Wozu Rassismus? - Aladin El-Mafaalani - E-Book
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Aladin EL- Mafaalani

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Beschreibung

Umfassend, kurz, aktuell und fundiert. Hier erfährt man alles, was man zum Thema Rassismus wissen muss. Seit dem gewaltsamen Tod von George Floyd in Minneapolis 2020 wird auch in Deutschland offen, kontrovers und hitzig über Rassismus debattiert. Wie funktioniert Rassismus, wem dient er und wozu? Dieses Buch gibt einen Überblick über die Begriffsverständnisse, die Geschichte und die Gegenwart dieser prägenden menschenfeindlichen Herrschaftsideologie. Dabei werden die jüngsten Entwicklungen und Diskurse unter die Lupe genommen und eingeordnet. Wie definiert man Rassismus, wann ist er entstanden, wie hat er sich bis heute gewandelt? Woran kann man erkennen, ob eine Handlung oder eine Aussage rassistisch ist? Was ist der Unterschied zwischen strukturellem und institutionellem Rassismus – und warum sollte man das wissen? Wie wird Rassismus von Betroffenen wahrgenommen? Welche Verantwortung haben pädagogische Institutionen? Aladin El-Mafaalani forscht seit über zehn Jahren über Rassismus, Diskriminierung und soziale Ungleichheit und fasst in diesem Buch den Stand der Diskussion allgemeinverständlich zusammen.

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Aladin El-Mafaalani

Wozu Rassismus?

Von der Erfindung der Menschenrassen bis zum rassismuskritischen Widerstand

Kurzübersicht

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Titelseite

Über Aladin El-Mafaalani

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Über Aladin El-Mafaalani

Aladin El-Mafaalani, 1978 im Ruhrgebiet geboren, ist Soziologe und Inhaber des Lehrstuhls für Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft am Institut für Migrationsforschung und interkulturelle Studien der Universität Osnabrück. Nach Studium und Referendariat war er Lehrer am Berufskolleg Ahlen, dann Professor für Politikwissenschaft an der Fachhochschule Münster und später Abteilungsleiter im nordrheinwestfälischen Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration in Düsseldorf. Er studierte an der Ruhr-Universität Bochum Politikwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, Pädagogik und Arbeitswissenschaft und wurde dort in Soziologie promoviert. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt 2020 den Preis der Deutschen Gesellschaft für Soziologie für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der öffentlichen Wirksamkeit der Soziologie.

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Über dieses Buch

Umfassend, kurz, aktuell und fundiert. Hier erfährt man alles, was man zum Thema Rassismus wissen muss.

Seit dem gewaltsamen Tod von George Floyd in Minneapolis 2020 wird auch in Deutschland offen, kontrovers und hitzig über Rassismus debattiert. Wie funktioniert Rassismus, wem dient er und wozu? Dieses Buch gibt einen Überblick über die Begriffsverständnisse, die Geschichte und die Gegenwart dieser prägenden menschenfeindlichen Herrschaftsideologie. Dabei werden die jüngsten Entwicklungen und Diskurse unter die Lupe genommen und eingeordnet. Wie definiert man Rassismus, wann ist er entstanden, wie hat er sich bis heute gewandelt? Woran kann man erkennen, ob eine Handlung oder eine Aussage rassistisch ist? Was ist der Unterschied zwischen strukturellem und institutionellem Rassismus – und warum sollte man das wissen? Wie wird Rassismus von Betroffenen wahrgenommen? Welche Verantwortung haben pädagogische Institutionen?

Aladin El-Mafaalani forscht seit über zehn Jahren über Rassismus, Diskriminierung und soziale Ungleichheit und fasst in diesem Buch den Stand der Diskussion allgemeinverständlich zusammen und macht Deutungsangebote im Hinblick auf die aktuellsten Entwicklungen.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort: Wieso Wozu Rassismus?  

1. Was ist Rassismus?  

2. Rassismus als Ideologie: Geschichte des Kolonialismus und Erfindung der Rassen(lehre)  

3. Struktureller Rassismus: Sprache, Wissen, Sozialstruktur, Wertesystem  

4. Rassistische Diskriminierung als Prozess: Denken, Handeln, Intentionalität und Macht  

5. Institutioneller Rassismus: Branche, Organisation, Profession  

6. Rassistische Diskriminierung als persönliche Erfahrung: Wahrnehmung, Umgang, persönliche und soziale Folgen  

7. Rassismus als pädagogische Herausforderung: Lehrplan und -material, Kommunikation, Differenzsensibilität, Empowerment  

8. Über Rassismus sprechen: Identitätspolitik und Populismus von »alten weißen Männern«, unterdrückte und überhitzte Diskurse  

9. Rassismuskritik: Wissen, Haltung, Praxis  

Literaturverzeichnis  

Danksagung  

Seitenzahlmarkierungen  000  entsprechen der Print-Ausgabe (ISBN 978-3-462-00223-2)

Vorwort: Wieso Wozu Rassismus?  7  

Rassismus benachteiligt, entwürdigt, macht krank. Rassismus tötet. Auch heute noch. Darf man dennoch konstatieren, dass er den größten Teil seiner Wirkmächtigkeit verloren hat? Zum Verständnis der Gegenwart muss man dies tun. Weder die Globalisierung noch die politische Weltkarte, weder die Verhältnisse in Deutschland noch der Zustand der Weltgesellschaft lassen sich ohne eine intensive Auseinandersetzung mit dieser Herrschaftsideologie, die eine der wirkmächtigsten der Menschheitsgeschichte war, verstehen. Rassismus ist heute nicht mehr das dominante Ordnungsprinzip der Gesellschaft und der Welt. Umso bemerkenswerter, wie stark die heute existenten »Überbleibsel« noch immer wirken.

Die Erfindung von Menschenrassen diente der Sicherung und Legitimation von Herrschaft. Die Enteignung und Entmenschlichung bestimmter Gruppen wurden zu etwas Natürlichem oder Gottgegebenem, in jedem Falle zu etwas Gerechtem gemacht. Das ist heute keineswegs mehr der Fall. Weniges wird derart stark geächtet wie Rassismus. Nicht einmal lupenreine Rassist:innen bezeichnen sich als solche. Doch der Rassismus hat sich in die Gesellschaft und ihren Institutionen  8  eingeschrieben, erkennbar an den Einkommens-, Vermögens- und Klassenverhältnissen, erlebbar in Kultur und Alltag, hörbar in der Sprache und so weiter. Rassismus hält die (ungerechte) Gesellschaft zusammen. Die Selbstverständlichkeiten der Gesellschaft sind rassistisch geprägt, denn fast alles, was die moderne Weltgesellschaft ausmacht, entstand in der Hochphase des Rassismus: Aufklärung, Wissenschaft, Globalisierung, Kapitalismus, Nationalstaaten und ihre Staatsbürgerschaften.

Solche kulturellen Selbstverständlichkeiten – Pierre Boudieu nannte sie Doxa – entziehen sich weitgehend öffentlichen Diskursen und sind kaum kritisch zu hinterfragen. Aber seit kurzer Zeit hat sich das ganz deutlich geändert. Es wird so viel über Rassismus in allen Bereichen und Kontexten gesprochen wie nie – von Betroffenen, Aktivist:innen und Initiativen. Es entwickeln sich hitzige Diskurse, die bei den meisten Menschen den Eindruck hinterlassen, man würde Rückschritte machen – vielerorts hört man die Aussage »Wir waren mal weiter«.

Ist die offene Gesellschaft also doch nicht offen? Sie ist nicht so offen wie gedacht, aber das kann sie nur deshalb feststellen, weil sie schon ziemlich offen ist, viel offener als je zuvor. Denn die Tatsache, dass heute artikuliert wird, was früher nicht artikulierbar war, ist ein Beleg für Öffnungsprozesse. Dem heute geführten Diskurs sind viele Entwicklungen vorausgegangen: Teilhabe- und Aufstiegsprozesse von nicht-weißen Menschen und Migrant:innen, eine stärkere Sensibilisierung für verschiedene Formen von Diskriminierung und viele weitere Liberalisierungsprozesse. Rassistisch motivierte Anschläge und Morde waren vielfach die Auslöser für  9  Demonstration und Proteste, die Ursachen liegen aber viel tiefer, nämlich in den bereits stattgefundenen nachhaltigen Entwicklungen hin zur offenen Gesellschaft.

Deshalb wird Widerstand gegen Rassismus nun artikuliert, mit starken Spannungen und Übertreibungen, was zum einen an den gesellschaftlichen Beharrungskräften liegt, die zu Schließungstendenzen führen können, zum anderen weil der rassismuskritische Widerstand nicht nur jung im Diskurs, sondern auch von jungen Akteur:innen vorangetrieben wird. Der Diskurs ist bereits Beleg für gesellschaftliche Veränderungen. Die diskurstreibenden Kräfte wollen noch mehr und noch schnellere Veränderungen. Veränderungen führen zu Reibung und zu Gegenbewegungen. Die offene Gesellschaft ermöglicht mehr Chancen, erzeugt aber auch mehr Konflikte. Man kann also durchaus die These aufstellen, dass all das Symptome einer Zeitenwende sind: Die offene Gesellschaft ist nicht mehr ein fernes Ziel, sondern steht vor der Realisierung.

Und damit wäre ich bei der angekündigten Frage: Weshalb Wozu Rassismus?. Es gibt inhaltliche Antworten (etwa zur Hartnäckigkeit der Ideologie) und methodische Antworten (etwa zu Funktion und Wirkung). Es gibt aber auch gute Gründe für Gelassenheit, denn wir waren nie weiter. Die Perspektive »Wozu Rassismus?« ist im gesamten Buch handlungsleitend. Es ist genau genommen also keine Frage, deshalb gibt es auch nicht die eine Antwort, sondern in jedem Kapitel mehrere. Der seltenere intendierte und gewaltvolle Rassismus, also Rechtsextremismus, wird nur am Rande thematisiert. Viel stärker stehen die historischen und strukturellen  10  Dimensionen und ihre Folgen im Mittelpunkt, also der Rassismus der gesellschaftlichen Mitte und die Involviertheit des Staates.

Und damit bin ich bei einer nicht minder wichtigen Frage: Wozu das Buch? Nach einigen Büchern aus einer Betroffenenperspektive, die maßgeblich dazu beigetragen haben, dieses Thema im öffentlichen Diskurs zu etablieren, soll dieses Buch Überblick und Systematik sowie Deutungsangebote im Hinblick auf die jüngsten Entwicklungen bieten. Rassismus ist ein Thema des Mainstreams geworden. Mainstreaming bedeutet immer, dass es nun sehr viele interessiert und viele Menschen und Medien im Diskurs teilnehmen (was wünschenswert ist), deshalb aber das Diskursniveau (zwischenzeitlich) sinkt, weil nicht mehr nur Menschen mit Expertise und Erfahrung miteinander reden. Sobald ein Thema trendy und kommerzialisierbar ist, wird es als wichtig wahrgenommen, ist aber auch anfällig. Die Komplexität des Themenfeldes ist dabei enorm und auch die Widersprüchlichkeiten und Paradoxien. Es gibt viele Fragen, die überhaupt nicht trivial sind, etwa: Ist es gut oder schlecht, »Hautfarben« zu benennen? Wäre es nicht besser, »hautfarbenblind« zu sein? Außerdem von großer Relevanz: die verschiedenen Umgangs- und Bewältigungsstrategien Betroffener zu verstehen, und die eigene Involviertheit, egal, wer man ist, zu erkennen.

Der Text ordnet und fundiert auf verschiedenen Ebenen. Auf der Makroebene werden die Entwicklung der Rassenlehre und historische Zusammenhänge (Kap. 2), der aktuelle strukturelle Rassismus (Kap. 3) und seine Prozesshaftigkeit (Kap. 4) skizziert. Auf der Mesoebene wird der institutionelle  11  Rassismus (Kap. 5) behandelt. Die Mikroebene wird auch ausführlich beschrieben, und zwar rassistische Diskriminierung aus der Betroffenenperspektive (Kap. 6) sowie als pädagogische Herausforderung (Kap. 7). Ebenen übergreifend sind die Themenfelder »Über Rassismus reden« (Kap. 8) und Rassismuskritik als Kompetenz (Kap. 9). Der Text beginnt aber ganz klassisch mit der Frage »Was ist Rassismus?« (Kap. 1).

Die Übertragung von Theorien, Erkenntnissen und Diskursen auf die Situation in Deutschland steht dabei im Mittelpunkt. Dadurch, dass US-amerikanische Ansätze und Diskurse 1:1 übersetzt wurden und deshalb nicht so recht passen, kommt es nicht nur zu vermeidbaren Missverständnissen, sondern auch zu unnötigen Kontroversen und Überhitzungen im Diskurs. In den USA sind Menschen aus Italien, Griechenland, Kroatien oder Polen schlichtweg Weiße und können nicht von Rassismus betroffen sein. Bezogen auf die US-amerikanischen Verhältnisse stimmt der Satz: »Es gibt keinen Rassismus gegen weiße Menschen.« In Deutschland sieht das ganz anders aus. Hier (und in anderen Teilen Europas) müsste man sagen: »Menschen mit Wurzeln in Ost- oder Südeuropa erleben Rassismus, aber nicht weil, sondern obwohl sie weiß sind.« Gleichzeitig ist von großer Relevanz, welche Zeit man betrachtet. Es gibt letztlich weniges, was in jeder Gesellschaft zu jeder Zeit im Hinblick auf Rassismus identisch war (und ist).

Im gesamten Buch werden daher allgemeine Entwicklungen beschrieben, aber auch spezifisch deutsche, die mit einer besonderen kolonialen Vergangenheit und vielfältigen  12  rassistischen Exzessen zusammenhängen, die sich aber nicht nur entlang der Konstruktion von »Hautfarbe«, sondern auch entlang »feinerer« Unterscheidungen (etwa nicht-deutsch, migrantisch oder jüdisch) entspinnen.

Dabei ist der gesamte Text um differenzierte und klare Analysen und zugleich um die gebotene Sensibilität bemüht. Durch Differenziertheit und Klarheit lässt sich die altbekannte tautologische Falle vermeiden, nämlich dass alles mit allem zusammenhängt – und am Ende doch der Kapitalismus an allem schuld ist. Die gebotene Sensibilität findet sich im Bemühen um diskriminierungskritische Sprache – im Wissen, dass eine diskriminierungsfreie Sprache kaum möglich ist. Daher werden im Haupttext hochproblematische Wörter maskiert (etwa Z*schnitzel oder N*kuss), ausschließlich in den Endnoten werden sie in Zitaten ausgeschrieben, auch um die Härte der Formulierungen etwa in weltbekannten Liedern oder Texten von kanonischen Denkern spürbar zu machen.[1] Wer das nicht lesen möchte, kann die Endnoten ignorieren. Wer nicht versteht, warum man bestimmte Wörter nur noch in belegenden Zitaten und im Kleingedruckten ausschreibt, versteht es vielleicht nach der Lektüre dieses Buchs inklusive der Endnoten besser – oder versteht, warum man es nicht verstehen will.

1. Was ist Rassismus?  13  

Rassismus ist ein Begriff, der zunehmend im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses steht. Dies liegt nicht nur an den vielen rechtsextremen Anschlägen (NSU, Halle, Hanau usw.), den Hunderten Todesopfern allein in Deutschland, dem Rechtspopulismus, der bei einem großen Teil seiner Wählerschaft einen vorher unsichtbaren Rassismus offenbart, der mit Formulierungen wie Fremdenfeindlichkeit, Xenophobie, Ausländerfeindlichkeit oder »besorgte Bürger« verdeckt wurde. Vielmehr haben sich in den vergangenen Jahren Aktivist:innen und soziale Bewegungen wie Black Lives Matter, #saytheirnames oder #metwo gebildet und etabliert, die Rassismus zu einem zentralen und relevanten Mainstreamthema haben werden lassen.

Die wissenschaftliche Bedeutung von Rassismus als Phänomen ist ebenfalls enorm. Die Beziehungen zu anderen Diskriminierungs- und Herrschaftsverhältnissen sind komplex und benötigen multiperspektivische und systematische Analysen. Rassismusforschung befindet sich in Deutschland noch in den Anfängen. Zugleich wandeln sich die Verhältnisse in vielfacher Weise: Rassismus verändert sich, weil rassistische  14  Tendenzen lauter und aggressiver, nicht aber quantitativ relevanter werden; die sozialen Verhältnisse sind im Wandel, weil immer mehr schwarze Menschen, Muslim:innen und Menschen mit erkennbarem Migrationshintergrund – kurz People of Color (PoC) – auf allen Ebenen teilhaben, die Gesellschaft mitgestalten und zugleich klar und deutlich auf Rassismus hinweisen. Die radikalen Kräfte werden radikaler, während die Gesellschaft insgesamt immer offener wird – auch offener gegenüber Rassismuskritik.

Die Frage »Wozu Rassismus?« ist eine ernst gemeinte. Wie kann es sein, dass sich Rassismus dauerhaft hält? Wie lässt sich seine enorme Wirkmacht erklären, die die Weltgesellschaft und die meisten Nationalstaaten, wie sie heute sind, maßgeblich geprägt hat? Wie kann Rassismus derart hartnäckig bestehen bleiben, obwohl Menschenrechte, Demokratie und Wissenschaft ihm diametral entgegenstehen? All dies sind Fragen nach der Funktion. Die Antworten auf diese Fragen sind komplex.

Rassismus legitimiert Herrschaft, die Herrschaft führt dazu, dass sich die Ideologie bestätigt, die wiederum die Herrschaft legitimiert. All das kann dann schnell »natürlich« wirken. Herrschaft meint dabei insbesondere ökonomische und kulturelle Dominanz. Aber es gibt noch eine andere Funktion: Rassismus erzeugt Selbstwert durch Abwertung der anderen und Aufwertung der eigenen Zugehörigkeit. Diese psychologische Wirkung trägt auch zu seiner Stabilisierung und Persistenz bei. In allen Dimensionen, also der ökonomischen, der kulturellen und der psychischen, profitiert man als durch Rassismus privilegierte Person, ob man will oder nicht, und  15  ein durch Rassismus negativ betroffener Mensch ist Risiken ausgesetzt. Es handelt sich um ein komplexes Herrschaftsverhältnis und um ein gesellschaftliches Strukturierungsprinzip, das alle Menschen (auf unterschiedliche Weise) betrifft. Wozu Rassismus? ist die übergeordnete Frage. Zunächst gilt es jedoch zu fragen: Was ist Rassismus? Beginnen wir klassisch mit einer Definition des Gegenstands.

Die meiner Meinung nach umfassendste und zugleich präziseste Definition stammt von der niederländischen Soziologin Philomena Essed: Rassismus ist »eine Ideologie, eine Struktur und ein Prozess, mittels derer bestimmte Gruppierungen auf der Grundlage tatsächlicher oder zugeschriebener biologischer oder kultureller Eigenschaften als wesensmäßig andersgeartete und minderwertige ›Rassen‹ oder ethnische Gruppen angesehen werden. In der Folge dienen diese Unterschiede als Erklärung dafür, dass Mitglieder dieser Gruppierungen vom Zugang zu materiellen und nicht-materiellen Ressourcen ausgeschlossen werden.«[2]

So präzise diese beiden Sätze formuliert sind, so komplex ist ihr Bedeutungsgehalt, der in den nächsten Kapiteln dieses Buchs analysiert, kommentiert und erläutert wird. Aber bereits hier soll diese Definition Wort für Wort ausgefächert werden, um Grundlagen und erste Zusammenhänge zu verdeutlichen und Querbezüge zu den folgenden Kapiteln herzustellen.

Ideologie. Rassismus ist eine Herrschaftsideologie, die dem jahrhundertealten Ideensystem der Rassenlehre entstammt. Die Konstruktion von Menschenrassen, die zudem hierarchisch geordnet werden, diente der legitimen  16  Herrschaft von bestimmten Menschen über alle anderen Menschen. So wurde nicht nur die (globale) weiße Vorherrschaft (white supremacy) etabliert und gesichert, sondern auch als natürliche oder göttliche Ordnung legitimiert. Entsprechend hat Rassismus gleichermaßen ökonomische Ursachen und psychische Grundlagen, etwa die Aufwertung aufgrund der Zugehörigkeit zur »weißen Rasse«. Rassismus ist ein Erbe der Nationalstaatenbildung, des Kolonialismus, der europäischen Aufklärung und der europäischen Geistes- und Naturwissenschaften. Somit handelt es sich in keiner Weise um ein natürliches Phänomen und auch nicht um eine anthropologische Konstante: Weder gibt es biologische Menschenrassen, noch folgt Rassismus – verstanden als Angst, Feindseligkeit oder Herrschaftsbeziehung zwischen weißen und nicht-weißen Menschen – einem Naturgesetz. Es ist ein historisch gewachsenes und von den einstigen Eliten, sprich Klerus, Krone, Kolonialisten und Wissenschaftlern, entwickeltes Projekt, das die globalen politischen und sozialen Verhältnisse maßgeblich geprägt hat (vgl. Kap. 2). Heute wird Rassismus weitgehend geächtet, aber er besteht weiterhin fort.

Struktur. Während die rassistische Ideologie in der Vergangenheit staatstragend und damit ein explizites und rechtlich verbrieftes Herrschaftssystem war, ist es heute ein eher latentes und indirektes gesellschaftliches Strukturierungsprinzip. Rassismus als Struktur beziehungsweise struktureller Rassismus meint also, dass Rassismus kulturell tief verankert ist, unter anderem in den Wissensbeständen und den weiterhin enorm verbreiteten Vorurteilen, den ökonomischen  17  Verhältnissen und der Sozialstruktur sowie schließlich in den normativen Legitimationsstrukturen der Gesellschaft. Oder anders: Die Gesellschaft und die globalen Verhältnisse sind derart strukturiert, dass es so aussieht, als gäbe es qualitativ differenzierbare Menschenrassen, auch weil heute enorme Ungleichgewichte und Ungleichwertigkeiten erkennbar sind, die ohne sichtbare Unterdrückungshandlungen oder wahrnehmbare Brutalität bestehen. Es gibt zur Erklärung der (Welt-)Verhältnisse also im Prinzip zwei große Angebote: Es existieren Rassen, oder es herrscht Rassismus (vgl. Kap. 3). Die gesellschaftliche und globale Hierarchiebildung funktioniert heute also weniger gewaltvoll und konsequent, stattdessen latenter, subtiler und weitgehend auch ohne Absicht und bösen Willen. Auch nach dem Ende des Kolonialismus sind rassistische Macht- und Dominanzverhältnisse derart strukturiert, dass die in ihnen Privilegierten nie Opfer dieser Verhältnisse sein können – wohl aber in anderer Hinsicht Diskriminierung erfahren können, etwa aufgrund ihrer sozialen Klassenzugehörigkeit, ihres Geschlechts oder aufgrund von körperlichen Beeinträchtigungen. Daher gilt es, Rassismus von anderen Herrschaftsprinzipien, Diskriminierungs- und Ungleichheitsdimensionen zu unterscheiden. Die spezifische Form, in der sich struktureller Rassismus innerhalb konkreter Branchen und in Organisationen umsetzt, wird als institutioneller Rassismus bezeichnet, also eine Form rassistischer Diskriminierung, die sich weitgehend unabhängig von den jeweils handelnden Menschen, sondern vielmehr durch institutionelle Routinen, Regeln und Verfahren vollzieht (vgl. Kap. 5).

  18  Prozess. Innerhalb der strukturellen und institutionellen Rahmenbedingungen finden rassistische Diskriminierungsprozesse statt. Diese folgen einem idealtypischen Dreiklang: Es wird eine Differenz konstruiert und Menschen entsprechend dieser Differenz kategorisiert. Dieses Othering (zu Anderen/Fremden machen) folgt also einer Markierungs- und Differenzierungspraxis (mit der zugleich eine Wir-Konstruktion vollzogen wird); diese als andersgeartet Kategorisierten werden abgewertet, also als moralisch, kognitiv und anderweitig minderwertig in einem hierarchischen Gefüge positioniert; die Mitglieder dieser Gruppe werden nun ausgeschlossen, wobei dieses Ausschlussprinzip sich auf materielle Teilhabe sowie symbolische Anerkennung und soziale Zugehörigkeiten beziehen kann. Es handelt sich also um Deutungs- und Handlungsmuster. Sofern es sich um vorurteilsbezogenes beziehungsweise rassistisches Denken handelt, das aber (noch) nicht zu diskriminierenden Handlungen führt (eine Aussage kann bereits eine Handlung sein), spricht man im Englischen eher von bias, sobald Vorbehalte zu rassistischen Handlungen führen, eher von discrimination (vgl. Kap. 4).

Die rassistische Kategorisierung findet »auf der Grundlage tatsächlicher oder zugeschriebener biologischer oder kultureller Eigenschaften« statt. Hier wird der klassische Rassismus mit biologischem Rassekonstrukt genauso betrachtet wie der kulturell begründete Rassismus, der auch als Kultur-Rassismus oder Neo-Rassismus bezeichnet wird. Bereits von Beginn an gingen biologische und kulturelle (insbesondere religiöse) Begründungen für die Andersartigkeit eine Symbiose  19  ein, die bis heute hält. Im Zeitverlauf hat sich die Gewichtung von einer stärker biologischen beziehungsweise natürlichen Begründung zu einer stärker kulturellen verlagert. Mit dem Begriff »Rassismus ohne Rassen« wird dieser Wandel ausgedrückt.[3] Es gibt keine Rassen, sie waren eine Erfindung, die derart wirkmächtig wurde, dass sie selbst dann noch wirksam ist, wenn jede:r von diesem »Betrug« weiß. Während es etwa in Nordamerika heute immer noch die Rassifzierung von Menschen ist, die den Ausgangspunkt rassistischer Diskriminierung darstellt (also der Hautfarbe eine maßgebliche Rolle zukommt), lässt sich in Deutschland ein erweiterter Schwerpunkt erkennen, nämlich die Migrantisierung, die eine Rassifizierung inkludiert. Sie verläuft entlang des Knotenpunkts von Zugehörigkeit (Deutschsein), Abstammung (Herkunft) und sichtbarer beziehungsweise wahrnehmbarer Differenzen (insbesondere sprachlicher Akzent und Hautfarbe). Entsprechend ist der Diskurs geprägt von Fragen nach der Herkunft, dem Migrationshintergrund oder ob der Islam zu Deutschland gehöre – also sehr spezifischen Problemstellungen. Zudem werden migrantisierte Menschen häufig (bereits begrifflich) zu Fremden gemacht (Fremdenfeindlichkeit) oder zu Ausländern (Ausländerfeindlichkeit), selbst wenn sie weder fremd noch ausländisch sind.

In der Folge. Rassistische Diskriminierung erkennt man zunächst an der Wirkung. Man könnte es vergleichen mit einem Unfall, den man anhand des Unfallschadens bewertet. Der Effekt der Handlung, nämlich dass sie nach rassistischen Kategorien für bestimmte Menschen benachteiligend wirkt, ist das zentrale Kriterium. Sekundär für die Identifikation  20  von Rassismus ist die Intention. Dennoch ist die Intention nicht unbedeutend, ganz im Gegenteil: Wer gezielt rassistisch handelt, also in rassistischer Absicht, vielleicht sogar mit einem geschlossenen rassistischen Weltbild, kann als Rassist:in bezeichnet werden. Ohne Absicht und »bösen Willen« ist man kein:e Rassist:in, hat aber dennoch rassistisch gehandelt. Nicht-intendiertes rassistisches Verhalten kann genauso von Menschen oder Organisationen ausgehen wie intendierter Rassismus, der etwa von rechtsextremen Menschen oder Organisationen ausgeht. Die Intention ist also keineswegs unwichtig, aber für die Identifikation von rassistischen Strukturen und Prozessen sehr nachrangig. Analog hierzu: Die Frage nach Mord oder Totschlag (also der Intention der Tat) stellt sich erst, wenn man festgestellt hat, dass überhaupt jemand durch Fremdeinwirkung gestorben ist.

So weit die skizzenhaften Erläuterungen zur Definition. Sie machen deutlich, dass solche Herrschaftsverhältnisse derart durchdringend sind, dass ausnahmslos alle involviert sind, sei es durch Benachteiligung, sei es durch Privilegierung. Es gibt kein Außerhalb. Daher ist es von großer Relevanz, Rassismus aus der Perspektive der Betroffenen und als Erfahrungsraum zu analysieren, auch weil Rassismus Menschen persönlich, psychisch und körperlich beschädigt sowie hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Teilhabe benachteiligt (vgl. Kap. 6). Deshalb ist es besonders notwendig, Rassismus als umfassende und vielfältige pädagogische Herausforderung zu verstehen (vgl. Kap. 7). Von zentraler Bedeutung ist das Sprechen über Rassismus im öffentlichen Diskurs oder auch in Teilöffentlichkeiten, etwa im Beruf. Dies gelang bis vor  21  einigen Jahren kaum, findet allerdings in zunehmender Intensität statt. Es ist allgemein erkennbar, dass Herrschaftsverhältnisse (zu weiten Teilen) aufgebrochen wurden und sich die Gesellschaft dadurch im Aufbruch oder Umbruch befindet. Wenn jahrhundertealte Herrschaftsverhältnisse thematisiert, kritisiert und verändert werden, muss dies zu Erschütterungen, Hitzigkeit und auch zu Übertreibungen führen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass nicht mehr nur über die Benachteiligung der Benachteiligten, sondern auch über die Privilegien der Privilegierten gesprochen wird – und auch darüber, dass alle involviert sind und damit niemand (oder jede:r) eine neutrale, objektive oder universalistische Position haben kann (vgl. Kap. 8).

Aus all diesen Erkenntnissen geht eine rassismuskritische Haltung hervor. Sie reflektiert, dass in den Herrschaftsverhältnissen Widersprüchlichkeiten angelegt sind, die man bei der Thematisierung und Bekämpfung von Rassismus kennen und aushalten muss. Entsprechend gibt es nicht per se die richtige Gegenstrategie – auch nicht die richtige Positionierung (ausführlich hierzu in Kap. 9).

Was in diesem Buch leider nicht angemessen berücksichtigt werden kann, ist die Tatsache, dass es verschiedene Rassismen gibt, von denen einige hier genannt werden sollen:[4] International wird Anti-Schwarzen-Rassismus stark diskutiert; Anti-Roma-Rassismus (auch »Antiziganismus«) spielt in Europa eine große Rolle, weil Roma und Sinti in Europa die größte und zugleich am stärksten diskriminierte Minderheit darstellen, in der Vergangenheit war antislawischer Rassismus in Deutschland sehr präsent, wohingegen heute  22  intensiv antimuslimischer Rassismus und Antisemitismus diskutiert werden.[5] Bisher am wenigsten im öffentlichen Bewusstsein ist der antiasiatische Rassismus. Menschen werden also wegen ihrer (nicht-weißen) oder trotz ihrer (weißen) Hautfarbe oder anderer sichtbarer Merkmale rassistisch diskriminiert. Nun ist die Realität so, dass es etwa schwarze Muslim:innen oder schwarze Rom:nja gibt, es also zu Überschneidungen kommt, die als Intersektionalitäten bezeichnet werden.

Intersektionalitäten gehen weit über die Rassismen hinaus. So sind weitere Verknüpfungen nicht die Ausnahme, sondern die Regel: Klassismus (soziale Klasse/class), Sexismus (gender), Queerfeindlichkeit und Heteronormativität (LSBTIQ+), Ableismus (Behindertenfeindlichkeit) – um einige der wichtigsten zu nennen. All diese relevanten Identitätsmerkmale, die einen Menschen zwar nicht deterministisch beeinflussen, aber ganz sicher prägen, spielen zusammen und führen zu je spezifischen Sozialisationsbedingungen, Erfahrungshorizonten, Vulnerabilitäten und Diskriminierungen. Man ist selten in jeder oder in keiner Hinsicht privilegiert oder benachteiligt. Identitätsmerkmale sind zugleich Ungleichheitsdimensionen. Eine schwarze Frau mit Behinderung aus einer wohlhabenden Familie ist – ganz ohne jedes eigene Zutun – anderen Widrigkeiten und Risiken ausgesetzt als ein schwuler jüdischer Mann aus der Mittelklasse oder eine kopftuchtragende weiße Frau oder ein weißer Trans-Mann aus der Unterklasse. Intersektionalität wird mitgedacht, findet aber im Rahmen dieses Buches nicht ansatzweise die Würdigung, die adäquat wäre.[6]

  23  Das Konzept Diskriminierung ist als horizontaler Ansatz immer schon intersektional, kann also gleichermaßen und mit ähnlichen Begrifflichkeiten und Analyseinstrumenten über alle Unterdrückungsmerkmale hinweg beziehungsweise mit allen zugleich verwendet werden. Zumindest das Potenzial zur Umsetzung einer intersektionalen Perspektive ist vorhanden. Der Nachteil des Diskriminierungsbegriffs ist, dass er stark auf den Prozesscharakter zielt und weniger auf ideologische, historische oder strukturelle Zusammenhänge verweist (vgl. Kap. 4).[7]

In Vordergrund und Mittelpunkt steht hier Rassismus. Ich selbst habe an verschiedenen Stellen[8] betont, dass Klassenfragen, also die soziale Herkunft (Einkommen, Vermögen, Bildungsniveau, Milieu), einen messbar wesentlich stärkeren Einfluss auf die Lebenschancen von Menschen haben als rassistische Diskriminierung. Allerdings werden die nachfolgenden Analysen und Darstellungen zeigen, dass das in der Vergangenheit anders war, und noch entscheidender: Diese Vergangenheit hat dazu geführt, dass migrantisierte und rassifizierte Menschen überproportional häufig unteren sozialen Klassen angehören, geringere Einkommen und Vermögen haben und von Bildungsbenachteiligung betroffen sind. Das heißt, dass viele PoC doppelt von Rassismus getroffen werden: zum einen durch die aktuelle rassistische Diskriminierung, zum anderen durch die Benachteiligung vor dem Hintergrund der Klassenherkunft (also indirekt aufgrund des historischen Rassismus). Gleichzeitig soll auch deutlich werden, dass es immer weniger Rassismus und Diskriminierung gibt, die Teilhabechancen von praktisch allen benachteiligten  24  Gruppen besser sind als je zuvor. Die Existenz und das Fortwirken von Diskriminierung bei gleichzeitig steigenden Teilhabechancen führen zu einer polarisierten und überhitzten allgemeinen Stimmung in allen offenen Gesellschaften.[9]