteilt lagen, wurden eingeäschert: Labormitarbeiter, Angehörige des Überfallkommandos und des offenbar zivil gekleideten Sicherheitspersonals.

Als er merkte, dass seine Schuhsohlen auf dem Stahl schmolzen, rannte Finlay zurück in den Raum, schloss die kaputte Tür, so fest er konnte, hinter sich.

»Problem?«, fragte Christian mit besorgtem Blick.

»Feuer.«

»Groß?«

»Ziemlich groß.«

»Scheiße.«

»Anscheinend haben wir eine Wahnsinnsschießerei verpasst. Alle sind tot.«

Beide drehten sich zu ihrem karriereförderlichen Fund um.

»Was hat Priorität?«, fragte Christian seinen ihm vorgesetzten Kollegen. »Die Drogen oder das Geld?«

Finlay schien hin- und hergerissen, die Farbe an der Wand hinter ihnen warf bereits Blasen.

»Fin, die Drogen oder das Geld?«

»Die Drogen. Wir nehmen die Drogen.«

Christian sah aus, als wollte er widersprechen, aber das Geräusch berstender Glasscheiben trieb ihn zur Eile.

»Irgendwo dahinten hab ich einen Rollwagen gesehen.«

Finlay nickte und eilte zu der unter Druck stehenden Tür. Unter größter Anstrengung gelang es ihm, sie weit genug offen zu halten, sodass Christian durchschlüpfen konnte, die heiße Luft trocknete seine Augen aus. Wenig später kehrte Christian zurück, hatte einen der Toten auf den Pritschenwagen gelegt, eine leblose Hand schleifte über den Boden.

»Das war ein Drogendealer!«, sagte er abwehrend, als er Finlays missbilligenden Blick sah. »Jetzt ist er ein Türstopper.«

Christian legte die Leiche kurzerhand in den Eingang, versuchte dabei, das ekelhafte Knirschen zu ignorieren, das entstand, als Finlay die Tür losließ, um ihm beim Aufladen zu helfen. Neunzig Sekunden später warfen sie den letzten Packen Heroin auf den Pritschenwagen, der Schweiß lief ihnen über die Gesichter, während sich das Lagerhaus um sie herum in einen Schmelzofen verwandelte.

»Los! Los! Los!«, brüllte Finlay, aber Christian gönnte sich noch einen letzten Blick auf den in orangefarbenes Licht getauchten Geldberg, obwohl ihnen das Feuer bereits durch das einstürzende Gebäude folgte.

Christian und Finlay husteten schwarzen Schleim, als die Ersten ihrer Kollegen auf das Inferno zurasten. Nachdem sie die Säcke unter größter Anstrengung und in sicherem Abstand zu den lodernden Flammen abgeladen hatten, setzten sie sich auf den Asphalt und betrachteten das Feuerwerk über dem Feuer.

Finlay schwieg, aber ihm fiel auf, dass die Hände seines Partners zitterten. Die Brandverletzung an seinem eigenen linken Arm pochte schmerzhaft im kalten Regen.

Eine Autotür knallte zu.

»Wir sind dran«, sagte er zu Christian und stand auf.

Sie bezogen jeweils auf einer Seite der rekordverdächtig großen Menge an beschlagnahmten Drogen Stellung, reckten die Daumen in die Höhe und grinsten breit, während hinter ihnen das Lagerhaus in sich zusammenfiel. Das symbolträchtige Schwarz-Weiß-Foto zirkulierte tagelang landesweit durch die Presse – ein PR‑Triumph für das Drogendezernat wie für die gesamte Strathclyde Police … der Beweis dafür, dass sich mitten unter uns noch immer Helden befinden.

Kapitel 3

Mittwoch, 6. Januar 20169:53 Uhr

»Ein Mann ist tot, Chief Inspector!«

»Das sind viele … nach allem, was geschehen ist«, erwiderte Baxter ruhig, aber giftig. »Anscheinend legen Sie es drauf an, die Zeit anderer Leute zu verschwenden, indem Sie sich Gedanken um die einzige Person machen, die den Tod tatsächlich verdient hat!«

Ihr Termin mit dem FBI lief wie erwartet. Jetzt hatte jemand anders das Problem, Ordnung in das unglaubliche Chaos zu bringen, das ihr letzter Fall hinterlassen hatte: ein Verdächtiger hingerichtet, ein CIA-Agent vermisst, ein durch einen Schneesturm verunreinigter Tatort und weite Teile der Londoner Innenstadt in Schutt und Asche.

»Haben Sie Informationen über den aktuellen Aufenthaltsort von Special Agent Rouche?«

»Soweit ich weiß«, erwiderte sie mit ruhiger Stimme, »ist Agent Rouche tot.«

Der surrende Elektroofen ließ unangenehm heiße Luft durch den Vernehmungsraum wabern, während sie unablässig Fragen gestellt bekam.

»Sie haben das Haus von Agent Rouche durchsuchen lassen.«

»Das habe ich.«

»Also haben Sie ihm nicht vertraut?«

»Nein, ich habe ihm nicht vertraut.«

»Und auch jetzt empfinden Sie keinerlei Restloyalität ihm gegenüber?«

Sie zögerte einen ganz kurzen Augenblick. »Nein, absolut nicht.«

In dem Augenblick, in dem die Besprechung im Nachbarraum vertagt wurde, stand Wolf auf und ging zur Tür.

»Und wo willst du hin?«, fragte Saunders.

»Ich will sie sehen.«

»Ich weiß nicht, ob du wirklich verstanden hast, was ›Arrest‹ bedeutet.«

»Wir haben eine Vereinbarung«, sagte Wolf und wandte sich zu Vanita um.

»Na schön.« Sie entließ ihn mit einer Handbewegung. »Schließlich kann der ganze Schlamassel kaum schlimmer werden.«

»Überraschung!«

Wolfs gequältes Lächeln fing in der langen Stille bereits an wehzutun.

Der Mief war der Opferschutzbeamtin noch nicht aus dem Vernehmungsraum heraus gefolgt. Baxter starrte ihn über den Tisch hinweg an. Obwohl sie schwieg, verrieten ihre großen dunklen Augen die Emotionen, die hinter ihrer ruhigen Fassade miteinander rangen – ein bisschen so wie die rotierenden Bilder eines Glücksspielautomaten, bevor sie stehen blie­ben.

Wolf rutschte betreten auf seinem Stuhl herum, strich sich eine Locke aus den Augen und nahm den Aktenordner vom Schoß. Seine Handschellen klapperten auf dem Metalltisch, als er ihn ablegte.

»Fünf Pfund darauf, dass sie ihm eine reinhaut«, wettete Saunders mit Vanita, die einigermaßen sicher auf der anderen Seite des Einwegspiegels gemeinsam zusahen.

Vanita schloss die Augen, murmelte etwas auf Hindi, da sie sich von den drei größten Plagen ihres Lebens umgeben sah.

»Ohne mich.«

Wolf griff über den Tisch, schaltete den Übertragungskanal in den Nachbarraum aus und murmelte: »Ich, äh … wahrscheinlich stehe ich zurzeit nicht besonders hoch bei dir im Kurs, trotzdem würde ich dir gerne sagen, wie schön es ist, dich zu sehen.« Er warf einen genervten Blick Richtung Spiegel, hoffte, ihre Zuschauer würden sie ein paar Minuten lang ungestört lassen. »Ich hab mir echt Sorgen gemacht … bei allem, was vorgefallen ist. Ich hätte … vielleicht hätte ich was tun können.«

Baxter rührte sich nicht, während Wolf weiterstammelte.

Er räusperte sich und fuhr fort. »Ich war im Haus. Bei Maggie.«

Ein fast unmerkliches Zucken in Baxters Miene.

»Sei ihr nicht böse. Sie musste mir versprechen, dass sie dir nichts sagt. Um es kurz zu machen: Ich bin einen Deal eingegangen … mit dem Commissioner. Man wird mich an einem letzten Fall arbeiten lassen … meinem allerletzten. Ich darf denjenigen finden, der ihm das angetan hat … Finlay, meine ich.«

Baxters Atmung hatte sich beschleunigt, ihre Lider flatterten, ihre Augen wurden feucht.

»Ich weiß, was die sagen«, fuhr Wolf vorsichtig fort. »Ich hab mir die Akte angesehen, und ich verstehe, wie sie darauf kommen. Von außen betrachtet, passt alles zusammen. Aber du weißt genauso gut wie ich, dass die sich irren.« Seine Stimme brach. »Er hätte sie nicht verlassen. Er hätte dich nicht verlassen … er hätte uns nicht verlassen.«

Möchten Sie gerne weiterlesen? Dann laden Sie jetzt das E-Book.