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Cilla Börjlind

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Beschreibung

THAILAND: Auf dem Fluss Kok gleitet ein Kanu. Am Ufer ziehen Opiumfelder vorüber. Ein Mann hat die Zivilisation hinter sich gelassen, um ins Goldene Dreieck zu gelangen. Es ist eine Reise zu sich selbst und ein Versuch, die schreckliche Tat aufzuarbeiten, die ihn verfolgt. Der Mann in dem Kanu ist Ex-Kriminalkommissar Tom Stilton.

STOCKHOLM: Die junge Polizistin Olivia Rönning ist mit einem Mord befasst, der Schweden in Atem hält. Eine ganze Familie wurde kurz vor der Fahrt in die Winterferien in ihrem Auto brutal ermordet. Ein Mann ist verdächtig, der auch verurteilt wird. Nur Olivia zweifelt an seiner Schuld. Welche Rolle spielt Tom Stilton in der Sache?

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THAILAND: Auf dem Fluss Kok gleitet ein Kanu. Am Ufer ziehen Opiumfelder vorüber. Ein Mann hat die Zivilisation hinter sich gelassen, um ins Goldene Dreieck zu gelangen. Es ist eine Reise zu sich selbst und ein Versuch, die schreckliche Tat aufzuarbeiten, die ihn verfolgt. Der Mann in dem Kanu ist Ex-Kriminalkommissar Tom Stilton.

STOCKHOLM: Die junge Polizistin Olivia Rönning ist mit einem Mord befasst, der Schweden in Atem hält. Eine ganze Familie wurde kurz vor der Fahrt in die Winterferien in ihrem Auto brutal ermordet. Ein Mann ist verdächtig, der auch verurteilt wird. Nur Olivia zweifelt an seiner Schuld. Welche Rolle spielt Tom Stilton in der Sache?

Zu den Autoren

CILLA und ROLF BÖRJLIND gelten als Schwedens wichtigste und bekannteste Drehbuchautoren. Sie sind unter anderem verantwortlich für zahlreiche Martin-Beck-Folgen sowie für die viel gepriesene Arne-Dahl-Serie. Ihr Markenzeichen sind starke Charaktere und eine stringente Handlung. Die Romane um die junge Polizistin Olivia Rönning und den ehemaligen Kriminalkommissar Tom Stilton wurden in 30 Länder verkauft und erfolgreich verfilmt. Die Serie läuft mit hohen Einschaltquoten auch im deutschen Fernsehen.

Cilla & Rolf Börjlind

Wundbrand

Kriminalroman

Aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann und Julia Gschwilm

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die schwedische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Kallbrand« bei Norstedts, Stockholm.

Copyright © 2018 by Cilla & Rolf Börjlind by Agreement with Grand Agency

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe 2019

btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: © plainpicture/BY; Millennium/Lee Frost

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-20132-6 V003

www.btb-verlag.de

Es geht ein schöner Jüngling durch den Park,

es fehlt ihm an nichts.

Nichts?

Nichts, flüstert sein Hüter.

Nordthailand

Little Pluto rannte durch die pechschwarze Dschungeldunkelheit, Blut lief ihm über den Rücken, aus langen, tiefen Wunden, die er sich zugezogen hatte, als er sich unter dem Stacheldraht durchgeschoben hatte. Zum Glück hatte er den Plastiksack nicht verloren. Er hörte die Hunde hinter sich heulen, doch die würden ihn niemals einholen, er kannte diese Gegend in- und auswendig, auch im Dunkeln. Zwölf Jahre war er alt, vier davon hatte er hier gelebt. Nun rutschte er den nassen Lehmpfad zum Flussbett hinunter, die Hitze dampfte zwischen den Bäumen, und er spürte, wie die Fliegen über seinen Rücken krochen. Es war nicht mehr weit. Unten am Fluss würde er schneller vorankommen, noch ein paar hundert Meter über den Strand, dann war er in Sicherheit. Er blieb stehen, um Atem zu schöpfen. Die Hunde waren verstummt. Jetzt hörte er nur noch die gewohnten Geräusche, dazu das stille Murmeln des vorbeifließenden gelbbraunen Wassers. Er hob den Sack wieder an – leicht war er, trotz des gewichtigen Inhalts.

Wenn sie sparsam waren, würde es lange reichen.

Plötzlich wurde der Fluss von einem breiten, blaukalten Strahl durchschnitten. Little Pluto fuhr zusammen. Manchmal glitten hier düstere Schiffe mit ausgeschalteten Motoren vorbei, Boote mit gefährlichen Männern an Bord und mit starken Scheinwerfern auf der Suche nach den Jungs, die unter dem Stacheldraht durchgerobbt waren.

Doch dieses Mal nicht.

Die Wolken hatten sich verzogen und Platz für einen Vollmond mit intensiver Strahlkraft gemacht. Little Pluto atmete tief durch, sprang das letzte Stück vom Abhang nach unten und blickte dann wieder auf. Der mächtige alte Flusskahn lag weiter weg vom jetzigen Ufer, halb auf die Seite gekippt, und in der Dunkelheit sah er aus wie ein altes, verlassenes Geisterschiff. In den runden Gläsern der Bullaugen spiegelte sich das Mondlicht, die Lianen wucherten bis übers Deck und zu den Schornsteinen hoch. Die breiten Holzspanten waren leck geschlagen, und in den Ritzen wuchs graugrünes Moos. Little Pluto betrachtete den Kahn.

Contamana.

Sein Zuhause.

Vorsichtig kletterte Little Pluto das Fallreep hinauf, er wusste ganz genau, welche Tritte knarzten und auf welche er nicht treten durfte. Auf keinen Fall wollte er Decha wecken. Barfuß schlich er mit dem Plastiksack in der Hand über das harte Holzdeck. Die Wunden auf dem Rücken brannten, doch daran dachte er kaum.

Er hatte es geschafft.

Er kam bis zur Kajüte ganz hinten, dann drehte er sich um. Keine Bewegung, kein Laut von Decha. Gut. Die Tür zur Kajüte war angelehnt, und ein paar Jungs in seinem Alter warteten direkt dahinter. Vermutlich hatten sie ihn schon unten am Fluss erspäht. Er ging rein, und sie schoben die Tür hinter ihm zu. Drei Jungs, unterschiedlich groß, mit mageren Leibern, in kurzen, schwarzen Hosen. Auf dem Boden brannte eine Kerze, vier Matratzen lagen entlang der Kajütenwände, und unter dem Bullauge stand ein rechteckiger Käfig. Der Schein der Kerze spiegelte sich in der harten Panzerschale des Insassen. Ein Schuppentier, die Jungs hatten es gestern im Dschungel gefangen. Erwischte man unten in Chiang Rai die richtigen Leute, dann ließ sich so etwas für viel Geld verkaufen.

»Tut es weh?«, flüsterte einer der Jungs, der den Rücken von Little Pluto gesehen hatte.

»Es brennt.«

Ein anderer Junge wischte ihm vorsichtig mit einem kleinen Lappen das Blut vom Rücken. Es schmerzte, aber Little Pluto riss sich zusammen und machte keinen Mucks.

»Danke«, sagte er und drehte seinen Plastiksack herum.

Der dunkle Fußboden war mit einem Mal voller roter Mohnblumen mit Samenkapseln, und einen Moment lang schauten alle nur nach unten. Sie wussten, dass die schönen Mohnblumen mit einer Welt lockten, die dunkler war als die Nacht, mit Reisen ohne Raum und Zeit. Ihr Puls hatte sich bereits beschleunigt. Vor dem Schritt in die Mohnnacht waren alle immer extrem angespannt, und ein paar von ihnen schwitzten schon stark. Little Pluto holte ein Stück Folie heraus und legte es auf den Boden. Jeder nahm sich eine Samenkapsel und zückte eine dünne Rasierklinge. Vorsichtig ritzten sie die Kapsel an zwei Seiten auf und ließen den roten Milchsaft auf die Folie tropfen. Als die Menge für alle reichte, sahen sie sich an und warteten. Sie hatten in vollkommener Stille gearbeitet. Dechas große Kajüte war nah. In manchen Nächten hörten sie sein Schnarchen übers ganze Deck, und dann war alles in Ordnung. In dieser Nacht war es ganz still.

Nach einer Weile erstarrte der Saft.

Little Pluto griff nach dem bereitliegenden kurzen Plastikstrohhalm, und einer der Jungs schob die Kerze unter die Folie. Schnell stiegen Dämpfe auf.

»Jetzt jagen wir den Drachen«, flüsterte Little Pluto, steckte den Strohhalm in den Mund und begann, die Dämpfe einzuatmen. Er hatte die Blumen besorgt, er durfte anfangen. Gleich würde der Strohhalm weiterwandern.

Als Little Pluto genug vom Drachen eingesogen hatte, sank er auf seine Matratze. Sie war hart und dünn, aber daran war er gewöhnt. Außerdem war er jetzt auf dem Weg an ganz andere Orte als den Kajütenboden, Orte, die er nur in der Mohnnacht besuchen konnte.

Orte, an denen die Erinnerung an ein brennendes, schreiendes Baby im Rauch des Drachen verschwand.

Als sich viele Stunden später Wolken über den Mond schoben, war die Kerze heruntergebrannt und der Drachen davongeschwebt. In der Kajüte blieben vier Jungs auf vier dünnen Matratzen zurück. Einer von ihnen, Little Pluto, war mit dem Daumen im Mund neben dem Käfig des Schuppentiers eingeschlafen.

Morgen würde er sich wieder erinnern müssen.

Wie immer wurden die Bewohner von Stockholm von Kälte und Schnee völlig überrascht. »Was zum Teufel ist das denn? Mitten im Winter!« Ein paar Stunden sorgte Glatteis für kilometerlange Staus an den Einfallstraßen zur Stadt, sodass die Leute aus ihren Autos ausstiegen und zu Fuß weitergingen. Je mehr Schnee fiel, desto mehr Straßen wurden auch in der Innenstadt blockiert, und die Katastrophenmeldungen nahmen zu. »Der schlimmste Winter seit Menschengedenken!« Allerdings reichte das Menschengedenken der Medien oft nicht mehr als ein paar Jahre zurück.

Doch es herrschten Schnee und Kälte, bis minus zwanzig Grad in der Nacht, Tankstellen und Läden hatten bald kein Glykol und kein Holz mehr zu verkaufen, und die Menschen, die sich rauswagten, spürten, wie der Frost ihnen ins Gesicht schlug.

So sah es auch draußen in Gribbylund in Täby aus.

Es war 7.00 Uhr morgens am 24. Februar, und ein Schneepflug tat sein Möglichstes, alle falsch geparkten Autos in Schneewehen zu verwandeln. Der Wachmann, der für die Ladenzeile in der Nähe zuständig war, versuchte sich aufzuwärmen, indem er seine Arme um sich schlang, und er fluchte, weil er die Schicht getauscht hatte. Der alte Mann, der von seinem Schoßhund in die weiße Hölle gejagt worden war, weil der Köter dringend kacken musste, entschied sich dafür, Schnee über die Hinterlassenschaften zu schieben, denn wenn er eine Tüte rausgeholt hätte, wären die Finger vielleicht in der weißen Pracht stecken geblieben. Als er den Tatort verließ, knirschte es unter seinen Füßen, und sein keuchender Atem stand ihm wie eine Rauchsäule vorm Mund. Er sah zu den Einfamilienhäusern hinüber und bemerkte einen Mann, der den Kofferraum seines schwarzen Audi aufklappte. Der Wagen stand vor der Garage, aus der Motorhaube schlängelte sich das Kabel für die Wärmedecke.

Der Hundebesitzer winkte seinem Nachbarn zu, der ihn aber nicht sah, sondern grußlos durchs Gartentor marschierte und den Briefkasten aufklappte. Die Morgenzeitung war nicht gekommen. An einem solchen Tag wie heute muss man dafür wohl Verständnis haben, dachte er und kehrte zu seinem Auto zurück. Er hieß Kaj Brovall und würde mit seiner Familie in die Skiferien nach Sälen fahren. Seine Frau und er hatten es geschafft, sich eine Woche freizuschaufeln, um Zeit mit ihrer Tochter zu verbringen.

Wertvolle Zeit.

Alles war vorbereitet, und er wollte so schnell wie möglich los. Angesichts der aktuellen Verkehrslage konnte sich eine Woche Skiurlaub nur allzu leicht in eine Rutschpartie auf dem Rodelhügel verwandeln, deshalb hatte er es eilig. Er kehrte in das gelb gestrichene Holzhaus zurück, um seine Frau und seine Tochter ein bisschen anzutreiben. Vor allem seine Tochter, denn seine Frau war schon angezogen und startklar, sie wollte nur noch die letzten Mails abarbeiten. Tochter Ida war da schon ein schwererer Fall. Sie war sechzehn und bewegte sich in dem für dieses Alter typischen Tempo, mit dem dazu passenden Zeitgefühl. Während ihr Vater die Ansage: »Wir müssen spätestens um sieben los!« wortwörtlich so meinte, sah sie das ganz anders. Sieben war ein Richtwert, eine Zeit, die man anpeilte, um langsam in die Gänge zu kommen. Sie war immer noch erst halb angezogen, als Kaj in ihr Zimmer kam, und außerdem damit beschäftigt, sich wortreich mit ihrem Freund Sebastian auf Facetime zu unterhalten.

»Ich komme ja schon, Papa!«

Ida seufzte und betonte komme auf eine Weise, dass Kaj doch bitte begreifen möge, wie unmöglich er war, wenn er sie immer so stresste. Also biss er die Zähne zusammen und ging zum Arbeitszimmer.

Er ließ einen letzten Blick durch die Räume wandern, an denen er vorbeikam, und rückte ein paar Kissen auf dem Sofa zurecht. Das schön eingerichtete Haus zeugte sowohl von Geschmack als auch von Wohlstand. Er selbst war Wirtschaftsprüfer und seine Frau Staatsanwältin; das Haus hatten sie vom Erbe seiner Frau bezahlt und die Einrichtung wohlbedacht ausgesucht.

Ein Traumhaus, fand er.

»Bist du langsam fertig?«

Er sah zu seiner Ehefrau Malin, die mit dem Rücken zur Tür saß. Sie war gerade im Begriff, den Mailaccount zu schließen und den Computer runterzufahren.

»Ja«, antwortete sie, ohne sich umzudrehen.

Kaj betrachtete ihren Rücken, oder besser gesagt, er dechiffrierte ihn – Malin war angespannt.

»Was ist?«, fragte er.

»Ich habe heute Nacht eine unangenehme Mail bekommen.«

Malin leitete gerade die Ermittlungen über eine mögliche Terrorzelle, vielleicht hatte die Mail etwas damit zu tun. Auch wenn sie es nicht genau wusste, empfand sie den Text als bedrohlich.

»Ist schon weitergeleitet«, sagte sie. »Alles in Ordnung.«

Malin drehte sich um und lächelte ihren Mann an.

»Schön«, erwiderte er.

Und dachte: Ich werde es ihr noch nicht erzählen, das verschieben wir auf nach dem Urlaub.

»Wie weit ist Ida?«, fragte Malin.

»Ich hab versucht, sie ein bisschen anzutreiben, denn wir müssen jetzt wirklich los. Auf den Straßen herrscht absolutes Chaos, wir werden lange brauchen.«

Malin nickte, stand auf und rief:

»Ida!!«

Sie war das Getrödel ihrer Tochter genauso leid wie Kaj, zeigte aber doch ein wenig Verständnis. In diesem Alter hatte man einfach einen anderen Rhythmus im Körper, bei ihr war das nicht anders gewesen, auch wenn man damals noch nicht die halbe Nacht damit zubrachte, sich in den sozialen Medien herumzutreiben und so viele Kommentare wie möglich abzusondern. Und dann den Rest der Nacht mit dem Freund auf Facetime abzuhängen. Malin hatte den Verdacht, dass die beiden auch miteinander online verbunden blieben, wenn sie schliefen, und das gefiel ihr nicht. Sie fand, Sebastian wirkte ein bisschen wie ein Kontrollfreak, und sie hatte auch schon versucht, mit ihrer Tochter darüber zu sprechen. Natürlich war Ida furchtbar wütend geworden. Sie warf ihr vor, sich in Sachen einzumischen, von denen sie keine Ahnung hatte, um sich dann in ihrem Zimmer zu verbarrikadieren.

Und Sebbe anzurufen.

Malin hatte das Thema ruhen lassen, doch ihr Misstrauen war geblieben.

»Wir brechen jetzt auf!«, rief Kaj auf dem Weg zur Haustür in Richtung von Idas Zimmer. Für die lange Fahrt hatte er sich halbwegs bequeme Klamotten angezogen, und jetzt musste er nur noch das letzte Paket Skier zum Auto bringen. Alles, was ihnen möglicherweise noch an Ausrüstung fehlte, konnte man in Sälen leihen.

Kaj ging mit den Skiern in der Hand raus zum Auto, schob sie in die Dachbox. Eine geniale Erfindung, dachte er, als er die Box zuklappte. Malin kam auch schon, sie hatte ihre Daunenjacke über dem Arm und eine Plastiktüte mit Essen in der Hand, damit sie die ersten hundert Kilometer ohne Pause überstehen würden. Ida hatte die Angewohnheit, sowie sie auf der Autobahn waren, »einen Jibber auf irgendwas« zu kriegen.

Kaj setzte sich hinters Steuer und zog die Fahrertür zu. Malin öffnete die Beifahrertür.

»Ich will vorne sitzen! Bitte!«, machte Ida sich bemerkbar, die eben die Haustür zugeknallt und abgeschlossen hatte. »Ich merk schon, wie mir schlecht wird!«

Malin trat einen Schritt zurück. Sie wusste, dass Ida manchmal beim Autofahren übel wurde, vor allem dann, wenn sie sich damit einen angenehmeren Platz ergaunern wollte.

Aber was tat man nicht alles für seine einzige Tochter.

Malin hielt Ida die Tür auf, die jetzt in Zeitlupe mit Kopfhörern in den Ohren und Handy in der Hand zum Auto geschlendert kam. Sie trug Jeans und einen dünnen Pullover, der schräg über die eine Schulter gerutscht war. Als sie sich neben Kaj auf den Sitz warf, sah er sie an.

»Aber, Ida …!«

Da Ida immer noch mitten im Gespräch mit ihrem Freund war, reagierte sie nicht.

»Wo hast du denn den Rest?«, fragte Kaj. »Die Jacke, die Schneehose? Du musst doch …«

»Ich hab alles eingepackt«, sagte Malin, ehe sie die Beifahrertür zuschlug und Anstalten machte, selbst hinten einzusteigen. »Alles in Ordnung.«

Kaj schüttelte leicht den Kopf und drehte den Zündschlüssel herum.

Die Explosion erfolgte unmittelbar und war verheerend.

Das Auto der Familie Brovall wurde in Stücke gerissen, Teile des Kühlers pflügten eine zehn Meter lange Schneise in den Schnee, die Dachbox flog quer über die Straße und zerschlug in einem gegenüberliegenden Haus eine Scheibe, eine Schneewehe wurde mit Blut bedeckt, und eine Feuersäule stieg prasselnd aus der auseinandergerissenen Karosserie in die kalte Luft hinauf.

Und dann wurde es still.

Lähmend still.

Das Einzige, was man noch hörte, war das Knistern des Feuers im Wrack.

Sie versucht, ihr Kind über der Oberfläche zu halten, doch der kleine Körper gleitet ihr aus der Hand und sinkt nach unten, nein, er sinkt nicht, sondern wird runtergesogen. Blau, Rot, Gelb, Grün – Farben umschließen ihren Körper und ziehen ihn unbarmherzig mit sich in die Tiefe. Rund? Die Farben sind rund, und sie drücken sich an sie, schließen sie ein, verschlucken sie, sanft, aber gleichzeitig erstickend. Schwer, Luft zu holen. Sie muss hoch. Hoch zu ihrem Kind. Es ist doch so klein. Kommt allein nicht klar. Panik wallt auf. Sie tastet mit den Füßen. Es muss doch einen Boden geben. Es gibt immer einen Boden. Sie merkt, wie ihr Mund sich öffnet und zu einem Schrei formt, aber die Farben absorbieren die Stimme, ehe sie die Lippen überwinden kann, und es kommt kein Laut heraus. Sie muss rauf an die Oberfläche. Hilfe holen. Plötzlich löst sich der saugende Griff um ihren Körper, und sie kann sich wieder hochhieven. Zwischen den Farben glitzern Lichtfunken. Da! Da sind die Konturen des kleinen Körpers. Das Kind ist noch da oben! Es lebt! Es hüpft auf der Oberfläche aus runden Farben! Das Glücksgefühl gibt ihr die Kraft, sich nach oben durchzuschieben. Was ist das hier? Als sie endlich die letzten runden Farben beiseiteschiebt und ins warme Licht zurückkehrt, da sieht sie: ein Meer aus Bällen? Sie befindet sich in einem unendlichen Meer aus Bällen? Ein leises Jammern ist zu hören, sie wendet den Kopf, und gerade außerhalb ihrer Reichweite sieht sie ihr kleines Kind. Sie sieht, wie der flaumige Kopf des Babys langsam unter die Oberfläche aus Bällen sinkt, während sie selbst endlich Luft in die Lungen bekommen hat. Sie ruft und versucht verzweifelt, sich zu dem Kind hinzuarbeiten, doch sie kommt nicht vom Fleck. Sie sitzt fest. Wie in einem Schraubstock. Die Bälle haben sich wie nasser Sand um ihren Körper geschlossen. Hat meine Mutter das gefühlt?, denkt sie und sieht, wie das kleine Mädchen von derselben Kraft, gegen die sie eben gekämpft hat, ins Bällemeer gezogen wird. Sie sieht, wie ihre ungeborene Tochter von den Ballmassen verschluckt wird und in der Tiefe verschwindet. Eine kleine gestrickte hellgelbe Socke, die sich vom Fuß des Babys gelöst hat, bleibt noch ein Weilchen auf einem roten Ball, ehe auch sie weg ist.

Machtlos!

Warum bin ich so machtlos!

Das hartnäckige Klingeln ihres Handys riss Olivia schließlich aus dem Albtraum. Sie war schweißgebadet. Auf dem Display stand »Mette Olsäter«, das konnte sie gerade noch erkennen, ehe der Schirm wieder dunkel wurde.

Sie setzte sich im Bett auf. Es war ein wiederkehrender Traum, doch zeigte er sich in unterschiedlicher Gestalt. Das Kind, das sie nicht zu retten vermochte. Ihr Kind, das beschlossen hatte, ihren Körper bereits nach zehn Wochen zu verlassen. Eine schwere Zeit. Sie hatte den ganzen Weg zurückgelegt: von der Überraschung, schwanger zu sein, und der Angst vor der Entscheidung, was sie tun sollte, bis zum Glück darüber, ein Kind zu erwarten.

Und am Ende dieses Weges war sie fast ein bisschen euphorisch gewesen.

Und dann kamen die Blutungen. Die Fehlgeburt. Jamie war im Krankenhaus dabei gewesen, hatte sie umarmt, getröstet. Er war gut gewesen. Und traurig.

Die erste Zeit nach der Fehlgeburt umarmten sie sich noch. Immerhin hatten sie die Entscheidung getroffen, gemeinsam Eltern zu sein, auch wenn die Schwangerschaft sie beide überrumpelt hatte. Doch sie war auch das Einzige, was sie verband, denn gefühlsmäßig hatten sie einander schon vor vielen Jahren verlassen. Der kleine Rückfall, der zur Zeugung führte, war nichts weiter gewesen als die Befriedigung eines akuten Bedürfnisses nach Nähe. Jetzt schrieben sie sich ab und zu kurze SMS, und Olivia musste mit ihren Albträumen allein klarkommen.

Sie drehte ihr klatschnasses Kissen herum. Was war da eigentlich in ihrem Unterbewusstsein los?

Ein Meer aus Bällen?

Sie langte nach ihrem Handy, dem älteren Modell von den beiden, die sie besaß. Es war 8.00 Uhr morgens, und es war Samstag. Ihr freier Tag. Und Mette rief auf dem Arbeitshandy an – aber sicher nicht, um eine Einladung zum Abendessen in ihrem gemütlichen Haus in Kummelnäs auszusprechen.

»Endlich!«, rief Mette.

Volles Adrenalin. Olivia hörte es schon an ihrer Stimme, die gellend klang und sich fast überschlug, was ungewöhnlich war. Mette war nicht der Typ, der sich unnötig aufregte. Denk an deinen Blutdruck, war sie versucht zu sagen, wusste aber, dass Mette dann nur sauer werden würde. Ihre Chefin hasste es, wenn jemand sie darauf hinwies, sie solle auf ihre Gesundheit achten.

»Was ist denn los?«, fragte Olivia.

»Hast du es noch nicht gehört?«

»Nein.«

Olivia wollte nicht extra darauf hinweisen, dass normale Menschen gern ausschliefen, wenn sie frei hatten.

»Eine Autobombe in Täby. Malin Brovall, du weißt, wer das ist, oder?«

»Die Staatsanwältin?«

»Ja. Sie und ihre Familie wollten in die Berge fahren, ihr Auto ist heute Morgen in der Einfahrt gesprengt worden. Es könnte sich um einen Terrorangriff handeln. Komm sofort her!«

»Bin schon unterwegs.«

Olivia drückte das Gespräch weg, warf die Decke ab und bereute es sofort. In ihrer Wohnung war es eiskalt, wie sie jetzt merkte, und zwar richtig eiskalt. Ihre Daunendecke und die Albträume hatten sie während der Nacht warm gehalten. Sie trat an die Heizung, gerade mal lauwarm, sie musste daran denken, mit dem Hausverwalter zu sprechen. Ein Blick aufs Thermometer vor dem Fenster verriet, dass draußen minus neunzehn Grad herrschten. Olivia sah hinaus. Der Himmel über Södermalm wirkte schuldbewusst grau und sonderte große, schwere Schneeflocken ab.

Ich hasse Kälte und Dunkelheit, dachte Olivia, als sie sich zitternd ins Badezimmer begab.

Eine Autobombe?

Ihre Haare waren immer noch nass, als sie durch den Hauseingang auf der Högalidsgatan trat. Bei den Temperaturen vielleicht nicht so schlau. Sie zog sich die Kapuze über den Kopf, schob die Hände in die Jackentaschen und stellte sich dem eiskalten Wind entgegen, indem sie den Kopf stur gesenkt hielt. Den Blick richtete sie auf ihre schwarzen Doc Martens-Stiefel, in denen sie im Schnee über den Bürgersteig schlitterte.

Die Haarspitzen waren schon zu Eis gefroren, als sie an der Långholmsgatan bei der Bushaltestelle ankam. Auf der Straße waren fast keine Autos unterwegs, abgesehen von einem Schneepflug, der noch mehr Schnee auf den Bürgersteig schaufelte. Sie musste zur Seite springen, um nicht niedergewalzt zu werden. Etwas weiter hinten bei der Västerbron sah sie, dass ein Bus in ein Geländer gerutscht war und mit allem blinkte, was ihm zur Verfügung stand. Kein guter Tag zum Busfahren, erkannte sie, und ging lieber zur U-Bahn.

Als sie schließlich den Flur in der Nationalen Operativen Abteilung NOA hinunterging, schien das ganze Haus schon vor Aktivität zu vibrieren. Alle liefen hin und her, und sie musste mehrmals ausweichen, um nicht mit einem Kollegen zusammenzustoßen, der im Laufschritt auf sie zukam. Endlich stand sie vor Mettes Tür, die angelehnt war. Olivia konnte hören, dass drinnen ein Fernseher lief.

Sie klopfte leise.

»Ja?«

Olivia trat ein. Mette stand zusammen mit Bosse Thyrén und schaute auf den Fernsehschirm an der Wand. Beide hatten zerzaustes Haar und standen mit leicht geröteten Wangen dicht beieinander. Wenn Olivia es nicht besser gewusst hätte, wäre sie peinlich berührt gewesen, vielleicht doch in eine intimere Situation zu platzen.

Doch so war es nicht.

Und sie wusste es genau.

Vor ihr standen zwei Kollegen, die ebenso wie sie viel zu früh an einem Samstagmorgen zum Einsatz gerufen worden waren, mit dem Unterschied, dass die beiden wahrscheinlich, um so schnell wie möglich vor Ort zu sein, auf eine Dusche verzichtet hatten, im Gegensatz zu ihr. Auf dem Fernsehschirm vor ihnen sah man einen einsamen Journalisten, der im Schneetreiben vor der Polizeiabsperrung beim Haus der Familie Brovall in Täby stand. Im Hintergrund war das ausgebrannte Fahrzeug zu erkennen, um das herum die Polizei fieberhaft arbeitete. Der Reporter interviewte eine Polizeisprecherin, die keine konkreten Informationen über das Ereignis zu bieten hatte. Sie verwies auf eine bald stattfindende Pressekonferenz.

Mette drehte die Lautstärke herunter und wandte sich Olivia zu.

»Das hat gedauert. In zehn Minuten ist Besprechung.«

Kaum hatte Mette den Satz beendet, da kam schon Lisa Hedqvist zur Tür herein. Sie nickte Olivia leicht zu, dann wandte sie sich an Mette.

»Ich glaube, jetzt sind alle da.«

»Gut. Hast du darauf geachtet, dass Computer und Bildschirm funktionieren?«

»Ja.«

Mette fuhr sich durch das zerzauste, ungekämmte Haar und zog ihr Hemd ein wenig über den Bauch herunter, um einen so ordentlichen Eindruck wie möglich zu machen. Sie hatte den Blick schon vergessen, den ihr geliebter Mann Mårten ihr am Morgen zugeworfen hatte, ehe sie zu dem wartenden Wagen hinausgeeilt war. Pensionierung in allen Ehren, aber die musste jetzt noch ein bisschen länger warten. Wenn man gebraucht wurde, dann war es eben so. Vor exakt zwei Stunden und siebenundzwanzig Minuten waren Staatsanwältin Malin Brovall und ihre Familie in die Luft gesprengt worden.

Mette stand bereit herauszufinden, warum.

Das Gemurmel in dem vollbesetzten Raum verstummte, als Mette zusammen mit ihrem engsten Kreis eintrat. Hier waren einige der besten Ermittler versammelt, die die NOA zu bieten hatte, zudem noch eine Reihe von Spezialisten auf den unterschiedlichsten Gebieten. Dazu die beiden Streifenpolizisten in Uniform, die als Erste am Tatort angekommen waren. Ein Mann und eine Frau, und sie sahen nach dem, was sie erlebt hatten, erschöpft und mitgenommen aus. Beide hatten noch Ruß im Gesicht und auf den Kleidern. Mette richtete sich zuallererst an sie und bat sie, allen Anwesenden den Verlauf der Ereignisse zu schildern.

Polizeiassistentin Göransson ergriff das Wort. Sie hatten sich wegen eines möglichen Einbruchs mit ihrem Streifenwagen bei Täby Centrum befunden, als sie um 7.18 Uhr über 112 alarmiert wurden. Eine Nachbarin der Familie Brovall war von der Explosion aufgewacht und hatte den Notruf abgesetzt. Während des Gesprächs mit der Notrufzentrale stellte sich heraus, dass ein Auto auf der Garagenauffahrt der Familie Brovall am Furuvägen in Gribbylund explodiert war. Die Polizisten waren binnen sieben Minuten dort, und kurz darauf kamen auch Feuerwehr und Krankenwagen. Ihnen bot sich ein schrecklicher Anblick. Das Auto brannte immer noch. Die schockierte Nachbarin, die angerufen hatte, war im Morgenmantel rausgerannt, um Erste Hilfe zu leisten. Als die Polizei eintraf, saß sie im Schnee, hatte Malin Brovalls Kopf auf ihrem Schoß und wiegte sie hin und her. Sie war voller Blut und völlig unterkühlt. Ein älterer Mann lief mit einem kleinen Hund auf dem Arm den Bürgersteig auf und ab und weinte. Mehrere weitere Nachbarn waren aus ihren Häusern gekommen und hatten versucht, das Feuer zu löschen.

Doch es war zu spät.

»Kaj Brovall muss auf dem Fahrersitz gesessen haben«, erklärte Göransson, »sein Körper war völlig zerfetzt, er muss sofort tot gewesen sein. Die Tochter Ida saß neben ihm auf dem Beifahrersitz und starb wahrscheinlich auch sofort, aber ihr Körper war etwas intakter. Malin Brovall wies leichte Vitalzeichen auf und wurde umgehend ins Krankenhaus Danderyd gefahren. Genau wie die unter Schock stehende Nachbarin, die noch nicht ordentlich befragt werden konnte.«

»Das heißt, Malin Brovall befand sich wahrscheinlich außerhalb des Wagens, als er explodierte?«, erkundigte sich Mette.

»Ja, oder sie war gerade dabei, sich reinzusetzen. Nach den Spuren im Schnee zu urteilen, hat die schockierte Nachbarin Malin Brovall ein Stück vom Auto weggezerrt, um sie vor den Flammen zu retten.«

Mette tippte auf dem Computer vor sich herum, und dramatische Fotos vom Tatort erschienen auf dem Bildschirm hinter ihr.

»Sind das die Bilder, die ihr vor Ort gemacht habt?«, fragte sie.

»Ja, gleich nachdem Malin Brovall und die Nachbarin weg waren.«

»Da ist noch nichts abgesperrt.«

»Das ist sofort danach geschehen.«

Die Polizeiassistentin sah zu ihrem Kollegen, der nickte.

»Ja, das mit den Absperrungen haben wir erledigt, nachdem wir uns um die akuten Sachen gekümmert hatten«, ergänzte er.

»Das heißt, bis dahin konnten sich viele Menschen um das Auto herum bewegen?«, hakte Mette nach.

»Ja, als Tatort ist das Ganze ziemlich kontaminiert. Sowohl von Rettungspersonal als auch von Nachbarn. Und vom Schnee. Aber die Techniker kamen schon, als wir noch da waren.«

Die Streifenpolizisten von der Polizei Täby wurden von Mette und ihren Kollegen noch weiter befragt, ehe sie endlich den Raum verlassen und sich nach diesem traumatischen Erlebnis um sich selbst kümmern durften. Sie hatten sich ausgezeichnet verhalten, fand Mette, sowohl vor Ort als auch bei ihrer Berichterstattung.

»So, jetzt fängt unsere Arbeit an«, stellte sie fest, als die beiden gegangen waren. »Wir stehen im Rampenlicht vor der Öffentlichkeit und müssen extrem effektiv sein. Und ich möchte, dass die Ermittler sich folgendermaßen aufteilen.«

Mette drückte erneut auf eine Computertaste, und auf dem Großbildschirm hinter ihr erschien eine Einteilung in Gruppen von A bis F.

»Wie ihr wisst, ist Malin Brovall Staatsanwältin. Momentan war sie mit einer möglichen Terrorzelle befasst, einer Gruppe radikalisierter junger Männer, die schon eine ganze Weile vom Staatsschutz beobachtet werden. Ich habe alles Material zu dieser Ermittlung von der Säpo angefordert. Soweit wir wissen, hat Malin Brovall heute Nacht eine Drohmail erhalten, die sie heute Morgen an ihren Chef weitergeleitet hat. Es ist noch nicht geklärt, wer diese Mail geschickt hat, aufgrund ihrer Untersuchungen könnte eine Verbindung zu der aktuellen Terrorzelle bestehen. Deshalb umfasst die Gruppe A, die sich auf die Hauptspur, die Terrorverbindung, konzentriert, so viele Mitarbeiter. Gleichzeitig müssen wir aber breit und vorurteilsfrei arbeiten. Jeder Stein muss umgedreht werden.«

Mette erklärte weiter, worauf sich die unterschiedlichen Gruppen konzentrieren sollten. Olivia bemerkte mit einem Blick, dass Lisa und sie in Gruppe F gelandet waren.

Die letzte Gruppe.

Und nur sie beide.

Sie sah verstohlen zu Lisa, die ihren Blick bemerkte und etwas resigniert mit den Schultern zuckte. Keine von beiden begriff, warum sie vom Auge des Orkans ferngehalten wurden. Nun wandte sich Mette ihnen zu.

»Ich möchte noch betonen, dass die Gruppeneinteilung und die wenig originellen Namen keinerlei Wertung oder Rangordnung bedeuten. Das musste alles ziemlich schnell gehen heute, ich hoffe, ihr versteht das.«

Mettes Blick suchte stille Bestätigung bei Olivia. Sie registriert einfach alles, dachte Olivia, sogar, was man denkt. Und dann nickte sie Mette unmerklich zu, um zu zeigen, dass sie verstand.

»Nun schließlich Gruppe F: Olivia Rönning und Lisa Hedqvist. Ich möchte, dass ihr etwas freier, ohne jegliche Festlegungen arbeitet. Sucht nach möglichen Alternativen oder Szenarien, geht alte Fälle durch, mit denen Malin Brovall befasst war, und so weiter. Ist das klar?«

Lisa und Olivia nickten.

»Gut«, sagte Mette. »Jede Gruppe hat einen Gruppenleiter, der an mich berichtet. Wir werden uns jeden Tag jeweils um 9.00 Uhr und um 15.00 Uhr hier versammeln, und ich möchte, dass ihr vor jeder Besprechung eure Smartphones draußen in die Schränke einschließt. Wir benutzen ausschließlich unsere internen Arbeitstelefone. Aus diesem Raum darf nichts herausdringen. Absolut gar nichts. Ich halte gemeinsam mit dem Chef der Gruppe A, Bosse Thyrén, die Kollegen von der Säpo auf dem Laufenden.«

Mette sah auf ihre schwarze Armbanduhr.

»In fünf Minuten findet die Pressekonferenz statt, wir schalten den Großbildschirm ein, sodass alle die Sendung verfolgen können. Danach fahren Bosse, Ellinor und ich zum Tatort raus. Wir sehen uns um 15.00 Uhr wieder. Danke!«

Mette klickte die Seite mit der Gruppeneinteilung weg. Im Raum hob das Murmeln wieder an. Lisa fing an, auf dem Computer die Fernsehsendung einzustellen. Olivia ging hin, um ihr zu helfen, als plötzlich ein dunkel gekleideter Mann, den niemand kannte, in der Tür stand und Mette zuwinkte. Sie ging zu ihm und warf einen Blick über ihre Schulter, ehe sie zusammen in den Flur hinaustraten. Olivia sah ihnen nach und fragte Lisa:

»Wer war das?«

»Keine Ahnung.«

»Säpo«, flüsterte Bosse, der plötzlich neben ihnen aufgetaucht war, »Staatsschutz.«

Er lächelte.

»Ich habe sie nicht bestochen, um in Gruppe A zu kommen«, fuhr er fort.

»Nicht?«

Lisa erwiderte sein Lächeln. Da kam Mette wieder in den Raum. Ohne den Säpo-Mann. Das ging ja schnell, dachte Olivia und fand, dass Mette etwas bestürzt wirkte.

Erst sehr viel später würde sie verstehen, warum.

Jetzt räusperte sich Mette erst mal, um die Blicke aller Anwesenden auf sich zu ziehen.

»Ich muss noch einmal um eure Aufmerksamkeit bitten.«

Sie schaute auf ihre Hände herab, die sie vor sich gefaltet hatte, und es sah aus, als müsse sie sich einen Ruck geben, ehe sie aufsah und den Blick in den Raum richtete.

Sie sah alle und gleichzeitig keinen an.

»Ich muss leider mitteilen, dass auch Malin Brovall ihren Verletzungen erlegen ist.«

Mette senkte den Kopf.

*

Der Mann hielt ein fleckiges kleines Stück Stoff in der Hand, sein Fernseher stand in einem Bücherregal, und er schaute auf den Bildschirm, während er einen Pinsel mit dem Stoffstückchen abwischte. Da lief eine Pressekonferenz über eine Autobombe in Täby. Als er fertig gewischt hatte, schaltete er den Fernseher aus, nahm einen Bleistift zur Hand und öffnete das kleine Tagebuch auf dem Tisch vor sich. Auf eine leere Seite schrieb er in sehr schöner Handschrift: »Malin Brovall zu Tode gesprengt.«

Er schrieb noch einen weiteren Satz, dann ging er ins Atelier und schaltete die Neonröhre an der Decke ein. Er spürte, wie die Kopfschmerzen stärker wurden, bald würde er dort sein. Er kontrollierte, dass die Farbtuben bereitlagen, drei schwarze, eine blaue und vier in Ockergelb.

Malin Brovall?

Er sah das Gesicht seiner Mutter vor sich, die Tränen auf den Wangen, wie sie versuchte, einen trockenen Keks zu kauen. »Nichts hört auf«, sagte sie.

Er sah auf den Pinsel in seiner Hand.

Ihre Rippen, dachte er und drückte einen kurzen Strang Ocker auf die weichen Borsten.

*

Gruppe F war Kaffee fassen gegangen und hatte sich dann in dem Büro eingerichtet, das ihr zugeteilt worden war. Zwei Schreibtische, ein fast leeres Bücherregal in Birke, viel mehr war es nicht. Gemütlichkeitsfaktor nicht existent, aber deshalb waren sie ja auch nicht hier. Draußen vorm Fenster schneite es wie verrückt, drinnen im Büro herrschte dieselbe Aktivität wie bei den anderen Gruppen. Sie warteten auf das Material, das sie zuerst durchgehen wollten.

Malin Brovalls alte Fälle.

Olivia sah zu Lisa, die auf ihren heißen Kaffee blies. Wieder waren sie beide zusammengeworfen worden. Es hatte eine Zeit gegeben, als das nicht ohne Probleme gegangen war, doch die hatten sie überwunden. Inzwischen arbeiteten sie gut zusammen. Es war nicht so, dass sie nach der Arbeit noch was gemeinsam unternahmen, und Olivia hatte Lisa auch nicht von ihrer Fehlgeburt erzählt, doch davon wusste außer Jamie sowieso niemand.

Fast niemand. Luna noch, die Lebensgefährtin von Tom Stilton.

Luna wiederum hatte die Erlaubnis erhalten, Tom davon zu erzählen, aber da verlief die Grenze. Nicht einmal ihre Mutter wusste Bescheid. Sie hatte niemandem von der Schwangerschaft erzählen wollen, ehe die obligatorischen drei ersten Monate um waren. Und nachdem es passiert war, hatte es sich besser angefühlt, mit niemandem zu reden. Was geschehen war, betraf sie und Jamie, sie hatten gemeinsam getrauert. Nach außen war Olivia nach ein paar Tagen »Magen-Darm« wieder zur Arbeit gegangen.

So waren ihr die mitleidigen Blicke der Kollegen erspart geblieben.

Auch die von Lisa.

»Man hat ein bisschen den Eindruck, aufs Altenteil verfrachtet worden zu sein«, meinte Lisa und stellte die heiße Tasse Kaffee mit dem FBI-Logo auf den Tisch.

Die Tasse hatte sie von einem Kollegen bekommen, der in der Terrorfinanzierung arbeitete, und sie liebte die Tasse, niemand anders durfte sie anrühren. Olivia selbst besaß keine Lieblingstasse, nicht einmal eine, auf der »Polizei Stockholm« oder »NOA« stand. Sie hatte eine von Mette übernehmen dürfen, auf der »Die beste Oma der Welt« stand, was natürlich immer noch eine Steilvorlage für Kommentare war.

»Da kann man nur gute Miene machen«, antwortete Olivia. »Ich behaupte einfach mal, dass wir auserwählt wurden, weil wir diejenigen sind, die am besten ohne Scheuklappen denken.«

Lisa lächelte.

Sie hatte wirklich gelernt, ihre Kollegin zu mögen, und Olivia war im Laufe der Zeit, die sie mittlerweile schon zusammenarbeiteten, entschieden gereift. Lisa war aufgefallen, dass Olivia vor einer Weile eine harte Zeit gehabt hatte, und sie hatte auch einen Verdacht, worum es dabei gegangen war. Gesagt hatte sie aber trotzdem nichts. Olivia besaß eine besondere Integrität, vor der Lisa ziemlich Respekt hatte. Sie wusste aber auch, dass sie zuverlässig war. Ja, eigentlich vereinte Olivia alle Eigenschaften, die Lisa bei einer Freundin mochte, doch sie waren keine Freundinnen, nicht wirklich jedenfalls, sie waren Kolleginnen, die sich inzwischen sehr gut verstanden.

»Okay, dann sehen wir es mal so«, erwiderte sie. »Wir sind die supertolle, auserwählte Ermittlergruppe mit dem großen F. Und – wo fangen wir an?«

»Ich denke mal in der Gegenwart, und dann arbeiten wir uns zurück.«

Olivia nahm einen Schluck aus ihrer Tasse und merkte, dass sie keine Zeit für ein Frühstück gehabt hatte. Der starke Kaffee brannte im Magen.

»Gab es im Besprechungsraum was zu essen?«, fragte sie.

»Ich glaube, die wollten Butterbrote bestellen, ich kann gehen und nachsehen, wenn du willst.«

Lisa erhob sich.

»Ich kann selbst gehen«, meinte Olivia.

»Nein, kein Problem«, antwortete Lisa und zeigte auf ihren Arm. »Ich brauche Strecke auf meinem Schrittzähler, ich gehe also gern. Mein Gefühl ist nämlich, dass wir hier noch eine ganze Weile stillsitzen müssen.«

Lisa verließ den Raum, und Olivia blickte aus dem Fenster in den Schnee. Irgendwie muss ich es noch schaffen, einen zusätzlichen Heizkörper zu kaufen, dachte sie. Die Hausverwaltung wird frühestens am Montag wieder erreichbar sein, und bis dahin bin ich längst erfroren. Der Rechner gab ein Geräusch von sich. Eine größere Anzahl Dokumente war in ihrem Eingangskorb gelandet. Sie klickte sie an und begann sie auszudrucken.

Lisa kam mit zwei in Plastikfolie eingewickelten Käsebrötchen zurück, von denen sie eines Olivia gab. Alles andere als tagesfrisch – das wurde ihr schnell klar, als sie reinbiss, aber das musste jetzt reichen.

»Was, wenn die Tat sich gar nicht gegen Malin Brovall richtete? Sondern gegen ihren Mann?«, schlug sie vor.

Olivia redete an dem schwer zu kauenden Brötchen in ihrem Mund vorbei.

»Er war Wirtschaftsprüfer. Bringt man so Revisoren um?«, antwortete Lisa, während sie mit angeekelter Miene ein schlappes Salatblatt aus ihrem Brötchen entfernte.

»Möglich. Wenn man von seinem Abschluss enttäuscht ist oder wenn man ungesetzliche Transaktionen durchgeführt hat? Wir müssen ihn auch kontrollieren.«

»Absolut. Und die Tochter Ida.«

»Wie alt war sie?«

»Sechzehn.«

»Aber lass uns mal damit anfangen, das hier durchzupflügen«, meinte Olivia und zeigte auf den Drucker, der ein Papier nach dem anderen ausspie.

»Ich glaube, ich fange mit dem Wachmann an«, sagte Lisa.

»Okay. Warum?«

»Der war diese Nacht da, nur ein Stück weit von Brovalls Haus entfernt. Weißt du, wie die Wachfirma heißt, für die er arbeitet?«

»Nein.«

Lisa rief die Ordnungspolizei an und bekam den Namen. »Stockholms Wachunternehmen«. Sie rief dort an und erhielt den Namen des Wachmanns, der laut Arbeitsplan die Schicht gehabt hatte. Bengt Näs. Als sie Näs persönlich erreichte, war sie ein wenig irritiert, denn er hatte diese Nacht gar nicht gearbeitet.

»Wer dann?«

»Das war Anders.«

»Anders wer?«, fragte Lisa.

»Grytman. Wir haben getauscht.«

»Aha. Und warum?«

»Ich musste mich um den Jungen kümmern, liegt mit Ziegenpeter flach, und die Frau hatte Nachtdienst im Söderkrankenhaus«, erklärte Bengt.

»Verstehe. Haben Sie eine Nummer, unter der ich Grytman erreichen kann?«

Näs gab sie ihr, und kurz darauf hatte Lisa auch Anders Grytman an der Strippe.

»Sie haben diese Nacht offenbar mit Bengt Näs die Schicht getauscht, stimmt das?«, fragte sie.

»Ja.«

»Warum, wenn ich fragen darf?«

»Na ja, ich brauchte ein paar Extraschichten, ich bin finanziell ein bisschen hinterher, und Bengt hat mir geholfen«, erklärte Anders.

»Ach so? Er war also nicht mit einem kranken Kind zu Hause?«

»Nein. Wieso?«

»Inwiefern sind Sie finanziell ein bisschen hinterher?«, fragte Lisa.

»Muss ich dazu was sagen?«

»Ist es was Heikles?«

»Nein. Ich hab ein paar Spielschulden«, meinte Anders.

»Okay. Aber danke, Anders, wenn sich noch was ergibt, melden wir uns.«

Lisa beendete das Gespräch, drehte sich zum Bildschirm, loggte sich ein und jagte Anders Grytmans Namen durch den Computer. Sie fand einen Freispruch wegen einer geringfügigen Körperverletzung im Zusammenhang mit einem Kneipenstreit. Aus den Informationen ging auch hervor, dass er sporadische Kontakte zu den Bandidos in Stockholm pflegte und einen Wohnsitz in Pattaya in Thailand unterhielt.

Anders Grytman?, dachte Lisa.

Als Mette mit Bosse und Kriminalassistentin Ellinor Valbom vor dem Haus der Brovalls aus dem Auto stieg, verfluchte sie ihre Wahl des Schuhwerks. Vor lauter Stress hatte sie, nur um ein paar Sekunden zu sparen, am Morgen die gefütterten Lederstiefel zugunsten flacher Halbschuhe aufgegeben.

Was hatte sie sich dabei nur gedacht?

Draußen lag mindestens ein halber Meter Neuschnee.

Die Fahrt nach Täby hatte wegen der Verkehrslage ewig gedauert. Überall standen Autos herum, die von der Fahrbahn abgekommen waren, und die, die sich immer noch auf der Straße hielten, schlichen mit dreißig über die Autobahn. Somit hatten sie während der Fahrt einiges besprechen können und laufend Informationen von der Säpo erhalten, unter anderem über eine Anschrift in Märsta, wo einige der Terrorverdächtigen sich zeitweilig aufgehalten haben sollten. Mette hatte mit ihren Vorgesetzten einen Einsatz der Nationalen Eingreiftruppe, die in Bereitschaft lag, erwogen.

Eine Reihe steifgefrorener Reporter und Kameraleute überfiel sie, sowie Ellinor den Wagen zum Stehen gebracht hatte. Mette wies sie freundlich, aber bestimmt ab. In der derzeitigen Situation durfte nichts von dem, was die Polizei plante, von übereifrigen Journalisten aus ihnen rausgepresst werden. Mette hob das Plastikband hoch, und Bosse, Ellinor und sie duckten sich unter der Absperrung zum Tatort durch.

Die Arbeit der Kriminaltechniker wurde durch den starken Schneefall erschwert, und einige von ihnen waren dabei, auf der Jagd nach möglichen Spuren den Schnee um den Tatort wegzuschmelzen. Eine Sisyphusarbeit. Sowie der Brand gelöscht war, hatte man ein Zeltdach provisorisch über das Auto gestellt, doch der Schnee drückte das Dach schon herunter, sodass die Konstruktion schwankte. Soeben war die Entscheidung getroffen worden, das Auto so schnell wie möglich in die Räume der Kriminaltechnik zu bringen, um es dort noch einmal zu untersuchen.

Mette sah zu Brovalls Haus auf.

Vor vielen Jahren war sie ein paarmal zum Abendessen hier gewesen. Malin und sie waren Mitglieder im selben Leseclub gewesen, den ein paar Frauen, die sich durch die Arbeit kannten, gegründet hatten, um mal etwas anderes zu lesen als nur Gerichtsprotokolle, juristische Gutachten und Polizeiberichte. Der Club hatte ein paar Jahre lang bestanden, mit einigen bekannten und diversen vergessenen Schriftstellerinnen als Lektüre, und er bot einen willkommenen Anlass, bei gutem Essen und Wein zusammenzusitzen und sich zu unterhalten. Malin war besonders in die Bücher von Joan Didion verliebt gewesen, daran erinnerte sich Mette noch, aber warum der Leseclub eingeschlafen war, fiel ihr nicht mehr ein. Wahrscheinlich aus Zeitmangel.

Jetzt herrschte eine andere, fieberhafte Aktivität in dem Haus. Ellinor fragte bei den Polizisten nach, die an alle Türen in der Umgebung geklopft hatten, ob sie irgendwelche Informationen von Wert sammeln konnten. Bosse eilte durch den Schnee zu einem der Techniker, der bei dem ausgebrannten Wagen stand und einem zweiten Mann, der sich darunter befand und von dem nur ein paar grobe Stiefel herausschauten, ein Werkzeug reichte.

»Habt ihr die Bombenkonstruktion schon gefunden?«, fragte er die Stiefel.

»Kleine Reste davon, ist nicht viel. Aber sie war wahrscheinlich mit der Zündung verbunden.«

»Kannst du sagen, um was für einen Typ es sich handelt?«

Bosse beugte sich ein wenig zu dem Mann auf dem Boden herunter. Der wandt sich unter dem Wagen heraus und bürstete den Schnee von seinem Arbeitsoverall. Mette erkannte ihn sofort und kam dazu.

»Magnus! Der richtige Mann am richtigen Ort.«

»Fräulein Olsäter, lange her«, erwiderte Magnus und grinste Mette breit an.

Fräulein, dachte Bosse, wer zum Teufel darf sie ungestraft »Fräulein« nennen? Doch Mette reagierte nicht und erwiderte das Lächeln.

»Also, was sagst du?«, fragte sie. »Was haben wir hier?«

»Eine Bombe mit echter Sprengkraft, welchen Typs, darüber kann ich noch keine Aussage machen.«

»Wir haben Besprechung um drei, kannst du dabei sein?«

»Ja, klar. Ist nicht wahrscheinlich, dass ich bis dahin mehr Antworten bieten kann, aber ich kann zumindest berichten, was wir wissen.«

»Gut.«

Sie gingen weiter ins Haus, wo die Techniker fieberhaft arbeiteten. Bosse übernahm sogleich das Kommando und begann abzufragen, was man bisher gefunden hatte – und das war sehr wenig. Wegen der Mail, von der man bereits Kenntnis hatte, waren die Computer der Familie natürlich von großem Interesse. Man hatte schon versucht, sich einzuloggen, doch dafür brauchte man Spezialisten für die Passwörter, die aber bereits dran waren. Ansonsten gab es in dem Haus keine Anzeichen auf irgendwelche Vorkommnisse vor der Explosion. Alles war aufgeräumt und ordentlich, abgesehen vom Bett der Tochter, das nicht gemacht war.

Mettes Handy klingelte, und sie trat beiseite und außer Hörweite. Bosse beobachtete sie, sah, wie sie sich ein wenig aufrichtete und gestikulierte, ehe sie auflegte.

»Was?«, fragte er.

»Die Nationale Eingreiftruppe steht in Märsta vor dem Haus bereit. Es herrscht eine gewisse Aktivität in der Wohnung, sie werden also reingehen. Wir sollten deshalb zurückfahren.«

Als die Eingreiftruppe die Wohnung am Rudvägen in Märsta stürmte, fand man eine einzige Frau in Panik vor, die behauptete, sie sei die Putzfrau und solle laut Anweisung die Wohnung aufräumen und einen umfangreichen Umzugsputz machen. Eine Reihe Matratzen auf dem Fußboden zeugten davon, dass dort mindestens fünf Personen gleichzeitig geschlafen hatten. Ansonsten war alles leer. Die Eingreiftruppe verließ die Wohnung wieder und machte Platz für die Techniker.

*

Fünf Minuten vor 15.00 Uhr waren alle außer Mette im Besprechungsraum. Die Nachricht von dem missglückten Zugriff wurde wild diskutiert, als die Tür aufging und ein sehr kleiner Mann mit hellem, lockigen Haar und offenem Gesicht Mette den Vortritt ließ. Er fiel Olivia sofort auf, denn er betrat den Raum zwar nach Mette, blieb dann aber erst mal stehen und ließ den Blick über die Anwesenden gleiten.

Er besetzt das Terrain, wie es nur ein Mann mit sehr hoher Meinung von sich selbst tut, dachte Olivia, aber aussehen tut er richtig gut. Sie sah zu Lisa in der Hoffnung, mit ihr ein paar Blicke über den Bombenexperten austauschen zu können, doch die war in ein paar Papiere vor sich vertieft.

»Ich bitte um Ruhe.«

Mettes Stimme ließ wie gewöhnlich alle unmittelbar aufhorchen.

»Bevor wir beginnen, möchte ich Magnus Larsson vorstellen«, sagte sie. »Sprengmittelexperte. Der beste des Landes, möchte ich hinzufügen. Magnus wird uns berichten, was er und sein Team bisher über die Bombe und alles damit im Zusammenhang Stehende rausgefunden haben.«

Und das tat Magnus nun auf eine Weise, die Olivia viel zu tiefschürfend und ausgedehnt fand. Er redete, als würde er vor einer Kindergartenklasse stehen, die noch nie in der Nähe eines Tatorts gewesen war, und nicht vor den besten Polizisten des Landes.

Mansplaining, dachte sie.

Doch sie war seit eh und je daran gewöhnt, dass Männer ihr Selbstverständlichkeiten erklärten. Inzwischen hatte sie einen sehr guten Filter entwickelt, um das, was es wert war, durchzulassen – meist nur ein Bruchteil. Den Rest der Zeit widmete sie ihre Gedanken wichtigeren Dingen.

Als Magnus nach einer gefühlten Ewigkeit auf die Bombe an sich zu sprechen kam, begann er mit einem kleinen Vorbehalt.

»Wir wissen im Moment noch nicht exakt, mit welcher Art von Bombe wir es zu tun haben, doch eine weitgehend abgesicherte Vermutung ist, dass es sich um eine sehr einfache Konstruktion mit großer Sprengkraft handelt. Eine Konstruktion, die man leicht im Netz finden kann, zum Beispiel auf Douchermans Chemistry page.«

Magnus zeigte auf dem Großbildschirm die Webseite, um dann eine Reihe der Bombenfragmente zu erklären, die beim Auto gefunden wurden.

Seine Ausführungen nahmen fast fünfundzwanzig Minuten in Anspruch, das Wichtigste davon hätte er gut in fünf Minuten erklären können. Als er fertig war, schaute er zufrieden auf seine Zuhörer, als erwartete er Applaus. Mette sah auf die Uhr. Sie hat wohl auch festgestellt, dass hier kostbare Zeit vertrödelt worden war, dachte Olivia.

»Danke, Magnus, für die wertvolle Information«, sagte sie. »Und jetzt folgt der Bericht der Gruppe A. Ihr wisst ja alle, dass der Zugriff in Märsta zu keinen Festnahmen geführt hat. Im Moment sichern wir die Spuren in der Wohnung. Was noch, Bosse?«

Bosse, der Gute, fasste sich genau so kurz, wie Olivia es liebte. Keine Umstände. Er sagte, dass man unmittelbar Einsätze gegen einige der Adressen plane, wo sich die Verdächtigen aufhalten könnten. Eine davon habe Priorität.

Und man arbeite mit der Hypothese, dass jederzeit eine weitere Attacke stattfinden könne.

»Das Attentat auf die Brovalls kann eine isolierte Tat sein«, sagte er. »Doch wir gehen besser davon aus, dass schlimmstenfalls noch weitere folgen.«

Er zeigte auch das Foto von einem Handschuh, der bei dem Autowrack unter dem Schnee gefunden worden war.

»Wie ihr seht, ist das ein Herrenhandschuh. Er könnte von Kaj Brovall stammen, aber wenn wir Glück haben, dann gehört er ihm nicht. Er ist zur technischen Untersuchung ans NFC geschickt worden.«

Dann kamen die anderen Gruppen dran und berichteten, dass man die Telefongespräche und die Computer der Familie Brovall durchging. Olivia sah zu Lisa, die immer noch in ihre Papiere vertieft zu sein schien. Nahm die hier einen Powernap mit offenen Augen? Oder meditierte sie?

Doch als Mette die Besprechung mit ein paar aufmunternden Worten beendete, erwachte Lisa wieder zum Leben. Als sie den Raum verließen, fragte Olivia:

»Kennst du diesen Magnus Larsson?«

»Wie kommst du denn darauf?«

Lisas Antwort kam wie aus der Pistole geschossen, und Olivia wusste nicht, was sie sagen sollte.

»Ich meine ja nur«, murmelte sie.

Lisa antwortete nicht, sondern ging schweigend neben ihr her zu ihrem gemeinsamen Büro.

Es war schon 9.00 Uhr, als Olivia nach einem langen und intensiven Tag endlich auf dem Weg nach Hause war. Der Schneefall hatte etwas nachgelassen, aber es war immer noch ziemlich kalt, als sie aus dem Polizeipräsidium trat. Sie atmete die trockene, eisige Luft ein, zog die Handschuhe an, die sie von Lisa ausgeliehen hatte, und entschied sich, zu Fuß nach Hause zu gehen. Sie hatte das Gefühl, sich nach einem ganzen Tag drinnen bewegen und frische Luft schnappen zu müssen.

Also trotzte sie der Kälte und lief zügig von Kungsholmen in Richtung Södermalm. Der kalte Neuschnee knirschte unter ihren Stiefeln, und Kindheitserinnerungen von Skilanglauf und Picknick mit heißer Schokolade aus der Thermoskanne auf dem See auf Tynningö tauchten in ihrem Kopf auf. Ihr Vater, der Apfelsinen für sie schält und ihr den Pflugbogen beibringt.

Oben auf der Västerbron blies ein eisiger Wind, und sie musste die Kapuze festhalten, damit sie ihr nicht vom Kopf geweht wurde. Sie blieb einen Moment stehen und schaute über den Riddarfjärden und die in weißen, knisternden, glitzernden Schnee eingehüllte Stadt. Zwar hasste sie den Winter und die Kälte, doch sie musste zugeben, dass es schön war, wenn der Schnee eine Chance bekam, liegen zu bleiben, auch wenn der Wind gerade ihre Wangen malträtierte.

Die Heizung!

Sie hatte es nicht geschafft, einen zusätzlichen Heizkörper zu besorgen.

Und jetzt war es zu spät.

Das würde eine schweinekalte Nacht werden.

Als sie über das letzte Stück der Brücke ging, musste sie an den Kahn denken. Lunas Kahn. Auf dem sich eine Menge zusätzlicher Heizkörper befanden, die Luna, falls nötig, in die Kajüte stellen konnte. Nun waren aber Luna und Tom zu Olivias großem Bedauern nicht da. Sie vermisste es, nicht einfach runtergehen und mit ihnen rumhängen zu können, wenn sie sich in ihrer Zweizimmerwohnung auf der Högalidsgatan einsam fühlte.

Doch die beiden waren bei Toms Halbschwester Aditi in Thailand, und Olivia hatte keine Ahnung, wann sie vorhatten, nach Hause zu kommen.

Vielleicht überhaupt nicht mehr.

Luna hatte den Kahn ausgerechnet an den Nerz vermietet. Olivia konnte nicht nachvollziehen, warum Luna so ein Risiko eingegangen war. Der ehemalige Informant und Balancekünstler war schließlich nicht gerade einer der Zuverlässigsten in ihrem Bekanntenkreis, im Gegenteil. Der Nerz gehörte zu den Letzten, denen sie ihre Wohnung anvertrauen würde. Doch er besaß eine unglaubliche Fähigkeit, sich einzuschleichen und Dinge in Besitz zu nehmen, und offenbar war Luna der Meinung, der Nerz wäre in der Lage, den Kahn während ihrer Abwesenheit zu versorgen.

Olivia entschied sich, Richtung Söder Mälarstrand und Långholmen abzubiegen, um mal nach dem Rechten zu sehen und zu kontrollieren, wie der Nerz seiner Aufgabe nachkam. Und sie könnte fragen, ob er ihr vielleicht einen Heizkörper ausleihen würde.

Als sie an den Kai kam, erkannte sie schon aus der Entfernung die Sara la Kali und erschrak. In der schneeverkleideten Dunkelheit sah der Kahn aus wie ein Raumschiff. In sämtlichen kleinen Fenstern an der Seite flimmerte ein starkes, leicht lilafarbenes Licht. Olivia wusste sofort Bescheid. Gewächshauslampen. Sie war schon bei einigen Zugriffen in Sachen Marihuanaanbau dabei gewesen, und hier gab es keinen Zweifel. Nur Gewächshauslampen gaben dieses abartige Licht ab. Hatte der etwa angefangen, auf Lunas Kahn Gras zu züchten? Oder hatte er ein Solarium eröffnet? Was den Nerz betraf, war nichts unmöglich.

Sie zögerte.

Ich kann nicht einfach da reingehen, es sehen und nicht anzeigen.

Sie ging näher heran und stellte fest, dass Gangway und Schiff sorgfältig vom Schnee befreit waren, was sie erstaunte. Sie konnte sich den Nerz nicht mit einer Schneeschippe vorstellen. Jetzt war sie erst recht neugierig und versuchte, durch die Fenster irgendwas zu sehen. Doch die Bullaugen waren zu klein und die Lampen zu stark, sodass man nicht erkennen konnte, was da drinnen vor sich ging. Sie beschloss, an Bord zu gehen und zu klopfen. Wenn der Nerz schon illegale Pflanzen auf dem Kahn anbaute, dann hatte Luna ein Recht, das zu erfahren.

Und Tom auch.

»Ja?«

Seine Stimme war schwach von unten zu hören, als Olivia klopfte.

»Ich bin’s, Olivia, darf ich reinkommen?«

Sie drückte gegen die Tür, doch die war verschlossen. Dann hörte sie Schritte, die Tür ging auf, doch nicht der Nerz stand vor ihr, sondern eine Frau um die fünfunddreißig, vierzig. Olivia war überrumpelt. Die Frau war hübsch, groß, blond, sehr üppig und mit wohlgeformten fülligen Lippen ausgestattet.

»Hallo?«, sagte Olivia.

Die Frau streckte ihr die Hand entgegen.

»Hallo, ich heiße Bettan.«

»Olivia.«

Olivia ergriff ihre Hand und begrüßte sie. Bettans Handschlag war von der festen, entschlossenen Sorte, und Olivia drückte noch ein bisschen fester zu, um zu zeigen, dass sie von derselben Art war. Bettan lächelte. Ihr Blick war energisch und ein wenig amüsiert.

»Ist der Nerz hier, ich dachte …«

»Klar, er ist hier«, erwiderte Bettan. »Komm rein!«

Olivia folgte Bettan die Treppe hinunter und hielt inne. Der ganze große Salon badete in dem lilafarbenen Licht, und mitten im Raum thronte der Kahnhüter selbst.

Leif Minqvist, genannt »der Nerz«.

Er sah sehr gut aus, an der Grenze zu Hochform, trug einen gelben Anzug älteren Schnitts mit breitem Revers, das Haar war zurückgekämmt. Er strotzte nur so vor Übermut.

Doch nicht nur das erstaunte Olivia, sondern auch, wie warm und schön es hier war, trotz der Kälte draußen. Ganz anders als in ihrer Wohnung. Außerdem wirkte der Salon sehr aufgeräumt und geordnet, und abgesehen von Lunas Zitronenbäumchen, die in einem ausgezeichneten Zustand waren, badete alles in Grün. Überall. Es wuchs aus PET-Flaschen und alten Milchkartons und großen Konservendosen: Gemüse, Salat und alle möglichen Kräuter.

Olivia sah sich erstaunt um.

»Da staunst du, was?«, sagte der Nerz grinsend mit einer großen Geste. »Ich glaube, Fräulein Sauertopf ist ein wenig überrascht!«

Bettan kam hinter Olivia vor.

»Setz dich doch, möchtest du etwas?«, fragte Bettan. »Wir machen eigenen Pfefferminztee.«

»Ja, danke. Gern.«

Olivia ließ sich neben dem Nerz nieder.

»Nett, oder?«, sagte er.

»Ja, wirklich. Aber was habt ihr mit all dem vor?«

»Verkaufen, natürlich!«, rief der Nerz und lief jetzt tatsächlich zur Höchstform auf. »An kleine Läden und Restaurants! Bettan hat Beziehungen in die Welt der gehobenen Küche! Leute, die lokal und urban, sozusagen innerstädtisch angebautes Grünzeug zu schätzen wissen. Wir haben auch unsere eigene Marke: Erzeugt auf der Sara la Kali! Lokaler geht nicht! Du ahnst ja nicht, was Leute bereit sind lockerzumachen, wenn’s um ihr Essen geht, da ist heutzutage richtig Geld drin!«

Der Nerz lachte, und Olivia ließ sich zu einem Lächeln hinreißen. Was sie sah war wirklich beeindruckend.

»Komm«, sagte Bettan, »das musst du dir genauer ansehen! Leif! Pass auf das Teewasser auf, während ich Olivia rumführe.«

»Selbstverständlich, mein Herz.«

Leif, dachte Olivia und folgte dieser erstaunlichen Erscheinung, die das Leben vom Nerz völlig verändert zu haben schien.

»Entschuldige«, sagte Olivia, »aber ich hatte keine Ahnung, wohnst du auch hier?«

»Ja, ich habe meine Dreizimmerwohnung in Hägersten untervermietet und bin vor ein paar Monaten hier eingezogen. Wir haben uns kennengelernt und zack! Schon sind wir zusammengezogen, so schnell ging das!«

Und nun wohnen diese zwei UFOs gemeinsam in einem Raumschiff, dachte Olivia.

»Wo habt ihr euch kennengelernt?«, fragte sie.

»Auf einer Veranstaltung für Unternehmer.«

»Ach, ehrlich? Und was machte der Nerz, ich meine Leif, dort?«

»Er hat sich um die Karaokeanlage gekümmert. Er ist ja so praktisch veranlagt in all diesen technischen Dingen.«

Ach ja?, dachte Olivia, das war an ihr vollkommen vorübergegangen.

»Ja, und dann kam es, wie es kommen musste«, fuhr Bettan mit einem kleinen Lachen fort. »Ich war sofort hingerissen, denn seinem unglaublichen Charme kann man ja nicht widerstehen!«

Doch, dachte Olivia, das kann man durchaus, aber die Geschmäcker sind offenbar verschieden, und das ist auch gut so. Es besteht Hoffnung für alle.

Bettan öffnete die Türen zu den Kajüten, überall wurde gepflanzt. Vertikal und horizontal und alles gleichermaßen gepflegt.

»Wir ziehen in Nährlösung, superpraktisch, auf diese Weise haben wir nicht den ganzen Dreck mit Erde und so. Leif ist ja so geschickt mit Pflanzen, aber er hat ja auch noch seine Ausbildung als Gärtnermeister im Hintergrund.«

»Ah so, Gärtnermeister«, sagte Olivia. »Das wusste ich nicht.«

Auch nicht.

Olivia hatte den Verdacht, dass diese Ausbildung sich wohl auf einige Marihuanapflanzen und ein paar von Mama Nerzens Topfblumen beschränkte.

»Nein, es ist ja auch kaum zu glauben«, pflichtete Bettan ihr bei. »Ich meine, wie hat er das bloß alles geschafft? Er hat schon so viele fantastische Sachen in seinem Leben gemacht! Er überrascht mich jeden Tag, das ist einfach herrlich.«

»Ja, das verstehe ich. Und wie seid ihr auf diese Idee hier gekommen?«

»Ich bin ja, wie gesagt, Unternehmerin. Selbstständig. Ich habe schon seit vielen Jahren einen Blog. Den Bettan Botox-Blog, vielleicht kennst du den ja?«

»Nein, leider nicht.«

»Kleider- und Schminktipps, du weißt schon, ich hatte hunderttausend Follower. Da ist viel Anzeigengeld drin. Ich war gerade dabei, auch meine eigene Linie mit Schönheitsprodukten zu starten, aber dann habe ich gemerkt, dass ich die Branche ein bisschen leid bin, es gibt da so viele unseriöse Akteure, jedes kleine VIP-Mädel hat ja seine eigene Marke, und die Konkurrenz ist knallhart, also wollte ich was ausprobieren, was wirklich im Trend liegt. Lokale Pflanzenzucht. Und dann laufe ich geradewegs in einen Gartenbaumeister! Hab ich nicht einfach unglaubliches Glück?«

»Ja, echt«, sagte Olivia und schaute in Toms alte Kajüte.

Da wurde in langen Reihen gezüchtet, und sie fragte sich, wie Tom es wohl fände, dass seine Matratze gegen ein Salatbeet ausgetauscht worden war.

»Fantastisch, oder?«

Bettan machte eine große Geste.

»In ungefähr einer Woche werden wir ernten. Und ich habe schon angefangen, über Facebook Bestellungen aufzunehmen, und außerdem habe ich meinen Blog in ›Bettans Bio Logische Tipps‹ umbenannt, mit einer Menge Ideen über Pflanzenzucht im urbanen Milieu.«

Von Schminke zu Pflanzenzucht in einem Wimpernschlag, dachte Olivia. Und mit dem Nerz als Sachverständigem. Die Zeit des Wunderns ist noch nicht vorbei.

»Der Tee ist fertig!«, rief der Nerz aus dem Salon.

Olivia und Bettan gingen hinein. Der Nerz hatte in Lunas schöne mundgeblasene Gläser Pfefferminztee gegossen. Bettan setzte sich neben ihn, und er umarmte sie und küsste sie auf den Mund. Da sie einen Kopf größer war als er, musste er sich ordentlich strecken, aber es funktionierte.

»Na, siehst du, was für einen Fang ich gemacht habe?«, sagte er zu Olivia. »Bettan ist vom Himalaja gefallen, verdammt noch mal! Mein eigener Schneeengel. Ein wirtschaftliches Genie!«

Bettan lächelte ihn liebevoll an.

»Ja, und wir denken darüber nach, uns zu vergrößern«, sagte sie. »Ich habe mir ein paar unterirdische Bergräume angesehen, die vielleicht bald vermietet werden. Dann werden wir zuschlagen!«

Olivia dämmerte langsam, dass die Frau, die sich zuvor Bettan Botox genannt hatte, keine dumme Blondine war, sondern vielmehr eine sehr zielorientierte Geschäftsfrau. Wie sie an den Nerz geraten konnte, blieb ein Rätsel, aber offensichtlich waren die beiden sehr verliebt.

Sie nippte an dem heißen, guten Tee und sah den Nerz an.

»Ich wusste ja gar nicht, dass du Gartenbaumeister bist«, sagte sie.

»Mädel, da gibt es vieles, was du nicht weißt. Ich bin ja im Grunde in einem Garten aufgewachsen, die Mutter hatte ein Gewächshaus und so. Ich bin mit einer Mohrrübe im Ohr geboren.«

Das war gelogen, so viel wusste Olivia, denn er war im Stockholmer Vorort Kärrtorp aufgewachsen, und seine Mutter züchtete allerhöchstens Pelargonien. Aber sie ließ ihn reden. Wenn man mit dem Nerz zu tun hatte, dann musste man seinen Fabulierdrang aushalten, diese Lektion hatte sie schon längst gelernt.

»Hast du denn mal was von Luna und Tom gehört?«, wechselte sie stattdessen das Thema.

Ein bisschen auch, um abzuklopfen, ob die wussten, dass der Nerz und Bettan den Kahn in ein schwimmendes Gewächshaus verwandelt hatten.

»Ja, verdammt, die scheinen sich im Nirwana zu befinden, fühlen sich wie die Fische im Wasser da unten!«

»Ich habe Luna mit WhatsApp ein Foto geschickt, als die erste Lieferung an das Restaurant von Mathias Dahlgren ging«, ergänzte Bettan.

Als wüsste sie, was Olivia eigentlich gefragt hatte.

»Und sie hat das hier zurückgeschickt.«