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Maleeo und Clariis leben in der Welt der Wüstenmeere. Ihre Heimat ist durch immer stärker werdende Unwetter in Gefahr. Siedlungen werden zerstört, Menschen sterben. Nachdem beide nur knapp mit dem Leben davongekommen sind, folgen sie den Höhlenmalereien ihrer Vorfahren, um herauszufinden, wodurch ihre Welt aus dem Gleichgewicht gerät. Auf ihrer Reise zu einer fernen Wand, hinter der sie auf Antworten hoffen, lernen sie die noch verbliebene Magie der alten Völker kennen und versuchen mit ihrer Hilfe, das Leben in den Wüstenmeeren zu erhalten.
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Seitenzahl: 180
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Das Schiff aus dunklem Holz steht zur Seite geneigt auf einer Düne. Maleeo erreicht es als Letzter und reiht sich in den Kreis ein, den die Reisenden seines Stamms um das Gefährt gebildet haben. Hemass, sein Anführer, zieht sein Messer aus dem Gürtel. Die anderen tun es ihm gleich und halten die Klinge an den Zeigefinger.
„Sekarr!“, ruft Hemass in der Sprache der alten Völker. Sie vollführen den Schnitt. Blut tropft in den Sand und verschwindet, als würde es von etwas nach unten gesogen. Leichter Wind frischt auf, während sie die Messer wegstecken und warten.
Nach einigen Minuten vibriert der Boden, begleitet von tiefem Brummen. Die schwarzen Tentakel eines Sandreisenden dringen an die Oberfläche, schlängeln sich um den Rumpf und richten das Schiff auf.
Hemass geht zu der herunterhängenden Strickleiter und klettert an Bord, gefolgt von Maleeo und den anderen.
Maleeo tritt neben Hemass, der auf dem erhöhten Heck am Steuerrad steht. Die weiteren Mitreisenden haben sich auf den Boden gesetzt und lehnen mit dem Rücken an der Reling. Einige tragen ein Kopftuch, genauso weiß wie ihre Gewänder.
Der Wind aus östlicher Richtung wird stärker. Dunkle Wolken hängen am Horizont.
„Der nächste Regen kommt“, sagt Maleeo.
„Sieht so aus“, meint Hemass. „Setz dich besser hin!“
Maleeo nickt und sucht sich einen Platz.
Um Hemass Hals hängt an einer Schnur ein Horn. Er greift es und bläst mehrmals kräftig hinein. Dumpfe, tiefe Töne dringen durch die trockene Wüstenluft. Kurz danach setzt sich der Sandreisende in Bewegung und zieht das Schiff mit sich.
Mit geschlossenen Augen genießt Maleeo das Gefühl, auf dem Schiff durch den Sand zu gleiten. Das sanfte auf und ab über die Dünen, das Rauschen des Windes. Bis die Wolken über ihm den Himmel verdunkeln und ihren Regen ausschütten.
Er öffnet die Lider, kniet sich hin und blickt über die Reling. Die Welt ist hinter dem nassen Vorhang kaum zu sehen. Umgeben vom Rauschen des Wassers verliert er jedes Zeitgefühl. Irgendwann hört es auf, innerhalb weniger Minuten lösen sich die Wolken auf und die Sonne scheint wieder vom blauen Himmel herab.
Nur noch langsam werden sie durch den schweren, dunkelbraunen Sand gezogen. Tiefe Pfützen haben sich zwischen den Dünnen gebildet. Lebewesen aus den Tiefen der Wüste tummeln sich darin und versuchen, das rettende Ufer zu erreichen. Echsen, Schlangen, Spinnentiere.
Maleeo streicht sich das Wasser aus den schulterlangen schwarzen Haaren und steht auf, um sich vom Wind trocknen zu lassen.
Nach einer halben Stunde erreichen sie das Caluuah-Gebirge. Erneut bläst Hemass in das Horn. Der Sandreisende wird langsamer und hält etwa hundert Meter vor den Ausläufern der Berge an. Lautlos verschwinden die schwarzen Tentakel im Sand, danach neigt sich das Schiff leicht zur Seite.
„Holt die Körbe und Wasserschläuche!“, ruft Hemass.
Eine junge Frau zieht die Luke zum Laderaum auf. Die Stammsmitglieder holen geflochtene Körbe und Schläuche aus Tierhaut heraus und tragen sie zur Strickleiter.
Hemass klettert als Erster nach unten, gefolgt von den anderen, bis nur noch die Frau oben ist. Mit geübten Bewegungen wirft sie die Körbe und Schläuche nach unten, wo sie aufgefangen werden. Dann verlässt sie selbst das Schiff.
Durch den nassen Sand nähern sie sich einem steinernen Pfad, der an dem Berg vor ihnen hinauf führt. Maleeo schleppt einen der Wasserschläuche und beginnt zu schwitzen, als sie dem steiler werdenden Weg folgen. Nacht fast einer Stunde erreichen sie weit über dem Wüstenboden eine Höhle, die zu dem Tal auf der anderen Seite führt.
Manche seiner Stammsfreunde tragen einen violetten Stein an einem Band um den Hals. Je tiefer sie in die Dunkelheit des Berges vordringen, desto heller leuchten diese Lichtbringer, die nur selten in der Wüste zu finden sind. Mit vorsichtigen Schritten tasten sie sich über den felsigen Boden, vorbei an mit Wasser gefüllten Vertiefungen. Bis sie am Ende der Höhle endlich wieder Tageslicht sehen.
Als sie ins Freie treten, wird der Schein der violetten Steine schwächer und erlischt. Vor ihnen liegt das weite Hochtal, das die umliegenden Siedlungen mit genügend Nahrung und Wasser versorgt. Häuser aus weißem Gestein glitzern in der Sonne Der Regen ist bereits durch die ebenerdigen Brunnen abgeflossen, die von den Bewohnern gegraben wurden.
„Deine Freundin wartet bestimmt schon“, meint Hemass und verwuschelt Maleeos Haare.
„Sie ist nicht -“, beginnt Maleeo, aber Hemass geht bereits weiter.
Sie folgen ihm den grasbewachsenen Hang hinab, bis sie nach einigen Minuten die Siedlung erreichen und zu dem Platz in deren Mitte gehen. Hemass betritt das Haus des Stammsanführers.
„Hey!“, ruft jemand. „Das Wasser holt sich nicht von alleine.“
Maleeo lächelt, als er Clariis näherkommen sieht. Sie trägt eine hellgraue Leinenhose und ein weißes Hemd. Wie so oft hat sie ihre langen braunen Haare zu einem Zopf geflochten.
Kurz deutet auch sie ein Lächeln an, dann sagt sie „Kommt!“ und macht sich auf zum Rand der Siedlung, gefolgt von Maleeo und den anderen Wasserschlauchträgern.
Sie gehen durch ein kleines Wäldchen und klettern dahinter einen steiler werdenden Hang hinauf, bis sie eine Höhle erreichen und betreten.
Auch Clariis trägt einen violetten Stein um den Hals, das Band so um die glatte Oberfläche gebunden, dass er davon gehalten wird. Maleeo und die anderen folgen ihr durch die verzweigten, teils schmalen Gänge, immer tiefer in den Berg hinein. An den steileren Stellen sind Seile um Felsvorsprünge gebunden. Auch Clariis hält sich trotz ihrer Erfahrung und geschickten Schritte an ihnen fest.
Nach einer halben Stunde erreichen sie eine Kammer mit hoher Decke. An deren Ende schlängelt sich ein Bach leise durch ein Felsbett. Auf dem Weg dorthin bleibt Maleeo stehen und betrachtet die Höhlenmalerei an der linken Wand. Jedes Mal, wenn er hier ist, fasziniert sie ihn aufs Neue. Auch sie leuchtet violett und zeigt geschwungene Linien, die Dünen darstellen könnten. Darauf befinden sich mehrere Ansammlungen von kleinen Rechtecken. Vielleicht Siedlungen, überlegt er. Die Gebilde darüber scheinen Wolken zu sein. Weit rechts ist etwas, das wie eine riesige Wand aussieht. Auf der anderen Seite davon sind mehrere Kreise.
Clariis tritt neben ihn. „Die Menschen der alten Völker waren etwas kreativer als wir, oder?“
„Sieht so aus. Wie auch immer sie dieses Bild gemacht haben. Bestimmt sind sie viel gereist.“
„Kann sein. Immerhin kommst du hierhin. Ich war noch nie auf einem Schiff.“
„Warum nicht?“
Sie zuckt mit den Schultern. „Wir haben hier alles, was wir zum Leben brauchen.
Außerdem gibt es viel zu tun. Eine Versammlungshalle soll gebaut werden, wir müssen weit gehen für das weiße Gestein.“ Sie legt ihre Hand an seinen Ellbogen. „Komm, holen wir Wasser, deine Leute möchten bestimmt bald zurück.“
Einen Moment blicken sie sich in die Augen, dann gehen sie zum Ende der Kammer. Maleeo kniet sich vor den Bach und öffnet den Verschluss des Schlauches.
Blinzelnd tritt Maleeo aus der Höhle ins Freie. Die Sonne brennt vom Himmel, nur vereinzelte Schleierwolken schwächen ihren Schein etwas ab. Der gefüllte Wasserschlauch hängt schwer an einem Gurt um seine Schulter.
Er geht mit Clariis den Hang hinab zur Siedlung. Hemass und seine Stammsfreunde warten bereits auf dem Platz in der Mitte der Häuseransammlung. Die Körbe sind gefüllt mit Brot, Früchten und essbaren Pflanzen.
„Bis zum nächsten Mal!“, sagt Clariis, gibt ihm einen Kuss auf die Wange und läuft davon.
Hemass kommt zu ihm. „Grinsen kannst du auch unterwegs“, sagt er, zwinkert ihm zu und dreht sich zu den anderen. „Los geht`s!“
Schwitzend erreichen sie den Fuß des Berges und spüren wieder Sand unter ihren Füßen. Mit Seilen ziehen sie die Körbe und Schläuche aufs Schiff, dann bilden sie wieder einen Kreis darum und vollführen den Schnitt, diesmal am anderen Zeigefinger. Nach einigen Minuten vibriert der Boden. Ein anderer Sandreisender als auf dem Hinweg erscheint, seine dunkelroten Tentakel schlängeln sich um den Rumpf.
Maleeo blickt zum östlichen Horizont und denkt an das Bild in der Höhle. Gibt es irgendwo eine riesige Wand mit einer fremden Welt dahinter?, fragt er sich. Der Wind frischt wieder auf, als er die Strickleiter hinauf klettert.
Hemass korrigiert den Kurs, nachdem er auf den hölzernen Kompass geblickt hat, der vor dem Steuerrad auf einem aus dem Deck ragenden Brett befestigt ist.
„Was weißt du über die Welt im Osten?“, fragt Maleeo, der neben ihm steht.
„Nicht viel“, antwortet sein Anführer. „Meine Eltern sind vor meiner Geburt viel gereist, zu den grünen Siedlungen im Norden, aber auch nach Osten, bis zur Turmstadt. Haben mir jedoch kaum etwas erzählt.“
„Mein Vater hat mal von der Turmstadt gesprochen. Manche der Bauwerke sollen bis in den Himmel reichen. Clariis hat mir in der Wasserhöhle ein leuchtendes Bild gezeigt, darauf sind -“
„Ich weiß“, unterbricht Hemass, sieht zu Maleeo und lächelt. „Jeder kennt es.“
„Oh … Und gibt es so eine Wand? Vielleicht kommt der Regen von dem Ort, der dahinter liegt?“
„Ich weiß es nicht.“ Hemass Miene wird ernst. „Die Unwetter werden immer heftiger. Hoffentlich hört es irgendwann auf.“
Maleeo und die anderen halten sich an der Reling fest, so stark schwankt das Schiff.
Hemass umklammert das Steuerrad und versucht den Kurs zu halten. Graue, tief hängende Wolken breiten sich über ihnen aus. Wenige Minuten, nachdem die ersten Regentropfen den Boden erreichen, zucken Blitze um sie herum durch die entstandene Dunkelheit. Kurz danach lässt grollender Donner das Schiff vibrieren.
Auch Maleeo sinkt auf die Knie und kauert sich zusammen, als ein lautes Krachen die Luft durchdringt. Er hört Holz splittern und die Schreie seiner Stammsfreunde. Ein kräftiger Mann einige Meter entfernt bricht blutend zusammen und bleibt zuckend liegen, sein Körper von Splittern durchbohrt. Das Heck des Schiffs steht in Flammen, der Regen reicht nicht, es zu löschen. Diejenigen, die es noch können, springen von Bord, während sich das Feuer ausbreitet. Der Sandreisende beschleunigt, als hoffe er, so dem Chaos zu entkommen.
Schwankend steht Maleeo auf und will mit einer Hockwende über die Reling, da schlägt ein weiterer Blitz ins Deck ein. Schmerzen durchzucken seinen Rücken und die Beine, Holzsplitter bohren sich hinein. Er wird durch die Luft gewirbelt und schlägt auf dem nassen Sand auf. Regungslos bleibt er liegen, während sein Körper beginnt, sich taub anzufühlen. Mit zusammengekniffenen Augen sieht er dem brennenden Schiff hinterher, bis sich die Tentakel des Reisenden zurückziehen und es auf der Seite rutschend zum Stehen kommt.
Maleeo beginnt zu weinen, während er spürt, wie sein Blut von der durchtränkten Wüste aufgenommen wird. Seine Sicht verschwimmt. Hat der Regen aufgehört, oder bildet er es sich nur ein?, fragt er sich nach einer Weile. Als er glaubt, unter blauem Himmel zu liegen, vibriert der Boden. Etwas dringt daraus hervor und umgibt ihn, als wolle es ihn beschützen. Er weiß, was es ist, aber ihm fällt in seiner Erschöpfung der Name nicht ein. Seine Gedanken schwimmen davon, er kann sie nicht mehr greifen. Mit geschlossenen Augen ergibt er sich seinem Schicksal.
In der ihn umgebenden Dunkelheit fühlt er sich geborgen. Nichts kann ihm etwas anhaben in dieser Finsternis, in der. Raum und Zeit nicht zu existieren scheinen. Dennoch ändert sich etwas. Violett leuchtende Punkte schweben zu ihm.
Langsam beginnt er, seinen Körper wieder zu spüren. Schmerzen breiten sich aus. Blinzelnd öffnet er die Lider und versucht zu erkennen, wo er ist. Immer wieder tränen seine Augen, bis er endlich klar sehen kann.
Er liegt auf einem Felsen, umgeben von Wasser und weiterem Gestein, das daraus hervorragt. Die Lichtpunkte existieren tatsächlich, wie Funken eines Feuers schweben sie durch die Luft der unterirdischen Kammer.
Etwas berührt seinen Rücken. Auf der Seite liegend blickt er über die Schulter. Sandreisende in vielfältigen Farben und Größen schwimmen in dem Gewässer. Mit Tentakeln, die aus den Seiten ihrer schmalen, schlangenähnlichen Körper hervorkommen, ziehen sie sich durch das Nass. Neben dem Felsen ist ein kleinerer Reisender mit dunkelblau schimmernder Haut. Einen seiner Fangarme hat er in die Luft gehoben. Violette Punkte werden davon angezogen und verbleiben an der Spitze. Mit langsamen Bewegungen streicht die Kreatur damit über Maleeos Wunden. Bei den Berührungen zuckt er zusammen, bis nach und nach die Schmerzen nachlassen. Etwas fließt in seinen Körper, eine Energie, die ihm Kraft geben und ihn wieder klarer denken lassen. Nach einigen Minuten zieht sich der Sandreisende zurück, schwimmt etwas von dem Felsen weg und betrachtet ihn aus kleinen Augen an der Vorderseite seines Körpers. Das schmale Maul darunter öffnet und schließt sich.
Stöhnend setzt sich Maleeo auf und sieht sich erneut um. Neben ihm liegen blutige Holzsplitter, sein Helfer muss sie aus seinem Körper gezogen haben, bevor er aufgewacht ist. In der Decke weit über ihm sind Zugänge zu Höhlen, die durch das Gestein bis zum Sand der Wüste führen müssen. Wasser fließt in Rinnsalen daraus hinab. Aus einer Öffnung schwebt ein Reisender. Seine Tentakel bewegen sich, als würde er sich an der Luft entlanghangeln, bis er ins Wasser gleitet.
In keine Richtung kann Maleeo ein Ende des unterirdischen Reichs erkennen. Die violetten Punkte sind auch unter Wasser, scheinbar endlos treiben sie in die Tiefe. Er winkt der blauen Kreatur zu, die seine Wunden behandelt hat, aber sie reagiert nicht. Nach einer Weile schwimmt sie davon. Maleeo weiß nicht, wie lange er schon auf dem Felsen sitzt. Er hat die Knie angezogen und den Kopf an sie gelehnt. Erinnerungen an diejenigen, die ihm wichtig sind, kreisen durch seine Gedanken. Bilder von seinen Eltern. Von Hemass und seinen Stammsfreunde. Und von Clariis. Irgendwie muss er zu ihnen zurück, es muss einen Weg geben.
Nachdem er sich aufgerichtet hat, versucht er erneut, durch winken und rufen Kontakt zu den Sandreisenden aufzunehmen. Aber sie beachten ihn nicht, als würde er nicht existieren. Er rückt an den Rand des Gesteins und lässt die Beine ins Wasser baumeln. Als er weiter entfernt den kleinen, blauen Sandreisenden entdeckt, lässt er sich ins Wasser gleiten. Vielleicht schafft er es, zu dem Geschöpf zu kommen.
Sein Gewand zieht sich voll und wird schwer. Während er sich umdreht, um sich festzuhalten, sinkt er bereits unter die Oberfläche. Mit hektischen Bewegungen greift er nach dem Fels, bekommt ihn kurz zu fassen, aber rutscht ab. Weiter wird er nach unten gezogen, bis er endlich eine Stelle findet, an der er sich festhalten kann. Griff um griff schafft er es, sich nach oben zu ziehen. Kurz bevor sein Kopf wieder über Wasser ist, schneidet eine scharfe Kante in seine Handfläche. Er zuckt zusammen und hustet mehrmals. Die Wunde schmerzt, Blut fließt seinen Arm hinab.
Maleeo will rausklettern, da umgreifen ihn Tentakel und heben ihn auf den Fels. Er dreht sich um und erblickt den blauen Sandreisenden, der erneut einen Fangarm nach oben streckt und sich mit den leuchtenden Punkten, die sich an der Spitze gesammelt haben, seiner Wunde nährt. Kurz vor der Berührung zieht Maleeo die Hand zurück.
„Was zieht euch an?“, fragt er. „Das Blut? Die Schmerzen der Menschen? Angst?“ Die Kreatur bleibt für einen Moment ruhig und betrachtet ihn, dann nähert sich der Tentakel erneut der Verletzung.
„Ich muss wieder an die Oberfläche, zu meinen Freunden!“ Maleeo entzieht sich erneut dem Kontakt und deutet mit der blutenden Hand zur Decke. „Nach oben. Verstehst du mich?“
Als er schon nicht mehr mit einer Reaktion rechnet, streckt der Sandreisende den vorderen Teil seines Körpers aus dem Wasser und blickt hinauf. Dann gibt er ein Brummen von sich und sinkt wieder hinab. Diesmal lässt Maleeo zu, dass seine Wunde behandelt wird. Nachdem sich darüber eine Kruste gebildet hat, zeigt er erneut zu den Öffnungen. Die Kreatur erhebt sich daraufhin aus dem Wasser und umschließt ihn mit den Fangarmen.
Ob ihnen die violetten Punkte die Kraft geben?, fragt sich Maleeo. Zu schweben, durch den Sand zu reisen und Schiffe zu ziehen? Entstehen aus ihnen die in der Dunkelheit leuchtenden Steine?
Sie nähern sich der Decke und gelangen in einen der Höhlenzugänge. Immer weiter schweben sie durch die felsigen Schächte, bis sie vor einer Wand aus Sand halten. Die Tentakel legen sich enger um Maleeo und verhüllen ihn, bevor der Reisende mit seinem schlangenähnlichen Körper durch den Wüstensand nach oben gleitet.
Der Sandreisende verschwindet wieder in der Tiefe. Maleeo klopft sich den Sand aus den Haaren, von Gesicht und Gewand. Dann blickt er sich in der Dämmerung um. Etwa zwei Kilometer entfernt ragt das Caluuah-Gebirge in die Höhe. Zum ersten Mal sieht er es in der beginnenden Dunkelheit. Wie ein stummer Wächter thront es über der Wüste.
Warum hat ihn der Reisende gerade hierhin gebracht? Wo sind Hemass und die anderen? Haben sie es geschafft, in der Tageshitze zurück zur Siedlung zu kommen?
Er macht sich auf zu den Bergen, spürt die abkühlende Wüste unter den Füßen. Nach einigen Minuten nähert er sich einem Leuchten. Violettes Licht dringt unter dem Sand hervor. Er gräbt mit beiden Händen und findet einen Stein, wie ihn Clariis um den Hals trägt. Wie wenig er über seine Welt weiß, denkt er, als er das Artefakt auf seine Handfläche legt und in seinem Schein weitergeht.
Immer wieder hört er Geräusche um sich herum, als er den steinernen Pfad erreicht. Das Tageslicht ist fast verschwunden, die nachtaktiven Wüstenbewohner graben sich an die Oberfläche. Einen Moment hält er inne und atmet tief durch, spürt die kühle Luft in der Lunge. Dann beginnt er den Aufstieg, zum zweiten Mal an diesem Tag.
Mit vorsichtigen Schritten folgt er dem Pfad, den leuchtenden Stein vor sich haltend.
Als die Nacht endgültig begonnen hat, bleibt er stehen und blickt den Abhang hinab. Unter ihm ruht das Wüstenmeer, als würde es schlafen und auf den nächsten Tag warten. Irgendwo hinter dem Horizont liegt seine Siedlung, selbst am Tag ist sie von hier aus nicht zu sehen. Seine Eltern werden sich fragen, ob er noch lebt. Ich komme zu euch zurück, verspricht er in Gedanken und geht weiter.
Mit schmerzenden Beinen erreicht er die Höhle, die zu dem Tal auf der anderen Seite führt. Hinter einer Biegung sieht er violettes Licht und trifft dort auf den Anführer von Clariis Stamm und ungefähr dreißig weitere. Die meisten haben die Augen geschlossen und schlafen sitzend mit dem Rücken an die felsige Wand gelehnt.
Maleeo blickt von einem zum anderen. „Wo … wo ist Caliis?“, fragt er.
Der Anführer steht auf und umarmt ihn kurz. „Maleeo! Wie bist du hierhin gekommen?“
„Unser Schiff wurde vom Unwetter zerstört. Ein Sandreisender hat mir geholfen. Ich war in ihrer Welt, weit unter der Wüste. Wo ist -“
„Das Wasser im Tal ist noch nicht lange abgeflossen, wir werden erst morgen früh im Hellen runtergehen. Einige haben das Gewitter nicht überlebt.“ Seine Augen werden glasig. „Es geschah so schnell … Clariis war mit anderen in den Höhlen, um Wasser für uns zu holen.“
„Was? Ich muss ihr helfen!“ Er will loslaufen, aber der Anführer hält ihn am Ellbogen.
„Nein! Es wird dauern, bis die Höhlen wieder frei sind. Du kannst ihr nicht helfen, wenn du vorher ertrinkst!“
„Aber -“ Kurz versucht er sich loszureißen, aber der Griff des Mannes ist zu stark. Erschöpft gibt er den Widerstand auf und lässt sich auf den Boden sinken.
„Hab Geduld“, sagt der Anführer, setzt sich ebenfalls und reicht ihm eine Frucht aus dem Korb neben sich. „Nur so haben wir eine Chance.“
***
Er spürt den Druck des Wassers. Die Strömung zieht ihn mit sich. Mit hektischen Bewegungen kämpft er sich an die Oberfläche und holt nach einem Hustenanfall tief Luft. Ein Rauschen dringt zu ihm, stetig wird es lauter. Maleeo blickt in diese Richtung und sieht am Ende der dunklen Höhle violettes Leuchten. Es scheint von weiter unten zu kommen.
Als ihm klar wird, worauf er sich zubewegt, versucht er sich am felsigen Rand festzuhalten. Aber es ist zu spät, er stürzt den Wasserfall hinab in die Tiefe. Die Luft zischt an seinen Ohren vorbei, bis er wieder unter Wasser taucht.
Erneut schafft er es, nach oben zu kommen. Die Strömung zieht ihn zu einem Ufer aus Sand. Erschöpft kriecht er an Land, spuckt Wasser aus und sieht sich um. Einige Meter entfernt liegt jemand auf dem Rücken. Schwankend steht er auf und geht dorthin.
„Clariis!“, ruft er, als er sie erkennt. An ihrem Hals leuchtet der violette Stein.
Ihre Haut hat sich bläulich verfärbt. Nach einigen Sekunden öffnet sie die Augen.
„Warum rettest du mich nicht?“, fragt sie mit heiserer Stimme.
„Deswegen bin ich hier. Komm!“ Er streckt ihr eine Hand entgegen.
„Du musst dich beeilen!“
„Ja, aber nur mit dir zusammen. Steh auf, wir finden einen Weg zur-“
Erschrocken verstummt er und weicht zurück, als ihre Haut zu zerfließen beginnt. Nach wenigen Sekunden ist nur noch das Skelett übrig.
„Nein!“, schreit Maleeo und sinkt auf die Knie.
***
Schwitzend schreckt er hoch und blickt sich um. Alle um ihn herum scheinen zu schlafen. Manche mit dem Rücken an die Felswand gelehnt, andere haben sich auf die Seite gelegt. Nur eine ältere Frau ihm gegenüber sitzt aufrecht und sieht ihn an.
„Geh und finde Clariis“, sagt sie leise.
Maleeo wischt sich über die Stirn. „Woher weißt du, woran ich gedacht habe?“
Sie deutet auf den leuchtenden Stein neben ihm. „Noch ist nicht alle Magie aus unserer Welt verschwunden. Du solltest lernen, sie zu nutzen.“
Er nimmt das Artefakt, das er in der Wüste gefunden hat und steht auf. „Konntest du meine Gedanken spüren?“
„Sei vorsichtig“, antwortet die Frau. „Wenn dir etwas passiert, ist sie verloren.“
Erneut möchte er seine Frage stellen, aber die Fremde schließt die Augen und lehnt sich zurück.
„Geh!“, flüstert sie kaum hörbar.
Maleeo macht sich auf den Weg.
Er erreicht den Höhlenausgang und blickt auf das Tal. Das vom Halbmond reflektierte Licht taucht es in einen silbrigen Schein. In manchen Steinhäusern und dazwischen leuchten violette Steine und enthüllen leblose Körper. Für eine Weile stützt sich Maleeo an der felsigen Wand neben ihm ab, dann beginnt er den Abstieg.