Kaltes Gold - Cilla Börjlind - E-Book
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Kaltes Gold E-Book

Cilla Börjlind

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Beschreibung

Wenn das Eis schmilzt, kommt die Wahrheit ans Licht

Schneeschmelze in den Bergen Lapplands. Die Leiche eines Mannes wird freigelegt. Erschossen – vor zirka 20 Jahren. Olivia Rönning nimmt die Ermittlungen auf. Auf dem Weg zur Fundstelle gerät ihr Hubschrauber in einen Sturm und stürzt ab. Als Olivia aufwacht, ist sie auf sich gestellt, das Funkgerät funktioniert nicht. Sie befreit sich aus dem Wrack und rettet sich in eine einsame Fischerhütte. Doch sie ist nicht allein an diesem unwirtlichen, von der Welt abgeschnittenen Ort, denn jemand will unbedingt verhindern, dass die Wahrheit über den Toten ans Licht kommt. Als Tom Stilton erfährt, was Olivia zugestoßen ist, gibt er sein ruhiges Leben in Thailand auf, um ihr zu helfen.

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Seitenzahl: 573

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Cilla & Rolf Börjlind

Kaltes Gold

Kriminalroman

Aus dem Schwedischenvon Susanne Dahmann und Julia Gschwilm

Die schwedische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Fruset guld« bei Norstedts, Stockholm.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2020 by Cilla & Rolf Börjlind by Agreement with Grand Agency.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe 2020 by

btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © Arcangel Images/Nestor Rodan,

Shutterstock/Nejron Photo; brickrena

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-24894-9V001www.btb-verlag.de

Polizeipräsidium, Stockholm 1999

Arne Rönning mochte die Novemberdunkelheit nicht, sie drückte auf seine Stimmung, und er bekam Schlafstörungen, doch sowie es in den Dezember überging, besserte sich seine Laune wieder. Nun war es allerdings Mitte November, und draußen schüttete es.

Er wandte sich vom Fenster ab und betrachtete das dunkelhaarige Mädchen, das am Rand seines Schreibtisches saß: seine Tochter Olivia, zwölf Jahre alt. Sie hatte heute Morgen Halsschmerzen gehabt und konnte nicht in die Schule gehen. Ihre Mutter musste am Vormittag ins Gericht, und Arne wollte das Kind nicht allein zu Hause lassen. Also hatte er sie für ein paar Stunden ins Polizeipräsidium mitgenommen, Maria würde sie dann gegen Mittag abholen. Er wusste, dass in der Arbeit derzeit nicht allzu viel los war, deshalb würde es sicher kein Problem sein.

Olivia hatte seine Regale durchgeschaut und einen Band der Nordischen Kriminalchronik herausgezogen, ganz einfach, weil das die einzigen Bücher waren, die dort standen. Ansonsten nur Aktenordner und Mappen. Jetzt saß sie da und blätterte darin. Arne hielt das nicht gerade für die geeignete Lektüre für eine Zwölfjährige, vor allem auch wegen der vielen Tatortfotos, die dort abgedruckt waren.

»Aber ich will!«, hatte Olivia sofort protestiert.

Und dabei blieb es.

Er wollte nicht ausgerechnet hier und jetzt einen Kampf mit ihr ausfechten. Also durfte sie weiterblättern.

»Papa, was ist das da?«

Olivia zeigte auf ein Bild, und Arne beugte sich zu ihr hinüber.

»Das ist ein Dolch.«

»Das sehe ich. Aber warum liegt da ein Lineal drunter?«

»Damit man sehen kann, wie lang der Dolch ist.«

»Warum?«

Es klopfte laut, und die Tür wurde aufgerissen, was Arne vor weiteren Fragen bewahrte. Seine Chefin kam herein. Mette Olsäter. Sie trug das dicke, leicht grau melierte Haar offen und hielt ein Blatt Papier in der Hand.

»Hallo«, sagte sie mit Blick auf Olivia und wandte sich Arne zu. Im Grunde war es ihr nicht so recht, wenn ihre Mitarbeiter die Kinder mit zur Arbeit nahmen, doch in diesem Fall wollte sie eine Ausnahme machen.

»Es ist ein anonymer Brief aufgetaucht, der darauf hinzuweisen scheint, dass Kaldma gekidnappt wurde«, sagte sie.

Sie hielt Arne das Papier hin.

»Es werden fünf Millionen Kronen gefordert, ohne dass das genauer spezifiziert würde. Der Brief ist auf Spanisch geschrieben und kommt mir nicht ganz koscher vor.«

»Warum nicht?«, fragte Arne und nahm das Papier in Empfang.

»Er ist so ungelenk formuliert und enthält keinerlei Details, wie oder wann die Übergabe stattfinden soll. Aber immerhin werden die Empfänger davor gewarnt, Kontakt zur Polizei aufzunehmen.«

»An wen ging der Brief?«

»Er war an Kaldmas Firma adressiert. Ich glaube nicht, dass er uns Hinweise zu seinem Verschwinden liefert, aber wir müssen der Sache nachgehen. Die Technik ist gerade dabei, das Original zu untersuchen.«

»Gut.«

Da tauchte ein weiterer Kollege in der Tür auf, Arnes engster Mitarbeiter seit vielen Jahren: Tom Stilton. Heute sehr informell gekleidet, in blauem Pullover und Jeans.

»Gerade hat Boberg angerufen«, sagte er. »Sie haben im Schlafzimmer ein paar fremde Haare gefunden.«

»Inwiefern fremd?«, fragte Mette.

»Dunkel.«

»Okay.«

Stilton wandte sich dem Mädchen zu.

»Gehst du mit in die Cafeteria?«

»Gern!«

Olivia schlug das Buch zu und kam zu ihm. Stilton legte seinen Arm um ihre Schultern, und die beiden verschwanden durch die Tür. Mette und Arne sahen sich an.

»Er sollte sich mal eigene Kinder anschaffen«, bemerkte Mette.

»Das wird nicht passieren.«

»Warum nicht?«

»Weil er sich hier totarbeitet.«

Mette war sich nicht sicher, ob das gegen sie gerichtet war, und ging vorsichtshalber mal nicht darauf ein.

»In einer Stunde ist Besprechung«, sagte sie.

»Alles klar, ich komme.«

In der Tür drehte sich Mette noch einmal um.

»Glaubst du, dass wir ihn finden?«

»Früher oder später.«

Radtjafjället bei Arjeplog im August 2019

Er stand in einer grauen Stoffjacke und einem Paar dunkler Lederhosen draußen mitten im Kalfjället, der Berglandschaft oberhalb der Baumgrenze. Bedächtig strich er sich mit der Hand über die Stirn. Hier war es mehr als dreißig Grad heiß, jetzt, um ein Uhr mittags, brannte die Sonne schonungslos, und es gab nirgends Schatten. Er schaute über die karge, windstille Landschaft. Kein Mensch weit und breit. Dort hinten glitt ein Bussard über eine Felskante und verschwand, in der Ferne konnte er das Sarek-Massiv erahnen, glitzernde, schneebedeckte Gipfel.

So weit würde er nicht gehen.

Er packte seinen Holzwanderstab und setzte sich wieder in Bewegung. Kleine Mücken stürzten sich aus allen Richtungen auf sein Gesicht, doch das machte ihm nichts aus. Seine Haut war ledern, erinnerte an die grauen Flechten auf den Steinen. Das hier waren die Rentiergründe des Dorfes. Den Pfad, auf dem er ging, war schon sein Großvater gewandert, und danach sein Vater. Jetzt war er hier unterwegs, der Letzte in dieser Linie. Er selbst hatte keine Kinder. Einige Meter weiter blieb er stehen und beugte sich hinab. Die Finger waren mit den Jahren krumm und steif geworden, doch ein paar gelbe, reife Multbeeren konnten sie immer noch gut abpflücken. Ihr süßer Saft löschte für die nächsten Minuten den Durst und spendete ein wenig neue Energie. Bald würde er oben sein, das Rauschen war schon angeschwollen.

Das letzte Stück kam er langsamer voran, sein Gang wurde schleppender, er wusste, was er gleich sehen würde, und es widerstrebte ihm schon jetzt, zumal er nichts dagegen ausrichten konnte. Er tat die letzten Schritte und betrachtete den breiten, wilden Strom vor sich. Das kristallklare Wasser warf sich zwischen die Steine und spritzte in die Luft hinauf, als würde es ausgelassen den Abhang hinunterspringen. So schön und so traurig. Früher floss hier im Sommer lediglich ein schmales Rinnsal, ein stiller, schmaler Bach, der sanft zwischen Zwergbirken und niederem Heidekraut zum großen Låddaure-See hinunterperlte.

Bevor sich alles veränderte.

Er sah zur Schattenseite des Berges hinauf, zu der Felsformation, die man im Samendorf Blauer Wolf nannte, dann wanderte sein Blick weiter nach oben zu der glitzernden Schneewechte in einer der Spalten, die einen Zufluss zu dem breiten Strom bildete. Als er klein war, lag die Wechte wie ein harter Gletscher vom Klima unbeeinflusst zwischen den Bergwänden. War der Sommer warm, dann lief etwas mehr Wasser herab, das war alles. Jetzt war das kein Gletscher mehr, sondern ein immer kleiner werdendes Schneefeld, das mit jedem Jahr schneller schmolz und einen richtigen Fluss speiste. Keinen stillen Bach, sondern einen rauschenden Strom. Als würde das Leben aus dem Berg herausfließen.

Er senkte seinen grünen Trinkbecher ins Wasser und schlürfte einen eiskalten Schluck daraus. Als er wieder zur Spalte hinaufschaute, sah er einige kleine dunkle Punkte, die sich auf dem Schnee abzeichneten. Er brauchte kein Fernglas, um zu erkennen, dass es sich um eine Gruppe seiner Rentiere handelte, die dort oben gern Abkühlung suchten. Vor allem in einem Sommer wie diesem, mit einigen der heißesten Tage, die er je erlebt hatte. Er ging auf seine Tiere zu.

Sie sahen ihn kommen und bewegten sich ein Stück weiter, als er sich näherte. Den Hund hatte er heute nicht dabei, der war krank. Doch er war auch nicht nötig. Bei solch einer Hitze trieb man die Tiere nicht. Als er an den Rand des Schneefeldes kam, sah er etwas weiter hinten ein Büschel herausragen. War der Schnee jetzt schon bis auf den Boden heruntergeschmolzen? Er ging näher heran, um zu erkennen, welche Pflanze es war. Vielleicht eine Netz-Weide oder ein kleiner Strauch? Es war keins von beidem. Es war eine Menschenhand, die aus dem Schnee ragte.

Ein Stück vom Ringfinger fehlte.

Olivia Rönning war glücklich.

Glücklich, verliebt und braun gebrannt. Sie hatte Rückenwind, und das sah man ihr an, als sie, frisch von einem Urlaub in Mexiko zurückgekehrt, an ihrem Arbeitsplatz in der NOA, der Nationalen Operativen Abteilung, im Polizeipräsidium Stockholm einschwebte. Sie grüßte fröhlich alle Kollegen, denen sie auf dem Flur begegnete, und es strahlte dermaßen um sie herum, dass einige von ihnen stutzig wurden. Hatte sie etwas geraucht? So konnte man völlig grundlos doch nicht einfach aussehen, schon gar nicht in diesen Zeiten. Als sie schließlich die Tür zum gemeinsamen Büro mit Lisa Hedqvist öffnete, empfing sie sofort der fragende Blick ihrer geschätzten Kollegin.

»Warum bitte siehst du so glücklich aus? Hast du gar kein schlechtes Gewissen? Wo bleibt deine Flugscham?«

Olivia grinste, hob die Hände und klopfte sich leicht auf die Ohren.

»Entschuldige, aber ich höre nicht so gut. Schlechter Empfang hier drinnen.«

»Wahrscheinlich ist dir so ein Korallentier ins Ohr geraten. Das soll lebensgefährlich sein, habe ich gehört. Aber zumindest siehst du gut aus.«

Lisa erhob sich von ihrem Stuhl und wickelte Olivia in eine große Umarmung ein, zusammen mit einer Wolke Parfüm, das sie sich offenbar neu zugelegt hatte. Vielleicht hatte sich auch eine leichte Spur Schweiß daruntergemischt. Was nicht weiter erstaunlich schien, denn die Luft im Raum war alles andere als kühl. Die Sonne knallte durch die ziemlich schmutzige Fensterscheibe, und der Luftzug der Umarmung ließ kleine Staubkörnchen auf den Strahlen tanzen. Olivia versuchte, ein Niesen in Lisas Ohr zu unterdrücken, was ihr nicht ganz gelang.

»Gesundheit und willkommen zurück. Hattet ihr es schön? Du warst supermies im Posten von Bildern.«

Lisa lockerte ihren Griff um Olivia, zog ihr Shirt nach unten und setzte sich wieder. Olivia hängte ihre Tasche an den Haken und rückte die Haarklammer zurecht, die ihr dunkles Haar in einem lässigen Knoten hielt.

»Es war einfach nur magisch«, sagte sie. »Und ja, ich weiß. Ich habe Insta ziemlich vernachlässigt, aber ich hätte massenhaft Bilder auf meinem Handy, mit denen ich dich quälen könnte.«

Sie ließ sich auf ihren Stuhl fallen, der plötzlich zu einem Fahrstuhl nach unten wurde, sodass sie mit dem Kinn fast auf die Tischkante knallte.

»Verdammt!«

Olivia sah zu Lisa hinüber, die sich vor Lachen krümmte.

»Du hast irgendwas losgeschraubt!«

»Nein!«

Lisas prustendes Lachen erfüllte den tristen grauen Raum, die Staubkörnchen, die zuvor getanzt hatten, sausten jetzt wie kleine Starfighter durch die Luft.

»Ich hab den Stuhl nicht angerührt, ich schwöre es.«

Olivia rappelte sich aus ihrer entwürdigenden Lage hoch und untersuchte den Bürostuhl, doch keiner der Hebel funktionierte. Am Ende gab sie es auf, schob ihn zur Seite und nahm sich einen Klappstuhl, der an der Wand lehnte. Der war etwas zu hoch, aber so musste es jetzt erst mal gehen. Lisa hatte sich von ihrem Lachanfall erholt und wischte sich ein paar Tränen aus den Augenwinkeln.

»Das war genau das, was ich gebraucht habe. Du hättest dein Gesicht sehen sollen!«

»Wie schön, dass ich dein freudloses Dasein ein wenig aufhellen konnte. Ist es hier drin nicht unglaublich heiß?«

»Der Hades ist nichts dagegen. Irgendwas stimmt mit der Klimaanlage nicht.«

Olivia trat ans Fenster und streckte die Hand nach dem Griff aus.

»Vergiss es«, sagte Lisa. »Das lässt sich nicht öffnen.«

»Was ist denn los hier? Kaum ist man mal weg, verfällt alles?«

»Yep.« Lisa lächelte. »Es war schließlich Ferienzeit, nicht nur für dich.«

»Ich weiß. Wie war es denn bei dir?«

»Doch, ganz gut, oder na ja, erst war ich bei meiner Mutter auf Åland, wo es ununterbrochen geschüttet hat, also habe ich mich dann für Malaga entschieden. Last Minute, zusammen mit einer Freundin.«

»Nett.«

»Ja, oder? Allerdings bei brütender Hitze. Fünfundvierzig Grad. Ich lag mehr oder weniger die ganze Woche über keuchend im Hotelzimmer, während es hier zu Hause dreißig Grad hatte und strahlenden Sonnenschein. Woran uns aber auch alle ständig mit geposteten Bildern von herrlichen Tagen am Steg, wundervollen Grillabenden und unglaublich leckeren Drinks im Gegenlicht erinnert haben.«

Um Olivias Mund zuckte es.

Lisa erhob drohend einen Stift gegen sie. »Das nennt man Schadenfreude.«

»Überhaupt nicht. Es ist einfach so wahnsinnig schön, dich wiederzusehen«, sagte Olivia. »Du hast mir gefehlt.«

Und das war die Wahrheit. Lisa war nicht nur ihre Kollegin, sondern auch eine Freundin geworden. Sie hatten ihre Kämpfe ausgefochten, die aber hinter sich gelassen. Jetzt, da Mette nicht mehr im Haus war, war Lisa für Olivia ein verlässlicher Anker bei der Arbeit, und nicht nur dort. Sie wusste, dass sie sich auf Lisa absolut verlassen konnte, das war Gold wert.

»Und wie läuft es hier so?«

»Na ja. Ich bin seit voriger Woche wieder da und hatte sofort Stress. Die Mordermittlungen zu der zerstückelten Leiche in Vårberg.«

»Ja, davon habe ich gelesen. Widerlich. Aber ihr habt ihn, oder?«

»Ja, er hat ja von sich aus angerufen. Nach der psychologischen Begutachtung kriegt er jetzt eine riesige Untersuchung auf Zurechnungsfähigkeit. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass er bei den ganzen anderen Bekloppten in der Forensischen Psychiatrie landen wird.«

Lisas Blick flackerte. Olivia wusste, was sie dachte. Lukas Bengtsson, inzwischen ihr Lukas, hatte ebenfalls eine Reihe von psychologischen Untersuchungen über sich ergehen lassen müssen. Und war bei den anderen »Bekloppten« in Karsudden gelandet. Aber da hörten die Parallelen auch schon auf. Lukas war unschuldig verurteilt worden, und seine psychischen Störungen waren inzwischen unter Kontrolle.

»War nicht so gemeint …« Lisa biss sich auf die Lippe.

»Schon klar.«

»Geht es ihm immer noch gut?«

»Ja.«

»Und ihr habt es schön? Also, zusammen?«

Olivia lächelte. »Wir haben es sehr schön. Und selbst?«

Lisa entfuhr ein leichter Seufzer. »Frag nicht. Nee, das Thema habe ich fast schon aufgegeben. Du hättest mein letztes Date sehen sollen, er hatte …«

»Olivia Rönning.«

Olivia kannte die Stimme. Sie kam von der offenen Tür her und gehörte Klas Hjärne, ihrem neuen Chef. Nicht gerade ihr Favorit auf dem Posten. Aber die Lücke auszufüllen, die Mette Olsäter hinterlassen hatte, war auch keine Kleinigkeit.

»Haben Sie einen Moment Zeit?«, fragte Hjärne.

Olivia sah zu Lisa, die mit dem Rücken zu Hjärne ihr Gesicht verzog. Ihr Favorit war er auch nicht.

»Ja, natürlich. Hier, oder?«

Offensichtlich nicht. Hjärne hatte schon kehrtgemacht. Olivia erhob sich und folgte ihm.

Als sie sein Büro betrat, saß er bereits und wies auf den Stuhl ihm gegenüber. Hjärne war klein und fast kugelrund, nicht sonderlich durchtrainiert. Zur Polizei war er über die akademische Laufbahn gekommen. Olivia setzte sich. In diesem Raum war die Temperatur entschieden angenehmer, wofür es auch eine Erklärung gab: Ein kleiner Ventilator blies kühle Luft über den Schreibtisch.

»Ein langer Urlaub.«

Hjärne lehnte sich auf dem Stuhl zurück und zupfte auf Taillenhöhe an seinem Hemd, um es langzuziehen, sodass der Bauch nicht so sichtbar wäre, was ein sinnloses Unterfangen war.

»Ja?« Olivia wusste nicht recht, was er damit sagen wollte.

»Schön, sehr schön. Aber jetzt ist es an der Zeit, die Ärmel wieder hochzukrempeln.«

»Absolut.«

Olivia ging davon aus, dass sie bei derselben Ermittlung mitarbeiten würde wie Lisa. Das passte ihr wunderbar für den Einstieg nach dem Urlaub. Ein Fall, der schon lief und zu dem es außerdem schon einen Täter gab. Sie würde ihre Abende und Nächte nichts anderem widmen müssen als Lukas. Der perfekte sanfte Start.

»Ich möchte, dass Sie sich eines Falles oben im Fjäll bei Arjeplog annehmen«, sagte Hjärne.

»Was?«

Der Chef lächelte angesichts ihrer bestürzten Reaktion, wahrscheinlich, weil die genau so ausfiel, wie er sie haben wollte. Davon war zumindest Olivia überzeugt. Er beugte sich vor, legte die Arme auf den Schreibtisch und gestikulierte wie ein mediengeübter Fernsehmoderator, als er sagte: »Man hat in einer Bergregion dort eine Leiche gefunden, und ich möchte, dass Sie sich die mal ansehen.«

Als er »Sie« sagte, deutete er auf Olivia und lehnte sich dann schnell wieder zurück.

»Aha«, sagte Olivia. »Allein?«

»Ist das ein Problem?«

Auf Hjärnes Stirn tauchte eine Falte auf.

»Nein. Nur ein bisschen ungewöhnlich.«

»Sie werden Informationen und Unterstützung von der Polizei vor Ort erhalten, das sollte also in Ordnung gehen. Wir haben gerade ohnehin wenig Leute, und ich kann nicht rechtfertigen, dass wir noch mehr Mitarbeiter wegen eines alten Falls da raufschicken.«

»Ein alter Fall?«

»Ja, hatte ich das nicht gesagt?«

»Nein.«

»Offensichtlich lag das Opfer schon etliche Jahre da oben unter dem Schnee begraben.«

»Klingt, als wäre das eher etwas für die Cold-Case-Abteilung.«

»Da hat man alle Hände voll zu tun, die stehen nämlich kurz vor einem Durchbruch im Väsby-Mord, und davon abgesehen haben sie noch 193 weitere Fälle auf dem Tisch. Außerdem ist der Fundort frisch. Noch mal: Ist das irgendwie ein Problem für Sie?«

»Nein, überhaupt nicht«, log Olivia.

»Gut.«

Hjärne zog eine Mappe vom Schreibtisch zu sich heran und reichte sie ihr.

»Hier sind die Informationen, die wir haben. Momentan befindet sich die Leiche in der Gerichtsmedizin in Umeå. Ich schlage vor, Sie fahren mit dem Zug hinauf. Ein paar Stunden mehr oder weniger dürften in diesem Fall ja keine Rolle spielen.«

Olivia nahm die Mappe wie ein enttäuschtes Kind entgegen.

»Wann soll ich fahren?«

»Heute Abend. Anita hat Ihnen eine Fahrkarte für den Nachtzug nach Umeå gebucht. Wie Sie von da aus nach Arjeplog kommen, müssen Sie da oben dann selbst sehen. Aber rechnen Sie damit, zwei, drei Tage weg zu sein.«

»Okay.«

Hjärne klappte seine Lesebrille herunter, um das Ende des Gesprächs zu markieren. Olivia erhob sich. Sie nickte ihm zu, drehte sich um und ging hinaus. Bei dem Vorschlag, mit dem Zug zu fahren, ging es nicht um irgendwelche Umweltgesichtspunkte, da war sie ziemlich sicher, denn Hjärne war nicht gerade ein stadtbekannter Klimaschützer. Wahrscheinlich war es eher eine Taktik, um die periphere Bedeutung des Falles im Vergleich zu aktuellen Mordermittlungen zu unterstreichen. Außerdem handelte es sich auch gar nicht um einen Vorschlag, sondern um eine Anweisung, denn das Ticket war ja bereits auf ihren Namen gebucht.

Für Olivia war Zugfahren vollkommen in Ordnung. Sie hatte in den letzten Wochen lange genug in Flugzeugen gesessen und jede Menge Flugstunden zu kompensieren.

Auf dem Weg zurück zu ihrem Zimmer war ihre Haltung eine ganz andere als bei ihrer Ankunft im Polizeigebäude. Unter den alten Umständen, und wenn diese Anordnung, allein in den Norden zu fahren, von Mette gekommen wäre, dann hätte sie sich vielleicht auserwählt gefühlt und den Auftrag als Herausforderung begriffen. Doch in ihrem Leben herrschten keine »alten« Umstände mehr. Keine Mette mehr in der Arbeit, stattdessen ein Lukas zu Hause, von dem sie nicht länger als unbedingt notwendig getrennt sein wollte, weshalb sie das Ganze mehr als Bestrafung verstand.

Nach Arjeplog?

*

Die moderne Technik, auch »digitale Revolution« genannt, hatte ihre Vor- und Nachteile. Ein Vorteil war die Möglichkeit, sich wann auch immer über alles, was geschah, auf dem Laufenden zu halten. Wo auch immer. Was dazu führte, dass die Prostataprobleme, die den Mann dazu zwangen, viel öde Zeit auf der Toilette zu verbringen, dank des iPads, das zu bedienen er von seiner Tochter gelernt hatte, ein wenig erträglicher wurden.

In diesem Moment saß er auf einer beheizten Klobrille und verfolgte online die Meldungen auf einem Nachrichtenkanal. Die erste, die davon handelte, wie Donald Trump seinem Schwiegersohn versehentlich einen Golfball an den Kopf geschlagen hatte, ließ ihn kalt, auch wenn spekuliert wurde, ob es vielleicht nicht doch Absicht gewesen sein könnte. Die nächste Meldung interessierte ihn umso mehr. Sie kam direkt von einem Reporter, der sich in Arjeplog befand. In einer schmelzenden Schneewechte in der Radtja-Gegend war eine Leiche gefunden worden, von der man annahm, dass sie schon viele Jahre dort gelegen hatte. Die Lokalpolizei schloss einen Mord nicht aus.

Ein weiterer Vorteil der modernen Technik war die Möglichkeit, eine Person direkt vom iPad aus per Facetime anzurufen. Er erreichte seine Gesprächspartnerin in der Küche, wo sie gerade eine Lasagne aufwärmte. Es dauerte eine Weile, bis der Mann sein Anliegen erklärt hatte, und noch länger, bis die Frau begriffen hatte, was er wollte. Zu dem Zeitpunkt war ihr der Appetit vergangen, sie war schockiert.

Und starr vor Schreck.

*

Als Olivia von der Straße ins Treppenhaus trat, roch es nach Abendessen. Offenbar liebte jemand im ersten Stock Knoblauch und erinnerte Olivia daran, dass sie kein vernünftiges Mittagessen gehabt hatte. Der Duft verfolgte sie hartnäckig auf dem Weg bis in den dritten Stock. Sie eilte die Treppe hinauf und nahm zwei Stufen auf einmal, um wieder etwas in Schwung zu kommen.

Sie schnaufte, als sie die letzten, schon abgenutzten Marmorstufen zu Lukas’ Wohnung hinaufstieg. Weil in dem Haus in der Högalidsgatan, in dem sie lebte, Balkons angebaut wurden, würde sie für ein paar Wochen bei ihm wohnen.

Sie kramte in ihrer Tasche nach dem Schlüsselbund. Aus der Wohnung war die Stimme von David Bowie zu hören, der sich fragte, ob es wohl Leben auf dem Mars gab. Wie von Zauberhand waren sie plötzlich da, die Schlüssel. Und erwiesen sich sogleich als unnötig, denn die Tür war nicht abgeschlossen.

Hier drinnen wurde kein Abendessen zubereitet. Hier roch es nach Öl und Terpentin, das in die Nase eindrang und alles bis in die Nebenhöhlen durchputzte. Olivia warf ihre Jacke auf einen Stuhl und durchquerte das Wohnzimmer zum Atelier. Oder zum Malerzimmer, wie Lukas es nannte. Um die Bezeichnung Atelier zu verdienen, war der Raum nicht groß genug, doch hier arbeitete er. Alle Flächen waren voll mit Bildern und Leinwänden, einige von ihnen mit der Heftpistole direkt an die Wand geschossen. Und mitten im Durcheinander stand Lukas, den Pinsel in der Hand und lediglich mit einer verwaschenen gelben Unterhose bekleidet, die aussah, als stamme sie aus den Siebzigerjahren. Hinten etwas ausgebeult.

Trotzdem.

Wie sie ihn liebte.

Keine Unterhose der Welt konnte das, was sie für ihn empfand, beeinträchtigen. Sie war wie Metallspäne um einen Magneten. Ein besseres Bild fiel ihr nicht ein. Sie wollte nichts mehr, als in sein starkes Kraftfeld gezogen zu werden und darin zu bleiben. Ihr Körper brauchte seinen auf eine Weise, wie sie es noch nie erlebt hatte. Er hatte sie ganz und gar okkupiert.

Und jetzt sollte sie rauf ins verdammte Norrland verbannt werden.

Auf Lukas’ einer Schulter war ein Klecks Farbe gelandet, und ein paar seiner langen dunklen Locken hatten rote Spitzen bekommen, als sie durch den Fleck gewischt waren. Er selbst war voll auf die Leinwand vor sich konzentriert. Das Gemälde zeigte einen magischen Moment in Cuatro Ciénegas, Mexiko. Ein nacktes Frauenbein im Vordergrund und ein in warme Farben getauchtes Hotelzimmer. Das Hotel hieß Xipe Totec. Und sie war das Bein. Olivia schlich sich an und legte ihre Arme um ihn. Erst erstarrte er, doch als sie ihn in den Nacken küsste, entspannte er sich.

»Ah, du bist es«, sagte er.

»Ja. Wer sollte es sonst sein?«

»Niemand, ich war nur so in … du hast mich nur erschreckt. Wie spät ist es?«

»Halb sieben.«

Olivia bohrte ihre Nase in seinen Rücken. Bowie fragte ein letztes Mal, ob es Leben auf dem Mars gebe, und Olivia dachte, das ist mir scheißegal, wenn ich nur hierbleiben könnte und nicht heute Abend noch in einem Zug hocken müsste. Lukas löste sich aus ihrer Umarmung und drehte sich um. Sein intensiver Blick fing ihren ein, und er nahm ihre Hände und spielte mit ihren Fingern.

»Ich will nur noch ein bisschen weitermachen«, sagte er, »dann können wir …«

Berührung. Was ein wenig Berührung doch auslösen konnte. Fingerspitzen berührten leicht die Haut, und Olivia betrat das Kraftfeld. Eisenspäne hieß es, dachte sie, nicht Metallspäne, und drückte ihren Unterleib gegen seinen.

»Ich muss nach Umeå fahren«, sagte sie.

»Warum denn das?«

»Entsendung. Oben im Fjäll ist eine alte Leiche gefunden worden, und mein Chef findet, ich sollte mich darum kümmern.«

»Wann fährst du?«

»Heute Abend. Der Zug geht um 21.12 Uhr vom Hauptbahnhof.«

Sie drückte sich noch näher an ihn.

»Dafür ist noch Zeit, aber dann muss ich packen. Und was essen.«

Lukas lachte. Er hob sie hoch und ließ sich mit ihren Beinen um seine Taille auf das alte Plüschsofa fallen. Sie landeten darauf wie ein Knäuel aus zwei Menschen, verwickelt und ineinander verschlungen. Zwei Menschen, die voneinander high waren.

»Wie lange bist du weg?«

»Etwa zwei Tage. Wenn ich ohne dich überlebe.«

»Das schaffst du nicht.«

Lukas küsste ihren Hals, und Olivia dachte, dass sie das vielleicht tatsächlich nicht schaffen würde. Sie wollte hierbleiben, hier, auf dem Sofa, mit Lukas in sich.

Um sich herum.

Für immer.

*

Der Mann war Stammgast auf der Trabrennbahn Solvalla in Stockholm und hatte sich im Laufe der Zeit einen Fenstertisch erobert, der immer für ihn reserviert war. So auch heute Abend. Er saß mit dem Rücken zum Restaurant und schaute auf die Bahn hinaus. Es fiel ein leichter Regen, und die Pferde befanden sich auf der gegenüberliegenden Geraden. Er beobachtete sie durch sein Fernglas. Es fand ein Qualifikationsrennen für den K.-G.-Bertmark-Gedächtnislauf statt, und er hatte ein paar Tausender auf Minnestads Ecuador gesetzt. Das war kein großartiger Einsatz, aber gerade heute Abend hatte er keine Lust auf zu viel Risiko. Als die Pferde auf die Bahn einliefen, stieg der Puls des Mannes. Er senkte den Feldstecher und verfolgte den Lauf direkt durchs Fenster. Bis zum Endspurt war es ein ausgeglichenes Rennen, die Jockeys schwangen ihre Peitschen voller Elan. Doch im Finish gelang es Minnestads Ecuador, mit anderthalb Längen Vorsprung die Ziellinie zu überqueren. Der Mann ballte die rechte Faust im Schoß. Seine Kasse würde sich füllen. Er drehte sich herum und fuhr zusammen. Ihm gegenüber saß unvermittelt eine Frau mit dunkler Sonnenbrille. Ray-Ban. Er nickte ihr zu. Vor ihr auf dem Tisch lag eine ausgebreitete Landkarte. Der Mann erkannte darauf einen Kreis und ein Kreuz. Die Frau drehte die Karte herum, damit er das Gebiet von seiner Seite aus sehen konnte.

Der angekreuzte Ort lag nördlich von Arjeplog.

*

Als Olivia den Zug am Hauptbahnhof bestieg, befand sie sich immer noch in ihrer Lukas-Blase. Sie setzte sich auf ihren Platz am Fenster. Wenigstens ein Liegewagen, so würde sie zumindest ein paar Stunden Schlaf bekommen, ehe sie in Umeå ankam. Außer ihr waren nur noch zwei weitere Personen im Abteil. Eine ältere Frau mit langen blonden Haaren, die sofort nach ihrem Smartphone griff, sich Kopfhörer in die Ohren steckte und auf dem Display herumzutippen begann. Olivia direkt gegenüber saß ein junges Mädchen mit dunklen, kurz geschnittenen Haaren, das sie auf siebzehn, achtzehn Jahre schätzte. Auf der Höhe von Karlberg lehnte sich das Mädchen zurück und holte überraschenderweise anstatt eines Handys ein Buch heraus. Wenn keine der beiden schrecklich schnarchte oder Albträume à la Stilton hatte, dann würde es eine ruhige Nacht werden.

Der Zug hatte Fahrt aufgenommen. Helenelund, Sollentuna und Häggvik rauschten in der rosafarbenen Abenddämmerung vorbei, und als sie gerade an Rotebro vorbeikamen, der Gegend, in der Olivia aufgewachsen war, piepste ihr Handy. Sie nahm es aus der Tasche und las die SMS: »Ist dir klar? Wie sehr ich? Über alles in der Welt?«, und dann drei rote Herzen. Olivia lächelte in sich hinein und merkte, wie die ältere Dame neben ihr sich streckte und einen Blick auf Olivias Handy warf. Versucht sie, heimlich meine SMS zu lesen? Olivia drehte das Display zu sich und antwortete: »Mir ist so was von klar, wie sehr. Über alles in der Welt. Weil ich ja auch. Über alles.« Und vier Herzen. Postwendend bekam sie zurück: »Jetzt versetze ich mich wieder in den Zustand von Cuatro Ciénegas und schalte das Handy aus. Hoffe, du kannst ein bisschen schlafen. Bis morgen!« Sie antwortete mit einem Daumen hoch und einem Herz. Dann lehnte sie den Kopf ans Fenster und schloss die Augen. Verschwand mit dem Takt des Zuges in sich selbst.

Verdiente sie überhaupt, so glücklich zu sein? Wie lange würde dieser Zustand, in dem sie sich befand, andauern? Es gab Dinge, die ihn bedrohten.

Viele.

Vor allem Lukas’ Krankheit, das wusste sie. Eine dissoziative Identitätsstörung war keine Diagnose, die man auf die leichte Schulter nahm. Sie hatte dazu geführt, dass er unschuldig für ein Verbrechen verurteilt worden war. Doch seit seinem Klinikaufenthalt auf Karsudden war keine andere Persönlichkeit mehr zutage getreten. Nach seinem Freispruch hatten sie sich immer häufiger getroffen, und irgendwann waren sie unzertrennlich.

Mit Lukas zusammen zu sein, öffnete ihr ganz neue Welten. Einige ihrer Freunde hatten die Augenbrauen hochgezogen. Ein Künstler und eine Polizistin? Das klang nicht gerade nach einer naheliegenden Kombination. Vor allem nicht, wenn es sich um einen Künstler mit dokumentierter psychischer Erkrankung handelte. Sogar Maria, ihre Mutter, hatte ihrer Sorge Ausdruck verliehen. »Er nimmt doch hoffentlich keine Drogen?«, hatte sie gefragt. Und Olivia war wütend geworden. So wütend, dass sie sich eine Weile nicht gemeldet hatte, was zwischen ihnen beiden immer wieder mal passierte.

Mette und Mårten hingegen hatten sich vorsichtig optimistisch gezeigt und waren die Ersten gewesen, die Olivia und Lukas zum Abendessen eingeladen hatten. Für die Gastgeber, vor allem aber für Lukas war das in vielerlei Hinsicht seltsam. Immerhin war Mette diejenige gewesen, die ihn für einen Mord, den er nicht begangen hatte, ins Gefängnis gebracht hatte. Doch das Abendessen verlief gut. Als der erfahrene Therapeut, der er war, hatte Mårten Lukas sofort eingefangen. Er zeigte ihm sein besonderes Zimmer im Keller, wo sie versuchten, die Kellerspinne Kerouac mit verschiedenen alten Countrysongs hervorzulocken. Am Ende hatte sie sich gezeigt, das behaupteten die beiden zumindest, als sie wieder nach oben zu Mette und Olivia kamen. Die hatten in der Zwischenzeit viel zu viel Wein getrunken, weil jede von ihnen auf ihre Weise sehr nervös war.

Nach Mexiko zu reisen war Lukas’ Idee gewesen. In der Klinik schrieb er ein Gedicht für sie.

ein andermal

wenn ich ich bin

werden wir nach Cuatro Ciénegas reisen

gemeinsam

Diese Gemeinsamkeit hatten sie schon bei ihrer ersten Begegnung entdeckt, denn bereits bevor sie sich kannten, waren sie jeder für sich durch Mexiko gereist und hatten sogar zufällig am selben Ort gewohnt. Im Hotel Xipe Totec in der kleinen Stadt Cuatro Ciénegas. Lukas trug den Namen auf der Brust eintätowiert. Nicht wegen des Hotels, sondern weil Xipe Totec in der aztekischen Mythologie der gehäutete Gott war, der seine Haut opferte, um den Menschen seinen Samen zu schenken. Eine Symbolik, die Lukas angesprochen hatte. Ein Gott wie eine Schlange, die sich häutet.

»So wie ich«, antwortete Lukas, als sie ihn danach fragte. »Auch ich bin manchmal ohne Haut, und dann werde ich ein anderer und wachse in die neue Haut hinein.«

Mittlerweile waren sie ein Paar, und seither war er kein anderer gewesen, sondern die ganze Zeit immer und ausschließlich Lukas. Und dafür war Olivia dankbar. Sie achtete darauf, dass er seine Medikamente nahm und regelmäßig zu seiner Therapeutin ging. Lukas kämpfte mit seinen Albträumen, und in Cuatro Ciénegas hatte sie ihm auch von ihren erzählt. Vom Schicksal ihrer biologischen Mutter an einem Strand auf Nordkoster. Und von ihrem biologischen Vater, der 24 Jahre später von derselben Hand getötet wurde. Davon, wie sie selbst mitten in der Mordermittlung gelandet war, ohne zu wissen, um wen es sich bei den Opfern handelte.

Und Lukas hatte zugehört, fasziniert, und sie hatten wieder in dem kleinen, aber schönen Hotelzimmer miteinander geschlafen, während ein alter, rostiger Deckenventilator die heiße Luft um ihre Körper gequirlt hatte. Sie erinnerte sich an den magischen Moment hinterher, als sie spürten, dass sie nun ganz und gar miteinander verschmolzen waren. Der Moment, den Lukas gerade zu Hause in seiner Wohnung auf die Leinwand zu bannen versuchte. Olivia sah ihn da in seiner gelben Unterhose stehen und merkte, dass sie ein bisschen dämlich grinste, als sich die Abteiltür öffnete. Ein Schaffner kam herein und half ihnen, die Betten auszuklappen. Die ältere Dame sorgte dafür, dass sie zuerst wählen durfte, wo sie liegen wollte. Das Mädchen nahm den Platz über ihr, und so bekam Olivia den ganz unten. Gegen sechs Uhr am Morgen würden sie ankommen. Olivia rollte sich auf die Seite und schloss die Augen. Jetzt brauchte sie ein paar Stunden Schlaf, um sich am nächsten Tag auf den Fall konzentrieren zu können.

Eine unbekannte Leiche im Fjäll.

Oberhalb von Arjeplog.

Sie stellte sich als Cathy Gudilsdotter vor und hielt Olivia die Tür auf.

»Hier wird gerade umgebaut, deshalb ist alles ein bisschen unordentlich.«

Ihr warmes Lächeln wirkte freundlich. Sie trug ein langes, dunkelblaues Kleid mit grünen Stickereien und hatte wuscheliges, leicht zerzaustes rotes Haar. Nicht direkt eine Frau, wie man sie in der Gerichtsmedizin in Umeå zu treffen erwartet, dachte Olivia positiv überrascht. Die Obduzentinnen, die sie bisher kennengelernt hatte – das waren allerdings nicht wirklich viele –, machten in der Regel einen sehr viel strengeren Eindruck und waren nicht sonderlich gesprächig.

Ganz anders Cathy.

Während sie sich zwischen Handwerkern und Baumaterial hindurchschlängelten, gelang es ihr zu erzählen, dass sie in der Gegend, in die Olivia nun fahren würde, aufgewachsen war und was sie dort erwarten würde.

»Waren Sie schon einmal dort? Im Arjeplog-Fjäll?«

»Nein.«

»Das ist so traurig.«

Wenige Minuten später hatte Olivia begriffen, was so traurig war: die Natur dort, oder besser gesagt das, was mit ihr geschah.

»Ich bin jedes Jahr da oben zum Fischen bei einem Camp am Miekak-See, da kann man einfach fantastisch angeln, und trotzdem bin ich mit jedem Jahr deprimierter. Die Veränderung ist so offenkundig. Das Unterholz kriecht immer weiter nach oben, und die Baumgrenze verschiebt sich stetig … erst kommen die Weidenbüsche, dann die Zwergbirken. Bald werden all die schönen Blumen im Dickicht verschwinden, Leimkraut und Ehrenpreis, das ist so bedauerlich. Ihr aus dem Süden des Landes denkt vielleicht nicht so viel über so was nach, aber für die Leute, die hier oben wohnen und die Landschaft lieben, ist das nur schwer zu ertragen.«

»Sind das die Klimaveränderungen, die …«

»Was sonst? Man kann es ja schon mit bloßem Auge erkennen. Viele jahrhundertealte Schneewechten und kleine Gletscher schmelzen jetzt einfach weg, einige davon sind schon fast verschwunden. Außerdem taut der Permafrostboden und senkt sich ab, die Moore kollabieren, und überall entstehen Feuchtgebiete. Wenn meine Kinder einmal Kinder bekommen, wird es womöglich kein Kalfjäll, also keine Berglandschaft ohne Baumbewuchs mehr geben. Zumindest nicht so, wie wir es jetzt kennen.«

Cathy hielt inne, öffnete die nächste Tür und lächelte.

»Aber jetzt kümmern wir uns mal um lustigere Dinge.«

Sie betraten den Kühlraum.

Olivia betrachtete die grauen Schränke entlang der Wand. Sie wusste, was sie enthielten. Cathy trat an eines der Fächer. Fast unmerklich veränderte sich ihr Tonfall, so als würde die Umgebung eine andere, korrektere Sprache verlangen.

»Ihm ist aus nächster Nähe zweimal in den Rücken und einmal in den Kopf geschossen worden«, sagte sie. »Eine regelrechte Hinrichtung.«

»Waren noch Kugeln im Körper?«

»Nein. Aber möglicherweise finden die Techniker am Fundort welche, da ist ja alles kräftig weggetaut.«

Cathy zog eine mit einem blauen Tuch bedeckte Bahre heraus, während Olivia ihr Handy aus der Tasche holte. Als Erstes fotografierte sie den Kopf der Leiche, der sichtbar wurde, als Cathy behutsam das Tuch wegzog. Er war erstaunlich gut erhalten, zwar eingesunken, aber dank der Kälte des Fundorts ziemlich unbeschädigt und immer noch mit dichtem rotem Haar bedeckt.

»Wenn Sie sich etwas vorbeugen, können Sie sehen, wo die Kugel in den Schädel eingetreten ist. Und da ist das Austrittsloch.«

Olivia sah es sich an und machte Fotos davon.

»Wie lange ist er unter dem Schnee begraben gewesen?«

»Das können wir noch nicht exakt sagen, aber es waren sicher einige Jahre. Wenn nötig, werden wir eine taphonomische Untersuchung anstellen und sehen, wie weit wir damit kommen.«

»Taphonomische …?«, fragte Olivia.

»Man untersucht die Zersetzung des toten Körpers, sozusagen die Ökologie des Kadavers, doch das ist nicht mein Spezialgebiet.«

Cathy hob eine Hand der Leiche an.

»Unter den Nägeln habe ich Hautablagerungen gefunden«, sagte sie.

»Von denen wir eine DNA nehmen können?«

»Ziemlich sicher, ich habe sie ans NFZ geschickt. Da liegen seine Kleider, ich habe sie heute Morgen rausgeholt.«

Cathy zeigte auf eine große, weiße Plastiktüte.

»Er hatte einen dicken Motorschlittenoverall an und feste Wanderschuhe.«

»Also wurde er im Winter ermordet?«

»Das ist wahrscheinlich.«

»Hatte er irgendwelche Papiere bei sich?«

»Nein, nichts«, sagte Cathy. »Das hier ist alles, was ich gefunden habe.«

Sie griff nach einer kleinen Plastiktüte.

»Eine der Taschen des Overalls war zerrissen, und das hier lag unten im Futter. Eine Münze, ein kleiner Zettel und eine Büroklammer.«

Olivia nahm die Plastiktüte und hielt sie hoch. Auf dem kleinen Zettel standen ein paar Zahlen.

»Keine Autoschlüssel?«, fragte sie. »Oder Skooterschlüssel?«

»Nein.«

»Vielleicht ein Raubmord?«

»Wohl kaum«, erwiderte Cathy. »Er trug eine dicke Goldkette um den Hals, die hätte in dem Fall auch weg sein müssen. Außerdem ist das da oben nicht gerade der Ort, an dem man Leute ausraubt.«

Cathy lächelte, aber Olivia dachte: Menschen können überall ausgeraubt und ermordet werden. Selbst oben im Fjäll.

»Haben Sie sonst noch irgendetwas Besonderes an der Leiche bemerkt?«, fragte sie. »Irgendwelche Narben?«

»Keine Narben, aber es fehlt ein Stück von seinem linken Ringfinger.«

Cathy nahm die Hand mit dem verkürzten Finger und hob sie hoch. Olivia machte auch davon eine Aufnahme.

»Können das irgendwelche Tiere gewesen sein?«

»Nein, die Haut ist über der Verletzung zusammengewachsen, das muss also schon eine ganze Weile, bevor er ermordet wurde, passiert sein.«

Cathy deckte das blaue Tuch wieder über die Leiche.

»Was meinen Sie, ist er da ermordet worden, wo er gefunden wurde?«, fragte Olivia. »Sind Fund- und Tatort identisch?«

»Das weiß ich nicht, das müssen Sie die Techniker fragen. Aber das wird schwer zu sagen sein, ehe Sie den Mörder finden.«

»Oder die Mörder.«

*

Jäkkvik ist ein kleines Dorf, gelegen in der Mitte zwischen Arjeplog und Nowhere. Oder Norwegen, genauer gesagt. Es besteht aus ein paar verstreuten Häusern an Seen und kleinen Flüssen und einem gut sortierten kleinen Laden mit Benzinzapfsäule. Die Nähe zum Kungsleden, dem bekannten Trampelpfad für naturhungrige Touristen, erhält den Laden am Leben. Und die Norweger. Sie kommen in Karawanen und beladen ihre Autos mit Süßigkeiten, weil in ihrem Heimatland eine Zuckersteuer erhoben wird.

Doch die beiden, die heute den Laden betraten und sich einen Plastikkorb nahmen, waren keine Norweger. Die Kassiererin, zu der Zeit allein im Geschäft, registrierte, dass sie wie klassische Fjällwanderer gekleidet waren, und ging davon aus, dass der Kungsleden das Paar lockte. Selbst war sie ihn noch nie gelaufen. Sie wohnte schließlich hier.

Ohne bewusst zu lauschen, kam sie doch nicht umhin zu bemerken, dass die beiden eine fremde Sprache sprachen. Welche es war, konnte sie nicht sicher sagen. Englisch war es nicht. Als sie an die Kasse kamen, ergriff sie die Gelegenheit. Auf Englisch.

»Gehen Sie in die Berge wandern?«

»Ja«, antwortete die Frau mit einem kleinen Lächeln.

»Das tun um diese Jahreszeit viele.«

Die Kassiererin tippte die Waren ein und schob sie, zusammen mit einer Tüte des Ladens, zu dem Mann hinüber, der alles hineinpackte. Die Tüte stopfte er dann in einen Rucksack, eine exklusive Marke, wie die Kassiererin bemerkte.

»Das erste Mal?«, fragte sie und bonierte die Bananen.

»Ja«, antwortete die Frau.

»Dann wird es sicher ein Abenteuer für Sie. Sie sind aber nicht aus England, oder?«

»Spanien.«

»Ui, da kommen Sie aber von weit her … wie schön! Meine Schwester war mal in Barcelona. Woher genau …«

»Nehmen Sie American Express?«

»Nein, tut mir leid.«

Die Frau lachte erneut und zog ein paar Scheine aus der Tasche. Als die Bezahlung erledigt war, stand auch der Rucksack gepackt da. Das Paar ging zum Ausgang.

»Das Wetter ist heute sehr unbeständig, das wissen Sie, oder?«, sagte die Kassiererin.

»Ja«, antwortete die Frau, ohne sich umzudrehen.

»Dann viel Glück! Ich hoffe, Sie sehen ein paar Elche!«

Das wünschte sie den beiden, weil sie wusste, dass Elche der ultimative Kick für Ausländer waren. Einen Elch zu Gesicht bekommen – oder wenigstens ein Schild, das vor Elchen warnte. Sie sah dem Paar durchs Schaufenster nach und wunderte sich.

Die gingen überhaupt nicht in Richtung Kungsleden, sondern setzten sich in ein Auto und fuhren den Silvervägen weiter in Richtung Norwegen.

*

Nach vier Stunden Fahrt in einem Mietwagen erreichte Olivia Arjeplog. Das Polizeigebäude war schnell gefunden, es lag auf der Storgatan in Tingsbacka. Sie betrat es durch die Eingangstüren aus Glas. Ein kleines Revier mit einem riesenhaften Einsatzgebiet. Jeder, der hier arbeitete, musste sich um so ziemlich alles kümmern: von Wildunfällen über Geschwindigkeitskontrollen bis hin zu dem ein oder anderen Einbruch. Die Frau, die Olivia begrüßte, hatte kräftig geschminkte Lippen und einen kleinen, angeleinten Hund bei sich. Lange, dunkle Locken umrahmten ihr Gesicht, sie trug eine Brille mit schwarzem Gestell.

»Marja Verkkonen«, sagte sie. »Polizeiassistentin.«

»Olivia Rönning.«

»Ich weiß. Sie kommen vom NOA, oder?«

»Ja.«

»Wir haben hier nicht oft Besuch von solchen wie Ihnen.«

»Da können Sie froh sein.«

»Sind wir auch. Aber trotzdem willkommen.«

Marja erwiderte Olivias Lächeln. Noch eine Frau ohne Kontaktschwierigkeiten. Langsam fing Olivia an, diesen Teil des Landes zu mögen.

»Der Hund gehört nicht mir«, erklärte Marja, »aber er ist freundlich. Sind Sie allergisch?«

»Nicht gegen Hunde.«

»Wie schön.«

Marja nahm Olivia mit in ihr Büro. Die Fenster gingen auf den weit ausgedehnten Hornavan-See hinaus, die Möbel waren funktional, und hinter dem Schreibtisch an der Wand hing ein seltsames Bild. Es stellte den kleinen Kinderbuch-Troll Plupp dar, der vor einem Feuer im Wald tanzte.

Marja sah sie an.

»Sie sind neu da unten, oder?«, fragte sie.

»Ja, ziemlich.«

»Ich habe ein paar Jahre im Drogendezernat gearbeitet, aber das war wohl, bevor Sie dort anfingen.«

»In Stockholm?«

»Ja, aber irgendwann war ich den ganzen Mist leid und habe mich hierher beworben.«

»Ist es hier ruhiger?«

»Ja, entschieden. Hier erschießen sie Elche, keine Teenager.«

Marja setzte sich an ihren Schreibtisch, und Olivia versank in einem Sessel genau gegenüber dem Plupp-Bild.

»Die Leiche«, sagte Marja und nahm ihre Brille ab.

»Ja.«

»Der Mann, der sie gefunden hat, ist Same. Janne Marklund, er gehört zum samischen Dorf Luokta-Mávas. Die Leiche ist in den Rentier-Gemarkungen des Dorfes im Radtja-Gebiet gefunden worden. Eine Schneewechte ist heruntergeschmolzen, und Janne Marklund hat eine Hand entdeckt, die daraus hervorragte. Es hat eine Weile gedauert, bis er Kontakt zu uns aufnehmen konnte, da oben gibt es kein Netz, deshalb sind wir erst ein paar Stunden später mit dem Helikopter dort gewesen. Anfangs dachten wir, es sei vielleicht jemand, der durch die Natur umgekommen ist, von einer Lawine überrascht wurde oder so, aber dann haben wir die Verletzungen gesehen.«

»Am Schädel.«

»Genau. Da konnten wir dann ziemlich sicher sein, dass er keines natürlichen Todes gestorben ist, wie man so sagt, und haben die Techniker hinzugerufen. Danach ist die Leiche nach Umeå gebracht worden.«

»Ich habe sie gesehen. Wie haben Sie den Fundort abgesichert?«

»Wir haben ihn abgesperrt, was allerdings leicht übertrieben ist, denn wir reden hier von einem Kalfjäll mitten in der Wildnis, zig Kilometer vom nächsten Gebäude entfernt. Die Absperrbänder von der Polizei an einer Schneewechte oben im Radtja-Gebiet wirken schon ein bisschen komisch. Wollen Sie rauf und sich den Ort ansehen?«

»Morgen. Wie tief lag die Leiche?«

»Knapp unter der Schneeoberfläche. Aber wir wissen, wie viel da in den letzten Sommern weggeschmolzen ist, ursprünglich lag sie also sehr tief. Haben die in Umeå etwas gesagt, wie lange sie da schon liegt?«

»Nein. Aber auf jeden Fall lange. Haben die Techniker was Wichtiges gefunden?«

»Den Bericht kriege ich morgen. Wo werden Sie heute Nacht schlafen?«

»Im Hotel Silverhatten.«

Marja reagierte nur kurz, aber deutlich.

»Da wohnen ziemlich viele Jäger«, erklärte sie. »Bald geht die Schneehuhnjagd los.«

»Und?«

»Die halten sich nie weit vom Alkohol auf.«

Wie sich herausstellte, war das stark untertrieben. Die Männer in der Hotelbar liefen schon auf Hochtouren, als Olivia hereinkam. Sie hatte vor, sich nach dem Essen ein Bier zu gönnen, überlegte es sich aber schnell anders. Allerdings nicht schnell genug. Einer der Männer, ein blonder, kräftiger Typ mit rot kariertem Hemd und Camouflage-Hose entdeckte sie, ehe sie verschwinden konnte.

»He, hallo, du! Du Frau da! Ich lade dich ein!«

Da Olivia die einzige Person weiblichen Geschlechts im Raum war, bestand kein Zweifel, wen er meinte.

»Was nimmst du?«

»Nichts, danke.«

Olivia drehte sich um und war auf dem Weg zur Tür hinaus, als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte. Wie der Mann ihr so schnell nachgekommen war, wusste sie nicht, sie schüttelte ihn ab. Da packte er ihre Haare. Olivia war am Kopf nicht sonderlich schmerzempfindlich, es war etwas anderes, das ihre Reaktion auslöste. Blitzschnell schleuderte sie ihn gegen die Wand. Er verlor das Gleichgewicht und knallte auf den Holzfußboden. In der Bar wurde es mucksmäuschenstill. Alle Blicke richteten sich auf sie. Auf die scheinbar schwache Frau und den kräftigen Mann, der versuchte, sich wieder aufzurappeln. Was eine Weile dauerte. Er keuchte vor Anstrengung, als er wieder in der Senkrechten war. Olivia roch seinen sauren, alkoholgeschwängerten Atem und wich einen Schritt zurück.

»Sie sollten besser nichts mehr trinken«, sagte sie ruhig.

Der Mann fing ihren Blick ein und fixierte ihn ein paar Sekunden, er kaute auf seinen Lippen, dann senkte er den Kopf und sah zu Boden.

»Entschuldigung«, sagte er. »Entschuldigung, ich wollte Sie nur zu einem …«

Olivia machte auf dem Absatz kehrt und ging.

Olivia schlief tief, als der Handywecker erste hartnäckige Versuche unternahm, sie zu wecken. Langsam kam sie zu Bewusstsein, erinnerte sich, wo sie war, und dass sie nun vierzig Minuten Zeit hatte, um aufzustehen und zu frühstücken. Sie wälzte sich aus dem Bett und schlurfte ins Badezimmer. Die Dusche sorgte dafür, dass sie vollends wach wurde.

Ihr Rucksack mit dem Nötigsten für einen halben Tag im Fjäll war bereits gepackt. Die Dienstwaffe war auch dabei, die hatte Olivia in Stockholm ganz automatisch hineingesteckt, nicht weil sie glaubte, sie dort zu benötigen. Necessaire und ihre Kleider blieben im Zimmer, denn sie würde auf jeden Fall noch eine weitere Nacht im Silverhatten verbringen müssen, ehe sie nach Hause zu Lukas fahren durfte. Lukas.

Sollte sie ihn anrufen? Das Risiko, dass er noch schlief, war ziemlich groß. Aber dann würde sie sich erst nach ihrer Rückkehr am Nachmittag wieder melden können, und sie wollte ihm sagen, dass sie im Laufe des Tages nicht erreichbar wäre. Natürlich hätte sie ihm einfach auch eine SMS schicken können, aber die Sehnsucht, seine Stimme zu hören, errang sofort einen erdrutschartigen Sieg über ihre Bedenken, seinen Schlaf zu stören. Die Liebe ist nicht selten egoistisch.

»Ja, hallo?«

Seine Stimme klang klar und wach, als er ranging. Fast ein wenig zu wach. Oder? Und die Musik war auch superlaut. Bowie natürlich. »Changes«. Wie die Nachbarn das so früh am Morgen wohl fanden?

»Das klingt ja nicht so, als hätte ich dich geweckt«, sagte Olivia.

»Hast du auch nicht. Warte, ich mach mal eben leiser.«

Olivia ertappte sich dabei, wie sie auf weitere Stimmen im Hintergrund horchte. Feierte er eine Party? Was machte er?

»Ich male«, sagte Lukas, als würde er auf ihre Gedanken antworten. »Und es läuft so verdammt gut, ich bin in so einem Flow, hab die ganze Nacht nicht geschlafen.«

Nicht geschlafen? Das war nicht gut. Klang er nicht ein bisschen, als wäre er auf Speed? Olivia versuchte, das Gefühl der Unruhe, das sich aus ihrem Bauch nach oben schob, zu unterdrücken. Seit wann war sie denn so empfindlich?

»Okay, wie schön, dass es gut läuft«, sagte sie. »Ich will dich nicht stören, wollte nur hören, wie es dir geht.«

»Mir geht es super. Und dir?«

»Auch gut, ich setze mich gleich in einen Helikopter und werde mich erst heute Nachmittag wieder melden können. Im Fjäll gibt es kein Netz, deshalb. Ich wollte nur deine Stimme hören.«

»Und ich deine.«

Für einen Moment wurde es still.

»Du fehlst mir«, sagte Olivia.

»Du mir auch. Die ganze Zeit. So sehr, dass es durch den Pinsel bis auf die Leinwand schmerzt.«

»Aber du musst schlafen.«

Lukas lachte.

»Mach dir keine Sorgen, meine geliebte O., ich bin in mir selbst. Niemand sonst zu sehen.«

»Wirklich?«

»Ja, wirklich. Und jetzt lauf schnell zu deinem Helikopter, wir sprechen uns dann, wenn du zurückkommst.«

»Okay, ich rufe an, sobald ich wieder hier bin. Ich liebe dich!«

»Ich liebe dich auch.«

Olivia schob das Handy in die Tasche, warf sich den Rucksack über die Schulter und ging zum Frühstück nach unten. Die Gedanken wirbelten in ihrem Kopf herum, und sie versuchte, sie, so gut es ging, zu ordnen. Es gab keinen Grund, sich wegen Lukas Sorgen zu machen. Es ging ihm gut, und er liebte sie. Sie musste versuchen, ihren Kontrollreflex zu unterdrücken, der war nicht gerade charmant. Lukas kam tatsächlich auch ohne sie klar, zumindest ein paar Tage. Okay, vielleicht sogar noch länger. Jetzt musste sie sich auf die Arbeit konzentrieren, auf nichts anderes als die Arbeit, dachte sie in einem Versuch, hinter ihre nagenden Gedanken einen Schlusspunkt zu setzen. Ohne Erfolg. Denn er konnte schließlich auch von dem, was er tat, so verschlungen werden, dass er alles andere vergaß.

Also schickte sie ihm, als sie sich mit einer Tasse Kaffee und einem Butterbrot hinsetzte, eine SMS: »Vergiss heute Nachmittag die Therapeutin nicht.« Natürlich mit ein paar Herzen hinterher.

Dass Lukas sich vielleicht eher Sorgen um sie machen sollte, kam ihr nicht in den Sinn.

*

Zwei Überraschungen erwarteten Olivia, als sie sich mit dem Rucksack in der Hand dem blauen Polizeihubschrauber näherte. Die eine war, dass Marja mit dem Hund dort stand. Die andere war der Pilot. Ein blonder, kräftiger Mann mit rot kariertem Hemd und Camouflage-Hosen. Das war für beide ein recht seltsames Zusammentreffen. Peinlich für den einen, beunruhigend für die andere: Olivia fragte sich, ob der Mann nicht noch Restalkohol hatte.

»Das hier ist Pekka Karvonen«, erklärte Marja. »Er fliegt den Helikopter. Und das hier ist …«

»Wir kennen uns bereits«, erwiderte Olivia und vermied es, ihm ihre Hand zu geben. »Aus dem Silverhatten gestern.«

»Ach so?«

Pekka sagte nichts.

Marja reichte Olivia eine Taschenlampe.

»Nehmen Sie die hier mit, man weiß nie, was im Fjäll passiert.«

Olivia griff nach der Lampe und wandte sich dem Helikopter zu. Pekka hatte eine Tür geöffnet und bedeutete Olivia, dort einzusteigen. Das tat sie nicht. Jedenfalls nicht sofort. Sie ging ein paar Schritte zur Seite und sagte mit gesenkter Stimme zu Marja: »Der war gestern ziemlich betrunken.«

»Oje, ja, das kommt vor, aber kein Problem. Er ist der erfahrenste Pilot von ganz Norrbotten, der würde sich niemals in die Maschine setzen, wenn er nicht fit wäre. Das hier ist übrigens sein Hund.«

Eine vollkommen irrelevante Information. Olivia schüttelte ein wenig den Kopf und bestieg mit ihrem Rucksack den fünfsitzigen Helikopter.

Etwas aus dem Gleichgewicht.

»Am besten klären wir das gleich«, sagte Pekka, kaum dass sich die Rotorblätter des Helikopters in Bewegung gesetzt hatten. »Ich habe mich gestern absolut beschissen benommen. Das war nicht meine Absicht. Ich bitte um Entschuldigung. Ich wollte dich nur auf was zu trinken einladen.«

»Du hast mich an den Haaren gezogen.«

»Ja, das war verdammt blöd. Hat es wehgetan?«

»Nein.«

»Gut.«

Damit war für Pekka die Sache offensichtlich geklärt. Er spannte den Sicherheitsgurt über Olivia fest, reichte ihr die Kopfhörer und zeigte ihr, wie man die Lautstärke regulierte.

»Hörst du mich?«, fragte er.

»Ja.«

»Auf geht’s.«

Der Helikopter hob ab und steuerte Richtung Fjäll.

Olivia war bei Einsätzen schon ein paarmal Helikopter geflogen. Doch das war in der Großstadt gewesen. Das hier war etwas völlig anderes. Sie flogen sehr tief, sodass sie einzelne Hütten und kleinere Gruppen von Rentieren erkennen konnte, als sie über die kahle, felsige Landschaft fegten. Hier und da strömte blaugraues Wasser, unterbrochen von ruhigen grünen Flächen.

»Hier kann man gut angeln, normalerweise. Im Moment ist der Wasserstand ein bisschen zu hoch«, sagte Pekka. »Angelst du?«

»Nein.«

»Jagd?«

»Nicht auf Tiere.«

Pekka lächelte. Sein Atem hatte sich seit dem Abend zuvor entschieden gebessert.

»Leider werden sich die Süßwasserfische hier nicht halten«, sagte er.

»Ach so?«

Sie wusste nicht, was sie sonst sagen sollte.

»Das Wasser in den Seen wird viel zu warm, die Rotforelle hat Probleme, sich zu ernähren … Man rechnet damit, dass in ein paar Jahren die Hälfte aller Fjällseen umgekippt sein werden.«

»Das klingt ja nicht so gut.«

»Das ist richtig beschissen … Schau, da unten liegen ein paar Elche und lassen es sich gut gehen.«

Pekka zeigte auf ein kleines Moorgebiet hinunter. Olivia konnte drei Elche ausmachen, die am Rand des Moors lagen. Einer von ihnen trug ein gewaltiges Geweih. Sie holte ihr Handy heraus und machte ein Bild. Das würde sie Lukas schicken, wenn sie wieder zurück war.

»Warst du schon mal hier oben im Fjäll?«, fragte Pekka.

»Noch nie.«

»Dann wird es spannend.«

»Inwiefern?«

»Ist alles ein bisschen anders hier …«

Was genau er damit meinte, wurde nicht klar, denn im Funkgerät knackte es. Pekka hielt die Hand an den einen Kopfhörer und lauschte.

»Verstanden.«

Er drehte an einem schwarzen Knopf am Armaturenbrett und sah zum Himmel hinauf.

»Was war das?«, fragte Olivia.

»Offensichtlich ziehen die Wolken schneller zu, als die Meteorologen dachten.«

»Und was bedeutet das?«

»Die Sicht wird schlechter. Wir müssen demnächst über ein paar Bergkämme, wenn da die Wolken zu tief hängen, kann es kritisch werden.«

»Inwiefern kritisch?«

»Dass wir nicht drüberkommen, aber das wird schon. Man findet immer eine Lücke.«

Schlagartig wurde Olivia bewusst, wie sehr sie diesem Mann und seiner Kompetenz ausgeliefert war. Sie saß in einer kleinen Blechdose hoch oben in der Luft und hatte keinen Einfluss auf gar nichts. Das fühlte sich nicht sonderlich gut an.

»Das ist das Schwierigste am Fliegen hier oben«, sagte Pekka.

»Was denn?«

»Die Wetterumschläge. Das geht so verdammt schnell. Erst Sonne und einfacher Flug – und fünf Minuten später bricht ein Unwetter herein mit harten Winden aus einer völlig anderen Richtung als vorhergesagt.«

»Aber du bist schon viel geflogen, oder?«

»Millionen Stunden. Aber dem Wetter ist das egal … Siehst du den See da ganz oben?«

Olivias Blick fand blaues Wasser weit oben zwischen den Fjällwänden.

»Ja.«

»Das ist der Pieskehaure, ein sehr großer See, die Quelle des Pieske-Stroms. Einer Legende nach liegt Gold auf seinem Grund, gestohlenes Nazigold, das bisher noch niemand hat finden können. Es kommen immer noch Schatzsucher vom Kontinent, die meinen, sie könnten es rausfischen … Und schau da.«

Pekka zeigte auf den Berg hinunter.

»Wieder Elche?«, fragte Olivia.

»Nein, das sieht aus wie zwei Fjällwanderer.«

Olivia lehnte sich zur Plexiglasscheibe vor. Die Sonne war verschwunden, und die Sicht verschlechterte sich rasch. Dennoch gelang es ihr, dort unten Bewegungen wahrzunehmen. Sie konnte nicht beurteilen, ob das Menschen waren, doch Pekka war sich seiner Sache offenbar sicher.

»Um diese Jahreszeit sind viele Touristen im Fjäll unterwegs, hauptsächlich Ausländer. Oft dürfen wir die dann aus unzugänglichen Gegenden holen, wenn sie sich verirrt haben und kurz davor sind zu verhungern. Sie haben nicht genug Respekt vor dieser Landschaft. Das kann gefährlich werden, wenn man nicht weiß, was man da tut.«

Olivia ging davon aus, dass Pekka wusste, was er tat. Sie selbst hatte keine Ahnung von der Fjällwelt. Aber sie würde ja auch nur dort aussteigen, ein paar Stunden bleiben und sich umsehen und dann wieder zurückgebracht werden.

»Wie ist es hier oben mit wilden Tieren?«

Sie hatte das Gefühl, dass man vielleicht trotzdem die Gelegenheit nutzen sollte, ein bisschen was über diese Landschaft zu erfahren.

»Hier gibt es fast alles … Wölfe, Bären, Luchse, Adler … letzte Woche habe ich oben am Radtja, wo wir jetzt hinfliegen, sogar Vielfraße gesehen. Das ist ungewöhnlich. Die sind sonst sehr scheu.«

»Sind das Aasfresser?«

»Ja, so wie die anderen auch … auf jeden Fall keine Tiere, denen man mitten in der Nacht begegnen möchte.«

Pekka sah wieder zum Himmel hinauf, ehe er sich Olivia zuwandte.

»Alles okay?«, fragte er.

»Mit uns beiden?«

»Ja?«

Was sollte sie darauf antworten? Ich habe keine Ahnung, wer du bist, aber sorge doch bitte dafür, dass wir gut durch diese Wolke kommen. Das sagte sie nicht, sondern nickte nur und rang sich ein Lächeln ab.

Der Spanisch sprechende Mann mit dem exklusiven Markenrucksack hatte das Motorgeräusch schon von ferne gehört. Jetzt stand er mit einem Fernglas vor den Augen da und sah dem weiß-blauen Polizeihubschrauber nach. Zwar flog der nicht direkt über ihnen, dennoch zog er die Frau hinter einen großen Felsen.

»Glaubst du, sie haben uns gesehen?«, fragte sie.

»Möglich … aber sie fliegen weiter.«

»In die Richtung, in die wir auch wollen?«

»Ja.«

Sie waren ohne Probleme über den ersten Bergkamm gekommen. Die Wolken hingen tief, aber Pekka hatte eine Lücke entdeckt und war hindurchgeflogen. Wie er es versprochen hatte. Jetzt näherten sie sich dem zweiten Kamm. Der war bedeutend höher, und die Wolken hingen entsprechend tiefer. Der Wind hatte zugenommen und ließ den Helikopter hin- und herschwingen. Olivia spürte es im Magen. Außerdem hatte es angefangen, heftig zu regnen, das Wasser peitschte an die Scheiben des Hubschraubers. In der Ferne konnte Olivia Blitze sehen, ein Donnern war bislang nicht zu hören. Noch war das Gewitter ein Stück weg. Pekka hatte längere Zeit geschwiegen. Olivia nahm an, dass er sich aufs Fliegen konzentrierte. Plötzlich klopfte er mit dem Finger auf ein kleines, kreisrundes Display am Armaturenbrett, die Tankanzeige, vermutete sie. Als er den Kopf wieder hob, bemerkte Olivia eine Falte zwischen seinen Augen.

»Gibt es ein Problem?«

»Nein, alles in Ordnung.«

Das stimmte nicht, sie hörte es an dem kurz angebundenen Ton. Ihr war klar, dass er nichts sagen würde, das sie erschrecken könnte.

Als ob das irgendetwas bringen würde.

Ein Stück vor ihnen erhob sich jetzt der nächste Bergkamm. Olivia sah den Berg, aber nicht den Kamm. Der lag in tiefen, dunklen Wolken verborgen.

»Kommen wir da rüber?«, fragte sie und bemühte sich, ruhig zu klingen.

»Ich glaube schon.«

Ich glaube schon? Das war nicht das, was man von einem Piloten mit Millionen von Flugstunden hören wollte. Man wollte hören: Kein Problem. Alles easy.

»Und was machen wir, wenn wir nicht rüberkommen?«

»Fliegen außen rum.«

»Außen rum um was?«

»Um den Bergkamm. Und versuchen dann, von unten, vom Tal aus raufzufliegen.«

Olivia verstand nicht so recht. Sie wollte eben bei Pekka nachhaken, als eine Fallbö den Helikopter zur Seite schleuderte und nach unten drückte. Olivia schrie laut auf. Wenige Sekunden später hatte Pekka die Maschine wieder im Griff und steuerte weiter auf den Bergkamm zu. Olivia legte die Hand auf seinen Arm. Eine physische Berührung, die meilenweit von der Bar im Silverhatten entfernt war.

»Pekka. Mal im Ernst. Was ist hier Sache?«

Vielleicht war es die Berührung, die Pekka veranlasste, die Situation nicht weiter zu beschönigen. Er sah noch einmal zu den Wolken hinauf, dann sagte er: »Die Sache ist, dass wir nicht umdrehen können, denn dann werden wir nicht über den Bergkamm hinter uns kommen, und leider haben wir nicht genügend Benzin, um ganz runterzugehen und dem Tal nach oben zu folgen.«

»Das heißt?«

»Wir müssen hier rüber.«

»In einer Wolkenlücke?«

»Wenn wir eine finden.«

Pekka wischte mit dem Helikopter an der Seite des Berges hin und her, um eine kleine Öffnung in der Wolkendecke zu finden. Schließlich entdeckte er eine.

»Da!«

Er stieg schnell zu der Lücke hinauf, und Olivia presste die Hände auf ihre Oberschenkel. Sie würden rüberkommen.

Vielleicht hätten sie es geschafft, wäre da nicht der Blitz gewesen, der inmitten der schwarzen Wolken zwischen den Rotorblättern einschlug und den ganzen Helikopter herumwarf.

Augenblicke später krachten sie in die Bergwand.

*

Die Hand von Lukas zitterte, und der Pinsel landete falsch, als er einen hellen Reflex auf das Frauenbein setzen wollte, das er gemalt hatte. Olivias Bein. Das Bein seiner geliebten O. Er fuhr zurück und sah erstaunt auf seine Hand. Was war los? Gewiss, er hatte zu wenig geschlafen, doch normalerweise spürte er das nicht, solange er in seiner Kreativität gefangen war. Er ging in die Küche und trank ein Glas Wasser. Das Trinken hatte er vergessen, und das Essen auch. Vielleicht nicht weiter verwunderlich, dass der Körper ihn im Stich ließ. Aber trotzdem … die Hand zitterte immer noch, und nahm wahr, wie es in seinen Beinen kribbelte. Kündigte sich da etwa ein Rückfall an? Nicht jetzt, alles läuft doch gerade so gut, konnte er gerade noch denken, ehe die Übelkeit durch seinen Körper schoss.

I