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Griechische Helden gibt es reichlich in der Geschichte. Michael Kramer aber, ein pensionierter Münchner Lehrer, wird in Griechenland - wenn überhaupt - zu einem Helden wider Willen. In Begleitung von Helga, seiner neuen großen Liebe, hat er sich nach den turbulenten Ereignissen in seiner Heimat Niederbayern ins griechische Ferienhaus im Gebiet Messenien zurückgezogen. Ein Schutzprojekt für die bedrohte Meeresschildkröte Caretta caretta, die dort am Strand noch ihre Eier ablegt, wird unerwartet zum Anlass für eine eskalierende Welle von Gewalt und mysteriösen Ereignissen. Schnell führt eine erste Spur zu dem einflussreichen Multimillionär Vardakastanis. Kramer wird daher von der griechischen Polizei, bei der er seit seinen jüngsten Ermittlungen Freunde und Vertraute gewonnen hat, wieder einmal in die Detektivrolle gedrängt. Bald sucht er in Flucht vor den Ereignissen Schutz und Einklang in einem Zentrum für fernöstliche Meditation, bald stolpert er bewaffnet und in Panik durchs griechische Gebirge. Bei all den Korruptionsskandalen und Gewaltakten bleibt der pensionierte Lehrer im ständigen inneren Dialog mit sich. In der Liebe, in der Politik und in der griechischen Landschaft muss er Höhen und Tiefen erleben und durchschreiten wie schon der sagenumwobene Odysseus, der, ähnlich wie Kramer, bei allen Abenteuern und weiblichen Versuchungen niemals sein Ziel aus den Augen verloren hat. Wobei der moderne Held wider Willen im Gegensatz zu Odysseus mehr die Sirenen von den Einsatztruppen der Polizei zu hören bekommt. Bei all den Bedrohungen und Attacken bleibt nur eine stoisch: Caretta caretta, die - während Kramer um sein Leben kämpft - ruhig ihre Bahnen zieht durch das tiefe Blau des griechischen Meeres.
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Seitenzahl: 398
Veröffentlichungsjahr: 2016
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»Die Gerechten zeigen Gnade ...«
Psalm 37:21
Für Carola
Herzlichen Dank für die selbstlose Unterstützung, ohne die auch dieser Roman nie fertig geworden wäre:
Uta Conrad, Rudi Eppinger, Barbara Feuerstein-Weber, Daniela Fink-Patrick-Scaramelli, Julia Fink, Reinhold und Hilde Friedrich, Ingrid und Franz Jesch, Antje Rössler, Marina Sindichakis, Christof Wessling, Erika und Georg Wessling und vielen anderen.
Der Autor ist Jahrgang 1941, in München geboren und verbrachte seine Kindheit und frühe Jugend in Niederbayern. Danach absolvierte er in München eine technische Ausbildung, arbeitete als Facharbeiter und holte über den zweiten Bildungsweg das Abitur nach. Anschließend studierte er in München und Göttingen und arbeitete über zwanzig Jahre als Lehrer für Deutsch, Geschichte und Sozialkunde an einem Gymnasium der Stadt München sowie in der politischen Bildung für Heranwachsende. In der letzten Dekade seiner beruflichen Laufbahn leitete er das städtische Münchner »Pädagogische Institut« für die Fortbildung von Lehrkräften und Erzieherinnen/Erzieher. Wie seine zentrale Romanfigur besitzt er seit über zwei Jahrzehnten ein kleines Ferienhaus auf dem Peloponnes in Griechenland.
Im Jahr 2007 erschien der erste »Michael-Kramer-Kriminalroman« des Autors mit dem Titel »Number One in Niederbayern«. Mit dem vorliegenden zweiten Band bleibt Dietmar Gschrey seinem Vorhaben treu, sich wichtiger Stätten seiner Biografie in Krimiform zu vergewissern. Dabei geht er zwar von realen Verhältnissen aus, nimmt sich aber das Recht, in einer fantasievollen Geschichte über Schauplätze und beteiligte Figuren frei zu verfügen. Das Ergebnis taugt also wieder nicht als Reise und Kulturführer, diesmal für sein Gastland Griechenland. Auch sind etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen ungewollt und wären rein zufällig. Allerdings dürften den Leserinnen und Lesern des Kriminalromans trotz Fantasiewelt und einiger kritischer Inhalte die anhaltende Begeisterung des Autors über seine »zweite Heimat« nicht entgehen.
Auftakt
Nadelstiche
Hammerschläge
Gnadenerweise
Halleluja, ich lebe noch! Draußen vor meinem Gitterfenster gießt ein Gefängniswärter die mickrigen Palmen des sandigen Innenhofes. Es ist noch sehr früh am Morgen, die Schmerzen und das Erlebte der letzten Tage und Wochen haben mich aus dem Bett geholt. Im Normalfall liebe ich diese frühen Stunden des griechischen Sommers. Die Krankenstube des Untersuchungsgefängnisses teile ich mit dem behandelnden Arzt, der aus Sympathie mit mir sogar die letzten Stunden vor dem von uns mit Spannung erwarteten politischen Putschversuch wach bleiben wollte. Nach dem turbulenten Nachtdienst allerdings schwächelte der Mediziner doch etwas und er ist vor Kurzem wieder eingeschlafen. Irgendwann an diesem Morgen wird mich dann ein Hubschrauber der Antiterrortruppe abholen und zum Hochsicherheitsgefängnis bei Athen bringen. Ich freue mich darauf!
Bewacht oder besser beschützt werden wir im Augenblick noch von Kirios, das heißt »Herrn«, Pelagos, dem Leiter dieser meernahen Anlage am Rande Kalamatas. Die Stadt Kalamata liegt im Süden des Peloponnes (oder auch der – Halbinsel – Peloponnes) und ist unter anderem berühmt wegen des Olivenöls aus ihrer Umgebung. Das Untersuchungsgefängnis grenzt direkt an eine Kaserne. Dies hat sich die letzten Stunden als sehr vorteilhaft erwiesen. Ich hoffe inbrünstig, dass der Wahnsinn bald ein Ende hat. Kirios Pelagos schläft jetzt sogar, effektvoller bei der Wache unterstützt durch zwei schwarzgekleidete Elitepolizisten, schwer bewaffnet vor meiner Zellentür. Seine weitere Karriere, davon ist er offensichtlich mittlerweile überzeugt, hängt ganz wesentlich von meinem Überleben ab. Ein gutes Gefühl, endlich, wenn auch sonst mein Pensionistenleben inklusive meiner hoffnungsvollen neuen Beziehung in letzter Zeit gelinde gesagt ziemlich aus dem Ruder gelaufen ist.
Der Gefängnisleiter wollte mich noch vor ein paar Stunden zur Begrüßung mit einem Gummiknüppel zusammenschlagen. Zum Glück war ich vorbereitet und konnte ihn davon abhalten, größeren Schaden anzurichten. Als Folge dieser Auseinandersetzung ist Kirios Pelagos derzeit Träger eines Kopfverbandes und eines blauen Auges, während ich neben einer verbogenen Metallbrille zu meinen sonstigen Blessuren auch noch einen blau geschwollenen rechten Unterarm mit Platzwunde vorweisen kann. Im Spiegel des Krankenraumes sehe ich einen ramponierten, mittelgroßen und angegrauten Michael Kramer, einen pensionierten Münchner Lehrer über fünfundsechzig, der sich gerade etwas jämmerlich an einem Lächeln versucht: der verstümmelte Bart und die spärlichen Haare angesengt, über der linken Schulter bis weit in den Rücken hinunter ein dicker Verband, darunter eine jetzt genähte und ärztlich versorgte breite Risswunde, im Gesicht zahlreiche Pflaster, darunter kleinere Verbrennungen und in den Augen Reste der Panik der vergangenen Tage. Insgesamt erschöpft bis ins Innerste. Aber ich lebe! Und ich werde weiterleben und meine Lebenslust wird wieder kommen, dazu hänge ich viel zu sehr an diesem Restleben.
Allerdings muss ich mir zu diesem Zweck dringend all das von der Seele schreiben, was ich in jüngster Zeit erlebt habe. Und zwar, wie mich der Polizeipsychologe nach meiner ersten erlebten Katastrophe mit meinem niederbayerischen Schulfreund gelehrt hatte: möglichst ausführlich, detailgenau und, damit auch wirklich Abstand entsteht, gedacht für ein unbekanntes Publikum. Das Hochsicherheitsgefängnis am Rande von Athen wird dafür, hoffe ich, der richtige Ort sein.
Am Beginn der Schwierigkeiten versuchte ich der Antwort auf das Warum und Wieso der verwirrenden Ereignisse dadurch näher zu kommen, dass ich mir eine »Stimme des Bösen« erdachte. Kurze Zeit nach dem verstörenden Vorfall in Koroni schien das noch relativ einfach und klar:
»Den blöden Ökofreaks mit ihren Luftnummern werde ich eine Lektion erteilen lassen. Und an einer dieser Ausländertussis wird ein für alle Mal klargestellt, dass es für sie nicht ratsam ist, unseren jungen Griechen mit irrwitzigen Ideen den Verstand zu verwirren!«
Wahrscheinlich kam mein biblisches Bild vom »Bösen« von den fast paradiesischen Umständen, unter denen meine neue niederbayerische Liebe Helga und ich die Monate davor in Griechenland durchlebt hatten. Ich war natürlich alt und skeptisch genug, um nicht auf den Gedanken zu kommen, dieser rauschhafte Zustand ließe sich ungebremst fortsetzen. In gewisser Weise freute ich mich sogar insgeheim auf den Alltag danach. Endlich eine Frau, mit der sich Lust auf die, und nicht Angst vor den Höhen und Tiefen des Alltäglichen einstellte. Und ich hielt mich für reif genug, um den immer knapper werdenden letzten Jahren meines Lebens endlich mit mehr Klugheit zu begegnen. So nahm ich diese unerwartete Begegnung und diesen Gefühlsrausch als ein überwältigendes Geschenk. Und der griechische Frühling und Sommer auf dem Peloponnes boten den idealen Rahmen dafür.
Ich war angeschlagen, aber mit einer steuerfreien Viertelmillion Euro aus dem niederbayerischen Abenteuer mit Toten und Verletzten, in das mich mein verrückter Schulfreund verstrickt hatte, davon gekommen. 1)
Manchmal verfolgte mich das Erlebte noch bis in den Schlaf hinein. Ich wachte dann schreiend auf oder weinte auch nur still vor mich hin. Aber ich hatte neben einigen anderen für mich wichtigen Menschen auch die ehemalige Notarsgattin und Soziologin Helga kennengelernt. Sie stand damals kurz vor ihrer Scheidung und war, was ich erst später so richtig realisierte, über zehn Jahre jünger als ich. Helga erlebte kurz darauf wissenschaftlich und damit beruflich eine Art Durchbruch. Ihre Arbeit über »Wandel der Partnerschaftsstrategien im ländlichen Raum seit 1950 am Beispiel Niederbayerns« fand nicht nur bei der Soziologenzunft Anerkennung und Lob. Ein großer Verlag brachte wenig später die Arbeit leicht überarbeitet als Sachbuch für ein breites Publikum heraus. Der neue Titel war weitaus verständlicher: »Willst du mich heiraten? Wie Mann und Frau auf dem Land zu Paaren wurden und werden«. Ich hatte vor einigen Wochen Helga zehn Tage lang auf einer Lesereise quer durch Deutschland begleitet. Für die nahe Zukunft war als Nächstes ein Auftritt der frisch gebackenen Autorin in einer Literatursendung eines großen deutschen Fernsehsenders geplant. Ich freute mich von Herzen über Helgas Erfolg. Und ich war zu diesem Zeitpunkt noch beruhigt, dass sich für meine dynamische Gefährtin ein Betätigungsfeld mit Zukunft abzeichnete. Vor allen Dingen, da wir nicht ganz zufällig hier in Griechenland bei einer Einladung auch noch eine Soziologin am Lehrstuhl der Athener Universität kennengelernt hatten. Diese sympathische Dame ließ sich sehr schnell dafür begeistern, mit Helga eine Zusammenarbeit zu planen. Auf die gleiche Weise wie für das deutsche Niederbayern sollte der Wandel der Einstellungen und des Verhaltens der griechischen Bevölkerung bei der Suche nach einer Partnerschaft in der Region Messenien, also unserem derzeitigen Umfeld, untersucht werden. Die Professorin war sich ziemlich sicher, dafür Geld aus irgendeiner Förderung durch die Europäische Union organisieren zu können.
Mein Ferienhaus in Griechenland liegt in dieser Region Messenien am Rande eines ehemals rein bäuerlichen Dorfes. Die große Halbinsel Peloponnes hat im Süden die Form von drei Fingern, die ins Mittelmeer hinein ragen. Unser Dorf liegt am Beginn, also Norden des westlichen Fingers an dessen Innenseite. Messenien ist hier sehr gebirgig. Diese Anhäufung von Hügeln und Bergen wächst nach einem eher schmalen Streifen Schwemmland an der Küste im Osten in mehreren Stufen ziemlich steil bis zu einem Scheitel von etwa eintausend Metern nach oben, um dann im Westen zum offenen Meer und dem geschichtsträchtigen Städtchen Pilos hin wieder abzufallen. Unser Dorf hat sich in Jahrhunderten auf einer dieser Stufen eingenistet und war wohl bis vor etlichen Jahrzehnten nur über Eselspfade zu erreichen. Das bekanntere und stark von der einstmaligen Herrschaft Venedigs geprägte Städtchen Koroni mit seiner alten Festung lungert, zunehmend herausgeputzt, gute zwanzig Kilometer südlich in weniger steilem Gelände in einer malerischen Bucht. Zu unserem Dorf führt heute von der Küste und einer nicht gerade umwerfenden Nachkriegsortschaft eine kurvenreiche Straße etwa drei Kilometer den Berg hinauf. Von unserer Terrasse aus hat man an guten Tagen einen wunderbaren Blick auf die Bucht von Kalamata und auf das uns gegenüberliegende schroffe Taigetosgebirge der Mani, dem mittleren Peloponnesfinger. Dieses Gebirge hätte mir später beinahe das Leben gekostet. Teile Messeniens galten seit Urzeiten als eine Kornkammer Südgriechenlands und viele seiner Landstriche haben in Vegetation und Landschaftsbild gewisse Ähnlichkeiten mit der Toskana. Nur fehlen vergleichbare kulturelle Highlights aus der Neuzeit. Messenien ist und war vor allem Bauernland. Und viele Lebensformen, Gebräuche und Verhaltensweisen der ursprünglichen Dorfbevölkerung erinnerten mich an das ländliche Niederbayern, wo ich meine Kindheit und frühe Jugend verbracht hatte.
Zusammen mit Helga waren die letzten Monate wie im Flug vergangen. Wir erlebten eine für uns spektakuläre ländliche Osterfeier, wir fuhren mit Fischern aufs Meer, saßen nächtelang am Lagerfeuer, wanderten über Frühlingswiesen oder kochten zusammen. Nach und nach eroberten wir uns die umliegenden Zeugnisse des griechischen Altertums wie Olympia, das antike Messene oder den Nestorpalast. Oder wir besuchten Naturschönheiten wie einen Stufenwasserfall und eine in wildromantischer Landschaft gelegene Wallfahrtskapelle, über die ein großer Baum gewachsen war und unter der ein Fluss entsprang. Wir hatten auch öfter Besuch von griechischen Freunden und aus der internationalen Gemeinschaft der Griechenlandfans, die sich in unserem Landstrich niedergelassen hatte. Helga schrieb viel an Artikeln für diverse Fachzeitschriften und gehobene Illustrierte der Unterhaltungsbranche, und ich verbrachte viel Zeit damit, sie anzuhimmeln. Sie war auch eine begeisterte Bogenschützin und ich frischte meine Grundkenntnisse in dieser Sportart aus den kindlichen Indianerspielen nach und nach soweit auf, dass ich wenigstens aus mittlerer Distanz fast immer die Zielscheibe traf. Wir hatten keine finanziellen Sorgen und meine Alterswehwehchen hielten sich in Grenzen. Sobald es wärmer wurde, gingen wir fast jeden Tag ans Mittelmeer zum Schwimmen. Darüber hinaus fand Helgas Tatendrang in meinem großen Grundstück mit Kräuterbeet, Ölbäumen, Obstgarten und schütteren Blumenbeeten ein weiteres Betätigungsfeld. Bald war meinem doch etwas vernachlässigten umgebauten Eselstall mit Garten und einigen kleinen Zusatzgebäuden die neue ordnende Hand anzusehen. Und da diese Frau offenbar ungeahnte Reserven hatte, engagierten wir uns auf ihr Drängen auch noch in einer von Griechen und Ausländern getragenen lokalen Gruppe zum Schutz der bedrohten Meeresschildkröten. Bei einer Veranstaltung dieser Gruppe fiel dann der erste dunkle Schatten auf unsere scheinbar so heile Welt.
Es war ein Markttag auf der Hafenpromenade von Koroni. In der ersten Julihälfte mischten sich Touristen und Einheimische so ziemlich zu gleichen Teilen. Es wurden in einer überschaubaren Reihe von Ständen Bücher, Kleidung, Süßigkeiten, Elektronik und Touristenramsch angeboten. Das Städtchen war zum größten Teil in das die Bucht umspannende Bergmassiv hinaufgebaut. So stellte die Hafenpromenade mit ihren circa vierhundert Metern Länge darin so ziemlich die einzige ebene Strecke dar. Daher spielte sich das öffentliche einheimische wie auch das touristische Leben vor allem auf dieser kurzen Wegstrecke ab. Die Promenade war gesäumt von Cafés, Tavernen, Restaurants und Läden. Zum Meer hin allerdings gab es nur überdachte zeltartige Sitzplätze, die Lokalitäten selbst und die Läden befanden sich alle in der Häuserzeile jenseits der Promenade. Die Fassaden der durchwegs alten, einstöckigen Häuser waren mittlerweile fast alle restauriert. Das Städtchen mit seiner unleugbaren venezianischen Vergangenheit war anheimelnd, die Ruinen der mächtigen Burg über ihr wirkten immer noch wie eine schützende Hand über dem bunten Treiben am Hafen. Es war laut, mitten durch das Gedränge waren Mopedfahrer und vereinzelt Autos unterwegs, der beginnende Abend tauchte alles in ein blau-violettes Licht. Die Last der Tageshitze war gebrochen, es roch nach Meer, Fisch, Gewürzen, Abgasen ... So ähnlich stellt sich ein Mitteleuropäer wie ich das Paradies vor, wenn er denn an so einem Ort und zu so einer Stunde überhaupt noch denken mag.
Ich räkelte mich in einem der Stühle in der letzten Lokalität vor der Hafenmole. Hier öffnet sich die Enge der Promenade in einen kleinen Platz direkt am Fuße des Burgberges. Das Ende der Budenzeile, schon auf dem Platz und mit Blick Richtung Meer und damit zu mir, bildete ein Informationsstand der gemeinnützigen Meeresschildkröten-Schützer. Der Infostand war aus Holz, die Vorderfront beklebt mit Informationen, drei Personen boten Broschüren, Werbematerial und Auskunft über das Schicksal der bedrohten Meeresschildkröte Caretta caretta, erklärten das Wirken des Schutzvereines und sammelten Spenden: der schlaksige, stets lächelnde griechische Student Italo, die kleine blonde und sehr zarte junge englische Studentin Susan und die neue Aktivistin Helga.
Helgas fast verbissener Einsatz in Sachen Meeresschildkröten ging wohl auch zurück auf eine frühere gemeinsame Begegnung mit einem der relativ großen erwachsenen Tiere im seichten Wasser vor einem Gemeindestrand nördlich von Koroni. Wir hatten Taucherbrillen auf und waren baff, plötzlich ganz nah am Strand die gravitätisch schwimmende Meeresschildkröte zu sehen. Das Tier ruderte fast bis zum Strand, blickte suchend und irgendwie ratlos auf die strandnahe Anlage einer Pension, drehte dann ab und schwamm, deprimiert, wie es uns schien, wieder Richtung offenes Meer. Helga unterzog mich einer hochnotpeinlichen Befragung. Ich wusste, dass die Tiere vom Aussterben bedroht sind, dass es nur etwa zwei von tausend Schildkröten schaffen, erwachsen zu werden, und sie erst ab dem Alter von dreißig Jahren in Griechenland, beschränkt auf einige Strände des Peloponnes, der Insel Zakynthos und Kretas, ihre Eier ablegen. Und dass es in Koroni eine Niederlassung des gemeinnützigen Schutzvereins gab, der auch ausländische Aktivisten und Förderer gerne aufnahm. Wir fuhren noch am selben Tag nach Koroni. Einige Tage später halfen wir mit, auf Stränden südlich von Koroni Nester, das sind in Sandkuhlen gelegte und von den Tieren zugeschaufelte Gelege mit etwa hundert Schildkröteneiern, durch Gitter gegen Hunde, Marder und so weiter zu sichern, mit kleinen Netzzäunen zu umfrieden und Schilder in unterschiedlichen Sprachen aufzustellen. Diese Schilder verkündeten Verhaltensregeln für Einheimische und Touristen. Schon einen Tag danach waren wir Mitglieder des Schutzvereins und Helga aktiv engagiert. Mir gefiel diese zupackende Haltung, wie mir so vieles gefiel an dieser Frau.
Und während ich noch Helga beobachtete – mir fiel dazu nur das biblische »mit Wohlgefallen« ein – wie sie ernsthaft eine deutsche Touristin beriet und informierte, ging plötzlich alles sehr schnell.
Urplötzlich rannten schätzungsweise acht bis zehn Männer aus allen Richtungen auf den Infostand zu. Sie brüllten aus Leibeskräften, einige hatten Stöcke in den Händen, andere waren mit Steinen bewaffnet. In wenigen Sekunden war der Infostand zertrümmert, Holzteile flogen durch die Luft, Passanten kreischten. Susan lag von mir aus gesehen rechts neben dem Trümmerhaufen, hielt sich ein Bein und schrie gellend. Italo, der sich zu wehren versuchte, wurde von vier Männern roh auf den Boden geschleudert und Helga lag mit aufgerissenen Augen starr unter einem Gewirr von Holzlatten, Brettern, Balken und herumfliegendem Infomaterial. Noch bevor ich auf den Beinen war, stürzte ein großer, ungelenker Mann mit einer Eisenstange direkt auf Helga zu, stieß mit den Füßen Holztrümmer und Papierstöße beiseite und schlug mit seiner gefährlichen Waffe gezielt und offensichtlich mit voller Kraft auf die am Boden liegende wehrlose Frau ein. Helga zog instinktiv die Füße an, der erste Schlag traf Helgas Schuhsohle, sie schrie vor Schmerz und Todesangst. Der Mann hob erneut die Eisenstange – mein Gott, er zielt auf Helgas Kopf und ich werde es nicht mehr schaffen! – da stand wie aus dem Nichts der alte Fischer Petros aus unserem Dorf am Strand hinter dem Angreifer. Er hatte ein Vierkantholz von etwa einem Meter Länge aus den Trümmern gefischt und schlug zu. Der Angreifer erstarrte kurz, die Eisenstange flog scheppernd zu Boden, dann fiel er um wie ein gefällter Baum. Von der nahen Polizeistation lief ein Polizist auf das Geschehen zu. Ich war bei Helga, befreite sie von den Trümmern und zog sie auf die Beine. »Der wollte mich umbringen ..., der wollte mich umbringen! ...«, stammelte sie kurz vor einer Ohnmacht. Ich drückte sie fest an mich und nickte dankbar in Richtung Petros. »Schweinehund verfluchter!«, presste dieser durch die Zähne. Eine Reihe weiterer Polizisten kamen angelaufen. Außer dem aus Nase, Mund und Augen blutenden bewusstlosen Schläger am Boden waren alle anderen Angreifer verschwunden. Später stellte sich heraus, dass doch einer von ihnen, der gerade auf ein wartendes Motorrad springen wollte, von wütenden Marktbesuchern gestellt, heftig verprügelt und dann zur Polizeistation getragen worden war.
Die Polizei sperrte den Tatort ab. Aus dem ebenfalls nahen »Gesundheitszentrum« kamen drei junge Ärztinnen angerannt, je eine kümmerte sich um Helga, Susan und Italo. Helga wurde auf eine Trage gelegt, erhielt eine Spritze und Eisbeutel um den anschwellenden rechten Fuß. Der halbe MeeresschildkrötenSchutzverein kümmerte sich rührend um die verletzten Mitglieder. Ich umarmte Petros, der nicht gut aussah. Freunde umringten ihn, klopften ihm auf die Schulter und flößten ihm einen Ouzo-Schnaps nach dem anderen ein, bis eine der Ärztinnen einschritt. Endlich kamen zwei Krankenwagen, einer für den bewusstlosen Schläger, der andere für Helga. Sie sollte auf Anraten der Ärztinnen im Krankenhaus Kalamata geröntgt werden und mindestens eine Nacht zur Beobachtung dort bleiben. Vorher noch hatte die Polizei Namen und Adresse von über zwanzig Personen einschließlich mir notiert, die alle bezeugen wollten, das Petros Schlag Helga nach menschlichem Ermessen das Leben gerettet hatte. Der Angreifer erlag übrigens zu unserem Entsetzen auf der Fahrt ins Krankenhaus trotz vorheriger notärztlicher Versorgung seinen schweren Kopfverletzungen. Ich fuhr mit Helga im Krankenwagen mit nach Kalamata. Auf der Hälfte der Strecke bekam ich eine Art Schüttelfrost, der Notarzt gab mir einen Keks und aus seiner Thermosflasche einen Schluck heißen und stark gesüßten Tees.
Der Leiter des Krankenhauses in Kalamata musste einen Bruder oder Cousin haben, der eine Hühnerfarm betrieb. Nur so war es erklärbar, dass es für die Patienten dort in schöner Abwechslung nur zwei Gerichte gab: Hühnerschenkel oder Hühnersuppe! Das Krankenhaus selbst ist ein moderner Bau, der Jahre nach dem großen Erdbeben und der Zerstörung des alten Krankenhauses in den Neunzigern errichtet worden war. Die Ärzte wirkten kompetent, die Geräte waren modern. Bei Helga wurden Stauchungen und Quetschungen am Knöchel und ein Haarriss am Rist festgestellt. Sie erhielt eine Gehschiene und die Empfehlung, sich zu schonen. Wir waren früh vor der Krankenhausverpflegung geflohen und saßen zu Hause auf unserer Terrasse beim zweiten Frühstück. Nach langem Schweigen sagte Helga:
»Dieser Vorfall könnte unser Leben verändern!«
»Du meinst also auch, der Anschlag könnte gar nicht den Schildkrötenschützern gegolten haben, sondern uns beziehungsweise dir?!«
»Der einzige Angreifer mit einer gefährlichen Eisenstange ist ganz gezielt auf mich losgegangen! Dahinter könnte doch zum Beispiel ein Racheakt für das Zerstören des Heroinhandels von Griechenland nach Bayern durch deine Laienermittlungen vor einem Jahr stecken. Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht. Aber ich habe Angst!«, gestand Helga und es war ihr anzusehen.
Damit hatte Helga etwas angesprochen, was mich selbst bereits heftig beschäftigt hatte.
»Sollen wir die Koffer packen und nach Deutschland fahren?«, fragte ich zurück.
»Und wenn wir uns doch irren? Es ist so schön hier, ich hätte nie erwartet, dass ich etwas Derartiges wie mit dir noch einmal erleben darf!« Helga war den Tränen nah.
»Dann lass uns morgen auf die Mitgliederversammlung der Schildkrötenschützer gehen. Vielleicht gibt es wirklich Anlässe, die einen Anschlag auf den Verein und seine Arbeit wahrscheinlich machen«, schlug ich vor und Helgas Miene hellte sich etwas auf.
Unsere Unschuld allerdings und unseren Frieden hatten wir verloren. Ich ging in meine kleine Werkstatt und kramte nach dem alten Kleinkalibergewehr meines griechischen Freundes Nikos. Er hatte es bei mir vor der Polizei versteckt. Deutsche Nachbarn hatten ihn angezeigt, weil sie sich durch seine Schießübungen gestört fühlten. Und weil er, was er nie und nimmer zugegeben hätte, einmal statt seiner aufgestellten Blechdosen eine teure Vase auf der Terrasse der Nachbarn getroffen hatte. Mein Grundstück lag etwas außerhalb des Dorfes, die nächsten Nachbarn waren Griechen und schossen auf der Jagd nach Singvögeln – das war leider nicht verhandelbar – schon einmal eine Schrotladung in meine Hauswand. Ich hatte zwar in der Zwischenzeit einen Waffenschein für Faustfeuerwaffen der bayerischen Behörden, der nach Verhandlungen mit der griechischen Polizei und vor allem auf Betreiben des jetzigen Vizepolizeipräsidenten Dimitrios Mikrojannis auch für Griechenland gültig war. Es war der Dank für meine Hinweise, die den Griechen zu einem spektakulären Schlag gegen den Heroinhandel verholfen hatten, und sollte mich vor Racheakten schützen. Aber ich hatte die Nase voll von Gewalt und Detektivspiel und daher den Revolver in Deutschland vorschriftsmäßig eingeölt in meinen Schrank gesteckt. Auch Helga betrachtete eher angewidert das Kleinkalibergewehr, ließ sich aber den Gebrauch geduldig erklären. Wir verbrachten einen ruhigen, doch angespannten Tag und ich ließ sie nicht aus den Augen. Abends schaltete ich die Außenbeleuchtung an, schloss sorgfältig alle Türen und wir schliefen hinter den dicken Steinmauern des alten Eselstalles, das Gewehr in Reichweite.
Nachmittags hatte ich aber doch noch Kontakt gesucht mit einem weiteren Freund aus der griechischen Polizei, dem jüngsten Hauptkommissar Griechenlands: Jannis Konstandinos, den ich mir vor einem Jahr mit dem Geld des verrückten Schulfreundes als einheimischen Personenschützer für meine griechische Mission geleistet hatte. Er konnte, wie auch sein Vorgesetzter Dimitrios Mikrojannis, durch den Heroinfall einen Karrieresprung machen. Und das, obwohl beide der augenblicklichen Oppositionspartei angehörten und größte Probleme mit dem obersten Polizeichef, dem Polizeipräsidenten von Griechenland, Petros Stephanopoulos hatten. »Offenbar«, meinte Jannis bei einem früheren Telefonat lachend, »ist der Oberboss gerade dabei, bei seiner eigenen Partei in Ungnade zu fallen!«
Nach den üblichen Begrüßungsfloskeln und dem unvermeidlichen Fragen nach dem gegenseitigen Befinden kam ich schnell zur Sache. Ich erzählte Jannis kurz den Vorfall von gestern und unsere Befürchtungen. Jannis war sofort hellwach.
»Du weißt«, sagte er, »dass wir vor einem Jahr zwar den Transportweg des Heroins nach Deutschland unterbrechen und die deutschen Kollegen damit in Verbindung stehende Mordfälle aufklären konnten, wir aber hier in Griechenland in wichtigen Bereichen immer noch im Dunkeln tappen. Wir konnten nichts, aber auch gar nichts darüber in Erfahrung bringen, woher das Heroin in Griechenland kam, wer es wo aufgekauft hatte, wo es gelagert worden war und so weiter. Der Fall hat für mich und Mikrojannis immer noch höchste Priorität, während unser großer Chef ihn einfach ignoriert. Ich werde mich mit dem Polizeidirektor für Kalamata und Messenien, Kirios Alexandros Marinopoulos, in Verbindung setzen. Ich kenne ihn gut und schätze ihn!«
»Jannis, morgen Abend trifft sich der Verein der Meeresschildkrötenschützer in Koroni. Soviel ich weiß, wird auch die Polizei kommen. Es kann ja wirklich sein, dass wie früher auf Zakynthos hier einfach wirtschaftliche Interessen mit Naturschutz aufeinanderprallen!«
»Ich weiß, und ich werde auch da sein. Schon, weil ich unseren Helden vom letzten Jahr wieder einmal sehen will.«
»Der Held hat aber ganz schön die Hosen voll und will endlich sein Privatleben genießen!«
»Kann ich verstehen. Allerdings wäre es leichtsinnig, wenn wir den Anschlag auf deine Freundin einfach ignorieren würden. Bis morgen, ich freue mich auf ein Wiedersehen!«
Am nächsten Morgen bekam ich dann noch einen Anruf des neuen Vizepräsidenten der griechischen Polizei, Dimitrios Mikrojannis. Er stammte aus einem Bergdorf in Messenien. Letztes Ostern hatte er wie fast jeder Grieche mit ländlichen Wurzeln sein Dorf und seine Verwandten besucht und von dort aus auch Helga und mir einen Besuch abgestattet. Er hatte uns stolz Schönheiten seiner Heimat gezeigt und ernsthaft mit uns vereinbart, uns im Herbst wieder zu treffen. Mikrojannis war besorgt und zugleich von einem gewissen Jagdeifer erfasst. Ich erhielt von ihm eine Notnummer, unter der er angeblich Tag und Nacht erreichbar war. Zugleich versprach er, Jannis für den Fall der Fälle mit allen nötigen Vollmachten auszustatten. Helga staunte darüber, welch engen Kontakt ich zu Spitzenbeamten der griechischen Polizei pflegte (ich übrigens auch!) und wir fuhren abends doch etwas beruhigter zum Vereinstreffen nach Koroni.
Die Polizei aus Koroni hatte in weiser Voraussicht für das abendliche Treffen im Gymnasium der Stadt ein Klassenzimmer organisiert. Ein Beamer war in Position gebracht, ein provisorisches Podium aus Schulbänken zusammengestellt. Auf dem Podium hatten bereits Platz genommen: der örtliche Polizeidirektor Alexandros Marinopoulos aus Kalamata, zwei weitere Polizeibeamte und der Staatspolizist Jannis als Vertreter der Polizei, der Vorsitzende des Schildkrötenschutzvereins Kirios Konstandinos Manevis aus Athen, vom örtlichen Vorstand des Vereins in Koroni der Tiermediziner Dr. Figaris und (mit blauem Auge) der lächelnde Italo. Das Klassenzimmer war gut gefüllt, außer vielen Vereinsmitgliedern und Förderern und einer größeren Zahl von Neugierigen zählte ich noch fünf Vertreter der Medien. Auch eine der Ärztinnen von gestern war gekommen. Helga mit ihrer Gehschiene erregte entsprechende Aufmerksamkeit, auch bei den Medienvertretern, und erhielt geballte Zuwendung.
Der Vereinsvorsitzende, ein etwas fahriger und offenbar eher unsicherer, weil überbetont selbstsicher auftretender Grieche um die fünfzig mit beginnender Glatze und respektablem Bauchansatz, eröffnete und begrüßte. Er sprach, soweit ich das verstand, dem Sinne nach von einem »üblen Zwischenfall«, der glimpflich ausgegangen sei und die Schildkrötenschützer geradezu zum Weitermachen auffordere. Da eine in München lebende befreundete Griechin, die mehr als ein halbes Jahr in Griechenland verbringt, unsere Verständnisprobleme bemerkte, setzte sie sich zu uns und spielte Simultanübersetzerin. Der Vereinsvorsitzende übergab die Leitung an Polizeidirektor Kirios Marinopoulos, der vom Typ her eher den freundlichen, langmütigen und volksnahen Polizisten verkörperte. Er leitete die Versammlung sehr zielstrebig und kompetent. Zunächst erklärte er den ersten Abschnitt der Veranstaltung für einen Teil der polizeilichen Ermittlung. Höflich aber bestimmt komplimentierte er die Medienvertreter und die Nur-Neugierigen aus dem Raum. Um keine Unstimmigkeit aufkommen zu lassen, hatte er für diesen Personenkreis im Schulhof ein kleines gesponsertes Büfett organisieren lassen.
Kaum war der ausgeschlossene Personenkreis abgezogen, ließ Kirios Marinopoulos einen echten Knüller vom Stapel. Vorher allerdings hatte er noch kurz Jannis als Vertreter der Landespolizei vorgestellt und erklärt, einige Aspekte des Vorfalles könnten eventuell auf einen Zusammenhang mit einem älteren, das gesamte Griechenland betreffenden Kriminalfall verweisen. Dann ließ er das Licht ausschalten und startete den Beamer. Wir hielten die Luft an. Wie wir danach erfuhren, hatte ein englischer Tourist, der gerade Urlaubseindrücke mit seiner Videokamera festhalten wollte, zufällig den Überfall gefilmt. Bei der anschließenden Zeugenbefragung meldete er dies bei der Polizei, die sich eine Kopie der Aufnahmen anfertigen ließ. Wir sahen und hörten noch einmal das unbeschwerte Treiben vor dem Überfall, dann die Männer laut brüllend und koordiniert von allen Seiten auf den Infostand zurennen, dessen Verwüstung und die Attacken auf das Team des Infostandes. Helga suchte meine Hand und presste sie. Der Angriff auf Helga war deutlich zu verfolgen, der Fischer Petros lief seitlich ins Bild und schlug in dem Moment zu, als der Angreifer zum gezielten Schlag auf Helgas Kopf ausholte. Bevor der erste Polizist ins Bild gerannt kam, war deutlich eine Trillerpfeife zu hören. Blitzschnell flüchteten die Männer nach allen Seiten. Dann wurde der filmende Tourist offensichtlich von der panischen Menschenmenge abgedrängt. Es gab noch ein paar verwackelte Bilder von schreienden Gesichtern, einem Gewirr von Armen und Beinen, dem Zeltdach eines Cafés – und dann brachen die Filmaufnahmen ab.
Im Saal herrschte zunächst einmal betroffene Stille. Polizeidirektor Marinopoulos erläuterte, wie die Polizei zu den Aufnahmen gekommen war, und gab dann zusätzliche Informationen:
»Wir haben den Film von unseren Technikern bearbeiten lassen. Von dreien der Angreifer und dem mittlerweile verstorbenen Schläger mit der Eisenstange konnten wir einigermaßen verwertbare Bilder erstellen!«
Er zeigte über den Beamer hintereinander vier mehr oder weniger gut erkennbare Aufnahmen. Vom Eisenstangenschläger gab es dann sogar noch zwei weitere Aufnahmen aus jeweils anderer Perspektive. Auf die eindringliche Frage des Polizeidirektors, ob denn jemand im Saal eine der abgelichteten Personen kenne oder vorher gesehen habe, fand sich jedoch niemand aus dem Kreis der Anwesenden, der dies bejahen konnte. Auch zu dem von Passanten gefassten und verprügelten Angreifer, der mit Kopf- und Armverband von der Polizei abgelichtet worden war, fand sich niemand, der ihn erkannt hätte.
»Jetzt zu einer der ersten Fragen, die sich aus dem Vorfall ergeben und die ich vorweg behandeln will«, fuhr Kirios Marinopoulos fort: »Ist der einzig wirklich bedrohliche Angriff auf Person und Leben der deutschen Touristin Frau Helga Hocheder Zufall und Willkür, oder steckt System und Absicht dahinter? Dazu haben wir zunächst das Filmmaterial bearbeitet und ausgewertet.«
Er schaltete erneut den Beamer ein. Der Film wurde von dem Zeitpunkt ab gezeigt, zu dem der Eisenstangenschläger zum ersten Mal ins Bild kam. Die Techniker hatten über den Mann einen Pfeil eingeblendet, sodass seine Bewegungen besser zu verfolgen waren. Er lief zunächst auf die am Boden liegende und schreiende Susan zu, hob die Eisenstange leicht an, verharrte Bruchteile von Sekunden, orientierte sich und stürzte dann auf Helga zu.
»Wir stehen bei der Auswertung vor der Frage«, kommentierte Polizeidirektor Alexandros Marinopoulos die Szenen, »hatte der Schläger mit der jungen und zarten englischen Studentin Mitleid, Beißhemmung wie ein großer Hund gegenüber einem Welpen oder suchte er aufgrund irgendeines Auftrages gezielt nach Frau Hocheder? Unserer Meinung nach wissen wir im Augenblick zu wenig, um diese Frage jetzt schon beantworten zu können! Verbleibt also vorerst die zentrale Frage, bei der wir auf alle Fälle mit der Untersuchung ansetzen müssen: Wer hatte Grund, den Verein der Schildkrötenschützer zu schädigen oder einzuschüchtern?«
Bei dieser Frage kam Leben in das Publikum und nach kurzer Zeit redeten so gut wie alle durcheinander. Auf dem Podium meldete sich Italo zu Wort, wobei ihm der Athener Vereinsvorsitzende Kirios Manevis zischelnd seine Wortmeldung ausreden wollte. Italo, die Unbekümmertheit in Person, ließ sich aber davon nicht abhalten. Polizeidirektor Marinopoulos verschaffte sich Ruhe im Saal und bat Italo um seine Stellungnahme.
»Ich weiß nicht, ob dies der Polizei bekannt ist: Wir haben hier in Koroni vor etwa zwei Monaten eine anonyme Drohung erhalten. Der Brief liegt im Büro des Vereins. Leider konnte ich ihn vorher auf die Schnelle nicht finden, was mich sehr verwundert. Dieser Brief, bei dem von Zeitungen ausgeschnittene Wörter und Buchstaben verwendet werden, war ohne Anschrift und Absender nachts in unseren Briefkasten geworfen worden. In dem Schreiben werden wir davor gewarnt, uns auf keinen Fall gegen Grundstücksgeschäfte und Baupläne südlich von Koroni zu stellen. Sie alle wissen, dass dort das zentrale Brutgebiet der Meeresschildkröten liegt!«
Ein Raunen ging durch den Saal. Polizeidirektor Marinopoulos war anzumerken, dass auch er von diesem Vorfall nichts wusste.
»Das ist ja in der Tat mehr als interessant!«, meinte er überrascht und zugleich mit einer Spur Zufriedenheit. »Warum in aller Welt ist der Verein damit nicht zur Polizei gegangen?«
Der Athener Vorsitzende setzte zu einer Erklärung an, aber der Polizeidirektor stoppte ihn mit einer abwehrenden Handbewegung.
»Kirie Manevis, Sie dürfen gleich Ihre Sicht der Dinge darlegen. Aber uns interessiert zunächst die Darstellung des jungen Mannes, der ja immerhin zum lokalen Vorstand in Koroni gehört. Bevor Sie weiterreden«, wandte er sich an Italo, »bitte ich eines der Vereinsmitglieder, zusammen mit einem der anwesenden Kollegen zu Ihrem Büro zu gehen und den Brief zu holen!«
Einer der beisitzenden Polizisten aus dem Podium und eine junge Frau verließen den Raum. Nach einer kurzen Aufforderung an Italo fuhr dieser fort, wobei die Spannung im Raum fast greifbar schien.
»Nun, unser Vorstand hat den Vorfall beraten und wir haben, wie üblich, daraufhin zunächst unseren Hauptvorstand in Athen informiert. Kirios Manevis bat uns, den Brief an ihn zu faxen und eine Entscheidung des Hauptvorstandes abzuwarten. Er wollte auch ›hinter den Kulissen‹ recherchieren und herausfinden, ob denn wirklich in der Nähe der Schildkrötenstrände Grundstücke verkauft wurden oder gar bereits Baupläne existierten. Allerdings war das schon vor etwa acht Wochen. Wir haben mehrmals in Athen angerufen und erfahren, dass die Erkundigungen schwierig seien und die Angelegenheit irgendwie gar nicht einfach für den Verein!«
»Also haben Sie in Koroni einfach gewartet!?«, fragte der Oberpolizist aus Kalamata nach.
Ein verschmitztes Lächeln huschte über Italos Gesicht. »Herr Polizeidirektor, wir sind doch Griechen. Und einen Griechen ohne Beziehung gibt es wahrscheinlich gar nicht. Also habe ich auf eigene Faust, Kirios Manevis möge mir nochmals verzeihen, einen Freund meines Freundes um einen kleinen Gefallen gebeten ...«
»Und?«, der Polizeidirektor.
»Blöd gelaufen. Der Freund meines Freundes konnte zwar noch erfahren, dass tatsächlich etwas im Busch wäre, dann allerdings hat man ihm die Reifen zerstochen und einen Zettel an den Scheibenwischer geklemmt. Er wird darin aufgefordert, die Finger von der Schildkrötensache zu lassen, sonst würde sein Haus brennen. Da hat er verständlicherweise die Lust verloren, mir einen Gefallen zu tun. Den Zettel habe ich übrigens dabei wie auch die Kopie des anonymen Briefes an den Verein, die wir angefertigt hatten, um den Inhalt des Schreibens nach Athen zum Vorstand faxen zu können!«
Italo kramte in seinem Rucksack, holte zwei Klarsichthüllen mit Inhalt heraus und schob sie dem Polizeidirektor zu. Dieser lächelte, offensichtlich gefiel ihm der forsche und listige Student.
»Das muss ein Nachkomme von Odysseus sein!«, flüsterte mir Helga zu.
»Hoffentlich wird der nie Politiker in Griechenland. Da sind schon zu viele Listige unterwegs, vermute ich!«, war meine Antwort.
»Haben Sie denn von Ihren geheimen Nachforschungen den Hauptvorstand in Athen informiert?«, wollte Hauptkommissar Jannis von Italo wissen.
»Nach längerem Zögern ja – und ich habe mir, wie zu erwarten, ein Donnerwetter von Kirios Manevis eingefangen. Er warf mir vor, mich in Dinge eingemischt zu haben, die für mich eine Nummer zu groß wären. Und im Nachhinein scheint dies ja zu stimmen!«
Kirios Manevis, der zunehmend erregt wirkte, auf seinem Stuhl hin und her rutschte und dessen Kopf im Verlauf der Antworten Italos puterrot angelaufen war, konnte nicht mehr an sich halten.
»Herr Polizeidirektor«, schrie er, »ich protestiere aufs Heftigste gegen Ihre Art der Ermittlung! Das gleicht ja einem Tribunal. Wie können Sie es wagen, solche sensiblen Einzelheiten vor so einem großen Publikum auszubreiten! Sie gefährden den Bestand des Vereins und Sie gefährden damit den Bestand der Meeresschildkröten! Sie sind offenbar unfähig, diesen Fall angemessen anzugehen. Ich werde mich beschweren und um Ihre Ablösung bitten. Ich kenne Ihren obersten Vorgesetzten, den Polizeipräsidenten Kirios Stephanopoulos, sehr gut!«
Und dann ging dem obersten Schildkrötenschützer die Luft aus. Der örtliche Polizeidirektor lächelte nachsichtig.
»Ich kenne meinen obersten Vorgesetzten auch ganz gut! Aber im Ernst, Kirie (übrigens die Anredeform von ›Kirios‹!) Manevis, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Ich hätte nicht gedacht, dass diese Massenbefragung eine solche Menge von Daten und Hinweisen zutage fördern würde. Umgekehrt müssen Sie mir doch zustimmen, dass die Polizei bei Einzelbefragungen wahrscheinlich Tage und vielleicht sogar Wochen gebraucht hätte, um auf den jetzigen Stand der Ermittlungen zu kommen. Ich vermute zum Beispiel, bitte entschuldigen Sie diese Offenheit, Sie hätten wie vorher hier auf dem Podium den Studenten Italo davon abzubringen versucht, den anonymen Brief zu erwähnen (Kirios Manevis verfärbte sich bereits wieder dunkel!). Vielleicht irre ich mich ja auch, jedenfalls greife ich Ihren Vorschlag gerne auf und werde hier die halböffentliche Massenbefragung einstellen. Nochmals danke für Ihren Hinweis (Kirios Manevis entfärbte sich etwas). Allerdings werde ich zusammen mit meinen Kollegen anschließend eine kleine Pressekonferenz geben. Die Kollegen von der Presse würden über kurz oder lang doch all dies in Erfahrung bringen, was wir im Augenblick wissen. Und Sie können uns vertrauen, wir werden keine voreiligen Schlüsse ziehen oder gar Urteile abgeben!«
Gerade als der Polizeidirektor die Versammlung schließen wollte, kamen die junge Frau und der Polizeibeamte vom Büro der Schildkrötenschützer zurück. Sie hatten den Brief nicht finden können!
»Nicht ganz so schlimm, wir haben ja dank der Umsicht des jungen Vorstandsmitgliedes eine Kopie. Wir müssen natürlich bei den Ermittlungen auch diese Tatsache berücksichtigen und irgendwann bewerten. Ich schließe hiermit die Sitzung und bitte den Verein, den jetzt eigentlich geplanten Teil der Mitgliederversammlung zu vertagen!«, reagierte der Polizeidirektor.
Hier nickten sowohl der Hauptvorstand als auch die beiden Vertreter des Vereins aus Koroni. Dies war übrigens die erste Äußerung des Tierarztes Dr. Figaris aus Koroni an diesem Abend, der dann sogar den Vereinsmitgliedern noch eine erneute Einladung versprach! Der Polizeidirektor kündigte abschließend in circa zwanzig Minuten eine öffentliche Pressekonferenz in diesem Raum an. Die Menge strömte ins Freie. Helgas Knöchel schmerzte heftig und sie musste sich dringend hinlegen. Bevor wir nach Hause fuhren, vereinbarten wir für den nächsten Tag mit Jannis in einem der Restaurants am Hafen von Koroni ein gemeinsames Mittagessen.
Wir hatten in der folgenden Nacht zunächst recht wenig geschlafen, dafür aber um so mehr über die Ergebnisse der trickreichen Ermittlung des Polizeidirektors aus Kalamata diskutiert. Es war schon gewagt, die Ermittlung als Vereinssitzung zu tarnen und damit zu rechnen, aufgrund der internen Spannungen und unter der Kontrolle der großen Zahl von Menschen möglichst viel zu erfahren. Seine Rechnung war aufgegangen, meine Achtung vor dem Provinzchef entsprechend groß. Die einzelnen Fakten hatten unter dem Strich dazu beigetragen, uns wenigstens etwas zu beruhigen. Zwar war die Zielstrebigkeit des Eisenstangenschlägers, mit der dieser auf Helga losgegangen war, immer noch beängstigend. Und die Möglichkeit, dass Helga dabei getötet oder schwer verletzt werden sollte, schien nach den Filmaufnahmen immer noch mehr als wahrscheinlich.
»Vielleicht sollte«, meinte Helga zur späten Stunde, »an einer typischen Ausländerin wie mir, die zudem nicht den Mitleidseffekt eines jungen Mädchens hervorgerufen hätte, ein Exempel statuiert werden!«
»Also doch wirtschaftliche Interessen, wahrscheinlich touristische Erschließung, gegen Naturschutz. Vielleicht sogar verbunden mit griechischem Nationalismus!? Viele Ausländer engagieren sich ja im Schildkrötenschutz und es wird unter Umständen von den Hintermännern des Überfalls angenommen, dass sie der Grund des Übels seien: Sie beeinflussen mit ihrem Naturschutzgehabe vor allem die jungen Griechen, die dann das Wohl der Heimat – und den Gewinn der Interessierten – aus den Augen verlieren«, führte ich den Gedanken weiter.
»Das heißt also, selbst wenn mich der Angreifer töten oder zumindest schwer verletzen wollte, muss da nicht die griechische Drogenmafia dahinter stecken. So richtig tröstet das nicht, es wirkt aber trotz allem nicht ganz so bedrohlich, weil wir dann nicht gezielt im Visier einer auf Rache sinnenden organisierten Berufsverbrechervereinigung stehen!«, schloss Helga aus unseren Überlegungen.
Wir schliefen dann doch noch einige Stunden mit Nikos Gewehr in Reichweite und seinem zottigen, großen, aber harmlosen Hund im Eingangsbereich. Vor dem Bett, wie ursprünglich geplant, hatte er einfach zu streng gerochen und zu laut geschnarcht!
Am nächsten Morgen hatte Helga einen Termin im Krankenhaus in Kalamata. Der Arzt war mit dem Befund zufrieden, nahm allerdings an der Gehschiene einige Korrekturen vor, um Helga von Druckschmerzen zu befreien. Kalamata, 1986 durch ein starkes Erdbeben schwer zerstört, löste in mir immer gemischte Gefühle aus. Die schönen alten Gründerzeitbauten vor allem im Kern der Altstadt mit seinen verwinkelten Gassen, mit Lehm gemauerten und dann verputzten eher niedrigen Wohnhäusern und eine wunderbare Markthalle waren weitgehend verloren. Es entstanden viele eher triste und seelenlose Wohnviertel und Bürogebäude. Athen ist weit weg, die Zuschüsse eher spärlich und Olympia 2004 ging ohne Auswirkung an dieser sechstgrößten Stadt Griechenlands vorbei. Aber in all ihrem Provinzialismus wird sie zunehmend lebendiger und moderner. Es gibt, hat man erst einmal seine woher auch immer stammende Überheblichkeit abgelegt, schöne Ecken, interessante Museen und Theateraufführungen und gute Lokale zu entdecken. Und eine Stadt am Meer mit Hochschulen, eigener Bucht und umgeben von beeindruckenden Bergen tut sich auf Dauer sowieso schwer, nur grau und hässlich zu wirken.
Wir fuhren von Kalamata aus den Golf von Messini entlang die zum Teil recht kurvigen etwa vierzig Kilometer direkt nach Koroni. Jannis erwartete uns bereits in der vereinbarten Taverne mit ihren überdachten Tischen und Stühlen direkt am Meer, die vorwiegend von Einheimischen aufgesucht wurde. Nach einer herzlichen Begrüßung (Verkehrssprache Englisch!) und nachdem wir unsere große Platte mit Meeresfrüchten, griechischem Salat, viel Weißbrot und einigen zusätzlichen Spezialitäten einschließlich der Getränke vor uns auf dem Tisch hatten, gab Jannis uns einen Überblick über den neuesten Stand der Ermittlungen.
Der Polizeidirektor von Kalamata, dessen Ermittlungsmethoden vom Tag vorher auch Jannis als sehr unkonventionell und erstaunlich effektiv bezeichnete, hatte sich zuerst fast ausschließlich auf den Athener Vereinsvorsitzenden Kirios Manevis konzentriert. Seine Annahme, der engagierte Mann hätte mit Sicherheit in der Zwischenzeit Erkenntnisse gewonnen, die der Polizei viel Zeit und Mühen ersparen würden, erwies sich als berechtigt. Nach kürzester Zeit war der Widerstand des Mannes gebrochen. Und ab diesem Zeitpunkt kooperierte er offenbar bedingungslos. Allerdings hatte ihm der Polizeidirektor vorher zugesichert, die Sache mit dem Zurückhalten des Drohbriefes einfach zu vergessen.
Der Vereinsvorsitzende hatte sehr wohl herausgefunden, dass die an den Strand angrenzenden Grundstücke einen neuen Besitzer hatten. Als er die Rechtsanwaltskanzlei genauer unter die Lupe nehmen ließ (Beziehungen!), die das Geschäft getätigt hatte und zugleich die Umwandlung der erworbenen Grundstücke in Bauland betrieb, machte er eine für ihn schockierende Entdeckung. Der Mann, der dahinter stand, war einer der ganz Reichen in Griechenland und einer der größten Förderer Messeniens. Er war aber auch einer der größten Unterstützer des Vereins zum Schutz der Meeresschildkröten! Noch verrückter wurde der Befund durch die Tatsache, dass der Millionär, der sein Geld mit Tanker- und Containerschiffen verdient hatte, auf der Westseite Messeniens dabei war, eines der größten und anspruchsvollsten griechischen Tourismuszentren zu bauen. Und dieses Zentrum sollte allen nur erdenklichen Umweltzertifikaten gerecht werden. Ein Millionär, dem Naturschutz gegenüber aufgeschlossen, der den Wiederaufbau Kalamatas gefördert, den Bau der Polizeizentrale gesponsert und für Kalamata gerade ein neues Rathaus gestiftet hatte, sollte durch einen billigen und brutalen Überfall den von ihm unterstützten Schildkröten-Schutzverein dazu zwingen wollen, ihn auf Kosten des Naturschutzes Gewinne machen zu lassen!? Kirios Manevis war verwirrt, wütend und ratlos. Die von ihm nach dem Drohbrief kontaktierten Regionalpolitiker winkten ab, sobald er nur den Namen des Millionärs nannte.
Aber auch der sonst so unerschrockene Polizeidirektor Alexandros Marinopoulos war durch diese Nachricht wie vor den Kopf gestoßen. Er hatte Jannis gestanden, dass er im Augenblick nicht wisse, wie er weiter vorgehen solle. Der Staatsanwalt und einige Politiker, die er seinerseits informell um Rat gefragt hatte, hätten ihm dringend abgeraten, dem Millionär in irgendeiner Weise zu nahe zu kommen. Sollte der freigiebige Sponsor der Region seine Unterstützung einstellen, wäre das eine unvorstellbare Katastrophe für Messenien. Der Polizeidirektor solle medienwirksame Aktivitäten entfalten, die aber im Endeffekt keinerlei Ergebnisse bringen dürften, war ihr Ratschlag.
»Der Polizeidirektor Alexandros Marinopoulos war nahe daran, seinen Dienst zu quittieren«, erzählte Jannis, »da habe ich dich ins Spiel gebracht!«
Und damit meinte er mich, Michael Kramer, den pensionierten Lehrer, der gerade fürchterliche Angst davor hatte, die jüngste Vergangenheit könnte ihn eingeholt und ihn und vor allem seine Partnerin in große Gefahr gebracht haben.
»Ich habe dem Oberpolizisten aus Kalamata lang und breit erzählt, wie und wodurch du als Laienermittler erfolgreich warst. Warum solltest du nicht als ausgewiesener Spezialist und Mitglied des Schildkrötenschutzvereines die Nähe des Millionärs suchen und dabei zu klären versuchen, ob dieser Mann wirklich in den Fall verwickelt sein könnte?«
»Jannis, das ist doch nicht dein Ernst?!«, fragte ich ungläubig zurück. Was sich hier abzeichnete, war einfach zu absurd. Und es entsprach absolut nicht meinem festen Entschluss, nie mehr Ermittler zu spielen und mich und andere dadurch in Gefahr zu bringen.
»Ich kann deine Reaktion gut nachvollziehen«, meinte Jannis. »Vergiss aber nicht, wie wichtig es für dich und Helga ist zu wissen, ob der Überfall in Koroni sozusagen eine innergriechische Angelegenheit ist, in den ihr zufällig hineingezogen wurdet, oder inszeniert wurde, um sich an dir zu rächen!«
»Wahnsinn! Wie stellt ihr euch das vor? Ich bin Ausländer, spreche schlecht englisch und kaum griechisch! Ich bin trotz aller Liebe zu diesem Land ein Fremder und werde es wohl immer bleiben!«
»Ach Michael, euer Italo vom Verein ist Grieche und spricht leidlich Deutsch, die englische Studentin Susan spricht zusätzlich griechisch und deutsch – und der verdächtige Millionär hat in Hamburg Schiffbau studiert und spricht wahrscheinlich ein besseres Hochdeutsch als du aus Süddeutschland!«, war Jannis’ Antwort. Wieder so ein Odysseus!
»Und ich marschiere einfach zu dem Millionär, der langsam auch einen Namen braucht, und sage ihm, dass ich wissen will, ob er ein böser Bube ist und den Überfall inszenieren ließ, weil ihm die vielen Millionen noch nicht genug sind!«, sagte ich sarkastisch.
»Bitte Michael«, antwortete Jannis ernst, »ich hab das alles auch mit deinem Freund und meinem Chef, dem Vizepräsidenten Mikrojannis aus Athen, besprochen. Du sollst uns helfen, dass in Griechenland nicht wieder einer nur deswegen gefahrlos Unrecht begehen kann, weil er reich ist. Und ich kann dir versichern, solltest du den Verdacht gegenüber Kirios Sotiris Vardakastanis (endlich der Name!) erhärten können, werden wir ohne Rücksicht auf irgendwen und irgendwas die Ermittlungen vorantreiben. Wir von der Polizei werden in der Zwischenzeit auch nicht schlafen. Und sollte der Überfall nichts mit dem Millionär zu tun haben, hast du mein Wort, dass wir dich und Helga mit aller Kraft vor weiteren Racheakten schützen werden!«
»Jannis, ich muss das überschlafen. Bitte sucht nach dem Chef des Überfallkommandos. Vielleicht kann man auf diesem Weg zum Auftraggeber vordringen. Und wenn der gefangene Schläger vernehmungsfähig ist, fragt ihn doch, ob der Eisenstangenschläger einer der ihren war. Nein, noch besser, lasst mich mit ihm reden, wenn ich denn euren Auftrag annehmen sollte!«
»Jawohl, Herr Kollege!«, ulkte Jannis und salutierte.
Helga mischte sich ein: »Er braucht zwar noch meine Genehmigung dazu. Aber ich denke, das wird sich machen lassen!«
»Ich gehe davon aus, dass ihr auch den Freund des Freundes von Italo, dem die Reifen zerstochen wurden, und vor allem sein Umfeld unter die Lupe nehmen werdet?«
Ich verstand nicht so recht, warum Helga und Jannis das alles so lustig fanden. »Selbstverständlich, Sherlock Holmes!«, war zwar keine besonders aufbauende Erwiderung, vor allem wenn sie von Lachtränen begleitet war. Es war aber der Einstieg in einen entspannten und wohltuenden Nachmittag unter Freunden. Den Augenblick nutzen, darin sind viele Griechen offensichtlich Weltmeister. Irgendwann fielen mir dann noch zwei Männer auf, die verdächtig oft in unsere Richtung blickten.
»Keine Angst, das sind Personenschützer aus unserer Abteilung«, sagte Jannis. »Sie werden euch auch noch nach Hause begleiten. Und nachts fährt in relativ kurzen Abständen eine Streife aus Kalamata an euerem Haus vorbei. Du bist für uns als neuer Mitarbeiter doppelt wichtig geworden, musst du wissen!«
Der Mistkerl war sich tatsächlich sicher, dass ich den Affen für sie machen würde!
Wieder eine unruhige Nacht, wieder ernste Diskussionen mit Helga. Auf dem Rückweg von Koroni zu unserem Bergdorf hatten wir am späten Nachmittag am Gemeindestrand eines straßennahen Dorfes eine Pause eingelegt. Allerdings nicht, ohne vorher unsere beiden Personenschützer zu fragen, ob sie noch soviel Zeit hätten. Sie hatten. Eine weit geschwungene Bucht, ein wenig gepflegter Sandstrand mit einem nicht zu breiten Steingürtel direkt am und im Wasser. Wieder die Farben des späten Tages mit seinen ins Violette spielenden Blautönen. Die nächsten Badegäste einhundert Meter entfernt, das Wasser glasklar und im Augenblick ohne die geringste Bewegung. Das Hinterland bis zur nahen Küstenstraße locker zersiedelt, darunter noch Ölbäume und schilfige Wiesen mit Ziegen darauf. Nicht dramatisch, aber doch wunderschön und beruhigend trotz einiger Autoleichen, windschiefer Hühnerställe und zerfallenen Häusern auf angrenzenden Privatgrundstücken. Auch auf diesem Strand legen übrigens vereinzelt Meeresschildkröten noch ihre Eier ab! Ich hatte allerdings Schwierigkeiten, die Ruhe dieser Bucht zu genießen. In meinem Kopf rumorte es. Ich suchte krampfhaft nach einem Ausweg, wie ich den Vorschlag meiner Polizeifreunde umgehen könnte. Noch einmal spielten wir durch, ob nicht eine Abreise eine Lösung wäre. Aber Helga war entschieden dagegen:
»Wenn wir unsere Ruhe finden wollen, müssen wir Gewissheit haben, dass nicht in jeder dunklen Straße ein Rächer lauert. Du wirst nicht umhin können, das Deine zu tun, um die Hintergründe des Überfalls aufzuklären. Jannis hat recht! Bitte lass uns lieber überlegen, wie du vorgehen willst, um mit diesem Millionär Vardakastanis in Kontakt zu kommen. Vielleicht löst sich ja der Alptraum auf und wir können irgendwann weiter machen wie bisher – ich wünsch mir das so sehr!«