Young Bond – Der Tod stirbt nie - Steve Cole - E-Book

Young Bond – Der Tod stirbt nie E-Book

Steve Cole

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Beschreibung

ER IST JUNG. ER IST EIN REBELL. ER IST AUF DEM WEG ZUR LEGENDE. Young Bond in seinem actionreichsten, explosivsten Abenteuer Nachdem der fünfzehnjährige James Bond aus dem vornehmen Eliteinternat Eton geflogen ist, bringt ihn seine Tante in einer neuen Schule auf dem Land unter. Doch die Idylle trügt: James kommt einem Erpresserring auf die Spur, der ihn bis nach Hollywood führt. Zu einem mächtigen Filmmogul, der für seine wahnsinnigen Pläne auch vor Mord nicht zurückschreckt! Ein mitreißender Action-Krimi für junge und alte Fans des coolsten Geheimagenten der Welt! Alle Bände der Serie: Young Bond – Der Tod stirbt nie Young Bond – Tod oder Zahl Young Bond – Schneller als der Tod Weitere Bände sind in Vorbereitung

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Steve Cole

Young Bond

Der Tod stirbt nie

Aus dem Englischen von Leo H. Strohm

FISCHER E-Books

Inhalt

Prolog Du hast es so gewolltKapitel 1 Tu, was man dir sagtKapitel 2 Eine einmalige ChanceKapitel 3 Licht und DunkelKapitel 4 LeinwandblutKapitel 5 Ein blutiges EndeKapitel 6 Versuch einer WiedergutmachungKapitel 7 Eine stille NachtKapitel 8 Fluch und SegenKapitel 9 Die Himmelstreppe emporKapitel 10 Stimmen aus dem NirgendwoKapitel 11 Der Ärger fährt mitKapitel 12 Unter AngelenosKapitel 13 Die Bretter, die die Welt bedeutenKapitel 14 Die Macht der StrasseKapitel 15 Die Geschichte der Tori WoKapitel 16 Ein köstliches AbendessenKapitel 17 Wirklichkeit oder VisionKapitel 18 Eine irre FührungKapitel 19 Erste IndizienKapitel 20 Jeder hat sein Päckchen zu tragenKapitel 21 Wie sprenge ich eine Party?Kapitel 22 Wenn Wege sich kreuzenKapitel 23 Auf der Jagd nach HollywoodKapitel 24 Alles hat seinen PreisKapitel 25 Das Werk des RegisseursKapitel 26 Der Tod kommt langsamKapitel 27 Dem Feind getrennt begegnenKapitel 28 High NoonKapitel 29 Aufstieg und AbsturzKapitel 30 Ein Hollywoodsonnenuntergang und AbspannDanksagungen

PrologDu hast es so gewollt

Irgendjemand hat Mist gebaut, und jetzt muss es eben jemand ausbaden.

Das hörte sich einleuchtend an. Darum kniete Mac Reagan jetzt auf dem Flachdach der Timberfoot Packing Company in der Fifth Street.

Wenn er doch außer seinem Handwerkszeug auch etwas zu trinken mitgebracht hätte – oder wenigstens einen Mantel. Für Mai war das Wetter ausgesprochen mies. Über dem Pazifik braute sich ein kräftiger Sturm zusammen, und niemand konnte vorhersagen, wie heftig er zuschlagen würde. Die dunklen Wolkenmassen sahen jedenfalls so aus, als würde es nicht mehr lange dauern, bis sie sich über Los Angeles und diesem ganzen Gewirr aus Mietshäusern und Lagerhallen entluden. Die Nacht senkte sich über die Stadt.

Und mit ihr der Tod.

Mac war nervös, darum nahm er den Lärm der Stadt besonders deutlich wahr: das schwermütige Rumpeln der Straßenbahnen, die auf der Venice Line durch die Hill Street Richtung Süden fuhren, die Automobile, die Straßenbauarbeiten direkt vor dem noblen Biltmore Hotel, die streikenden Arbeiter auf dem Pershing Square, die zwischen Bambus und Bananenbäumen ihre Parolen brüllten. Dazu kamen die Leuchtreklamen, die summend zum Leben erwachten und in der einsetzenden Dunkelheit immer besser zu sehen waren.

Mac ließ den Blick sinken und betrachtete den Gegenstand in seinen Händen. Er wischte mit dem schmutzigen Daumen über das harte Plastikmagazin. Es war voll geladen. Sein Zeigefinger hatte sich ganz automatisch auf den Auslöser gelegt.

Mac schauderte. Er musste an andere Dächer, andere Aufträge denken. Er war bereit, seine Aufgabe zu erfüllen.

»So, so. Du hast es also geschafft.«

Mac erschrak, als in seinem Rücken eine Stimme ertönte. Es war Kid – und hinter ihm stand noch jemand, ein älterer Kerl, den Mac noch nie gesehen hatte. Er war groß und breitschultrig. Sie waren auf das Dach geklettert, ohne dass er es mitbekommen hatte. Aber Kid ließ sich doch normalerweise gar nicht persönlich blicken …

Er weiß Bescheid. Mac verkrampfte sich. Er weiß, was ich gemacht habe. Darum ist er hier.

»Bist du irgendwie nervös, Mac?«, sagte Kid leise.

»Nein, Sir.« Die Worte stolperten aus Macs trockenem Mund hervor. Cool bleiben, sagte er sich. »Klar hab ich’s geschafft. Wie immer.« Er nahm den Finger vom Auslöser seiner Parvo und überprüfte noch einmal den Sitz des 135-Millimeter-Objektivs. »Ich bin so weit. Von mir aus kann es losgehen.«

Kid nickte, aber der große, kräftige Kerl starrte Mac nur regungslos an. Seine Augen waren wie glatte Steine in seinem zerfurchten Gesicht. Die Hände hatte er hinter dem Rücken verschränkt.

»Du bist der Mann mit dem Gewehr«, murmelte Mac. »Stimmt’s?«

Kaum ein Zucken zeigte sich auf dem Gesicht des Mannes. »Ich bin alles Mögliche.«

Mac zog eine Lucky Strike aus der zerknüllten Schachtel in seiner Tasche, zündete sie an und ließ den Blick zu dem dreistöckigen Wohnhaus auf der anderen Straßenseite gleiten. Dort stand eine junge Frau vor einem weit geöffneten Fenster und starrte nach draußen. Er blickte durch das ausklappbare Okular seiner Kamera und sah sich die Frau genauer an: Ihr makelloses Gesicht hatte die Farbe von Elfenbein, und genauso hart sah es auch aus. Ihr langes blondes Haar reichte bis zu den falschen Perlen, die sie um den Hals trug.

Mac überprüfte die Schärfe. »Ist sie das Ziel?«

»Nein. Das Ziel ist der Mann, der sie gleich besuchen kommt.« Kid kicherte leise vor sich hin. »Ich kenne diesen Typ. Wieder mal eine tränenreiche Geschichte, wieder mal irgend so ein naives Ding, das von einer Filmkarriere geträumt hat. Ich hasse solche Mädchen. Und du, Mac? Hasst du solche Mädchen nicht auch?«

Mac gab nur ein leises Brummen von sich. Der Wind frischte auf, und er fing an zu zittern. Als er noch für diese Filmfirma gearbeitet hatte, da hatte er viele solcher Mädchen vor der Kamera gehabt. Mit ein paar davon war er sogar ausgegangen … Komisch, wie schnell die letzte ihn verlassen hatte, nachdem das Studio dichtgemacht und ihm das Geld ausgegangen war.

Unangenehme Erinnerungen, genau so unangenehm wie jetzt der Rauch in seiner Lunge. Ohne Job und ohne Geld war Mac dann an ein paar miese Gestalten aus der Unterwelt von Los Angeles geraten. Er konnte mit einer Kamera umgehen, und sie hatten ihm ein neues Tätigkeitsfeld angeboten. In der Stadt der Engel gab es eine Menge reicher Leute, die sich nicht immer anständig verhielten, und wenn Mac sie bei den unanständigen Dingen filmte, nun ja … Die Mafia würde für solche Aufnahmen einen Haufen Geld kassieren. Mac bekam zwei Prozent der Einnahmen, und der Film wurde unter der Rubrik »Vergessen« abgelegt … zumindest bis zum nächsten Mal. Es war keine besonders komplizierte Arbeit.

Aber als dann eine neue Bande aus dem Mittelwesten das Geschäft übernommen hatte, war es unangenehm geworden. Seit dem letzten Jahr, um genau zu sein. Seitdem dieser Kid aufgetaucht war.

Von da an hatte Mac nicht mehr nur einfaches Erpressungsmaterial liefern müssen. Nein, jetzt waren es Filme, die selbst den robustesten Magen in Aufruhr versetzen konnten. Wie oft schon war Mac gezwungen gewesen, die Gewalt Bild für Bild noch einmal mitzuerleben, wenn er im Fotolabor gestanden hatte, um Abzüge von den Filmnegativen zu machen …

Jetzt sah Mac, wie das Mädchen sich umdrehte und einen Mann begrüßte, der sich hinter sie gestellt hatte. Ihm wurde schlagartig speiübel. Die Zigarette fiel ihm aus dem Mund.

»Das ist doch Louie.« Er drehte sich zu Kid und dem kräftigen Kerl um. Dieser hatte jetzt ein Gewehr in der Hand, eine Browning Automatik. »Louie Weiss. Das ist ein guter Kumpel von mir …«

»Ich weiß«, sagte Kid lächelnd. »Ein richtig guter Kumpel. Darum hast du ihm vorgestern auch deine Schicht im Fotolabor überlassen. Das Blöde ist nur, dass dabei ein paar Filme verlorengegangen sind.«

»Ich habe keine Ahnung, was …«

»Halt’s Maul.« Kid zeigte auf die Kamera. »Schalt ein.«

»Aber …«

»Sofort!«

Macs Herz tat noch einen verzweifelten Sprung, während seine Finger sich um den Ledergriff der Parvo schlossen. Er legte den Schalter um, und das Magazin setzte sich ratternd in Bewegung und begann, den Film am Objektiv vorbeilaufen zu lassen, sechzehn Bilder pro Sekunde. Er hatte Louie genau in der Mitte des Ausschnitts, gestochen scharf, wie er am Fenster neben seinem neuen Mädchen stand. Er hatte Mac erzählt, dass er eine Verabredung hatte, und er war sehr aufgeregt gewesen …

»Also gut, ich habe Louie gebeten, meine Schicht zu übernehmen.« Die Hand, die die Kamera hielt, fühlte sich verkrampft und verschwitzt an. »Ich war krank, verstehst du? Ich war wirklich richtig krank.« Er hoffte, dass Louie den Kopf hob und den Lauf der Browning sah, die direkt auf ihn gerichtet war, hoffte, dass Louie verdammt nochmal endlich wieder Leine zog. »Bitte …«

Jetzt hob Louie tatsächlich den Kopf und blickte genau da hin, wo Mac mit seiner Kamera stand. Sein Stirnrunzeln gefror zu einer Maske. Ein Schuss krachte. Zwischen Louies Stirnfalten klaffte plötzlich ein Loch, und er fiel nach hinten und war nicht mehr zu sehen. Das Mädchen machte den Mund auf, wollte schreien – da krachte die Browning ein zweites Mal und riss ein Loch in ihre Haut und ihre falschen Perlen. Sie kippte zur Seite weg, beide Hände an ihre blutende Kehle gelegt.

Wie betäubt hielt Mac den Blick durch den Sucher der Kamera gerichtet. Irgendwann wurde ihm klar, dass sie immer noch lief. Er setzte die Parvo auf dem Dach ab und drehte sich wutentbrannt zu Kid um.

Dann wurde er von einem Baseballschläger getroffen.

Mit einem grässlichen Knacken brach der Schlag ihm die Nase. Die Welt drehte sich im Kreis, und dann lag Mac flach auf dem Dach und wäre beinahe an seinem eigenen Blut erstickt. Der breitschultrige Kerl stand vor ihm, mit dem Gewehr in der einen und Macs Kamera in der anderen Hand. Dann trat Kid in sein Blickfeld.

»An dem Tag gab es eine Menge Filme zu entwickeln und zu verschicken.« Kid schwang noch immer den Baseballschläger hin und her. Da musste noch irgendetwas anderes im Busch sein. »Soll ich dir mal was verraten, Mac? Die Filme wurden an die falschen Empfänger geschickt. Und eine ganz besonders vertrauliche Aufnahme ist seitdem überhaupt nicht mehr aufzufinden.«

»Vertraulich?« Trotz der fürchterlichen Kopfschmerzen kam Mac wieder auf die Beine und tupfte sich vollkommen sinnlos die blutende Nase. »Du meinst den, den ich in den privaten Briefkasten werfen sollte?«

»Was ist damit passiert?«

»Ich … ich weiß es nicht.«

»Habt ihr beide vielleicht gedacht, ihr könntet uns erpressen?«

»Nein! Ich schwöre! Hör mal, Louie kann nicht besonders gut lesen … vielleicht hat er ja …« Das ging ihm alles viel zu schnell. Mac kam mit den Gedanken kaum hinterher. Er drehte sich um und blickte hinüber in die düstere Wohnung mit den beiden Toten. Ein grässlicher Anblick. »Ich schätze mal, Louie hat Mist gebaut.«

»Und ich schätze mal, ihr habt beide Mist gebaut.« Der breitschultrige Kerl hielt jetzt die Kamera in beiden Händen, als wollte er gleich anfangen zu filmen. »Ich glaube, dass Mac die Wahrheit sagt. Und das bedeutet, dass das Filmchen an jede x-beliebige Adresse geschickt worden sein kann …«

»Lasst mich gehen«, flehte Mac. »Bitte. Ich sag auch nichts.«

»Du sagst nichts, hmm, Mac?« Kid hob den Baseballschläger und gab dem Breitschultrigen ein Zeichen. Erneut ertönte das Surren der Kamera. »Aber vielleicht schreist du ja gleich …?«

Mac drehte sich um, aber es gab keinen Ausweg. Er hörte, wie der Schläger durch die Luft pfiff, kurz bevor er auf seine Rippen prallte, spürte das Knacken in seinem Inneren. Er konnte nicht mehr atmen – und darum konnte er auch nicht schreien, als ein zweiter Schlag seine linke Kniescheibe zertrümmerte. Mac taumelte an der Dachkante entlang. Eine Sekunde lang sah er Kids grinsendes Gesicht, danach die Neonlichter, die sich in der Linse der Kamera spiegelten.

Dann flog er durch die Luft, aus dem dritten Stock senkrecht nach unten.

Als Mac die Augen wieder aufmachte, lag er auf dem Bürgersteig. Gelähmt und zerschmettert, in einer Lache aus Blut. Er lag da und hörte die Sirenen heulen. Es klang wie ein letzter Gruß der Stadt an ihn.

Hätte besser einen Mantel mitbringen sollen, dachte Mac noch einmal, als die ersten Regentropfen auf seine Augen fielen. Und was zu trinken. Verdammt mieses Wetter für Mai.

Kapitel 1Tu, was man dir sagt

»Bist du James Bond?« Das Mädchen im Hosenanzug kam mit geröteten Wangen und einem Lächeln im Gesicht über den alten Innenhof gelaufen. »Der Neue, der gerade aus Paddington hier angekommen ist?«

»Ich fürchte, ja.« Verwirrt blickte James in ihre stechenden dunklen Augen. Sie war ungefähr in seinem Alter und fast so groß wie er, mit kurzen, dunklen Haaren. »Ja, ich bin Bond. Und du?«

»Ich heiße Beatrice Judge. Ich habe schon auf dich gewartet. Willkommen in Dartington Hall.«

Und dann verpasste sie ihm, begleitet von einem wütenden Stöhnen, einen Faustschlag in den Magen.

Damit hatte James nicht gerechnet, und er taumelte ein Stück zurück. Plötzlich wurde er von einem ganzen Haufen Mädchen und Jungen umringt und an den Armen gepackt. Sie stießen ihn gegen eine mit Efeu bewachsene Mauer und bildeten einen dichten Halbkreis, so dass er ihnen nicht entwischen konnte.

James wehrte sich nicht. Er war eher verwirrt als ernsthaft besorgt. Dartington Hall genoss den Ruf einer fortschrittlichen Schule – keine Schuluniformen, keine Trennung zwischen Mädchen und Jungen, ein Ort, an dem im Prinzip alles möglich war. Aber auch hier gab es vermutlich die eine oder andere Tradition, wie an jeder anderen Schule auch, und vielleicht war eine davon, den Neuen erst einmal eine kräftige Abreibung zu verpassen.

Jetzt schob sich das Mädchen durch den dichten Kreis wieder bis zu ihm durch. Ihr hübsches Gesicht verhärtete sich. Wahrscheinlich will sie mich einschüchtern, dachte James.

»Hör zu, Beatrice.« Er lächelte kurz und kalt. »Die Zugfahrt nach Totnes hat Stunden gedauert, auf der Fahrt vom Bahnhof hierher hatte das Taxi eine Panne, und jetzt werde ich zum Einführungsgespräch bei der Schulleitung erwartet. Also, ganz egal, was das hier für ein Scherz sein soll …«

Er unterbrach sich, als sie ein Messer aus ihrer Jackentasche holte und damit vor seinem Gesicht herumfuchtelte. Es war ursprünglich mal ein normales Tischmesser gewesen, dem irgendjemand mit Hilfe einer Feile eine mörderische Spitze verpasst hatte. »Sieht das vielleicht aus wie ein Scherz, Bond?«

James deutete mit einem Kopfnicken über ihre Schulter nach hinten. »Vielleicht solltest du lieber mal den Lehrer da drüben fragen.«

Es war kein besonders origineller Trick, aber er reichte aus, um sie für einen Moment abzulenken. Während seine Angreifer sich umsahen, schlug James Beatrice’ Arm beiseite und stieß sie von sich weg. Sie fiel gegen ihre Freunde. Gleichzeitig drehte James sich um und bohrte seine Finger in das dichte Efeugestrüpp. Sekunden später war er schon ein ganzes Stück über dem Boden. Die alten, knorrigen Äste boten ausgezeichneten Halt und hätten auch das doppelte Gewicht gut verkraftet.

Oder das dreifache, wie es aussah. Jedenfalls kamen Beatrice Judge und zwei ziemlich stämmige Burschen aus ihrer Gefolgschaft hinter ihm her geklettert.

Was wollten sie bloß von ihm? Was war denn so schlimm daran, dass er jetzt hier war?

Für mich ist das doch auf jeden Fall schlimmer als für sie, dachte er.

Es war die dritte Woche im Juni. Ab dem nächsten Schuljahr, das im September begann, sollte James das Fettes College in Edinburgh besuchen. Alles, was er darüber wusste, hörte sich ganz ähnlich an wie Eton, sein letztes Internat. Er empfand weder Angst noch ein besonders großes Interesse. Für James war eine Schule etwas, das man einigermaßen anständig hinter sich brachte, bis man alt genug war, um ihr endgültig den Rücken zu kehren. Aber jetzt hatten sie ihn aus Eton rausgeworfen, und er war gezwungen, neu anzufangen. Nach allem, was er durchgemacht hatte, hatte James auf einen entspannten Sommer gehofft, bevor er nach Schottland musste. Aber Tante Charmian, sein Vormund, hatte geschäftlich in Mexiko zu tun und ihn daher vorübergehend hier in Dartington untergebracht. Sie kannte irgendein hohes Tier an der Schule und hatte mehrfach angedeutet, dass es da eine Vereinbarung gab, die James garantiert gefallen würde.

So sehr er seine Tante Charmian auch liebte, im Augenblick hielt sich seine Freude eher in Grenzen.

James schwang sich auf das Dach und überlegte, noch während er über die regennassen Dachziegel lief, was er als Nächstes tun sollte. Auf der gegenüberliegenden Seite angekommen, stellte er fest, dass die Hauswand dort nicht mit Efeu bewachsen war. Dafür gab es eine Regenrinne, die einen schnellen Abstieg ermöglichte.

Er sah sich um. Die Schule – inmitten der weitläufigen Hügellandschaft der Grafschaft Devon gelegen – bestand aus mehreren Gebäuden, die um einen viereckigen Innenhof herum angelegt waren. Der Eingangsturm war hübsch und weiß verputzt, aber viele der anderen Gebäude waren in einem schlechten Zustand und von Schlingpflanzen überwuchert, so wie viele der herrschaftlichen Gebäude im ganzen Land. »Fortschrittlich« wurde hier ganz offensichtlich nicht mit »modern« gleichgesetzt.

Ein Kratzen an der Dachkante signalisierte James, dass Beatrice und ihre Handlanger jetzt ebenfalls oben angekommen waren. Er richtete sich zu voller Größe auf und drehte sich zu ihnen um. »Wollt ihr mir vielleicht verraten, was das alles soll?«

»Dann hör mal gut zu, du Eton-Blindgänger.« Begleitet von ihren Freunden kam Beatrice mit gleichmäßigen Schritten näher. »Ich werde nicht zulassen, dass du einfach hier reingeschneit kommst und mir meinen Platz wegnimmst.«

»Deinen Platz?« James wich keinen Zentimeter zurück. »Ich bin doch bloß für vierzehn Tage hier. Ich habe keine Ahnung, was du da überhaupt redest.«

»Natürlich nicht.«

James leistete keinen Widerstand, als die beiden Jungen ihn an den Armen packten. Er wartete auf den richtigen Moment. Die beiden waren stark, aber er konnte auch ihre Unsicherheit spüren.

»Ich war als eine von Vieren vorgesehen«, fuhr Beatrice fort. »Ich wohne nämlich nicht hier, so wie der Rest, verstehst du? Ich komme aus einer anderen Schicht – ich wohne im Dorf, in Totnes. Ich habe einen Sonderstatus, und genau deswegen haben sie mich ausgesucht. Aber plötzlich heißt es, dass ein gewisser James Bond zu uns kommen soll, und ich bin draußen. Das ist eine einmalige Gelegenheit, und plötzlich sollst du sie bekommen. So ist es doch jedes Mal: Die wirklich guten Sachen passieren immer nur Leuten wie dir.«

James hätte beinahe laut losgelacht.

»Also … ich will, dass du der Schulleitung sagst, dass du nicht mitfährst.«

James zog eine Augenbraue hoch. Er spürte, wie sie die dunkle Locke streifte, die ihm, wie immer, über die Stirn hing. »Dass ich wohin nicht mitfahre?«

Beatrice nickte den beiden Jungen zu, und sie schleiften James zur Dachkante. »Wenn du die Reise absagst, dann bin ich wieder drin.«

»In deiner hübsch gepolsterten Gummizelle, oder was?« James schüttelte den Kopf. »Du solltest wissen, dass ich mir nur sehr ungern sagen lasse, was ich zu tun habe.«

»Sei doch vernünftig, Bond.« Beatrice trat dicht vor ihn. »Wenn du hier runterfällst, bist du nicht gleich tot, aber du brichst dir mehr als nur ein paar Knochen. Dann kannst du nicht verreisen, und ich bin wieder mit im Boot.«

»Um was für eine Reise geht es denn überhaupt?« James starrte auf die nackten Steinplatten in sechs Metern Tiefe hinunter. Die anderen Schüler hatten sich in der Zwischenzeit in unterschiedliche Richtungen davongemacht. »Glaubst du wirklich, dass die Schule dich noch will, nachdem du versucht hast, einen Krüppel aus mir zu machen?«

»Dein Wort gegen unseres.« Beatrice hatte wieder das Messer in der Hand. »Wir werden sagen, dass du ein alter Angeber bist, der Eindruck schinden wollte, und dass du dabei ausgerutscht bist.«

»Nun ja, es ist wirklich ziemlich rutschig hier …« James stieß ruckartig seine rechte Schulter nach vorne und drehte sich gleichzeitig auf dem linken Fuß, um sich loszureißen. Dadurch brachte er die beiden Jungen aus dem Gleichgewicht. James versetzte einem der beiden einen Tritt in den Hintern, so dass er wild um sich schlagend gegen den anderen prallte. Gefährlich nahe an der Kante landeten die beiden auf dem Dach. Beatrice schwang das Messer nach ihm, doch James duckte sich und schlug ihr dann mit einem Fußtritt die Beine weg. Sie fiel ebenfalls um, und er rannte zurück zur anderen Seite des Daches. Er hatte zwar keine Ahnung, wovon Beatrice die ganze Zeit geredet hatte, aber er hatte keine Lust, sie auch nur eine Sekunde länger zu ertragen als unbedingt nötig.

»Nicht schlecht für einen Angeber, oder?« James schwang sich über den Dachrand, hielt sich an der Regenrinne fest und rutschte daran entlang nach unten. Zwei Meter über dem Boden sprang er ab. Begleitet von einem lauten Knirschen landete er auf dem Schotter und suchte sofort Deckung im Schatten des nächsten Gebäudes. Er war in erster Linie konzentriert, Angst hatte er keine. Eine Herausforderung, ein Kampf und eine Flucht, und das, obwohl er vor gerade einmal fünf Minuten an dieser dämlichen Schule angekommen war! Und noch dazu, als unerwartete Würze, ein Geheimnis. Was war denn das für eine Reise, die Beatrice so wichtig war?

Neugierig spähte James um die nächste Ecke. Immer noch war von Beatrice und ihren Freunden auf dem Dach nichts zu sehen. Wollten sie ihn vielleicht auf dem Weg zu seinem Einführungsgespräch bei der Schulleitung abpassen?

Vielleicht war es besser, wenn er sich erstmal das Gelände ansah.

Er ging an dem Gebäude entlang und stellte fest, dass sich darin mehrere Klassenzimmer befanden. Die Schüler waren leger gekleidet. James dachte kurz an die grässlichen gestärkten Kragen und die Mütze, die in Eton Pflicht gewesen waren. Am hinteren Ende blieb er stehen und blickte durch ein Fenster. Mindestens vier Lehrer waren gerade dabei, mit unterschiedlichen Gruppen zu arbeiten. Allerdings galt James’ Neugier fast ausschließlich den Mädchen. Nach all den Jahren, die er auf reinen Jungenschulen zugebracht hatte, waren sie ein merkwürdiger und faszinierender Anblick zugleich. Jetzt fing er einen interessierten Blick eines blonden Mädchens auf. Sie sah gut aus, hatte lange Haare und wirkte kühl und hochnäsig. Sie war ein bisschen älter als er, sechzehn vielleicht.

Jetzt lächelte sie ihn an. James erwiderte ihr Lächeln nicht. Schließlich musste er davon ausgehen, dass die Mädchen hier an der Schule nichts anderes im Sinn hatten, als ihm ohne jeden Grund die Knochen zu brechen.

»Da ist er!« Beatrice und die beiden Jungen waren wieder da.

James winkte ihnen fröhlich zu, weil er sie so bestimmt noch wütender machen konnte, und rannte quer über den Hof auf ein paar alte Gebäude zu. Das größte besaß einen Säulenvorbau vor dem Eingang.

»Wollen wir mal probieren, ob ihr mich hier auch runterschubsen könnt?«, rief er ihnen herausfordernd zu. Während er an der nächstbesten Säule nach oben auf das Dach des Säulenvorbaus kletterte, überlegte er, ob das blonde Mädchen ihn vielleicht immer noch beobachtete.

»Ist doch egal«, murmelte er vor sich hin.

Ohne sich umzusehen, krabbelte James auf das Flachdach. Es roch nach Pferden. Mit leichten Schritten lief er über die alten Bretter – und hielt schlagartig den Atem an. Ein verfaultes Brett gab unter ihm nach, und er stürzte in die Dunkelheit.

Kapitel 2Eine einmalige Chance

James war klar, dass ein Sturz aus dieser Höhe Beatrice’ Träume in Erfüllung gehen lassen würde. Er schlug um sich, suchte nach irgendeinem Halt, um seinen Fall zu bremsen. Und er erwischte tatsächlich einen Deckenbalken. Ein schmerzhafter Ruck ging durch seinen Oberkörper, als er zupackte und dann hoch über dem mit Heu bedeckten Boden baumelte.

Es war angesichts seiner kniffeligen Lage zwar lächerlich, aber James fragte sich – nicht zum ersten Mal übrigens –, warum er eigentlich immer wieder diesen inneren Drang verspürte, solche Risiken einzugehen. Es musste doch auch andere, angenehmere Möglichkeiten geben, das Leben ein bisschen aufregender zu gestalten …

»Großer Gott!« Der Aufschrei übertönte das unruhige Scharren der nervös gewordenen Pferde. »Wo kommst du denn plötzlich her?«

James, der sich immer noch an den Deckenbalken klammerte, starrte in die düstere Tiefe hinab. Vor einer der Stallboxen saß eine Gestalt und blickte nach oben. In seinem Schoß lag ein dickes Buch, in dem er mit einer Taschenlampe gelesen hatte.

»Tut mir leid, dass ich störe«, sagte James. »Du könntest nicht zufällig so freundlich sein und ein paar von diesen Heuballen hier rüberschieben, um mir eine etwas weichere Landung zu ermöglichen?«

Die Gestalt ließ missmutig das Buch sinken. »Sehe ich so aus, als wäre ich für harte Arbeit geschaffen?«

Erst jetzt erkannte James, dass der Junge keineswegs gesessen hatte. Er stand nämlich schon. Er war ein Zwerg mit einem breiten, kompakten Körperbau und dunklen, struppigen Haaren.

James hob verblüfft die Augenbrauen. »Du bist …«

»Hugo Grande – zumindest dem Namen nach.« Dann machte Hugo sich hastig daran, unter James einen Heuhaufen zusammenzuschieben. »Von wo kommst du eigentlich hereingeschneit? Doch nicht etwa aus Eton, oder doch?«

James ließ den Balken los, landete sicher im Heu und rollte sich dann auf dem schmutzigen Boden ab. »Anscheinend wissen alle hier über mich Bescheid, nur ich weiß wieder gar nichts.«

»Du bist also der berühmte James Bond.« Hugos Augen blitzten interessiert unter seinen dichten Brauen hervor. Er streckte James die Hand entgegen, um ihm aufzuhelfen. »Deine Eltern haben dich hierhergeschickt, was? So was wie deine letzte Chance, oder?«

»Meine Tante, um genau zu sein.«

»Aha. Also ein Waisenkind?« Hugo sprach es klar und deutlich aus, ohne jede Unsicherheit. »Das ist hart, James. Tja, ich gehe davon aus, dass deine Tante ein netter Mensch ist.«

»Das ist sie. In der Regel.« James rieb sich das Bein, das er sich beim Sturz durch das Dach gestoßen hatte. »Ich bin wirklich froh, dass du mir geholfen hast, aber müsstest du nicht eigentlich im Unterricht sitzen?«

»Ich schwänze«, erwiderte Hugo fröhlich. »Hier im Stall ist es so gemütlich. Und an dieser Schule kümmert sich niemand drum, wenn man den Unterricht ausfallen lässt.«

»Man wird nicht bestraft?«

»Weil man seine Unabhängigkeit unter Beweis gestellt hat? Natürlich nicht! Hier in Dartington Hall gibt es weder Regeln noch Vorschriften. Sie gelten dem fortschrittlichen Geist als Tyrannei und Fessel.« Hugo senkte die Stimme und schlug einen vertraulichen Tonfall an. »Obwohl, James, ich fürchte, es gibt da ein Mädchen, das dir am liebsten eine ordentliche Tracht Prügel verpassen würde.«

»Beatrice Judge? Sie hat es schon versucht.« James streckte sein schmerzendes Bein und warf einen Blick zur Tür.

»Halte dich lieber von ihr fern – sie ist eine brutale kleine Irre. Na ja, ›klein‹ ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck …«

»Aber was soll das alles eigentlich, Hugo?«

Hugo sah ihn verwundert an. »Nun ja, du nimmst ihren Platz bei der Großen Expedition ein. Deine Tante ist dick befreundet mit Gillian. Die beiden haben das abgemacht.« Er breitete die Arme weit aus. »Du, mein lieber James, wirst das Abenteuer deines Lebens erl…«

»Pschscht.« James hatte ein Geräusch beim Stalltor gehört. »Da kommt jemand.«

»Das könnte Beatrice sein! Versteck dich!« Mit diesen Worten stürzte Hugo zum Heuhaufen und versuchte, sich ins Innere zu wühlen. Doch James blieb stehen. Er ballte lediglich die Fäuste, während das Tor sich unter lautem Knarren öffnete und …

»James Bond?« Die Worte hatten einen leichten amerikanischen Akzent. Eine zierliche Frau mit scharf geschnittenen Gesichtszügen betrat den Stall. Sie trug eine cremefarbene, weit geschnittene Bundfaltenhose, dazu eine bunte Bluse und mehrere Perlenketten. Ihr langes rotes Haar wurde durch das Blumenmuster-Kopftuch nur teilweise gebändigt. »Ich bin Gillian de Vries, die pädagogische Leiterin hier in Dartington Hall.«

James entspannte sich und neigte zur Begrüßung den Kopf. »Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss …?«

»Einfach nur Gillian, bitte.« Sie blickte an ihm vorbei zu den beiden Beinen, die aus dem Heu hervorragten. »Suchst du etwas Bestimmtes, äh … Hugo?«

»Nichts weiter als meine Würde!«, prustete Hugo und klopfte sich den Staub aus den Kleidern. »Entschuldigen Sie, Gillian. Wir dachten, Sie wären Beatrice Judge.«

»Ach! Nein. Ich habe sie und ihre Freunde gerade eben draußen abgefangen. Einer hat ein schlechtes Gewissen bekommen und mir erzählt, was vorgefallen ist. Ich habe sie alle zum Direktor geschickt, zu einem … klärenden Gespräch. Und, James, natürlich musst du uns auch deine Sicht der Dinge schildern.« Erst jetzt schien Gillian seinen Zustand zu bemerken. »Bist du verletzt?«

»Aber nicht durch Beatrice.« James warf einen kläglichen Blick hinauf zu dem Loch im Dach.

»Ich verstehe.« Gillian nickte. »Früher hatten wir Wellblechplatten über das alte Holz gelegt. Aber dann haben ein paar unserer Schüler sie zum Floßfahren auf dem Dart benutzt und nicht wieder zurückgebracht.« Sie lächelte freundlich. »Hast du dir etwas gebrochen?«

James schüttelte den Kopf.

»Wie schade! Das wäre mal eine wirklich lehrreiche Lektion gewesen, stimmt’s?« Ihr Lachen klang wie ein derbes Kichern. »Also kein Grund zur Beunruhigung.«

»Aber der arme Kerl ist wirklich beunruhigt«, meldete Hugo sich zu Wort. »Er fragt sich, wieso ein Mädchen hier aus der Gegend ihn aus heiterem Himmel angreift, kaum dass er …«

»Alles in Ordnung. Von hier an übernehme ich, Hugo. Du solltest jetzt gehen.«

Hugo sah sie entgeistert an. »In den Unterricht?«

»Das ist viel verlangt, ich weiß. Aber vielleicht solltest du einfach mal den Versuch wagen.« Während Hugo kopfschüttelnd nach draußen ging, wandte Gillian sich an James: »Also dann. Dein Einführungsgespräch.« Sie ließ sich mit gekreuzten Beinen in das Stroh sinken und deutete auf einen wackeligen alten Stuhl in der Ecke. »Dann müssen wir nicht so weit laufen. Einverstanden?«

James konnte seine Verblüffung nicht verbergen. »Wenn Sie möchten … Gillian«, sagte er, holte sich den Stuhl und setzte sich.

»Vermutlich empfindest du – nach der Strenge von Eton – die Art und Weise, wie wir hier in Dartington Hall die Dinge regeln, als eine Art Kulturschock. Ich hoffe sehr, dass du mir sagst, wenn du dich irgendwie unbehaglich fühlst.« Gillian betrachtete James mit abwägendem Blick und blieb an der Narbe auf seiner Wange hängen. »Warum haben sie dich der Schule verwiesen, James?«

Einen Augenblick lang spürte James den Drang, alles herauszulassen – die Verschwörungen, die schmutzigen Verstrickungen und Geheimnisse, die ihn an den Rand des Todes gebracht hatten … das Hausmädchen in Eton, das so viel mehr als nur das gewesen war … Doch dann riss er sich zusammen. Er hatte nicht vor, in nächster Zeit dieses heiße Eisen noch einmal anzufassen.

»Ich darf wirklich nicht darüber reden.« James tippte sich an die Nase. »Staatsgeheimnis.«

»Aha. Verstehe.« Gillian lächelte. Es war ihr anzusehen, dass sie das alles für einen Scherz hielt. »Nun ja, ich hoffe, dass wir mit der Zeit noch das eine oder andere über deine Zeit in Eton erfahren werden. Es ist vor allem deine persönliche Geschichte, die einen solch reizvollen Kontrast zu den anderen drei Kandidaten bietet …«

»Kandidaten?« James runzelte die Stirn. »Hat das etwas mit dieser Reise zu tun, von der Beatrice gesprochen hat?«

»Die arme Bea hat leider vorzeitig von der ganzen Unternehmung Wind bekommen, aber sie hatte nie mehr als eine Außenseiterchance.« Ein Schatten legte sich über Gillians Gesicht. »Ich fürchte jedoch, sie wird sich nicht mehr von ihrer Überzeugung abbringen lassen, dass du aus der Ferne Einfluss genommen hast, um ihr ihren Platz streitig zu machen.«

»Was für einen Platz denn? Und was soll das für eine Reise sein?«

»Aha! Nun, wir alle hier sind sehr, sehr aufgeregt, James.« Das strahlende Lächeln kehrte auf Gillians Gesicht zurück. »Der Direktor hat seine Einwilligung zu einer sehr außergewöhnlichen Schulexpedition gegeben. Fünf von uns werden Dr. Tobias Leaver besuchen. Das ist ein bekannter amerikanischer Wohltäter und experimenteller Pädagoge. Vielleicht hast du schon mal etwas von ihm gehört?«

»Nein.«

»Ich habe bei ihm in San Francisco studiert, lange bevor ich nach England gekommen bin. Er war mir im Lauf der Jahre eine große Quelle der Inspiration …« Sie lächelte unsicher. »Jedenfalls leitet Dr. Leaver im Augenblick eine fortschrittliche Akademie in Los Angeles, und zwar unter der Schirmherrschaft von Anton Kostler. Durch die Partnerschaft mit Kostlers Firma Allworld konnte er bereits weitere Akademien in Kenia und Australien gründen, die einen ganz hervorragenden Ruf genießen. Weitere sind in Planung …«

Kostler, Allworld … diese Namen kamen James bekannt vor. »Sprechen Sie etwa von Anton Kostler, dem Hollywood-Produzenten?«

»Sehr richtig. Dem Vorstandsvorsitzenden der Allworld Studios.« Gillian setzte sich auf die Knie, und ihr Lächeln wurde noch strahlender. »Ein ›Filmmogul‹ wie er im Buche steht, und dazu noch ein leidenschaftlicher Unterstützer fortschrittlicher Erziehungsmethoden. Er möchte noch mehr solche Akademien gründen, überall auf der Welt. Dr. Leaver möchte ihn gerne dazu bewegen, in Dartington Hall zu investieren – und im Gegenzug dafür unsere Erziehungsmethoden und unsere Schüler erforschen.«

»Und warum kommt Dr. Leaver nicht einfach hierher?«, wollte James wissen.

»Weil Mr Kostler sich bei jeder Entscheidung das letzte Wort vorbehält. Aber er ist der Meinung, dass er sich einen Abstecher nach England zeitlich beim besten Willen nicht leisten kann.« Gillian verdrehte die Augen und lächelte. »Glücklicherweise gestattet er uns Normalsterblichen aber eine Pilgerfahrt in sein Reich. Und der Zeitpunkt ermöglicht uns – was das Ganze in einem noch verheißungsvolleren Licht erscheinen lässt – eine außergewöhnliche, einmalige Reise …«

So langsam wurde James klar, worauf das alles hinauslaufen sollte. »Die Reise, von der Beatrice gesprochen hat …«

»Der Start ist keine vierzehn Tage mehr entfernt – ein Flug über den Atlantik bis nach Los Angeles, an Bord von Mr Kostlers privatem Zeppelin, der hier Station macht, um irgendwelche Filmgeschäfte zu erledigen.« Gillian streckte James lächelnd die Hand entgegen. »Also, natürlich nur, wenn du uns auch wirklich begleiten möchtest …«

Ein Flug nach Amerika? In einem Luftschiff? James spürte schon wieder das vertraute Kribbeln, während sich das erste wirklich aufrichtige Lächeln seit Ewigkeiten auf seinen Lippen zeigte. Respekt, Tante Charmian, dachte er. Du hast letztendlich also doch recht behalten. Vielen Dank.

»Ich bin bereit, Gillian.« James erhob sich und gab ihr die Hand. »Wenn nur die nächsten beiden Wochen schon um wären.«

Kapitel 3Licht und Dunkel

Später würde James Dartington Hall alles in allem als einen sehr sonnigen Ort in Erinnerung behalten. Seinen kurzen Aufenthalt hier – der nicht einmal zwölf Tage dauern sollte – empfand er nach den strikten Normen und Regeln in Eton als ungeheure Erleichterung.

Nirgendwo war der Druck einer übermächtigen Autorität zu spüren. Die Lehrer waren sanft wie Schafe und unterstützten ihre Schüler unentwegt. Die Schüler wurden als Individuen betrachtet, die innerhalb der Gemeinschaft ihre eigenen Ziele verfolgten und ein weitgehend selbstbestimmtes Leben führten. James war sehr verwundert, als er merkte, dass sich niemand schinden und plagen musste, nur weil ein älterer Schüler von einem jüngeren einen Dienst verlangte. Die einzigen Male, wo James rennen musste, waren morgens vor Unterrichtsbeginn gewesen, und das diente allein seinem eigenen Vergnügen.

Wie alle Schülerinnen und Schüler war er in einem großen, modernen rechteckigen Gebäude untergebracht, dem sogenannten Fuchsbau. Es bestand aus leuchtend roten Backsteinen und schimmernden grauen Dachziegeln. Sein Zimmer war klein und mit billigen, aber modernen Möbeln eingerichtet. Hier wurde man nicht ständig mit der Nase auf irgendwelche muffigen Traditionen gestoßen. Und auch, wenn James es ein wenig seltsam fand, plötzlich Mädchen als Klassenkameraden und Nachbarn zu haben, war das alles andere als unangenehm – vor allem, da Beatrice Judge jetzt immer einen weiten Bogen um ihn machte. Seit dem Gespräch beim Direktor im Anschluss an ihr Zusammentreffen mit James benahm sie sich wie eine Musterschülerin. Tja, alles Gute von meiner Seite, dachte James – so lange sie ihn in Ruhe ließ.

Das galt im Übrigen auch für alle anderen. Sein Aufenthalt hier war so kurz, dass James es für überflüssig hielt, irgendwelche neuen Beziehungen zu knüpfen. Er war freundlich zu seinen Klassenkameraden und empfand Hugo als angenehmen Umgang, hatte aber kein wirkliches Bedürfnis, Freundschaften zu schließen. Freundschaft bedeutete Vertrauen, und Vertrauen konnte enttäuscht werden. Das war eine Lektion, die James bereits auf sehr schmerzhafte Art und Weise gelernt hatte.

Nie wieder.

Vielleicht würde er wahrer Freiheit nie wieder so nahe kommen wie in Dartington Hall. Sein Vater hatte ihn schon kurz nach der Geburt in Eton angemeldet. Wie anders wäre sein Leben wohl verlaufen, wenn er gleich hier gelandet wäre! Aber in Eton drehte sich alles immer nur um Tradition und alte Werte. Stabilität, das hatten seine Eltern sich für ihren Sohn gewünscht. James war sich sicher, dass sie niemals eine Schule in Betracht gezogen hätten, die die Schüler zu Widerspruchsgeist und kritischem Denken ermutigte.

Jedenfalls blieben seine Tage in Dartington als goldenes Kapitel in seiner Erinnerung zurück.

Fast bis zum Schluss.

Am Nachmittag vor dem Beginn der Großen Expedition lag James alleine auf dem Bauch im frisch gemähten Gras und sah den anderen Schülern zu. Es machte ihm Spaß, alles, was um ihn herum vorging, in allen Einzelheiten wahrzunehmen und in Gedanken eine Art Querschnitt durch den Augenblick zu erstellen: Eine Partie Rollschuh-Hockey auf dem Dach der Turnhalle … ein paar Jungen, die sich in seiner Nähe zu einem heimlich verabredeten Ringkampf trafen … eine Gruppe Mädchen beim Teich, die sich lachend und schwatzend um ein Grammophon versammelt hatten und die Sonne genossen.

Das Jetzt ist das Einzige, was wirklich zählt, dachte James. Die Vergangenheit war ein kalter und blutgetränkter Ort, also warum sollte er dort verharren? Geschichte hatte nur eine Bedeutung, weil sie einen zu einer Person formte, zu einem Menschen machte, der sich dem stellen musste, was das Schicksal – und eine wohlmeinende Tante – ihm in den Weg warfen …

»Und? Bist du startklar, Neuer?«

Eine leise weibliche Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. James drehte sich um. Ein Mädchen mit nackten Füßen blickte auf ihn herab. Es war das Mädchen, das er an seinem ersten Tag im Klassenzimmer hatte sitzen sehen. Sie war ihm seither immer wieder begegnet. Ihr in der Mitte gescheiteltes, blond gelocktes, fließendes Haar war im Nacken locker zusammengebunden. Ihr einfaches senfgelbes Kleid unterstrich ihre schlanke Figur und reichte ihr bis zur Mitte der Waden. Auf Hüfthöhe waren ein paar schwarze Schmierspuren zu sehen. Offensichtlich hatte sie versucht, ihre schmutzigen Hände abzuwischen.

»Startklar?« James verschränkte die Hände im Nacken und sah zu ihr hinauf. »Ich bin schon startklar, seit ich hier angekommen bin.«

»Also dann.« Ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen. »Ich dachte nur, wir machen uns noch kurz bekannt, bevor wir morgen zusammen ins Blaue fliegen. Ich bin Boudicca. Boudicca Pryce.«

»Boudicca? Ich dachte, es heißt Boadicea?«

Sie seufzte matt. »Falls wir beide von der Königin der Icener aus dem ersten Jahrhundert nach Christus sprechen, dann glaub mir – sie hieß Boudicca. Boadicea ist lediglich ein mittelalterlicher Schreibfehler. Meine Eltern sind beide Sprachforscher, wenn du verstehst.«

»Richtig.« James nickte und musste an die trüben Stunden in Eton denken, in denen er sich mit der römischen Geschichte herumgeplagt hatte. »Bedeutet der Name nicht so viel wie ›Die Siegreiche‹?«

»Er bedeutet vor allem, dass meine Eltern jedes Mal anfangen süffisant zu grinsen, wenn sie zu hören bekommen, dass der Name falsch geschrieben ist.« Boudicca zuckte mit den Schultern. »Meine Freunde nennen mich Boody. Das ist einfacher, und mein Vater regt sich wahnsinnig darüber auf.« Sie streckte ihm ihre verschmierte Hand entgegen. »Und du bist, wenn man den Gerüchten glauben darf …«

»James. James Bond.« Er erwiderte ihren Händedruck. Dabei fiel ihm auf, dass ihre Hände nicht nur schmutzig, sondern auch zahlreiche Fingernägel abgebrochen waren. »Ich nehme an, das kommt nicht vom vielen Sprachen lernen, oder?«

»Ich bin lieber in der Werkstatt als in der Bibliothek.« Sie setzte sich neben ihn. »Wie gefällt es dir in Dartington Hall?«

James zuckte mit den Schultern. »Nach der kurzen Zeit kann ich dazu eigentlich noch gar nichts sagen.«

»Ach?« Sie blickte ihn an, und er entdeckte kleine haselnussbraune Flecken in ihren blauen Augen. »Ich habe dich öfter mal gesehen, Neuer. Du redest nicht viel. Bleibst schön im Hintergrund. Aber du beobachtest alles. Fast so, als … als würdest du mit Ärger rechnen.«

Alte Gewohnheiten sind langlebig, dachte James. Er fühlte sich nicht ganz wohl in seiner Haut, fast so, als würde sie ihn einer Prüfung unterziehen. »Wenn ich ein bisschen besser aufgepasst hätte, wäre mir vielleicht aufgefallen, dass du mir nachspionierst.«

»Mache ich doch gar nicht.« Sie wandte den Blick ab, während sich auf ihren Wangen rote Flecken bildeten. »Ich halte bloß meine Augen offen.«

James nickte und deutete auf ihre ölverschmierten Finger. »Und deine Hände?«

»Ich interessiere mich für Maschinen«, sagte sie erklärend und rieb an einem besonders schwarzen Fleck herum. »Diese Kraft, diese Präzision. Ich will immer genau wissen, wie sie funktionieren. Ein Zeppelin, zum Beispiel …« Sie grinste. »Weißt du noch, wie die Graf Zeppelin1932, auf ihrem Vierundzwanzig-Stunden-Rundflug über Großbritannien, in Hanworth angelegt hat?«

James lächelte. »Ich war sogar da.«

»Ich auch!« Boudicca lachte. »Ich wäre so gerne mitgeflogen, aber meine Eltern, diese alten Spielverderber, wollten natürlich keine vierzig Pfund dafür springen lassen.«

»Na ja, dafür bekommst du jetzt deine Chance!« James schüttelte staunend den Kopf. »Stell dir vor, wir brauchen nur zweieinhalb Tage, um den Atlantik zu überqueren.«

»Höchstgeschwindigkeit hundertdreißig Stundenkilometer, gegen den Wind, natürlich.« Boudicca lächelte. »Wenn meine Mutter uns allerdings in ihrem Sunbeam fahren würde, dann wären wir schon in vierundzwanzig Stunden da!«

»Welches Modell hat sie?«

»Sechs Zylinder, ein Viersitzer-Coupé. In Feuerrot.«

»Sehr schön.« James kannte den Wagen. »Ich habe mir einen Bentley Mark IV besorgt. Zurzeit steht er bei einem Freund. Aber er fährt sich absolut traumhaft.«

Boudicca schnaubte. »Du bist doch noch viel zu jung zum Fahren!«

»Vielleicht bin ich ja ein bisschen frühreif.«

»Vielleicht.« Sie musterte ihn nachdenklich. »Mutter will mich erst an meinem siebzehnten Geburtstag nächstes Jahr auf die Straße lassen. Aber diese vermaledeite Fahrprüfung, die traut sie mir ohne weiteres zu.« Sie machte die Augen zu und kicherte spöttisch. »Wenn du alle Prüfungen problemlos meisterst, dann wird das für deine Eltern irgendwann eine Selbstverständlichkeit.«

»Tatsächlich?«

Es klang schärfer, als James eigentlich gewollt hatte, und Boudicca merkte es sofort. »Das klingt ziemlich eingebildet, stimmt’s? Tut mir leid. Falsche Bescheidenheit schickt sich natürlich eher.«

»Vielleicht. Aber Ehrlichkeit ist erfrischender.« James stellte fest, dass der kühle Glanz in ihren Augen ein wenig nachgelassen hatte. »Bist du deshalb für diese Reise ausgewählt worden … weil du viele Prüfungen geschafft hast? Oder eher, weil wir dir einen Schraubenschlüssel in die Hand drücken können, falls die Motoren ausfallen?«

»Vermutlich ist es ziemlich ungewöhnlich, dass ein Mädchen sich für Maschinenbau interessiert«, meinte sie. »Aber die Grundsätze hier auf Dartington haben mich darin bestärkt. Und außerdem – nur um dir noch einmal eine Kostprobe meiner erfrischenden Ehrlichkeit zu geben – gehöre ich, was die schulischen Leistungen angeht, zu den besten zwei Prozent hier. Genau wie Hugo. Mit dem Unterschied, dass ich dafür büffeln muss wie eine Irre, und er nicht.« Sie lächelte milde. »Dr. Leaver möchte herausfinden, wie sich sein Zwergenwuchs auf seine Bildung auswirkt. Hugo sagt, dass seine Eltern ihn nur hierher geschickt haben, damit er später, wenn er mit der Schule fertig ist, in einem besseren Zirkus auftreten kann.«

»Typisch Hugo«, pflichtete James ihr bei. »Sich gleich über sich selbst lustig zu machen, bevor es jemand anders versucht.«

Boudicca sah ihn an. »Aber jetzt zu dir, Neuer. Warum bist du mit an Bord? Liegt es daran, was du kannst, oder doch eher daran, was du bist?«

»Gillian meint, dass Dr. Leaver meine Eton-Ausbildung mit eurem eher unkonventionellen System vergleichen möchte. Allerdings kennt meine Tante den alten Knaben auch persönlich, darum weiß ich nicht, wie viele Beziehungen sie hat spielen lassen.« Er ließ sich ins Gras sinken und streckte sich. »Aber trotzdem, ich habe die Möglichkeit, diese Reise mitzumachen, und die lasse ich mir ganz bestimmt nicht entgehen, nur weil jemand wie Beatrice Judge deswegen beleidigt ist.«

»Viel hat ja nicht gefehlt. Sie ist wirklich gefährlich.«

»Ich habe schon Schlimmeres erlebt.«

»Na ja, jedenfalls bist du nicht der Einzige, der mitkommt, weil er Beziehungen hat.« Boudicca lächelte spöttisch. »Daniel Sloman ist so etwas wie ein ›typischer‹ Dartington-Hall-Schüler. Aber, wie es der Zufall will, ist er der Neffe von Stuart Sloman, der demnächst als Drehbuchschreiber für Anton Kostlers Allworld Studios arbeiten wird.«

»Was es alles gibt«, sagte James. »Wie ist er denn so, unser Danny-Boy?«

»Er ist in Ordnung. Ein bisschen eingebildet, vielleicht. Möchte Schauspieler werden. Oder, um genau zu sein: Er möchte ein Star werden.«

»Ist er gut?«

»Ja«, erwiderte sie schlicht. »Er hat hier schon etliche Schulaufführungen auf die Beine gestellt, hat einen Filmclub gegründet, und außerdem sieht er auch noch so gut aus, dass er jederzeit eine Hauptrolle übernehmen könnte.«

James lächelte matt: »Dann kann ich ihn schon jetzt nicht ausstehen.«

»Also, im Prinzip müsstest du ihn richtig gern haben, Neuer«, meinte Boudicca neckisch. »Es ist nämlich so: Kostler hat seinen Zeppelin nach Europa geschickt, um hier eine Menge wichtiger Filmleute einzusammeln und zu irgendeiner riesigen Party zu bringen, die er veranstalten will. Und außerdem, um seinen neuen Drehbuchschreiber so schnell wie möglich nach Hollywood zu holen. Und da an Bord noch ein paar Plätze frei waren, dürfen wir jetzt mitfliegen.«

James war beeindruckt. »Soll das heißen, dass wir zusammen mit allen möglichen Leuten aus dem Filmgeschäft reisen werden? Das klingt ja von Sekunde zu Sekunde aufregender. Was hat Stuart Sloman denn geschrieben?«

»Ach, ich weiß auch nicht so genau. Bühnenstücke und irgendwelche Drehbücher für kleinere Filme. Er schreibt seit Jahren. Und um die Miete zu bezahlen, arbeitet er nebenbei für Dans Vater. Der ist Besitzer einer Lichtspielhaus-Kette. Für Dans Onkel ist das der absolute Traum.«

»Genau wie für uns, Boudicca!«, rief James aus.

»Mm-hmm.« Sie verstummte und betrachtete erneut ihre Hände. »Die Mädchen reden alle über dich, weißt du. Die Jungs auch. Wenn du so dastehst: groß, düster, aufreizend unnahbar, mit einer geheimnisvollen Vergangenheit … ich habe mir schon überlegt, ob du vielleicht in die Schublade ›Hübsch, aber doof‹ gehörst. Und ob ich dir auf dieser Reise möglichst aus dem Weg gehen sollte.«

»Also deshalb hast du mich angesprochen? Um das herauszufinden?« James blickte forschend in ihre kalten, blauen Augen. »Und wie lautet das Urteil?«

»Du darfst mich Boody nennen, Neuer.« Sie stand ruckartig auf und klopfte sich mit schnellen, präzisen Bewegungen einzelne Grashalme vom Kleid. »Aber jetzt muss ich weitermachen. Ich habe noch nicht alles gepackt.«

»Damit müsste ich vielleicht auch so langsam anfangen.« Gillian hatte James bereits daran erinnert, dass seine Koffer heute Abend um Punkt sechs Uhr abgeholt würden, damit sie gewogen und dann an Bord des Zeppelins gebracht werden konnten. Morgen war dann nur noch Handgepäck erlaubt.

Er stand auf. Boody sah ihn an. »Heute Abend findet ein Treffen von Dans Filmclub statt. Wenn du mit Packen fertig bist, kannst du gerne noch vorbeikommen.«

»Filmclub?«

»Im Gemeinschaftsraum, unten im Keller. Als Dans Dad seine Lichtspielhäuser auf Tonfilm umgestellt hat, hat Dan einen Stummfilmprojektor und jede Menge alter Kurzfilme geerbt. Und heute Abend …« Boody lächelte geheimnisvoll. »… hat er mich und Hugo zu einer Sondervorstellung eingeladen. Er hat bestimmt nichts dagegen, wenn du auch kommst. Schließlich gehören wir alle zur Reisegruppe. Ich meine, ich weiß nicht genau, was Dan vorbereitet hat, aber es wird ganz bestimmt lustig werden.«

Das war ein freundschaftliches Angebot.

Freundschaft bedeutet Vertrauen, und Vertrauen kann enttäuscht werden.

»Danke«, sagte James zu Boody. »Aber ich glaube, ich verzichte.«

Dann drehte er sich um und ging ohne ein weiteres Wort zurück auf sein Zimmer.

Er packte seine Koffer, die pünktlich abgeholt wurden, um auf das Flugfeld bei Cardington gebracht zu werden. Dann ließ er sich die Pastete, den Bratenaufschnitt und den Salat in dem viel zu lauten Speisesaal schmecken.

Anschließend setzte er sich in sein Zimmer und hörte BBC. Das ständige Rauschen und Knistern in seinem Funkempfänger passte sehr gut zu seiner eigenen Nervosität: Morgen würde er mit einem Luftschiff nach Amerika fliegen. Er malte sich aus, wie der Zeppelin in einem riesigen Hangar vor Anker lag und für den morgigen Start vorbereitet wurde. Und sie mit an Bord nahm.

Gegen halb elf machte sich sein schlechtes Gewissen bemerkbar und er beschloss, einen Brief an Perry zu schreiben. Sein alter Freund hatte ihm fünfzig Pfund geliehen, damit er das Land verlassen konnte. Seither hatte James sich nicht mehr bei ihm gemeldet. Aber jetzt, bevor er England erneut den Rücken kehrte, hatte er das starke Bedürfnis, ihm zumindest einen Teil dessen zu berichten, was er erlebt hatte.

Er mühte sich eine ganze Weile damit ab, aber schließlich landete auch dieser Brief, genau wie viele andere zuvor, im Papierkorb.

Ein lautes Klopfen an der Tür ließ ihn zusammenzucken.

»James?« Das klang nach Hugo. »James, bist du noch wach?«

James blickte auf die Uhr. Es war schon nach elf. Verwirrt machte er seine Zimmertür auf. Davor stand Hugo, mit puterrotem Gesicht und außer Atem. »Was ist denn los? Kannst du vor Aufregung nicht schlafen?«

»Boody schickt mich. Ich soll dich holen. Oh, Gott, James! Du musst unbedingt mitkommen. Du musst dir ansehen, was wir gesehen haben. Wir brauchen dich, James. Du musst …«

»Langsam, langsam«, protestierte James. »Was ist denn passiert?«

»Komm schon mit!« Hugo hastete schon wieder den Gang entlang. »Das musst du mit eigenen Augen sehen!«

Kapitel 4Leinwandblut