Zarentod - Jörg H. Trauboth - E-Book

Zarentod E-Book

Jörg. H. Trauboth

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Beschreibung

Der russische Präsident und neue Zar, Iwan Pavlenko, zeigt im Ukraine-Krieg plötzlich sein wahres Gesicht. Er will den Krieg gegen die NATO. Russland und die Welt stehen am Abgrund. Der einflussreiche Oli­garch, Alexei Sokolow, will Iwans größenwahnsinnigen Pläne verhindern und plant einen grundlegenden Neuanfang Russlands. Dafür muss der russische Präsident sterben. Am Himmel über Osteuropa droht Alexeis Plan zu scheitern. Der Ex-Elitesoldat Marc Anderson greift ein. "Zarentod" ist der vierte Politthriller aus der Marc Anderson-Reihe vom Erfolgsautor Jörg H. Trauboth.

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Jörg H. Trauboth

ZARENTOD

Das Ende des Präsidenten

Thriller

Jörg H. Trauboth

ZARENTOD – Das Ende des Präsidenten

Thriller

Cover: ratio-books, unter Verwendung von

https://de.123rf.com/profile_kyolshin‘>kyolshin

https://bit.ly/45czGIA

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte vorbehalten!

© 2023

Impressum

ratio-books • 53797 Lohmar • Danziger Str. 30

[email protected]

Tel.: (0 22 46) 94 92 61

Fax: (0 22 46) 94 92 24

www.ratio-books.de

ISBN 978-3-96136-173-1

eISBN 978-3-96136-174-8

published by

Für Franz König

Jörg H. Traubothim September 2023

Inhalt

PERSONEN

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

KAPITEL 34

KAPITEL 35

KAPITEL 36

KAPITEL 37

KAPITEL 38

KAPITEL 39

KAPITEL 40

KAPITEL 41

KAPITEL 42

KAPITEL 43

44. Epilog

»Zarentod« ist das vierte Buch aus der Thriller-Serie um Marc Anderson: Drei Brüder, Operation Jerusalem und Omega. Dieser Polit-Thriller spielt vor dem Hintergrund aktueller politischer Geschehnisse.

Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen, Organisationen und Personen sind frei erfunden, sofern sie nicht als reale Personen oder Institutionen genannt werden. Eine Ähnlichkeit von erdachten Handlungen mit realen Personen wäre zufällig und ist unbeabsichtigt.

Auf dem Friedhof von Iwans Eltern in Sankt Petersburglag ein handgeschriebener Zettel.

Eltern eines Wahnsinnigen, nehmt ihn zu euch.

Er hat so viel Schmerz und Leid verursacht,dass die ganze Welt um seinen Tod bittet.

Tod für Iwan Pavlenko!

Ihr habt einen Freak und Mörder großgezogen.

★Schauplätze des Thrillers »Zarentod«

Quelle: 123rf.com/peterhermesfurian • https://bit.ly/449H9GK

PERSONEN

Russland

Iwan Pavlenko (Präsident von Russland)

Yulia Smirnoff (Partnerin von Iwan Pavlenko)

Boris und Igor (Kinder von Yulia und Iwan)

Konstantin Sorokin (Verteidigungsminister)

Alexei Sokolow (Oligarch)

USA / Washington

George F. Summerhill (Präsident / POTUS)

Kryptos (Chef Central Intelligence Agency / CIA)

Chuck G. Jackson (Stabschef Weißes Haus)

Sally (Pressesprecherin Weißes Haus)

Deutschland / Berlin

Kai Schuster (Bundeskanzler)

Wolfram Fuchs (Chef Bundeskanzleramt und Minister für besondere Aufgaben)

Benno Sartorius (Bundesminister der Verteidigung)

Gert Schreiber (Alt-Bundeskanzler)

Anderson Familie und Freunde

Marc Anderson (Ex-Elitesoldat)

Jelke Anderson (Ehefrau)

Pia Marie (Tochter)

Thomas Heinrich (Ex-Elitesoldat)

Aishe Waldberger (Sanitäterin Ukraine)

Ukraine / Kiew

Bohdan Sapronoff (Präsident)

Iris (Kommandeur Spezialkräfte)

Flug AL401

Darias Vanagas (Kapitän, Ehemann von Edith)

Edith Vanagas (Stewardess, Schwester von Marc Anderson und Ehefrau von Darias)

Maria Kudirka (Co-Pilotin)

Ludmilla Petrow (Stewardess)

Juri Petrow (Passagier)

Jürgen von Bornheim (Deutscher Botschafter Litauen)

Michael Wussow (Ex-CEO Ostsee-Pipeline)

Anastasia Wussow (seine Frau)

Sonstige

Andy (Tower-Controller Minsk)

Hannu Mäkinen (Krisenmanager Regierung Finnland)

Leonid (1. Offizier, Yacht Heavens Gate)

Antonio (Hubschrauberpilot)

Joe (Eurofighterpilot Scramble One)

Freddy (Eurofighterpilot Scramble Two)

Dimitri Strassow (Russischer Strafverteidiger)

François Lavalliere (Deutscher Strafverteidiger)

Nika Petrow (Ukrainischer Soldat)

KAPITEL 1

»Achtung! Hochspannungsleitung in dreihundert Metern!«, rief der Co-Pilot.

»In Sicht!«, erwiderte der Kommandant ruhig und zog kurz vor dem Hindernis nach oben, um den Hubschrauber sofort wieder nach unten zu drücken.

Die beiden Piloten der ukrainischen Streitkräfte führten den alten russischen Hubschrauber vom Typ Mi-8 mit ihren Nachtsichtgeräten in einem Zickzack-Kurs, abseits von besiedelten Gebieten und russischen Verteidigungswällen zum Ziel. Das Ziel hieß Luhansk. Der Auftrag: Befreiung eigener Soldaten aus russischer Gefangenschaft. Für das Himmelfahrtskommando hatten sie sich freiwillig gemeldet und den Flug im von den USA gelieferten Simulator intensiv geübt, inklusive simuliertem feindlichem Beschuss und Ausweichmanövern. Die aktuellen Luftbildaufnahmen des Simulators erwiesen sich nun in der schwach beleuchteten Nacht als äußerst hilfreich. Denn im Donbass hatte sich viel verändert, seit die Region vom russischen Präsidenten Iwan Pavlenko gewaltsam annektiert worden war. Zerstörte Städte, verlassene Dörfer, verminte Fluchtwege, Deportationen, Vergewaltigungen, Massengräber, Armut, Hunger, Durst, Verzweiflung.

Iwan Pavlenko wurde von dem Co-Piloten, einem ehemaligen Geschichtslehrer „Zar Iwan II.“ genannt. Doch nicht nur von ihm. Das ukrainische Volk hasste inzwischen diesen Mann, der mit seinem Größenwahn so viel Leid in die Familien gebracht hatte und ihr Land stehlen wollte. Selbst jene Menschen, deren Denken durch die russische Kultur geprägt war, hatten sich von diesem Irren in Moskau abgewandt.

Der Co-Pilot drehte sich zu Iris, dem Kommandeur der Spezialkräfte und signalisierte »30 Minuten.«

Iris hatte seinen Spitznamen erhalten, weil er – wie die gleichnamige deutsche Flugabwehrrakete – dafür bekannt war, dass er immer ins Schwarze traf. Alles, was Iris anpackte, führte zum Erfolg. Auf einer Straße in Kiew wäre der kinderwagenschiebende, mittelgroße freundliche Mann an der Seite seiner Frau nicht weiter aufgefallen. Niemand konnte ahnen, dass der mit der kleinen Tochter schäkernde Mann eine seltene Symbiose aus Analytiker, Kampfsoldat und Führungspersönlichkeit war und eine steile militärische Karriere vor sich hatte.

Iris betrachtete seine Männer. Die beiden Teams saßen einander gegenüber und blieben trotz des lauten Motorenlärms in dem alten Transporthubschrauber mit gefälschter russischer Kennung völlig entspannt.

Vielleicht war es eine Art meditativer Ruhe vor dem gefährlichen Einsatz. Oder auch das Bewusstsein, dass sie auf diesem nächtlichen Tiefflug in die Oblast Luhansk jederzeit von einer russischen Rakete getroffen werden könnten, ohne irgendetwas dagegen tun zu können. Es waren nicht einmal Fallschirme an Bord, denn jedes Kilogramm zählte für den Rückflug, bei dem die betagte und rappelnde Mi-8 dann voll besetzt sein würde.

Der Kommandeur der Spezialkräfte fixierte den Deutschen gegenüber, der den Blick erwiderte und nickte. Iris hatte die Genehmigung für diesen Befreiungseinsatz mit einem ausländischen Teammitglied von höchster Stelle erhalten. Er hatte nur deshalb zugestimmt, weil der deutsche Marc Anderson im Westen trotz seiner gerade einmal fünfunddreißig Jahre als Legende galt. Gemeinsam mit den US Navy SEALs hatte er eine amerikanische Fliegerbesatzung aus dem tiefsten Afghanistan evakuiert und später als privater Sicherheitsagent mit seinem Team die Familie des US-Präsidenten aus den Händen iranischer Terroristen auf einer Luxusjacht befreit. Dafür wurden er und sein Team persönlich vom US-Präsidenten ausgezeichnet. Die iranischen Terroristen rächten sich und ermordeten brutal Marcs Frau vor ihrem Haus in Hamburg. Seitdem hatte man nichts mehr von ihm gehört. Nun, nach Jahren, war er wieder aufgetaucht und kämpfte in der Ukraine um das Leben seines langjährigen Freundes und Wegbegleiters Thomas Heinrich. »Tom« hatte sich vor sechs Monaten in Kiew bei der Internationalen Legion der Territorialverteidigung der Ukraine beworben.

Iris erinnerte sich. Tom war in seiner Bundeswehr-Kampfausrüstung erschienen. Ein Hüne, nicht verbissen, sondern mit dem Gesicht eines liebevollen Vaters, der aber keine Kinder hatte. Das Interview und die praktischen Prüfungen verblüfften das gesamte Check-Out-Team. Vor ihnen stand nicht einer der vielen Bewerber, die zu Hause eine Identitätskrise hatten und meinten, ohne spezifische Vorkenntnisse die überfallene Ukraine retten zu können. Nein, er war ein ehemaliger Hauptfeldwebel des deutschen Kommando Spezialkräfte mit Kriegserfahrung – treffsicher, schnell, stressresistent, teamerfahren und sofort einsatzbereit. Kein Träumer, keiner, der den Heldentod suchte. Das 2.000-Dollar-Gehalt war ihm nicht so wichtig wie vielen anderen Bewerbern der über 1.000 Mann starken Internationalen Legion. Sein ausgeprägter Wille, die angegriffene Ukraine professionell an vorderster Front zu verteidigen und damit seinen kleinen Teil zum Weltfrieden beizutragen, war seine überzeugende Motivation.

Nach bereits zwei Monaten Einsatz an der Front im Süden der Ukraine wurde er Zugführer und stellvertretender Chef in einer internationalen Kompanie, in der Dänen, Polen, Kroaten, Holländer, Israelis, Letten, Engländer und Kanadier kämpften.

Sein Glück im Kugelhagel währte nur kurz. Während der Schlacht bei Bachmut wurde er durch einen Schuss in den Oberschenkel so schwer verwundet, dass er sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Seine von den Russen gejagten Kameraden berichteten, er hätte in dem Feuer auf freier Fläche seine Mitnahme verweigert und das Team ungedeckt, auf der Straße liegend, durch sein Sperrfeuer gerettet. Sie kamen mit Verstärkung zurück, gerieten erneut unter Feuer, kämpften sich zu der Stelle zurück, wo Tom auf der Straße gelegen hatte, aber er war verschwunden.

Wo war Tom? Verschleppt oder in einem Massengrab verscharrt?

Wochen später führte das russische Staatsfernsehen Thomas Heinrich als einen westlichen Söldner vor und verkündete das Gerichtsurteil aus Luhansk:

»Zum Tode verurteilt wegen des Versuchs, die verfassungsmäßige Ordnung zu stürzen.«

Dasselbe Schicksal erlitten sieben weitere Gefangene der Internationalen Legion.

Iris hatte die Aufnahme wieder und wieder studiert. Toms rechtes Bein war mit einem schmutzigen Verband bedeckt. Er stützte sich mit einem Stock ab, und sein Gesicht zeigte Verletzungen, möglicherweise Folgen von Folter. Doch seinem liebevollen Gesichtsausdruck konnte das nichts anhaben. Tom lächelte in die Kamera, als wolle er seinen Kameraden Mut machen, nicht aufzugeben. Die gequälten Gesichter der übrigen Soldaten zeigten Anzeichen von Leere, Verzweiflung und auch Angst.

Während die Weltpresse berichtete und das russische Staatsfernsehen einen weiteren Beweis für den Krieg des Westens gegen Russland verkündete, tagte in Kiew die oberste militärische Führung. Iris nahm als Kommandeur der Spezialkräfte teil und behielt jedes Wort in dem Bunker genau im Gedächtnis. Die Anspannung im Raum war spürbar, denn der Präsident selbst erwartete als Oberbefehlshaber eine schnelle und angemessene militärische Entscheidung.

»Warum werden unsere Männer in Luhansk festgehalten und nicht irgendwo in der Nähe von Moskau oder sogar in Sibirien?«, hatte der bullige, glatzköpfige Generalstabschef den Geheimdienstchef gefragt. Er sah mit seiner Nickelbrille und den kalten grauen Augen dem derzeitigen CIA-Chef auf der anderen Seite des Atlantiks frappierend ähnlich. Iris hatte sich gefragt, ob diese Merkmale eine Voraussetzung für den Posten waren.

»Wir sind uns sehr sicher – und das aus zwei Gründen«, antwortete der Geheimdienstler.

»Erstens wurden die Gerichtsurteile bewusst in der pro-russischen Separatistenregion Luhansk gefällt. Damit demonstriert Moskau erneut die gesetzliche Eigenständigkeit der Region. Zweitens nutzen die Separatisten unsere Kämpfer als Schutzschild gegen unsere Angriffe zur Rückeroberung von Luhansk. Sie nehmen die Nähe zur Frontlinie in Kauf, da sie sich am Boden gut verbarrikadiert haben und mit S-300-Flugabwehrraketen geschützt sind. Sie fühlen sich also ziemlich sicher und rechnen nicht ernsthaft mit einer Befreiungsaktion.«

»Und warum sollte unsere Operation in dieser russischen Hölle erfolgreich sein?«, fragte der Generalstabschef, während er Iris, den Verantwortlichen der Operation, ansah.

»Wir haben umfangreiche Vorsorgemaßnahmen am Boden und in der Luft getroffen und planen, mit Hubschraubern auf dem Gefängnishof zu landen.«

»Mit Hubschraubern direkt am Zielort? So wie bei der Ergreifung von Bin Laden? Glauben Sie wirklich, Iris, dass das hier auch funktioniert?«

»Wir sind uns bewusst, dass unsere Situation schwieriger ist. In der US-Operation ging es um die Ergreifung einer Person in einem Wohnhaus in einem neutralen Land, das außerdem informiert war. Bei uns geht es jedoch darum, acht unserer internationalen Kämpfer aus feindlicher Gefangenschaft zu befreien, die in einem gut bewachten Gefängnistrakt untergebracht sind. Und im Gegensatz zur Operation in Pakistan haben wir einen viel riskanteren Anmarschweg.«

»Da haben Sie recht, Iris. Sehr riskant, vielleicht sogar abwegig. Am Ende haben wir nicht nur tote Gefangene, sondern auch tote Befreier.«

»Um das Entdeckungsrisiko zu minimieren, werden wir im nächtlichen Tiefflug ankommen und drei Bodenteams haben, die die Flugabwehrsysteme während unseres Grenzübertritts für mindestens vierundzwanzig Stunden außer Betrieb setzen oder ausschalten. In Luhansk arbeiten zwölf unserer Spione, loyale Ukrainer mit russischen Pässen. Eine von ihnen, eine Ärztin, hat Zugang zum Gefängnis und berichtet, dass alle Gefangenen zwar verwundet, aber transportfähig sind. Während der Erstürmung des Gebäudes wird eine nachtsichtfähige Drohne eines befreundeten Landes über dem Ziel schweben und das Team, sowie unsere Operationszentrale hier mit aktuellen Bildern versorgen. Doch das Beste kommt noch.«

Er zeigte auf den Geheimdienstchef, der, sich seiner wichtigen Aussage bewusst, seine Brille abnahm und in die Runde schaute.

»Im Gefängnis befindet sich auch Nika!«

Überraschtes, ungläubiges Schweigen.

»Nika Petrow, unser Kommandeur der 72. Mechanisierten Brigade aus Wuhledar?«, fragte der Generalstabschef, als hätte er sich verhört.

»Nika wurde doch für tot erklärt!«

»Das haben wir alle geglaubt«, sagte Iris. »Aber dem ist nicht so.«

Jeder im Raum war über die große Panzerschlacht informiert. Der clevere Nika hatte die offenen Felder entlang der vermuteten Aufmarschstraße vermint und die anrückenden russischen Soldaten mit den in den Baumreihen versteckten Panzerabwehrteams auf die verminten Seitenfelder gedrängt. Die dort zerstörten Panzer behinderten die anderen. Wenn alles zum Stillstand kam und die Soldaten aus den Panzern flohen, schlugen die Verteidiger zu. Da ihnen Alternativen fehlten, schickten die Russen tagelang neue Panzerwellen, die von Nikas Truppen erneut zusammengeschossen wurden. 5000 tote russische Soldaten, 130 verlorene Kriegsgeräte, darunter über vierzig Panzer und Truppentransporter. Die berühmte 155. Marineinfanterie-Brigade der russischen Pazifikflotte wurde nahezu vollständig ausgelöscht. Danach verlor sich Nikas Spur im tagelangen Häuserkampf. Man konnte ihn nicht mehr finden.

Der Generalstabschef zeigte sich bewegt: »Meine Güte, … unser Held lebt! Seit wann wissen wir das?«

»Seit genau einer Stunde, direkt aus dem Gefängnis«, antwortete der Geheimdienstler.

»Wie geht es ihm?«

»Er hat einen Schulterdurchschuss nahe der Wirbelsäule und sitzt in einer Einzelzelle. Zwei Mal zwei Meter ohne Licht, ein Eimer als Toilette, russische VIP-Sonderbehandlung.«

Der Generalstabschef kniff verbissen seinen Mund zusammen und sagte: »Ist mir klar. Zar Iwan wird ihm das nie verzeihen. Der Verlust des Eliteverbandes war für ihn fast so schmerzhaft wie die Zerstörung seiner Krim-Brücke.«

»Aus welchen Nationen stammen die anderen Männer?«, fragte er den Geheimdienstchef weiter.

»Neben dem Deutschen, ein US-Amerikaner, ein Kanadier, zwei Tschechen, ein Pole, ein Weißrusse und ein Georgier. Wir haben von allen betroffenen Staaten Anfragen, wie wir mit dem Problem umgehen wollen.«

»Die Sorgen kann ich verstehen. Es geht denen vor allem darum, dass sie nicht in den Verdacht geraten wollen, eigene Soldaten in unserem Krieg zu haben«, kommentierte der Generalstabschef und blätterte durch die Vita der gefangenen Legionäre.

»Was ich hier lese, ist eindeutig. Alle bis auf den Polen haben eine militärische Vergangenheit, diese beiden sogar einen Hintergrund als Elitesoldaten. Der Deutsche ist vom Kommando Spezialkräfte und der Amerikaner von den US Navy SEALs. Interessiert mich aber nur am Rande. Diese Jungs kämpfen mit einem ukrainischen Hoheitsabzeichen, und schon deswegen dürfen wir sie nicht im Stich lassen.«

Er wählte die Nummer des ukrainischen Präsidenten Bohdan Sapronoff und informierte ihn über den Sachverhalt.

»Was empfehlen Sie?«, fragte der Präsident, der als ehemaliger Schauspieler überraschend die Wahl gewonnen, aber nicht ahnen konnte, dass er bald darauf Kriegspräsident der Ukraine sein würde.

»Eine Befreiungsoperation, Herr Präsident.«

»Wie stellen Sie sich das vor, und wie hoch sind die Chancen?«

Der Generalstabschef erläuterte den Plan. »Iris ist der Kommandoführer. Die Chancen liegen über 50 Prozent. Es gibt nur dieses eine Zeitfenster.«

»Okay«, sagte Bohdan Sapronoff. »Ich bin einverstanden. Die Männer rausholen, alle erforderlichen Waffen und Mittel sind freigegeben. Die betroffenen Familien werden erst nach der Rettung informiert. Nichts darf an die Öffentlichkeit gehen. Viel Glück euch allen!«

»Danke, Herr Präsident!«

Sofort begann die operative Feinarbeit. Ein zweiter Hubschrauber sollte als Reserve parallel fliegen. Marc Anderson erhielt ein Intelligence-Briefing über den Gefängnistrakt in der Kaserne und über die Bewachung, studierte die Fotos der Gefangenen und diskutierte mit Iris den Plan für die Befreiung der acht Soldaten. Dabei zeigte sich schnell seine ganze operative Klasse. Iris ernannte ihn danach zu seinem Stellvertreter für die Operation.

Nachdem Marc eingekleidet worden war, sah er kurz geschoren wie einer von ihnen aus. Der kleine Iris blickte zu dem 1,96 Meter großen neuen Freund hoch.

»Wie darf ich dich nennen, Marc? Teutone? Blitzkrieg? Nein, du heißt Gladiator, Marc der Gladiator! Willkommen in deiner neuen Arena!«

»Lass den Quatsch, Iris! Ich will das nicht! Ich bin Marc und sonst nichts, verstanden?«

Iris hatte den Wodka in einem Zug getrunken und gelacht, als er sah, wie Marc an dem Glas nur nippte.

****

»Zwanzig Minuten!«, signalisierte der Co-Pilot. Der Hubschrauber drehte hart an einer Waldkante und tauchte in eine Lichtung ein.

Marc schloss die Augen. Er spürte diese immer gleiche Spannung vor dem Einsatz. Alles war durchdacht. Die Informationslage am Boden gut. Die Ärztin wurde über die anstehende Rettung der Gefangenen nicht unterrichtet. Die ganze Aktion setzte auf strikte Geheimhaltung, Überraschung und Schnelligkeit. In maximal fünf Minuten mussten die Hubschrauber wieder in der Luft sein, danach war mit dem Gegenangriff der kasernierten Soldaten zu rechnen. Hier konnte viel schiefgehen und trotz aller Kampferfahrung dieser ukrainischen Elitesoldaten war die sowjetische befehlsorientierte Ausbildung im System unverkennbar. Zu wenig eigenständiges Handeln, zu starke Ausrichtung auf den Vorgesetzten, zu wenig der Lage angepasstes dynamisches Verhalten. Gott sei Dank wusste Iris, wovon Marc sprach, und hatte Englisch sprechende Männer mit westlicher Auslandserfahrung zusammengezogen. Die Erstürmung des Gebäudes hatten sie in drei Nächten unter allen möglichen Szenarien geübt. »Zehn Minuten!«, signalisierte jetzt der 1. Pilot.

Marc dachte an Jelke in Hamburg. Nach der Heirat hatte er ihr versprochen, mit den »Kriegsspielen«, wie sie es nannte, endlich aufzuhören.

Jetzt saß er hier in einem alten russischen Hubschrauber über feindlichem Gebiet im Tarnfleck ohne Hoheitsabzeichen als hybrid agierender Kampfsoldat. Schlimmer als in den Zeiten beim Kommando Spezialkräfte. Er fragte sich, ob ihn wieder die Droge Einer für Alle, Alle für Einen erfasst hatte. Nein, das war es nicht. Diese Zeit war mit der Ermordung seiner ersten Frau Karina Marie endgültig vorbei. Die Militärzeit war Geschichte, er war damit durch. Weder ein heikler Security-Auftrag aus der Wirtschaft, noch befreundete SEALs, die gelegentlich anfragten, konnten diese Einstellung ändern. Die letzte Mission sollte sein, Tom herauszuholen, der für ihn immer mehr war, als ein Freund oder Kamerad in militärischen Einsätzen. Er war sein Bruder.

Iris hatte Marc berichtet, dass Tom einer der fähigsten Soldaten in der Internationalen Legion war, beliebt wegen seiner Zurückhaltung und Empathie. Marc hatte nichts anderes erwartet. Wenn alles gut liefe, würde er ihn in einer halben Stunde im Hubschrauber haben und er selbst in drei Tagen wieder in Hamburg bei Jelke und seiner Tochter Pia sein. In diesem Augenblick wurde der Hubschrauber zur Seite gerissen.

»Raketenangriff!«, schrie der Kommandant.

****

Seit seinem Abflug hatte sich Marc nicht gemeldet. Obwohl abgesprochen war, dass er während seines Einsatzes offline sein würde, konnte Jelke nur schwer damit umgehen. Sie wusste, dass es um Tom ging, der in Gefangenschaft war und zum Tode verurteilt worden war. Auch für sie war das ein großer Schock, da sie eine lange Freundschaft mit Tom verband.

Tom und die Männer der Maritime Security Services hatten Marc in Syrien in einem Tunnel vor dem sicheren Tod gerettet. Seine Frau Karina Marie, zugleich ihre beste Freundin, war ermordet und das Kind Pia entführt worden. Er war auf der verzweifelten Suche nach seiner Tochter gewesen. Was für eine Zeit! Danach hatte Marc deutliche Anzeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung gezeigt. Seine Schuldzuweisungen, die dramatische Rettung von Pia, die allmählich wachsende Liebe zwischen Jelke und Marc, ihre Hochzeit und Marcs behutsame Rückkehr in seine Firma – all das lag hinter ihnen.

Jelke fragte sich, ob der laufende Einsatz bei ihm alte Wunden wieder aufgerissen hatte. »Was Tom in der Ukraine passiert ist, kann auch dir jetzt passieren, Marc«, dachte sie und versuchte, diesen Gedanken zu verdrängen. Vergeblich. Sie hatte Angst.

Um sich abzulenken, spielte sie Solitaire auf dem Computer. Doch ihre Unruhe blieb und wurde stärker. Ihre Angst-Fantasien steigerten sich, sie träumte schreckliche Szenarien und glaubte, ihn schwer verwundet in einem russischen Gefängnis zu sehen.

Jelke lief im Wohnzimmer auf und ab. Sie schaltete die ntv-Nachrichten-App auf ihrem Smartphone ein und öffnete die Rubrik »Das Neueste«. Das tat sie ständig.

Es gab nichts, was auf den Einsatz ihres Mannes hindeutete. Sie musste mit jemandem reden und dachte daran, Marcs Schwester Edith anzurufen. Sie wählte ihre Nummer, aber brach den Anruf ab. Marc hatte sie gebeten, mit niemandem über seinen Einsatz zu sprechen.

Sie fühlte sich wie in einem Käfig. Nichts wissen, aber zum Schweigen verdonnert. Leichte Wut stieg in ihr auf. Das würde ihr nie wieder passieren! Diesen Mann musste man vor sich selbst schützen. Er zog Katastrophen magisch an, um dann zu einer Rettungsaktion aufzubrechen.

Im selben Augenblick taten ihr die Gedanken leid. In der Firma war es nun einmal Marcs Job, Sicherheitskrisen zu verhindern und im Einsatzfall mit seinen ehemaligen Elitesoldaten zu lösen. Und die Tragödie mit seiner Frau war nicht vorhersehbar gewesen. Wer konnte wissen, dass Karina Marie als Hotel-Managerin auf dem Schiff des US-Präsidenten George F. Summerhill plötzlich in die Hände bestialischer Geiselnehmer geraten würde? Wer konnte ahnen, dass der Rädelsführer überlebt hatte und Rache an Marcs Familie nehmen würde?

Diese Katastrophenserie musste aufhören! Andererseits konnte sie Marc nicht an die Kette legen. Er lebte für das Krisenmanagement.

Das Kopfkino setzte erneut ein: »Zum Tode verurteilt … in Gefangenschaft … Russen … Massaker …«

Sie konnte es nicht mehr aushalten und wählte seine Nummer. Ihr Herz raste wie wild, als sie den Klingelton hörte.

»Geh ran, bitte, geh ran!«

Anrufbeantworter.

Sie legte verzweifelt auf.

****

Der Hubschrauber stand mit laufendem Rotor in einer abgelegenen Waldlichtung. »Sorry, Männer für den Abgang! Eine S-300 Rakete! Das war verdammt knapp!«, rief der Kommandant nach hinten. Die Teams atmeten erleichtert auf und sanken zurück in ihre Sitze.

Iris nahm Kontakt mit dem Gefechtsstand auf.

»Geht es euch gut?«, fragte dieser besorgt.

»Ja, wir sind unverletzt. Sollen wir den Einsatz abbrechen? Wir wurden entdeckt!«

»Ihr könnt weiterfliegen. Unser Bodenteam meldet gerade, dass diese letzte S-300 auf eurem Weg ausgeschaltet wurde.« Wenige Minuten später waren sie wieder in der Luft. Marc versuchte im diffusen Mondlicht den zweiten Begleithubschrauber zu erkennen, doch der blieb unsichtbar. Sie flogen nun in einem wilden Zickzack-Kurs, während sich die Teams fest in ihre Sitze klammerten. Die Lichter der Stadt Luhansk zogen an ihnen vorbei. Iris gab das Zeichen, sich bereit zu machen.

Marc atmete für vier Sekunden in der Atemtechnik der SEALs tief ein. Er ließ die Luft bei geschlossenem Mund in seinen Bauch strömen, hielt dort den Atem für weitere vier Sekunden an und atmete dann langsam durch den Mund aus, während er erneut bis vier zählte.

Gerade als er den Atem anhielt, um ihn für weitere vier Sekunden zu halten, erschütterte ein Geräusch wie von einer Kettensäge den Hubschrauber. Er krachte auf Beton und kippte auf die Seite. Die Triebwerke heulten wie in einem letzten Todesschrei auf, während die desorientierten Männer in ihren Gurten hingen. Im Heck des Hubschraubers schlug eine Stichflamme hoch.

****

»Um Himmels willen, was passiert da gerade?«, rief der Generalstabschef. Die Menschen in der Operationszentrale waren aufgesprungen.

»Die Rotorblätter haben die Kasernenmauer berührt«, antwortete der Geheimdienstchef konsterniert. Sie sahen durch die Helmkamera von Iris, wie sich die Männer durch die nach oben liegende Tür ins Freie schälten.

»Raus hier, die Kiste geht gleich hoch!«, hörten sie ihn rufen. »Eins, zwei, drei …« Der Geheimdienstchef zählte bis zehn. »Sie sind alle draußen, einschließlich der Crew!«, kommentierte er.

Die Explosion des Hubschraubers warf die Männer zu Boden und erleuchtete den gesamten Innenhof.

»Das war es dann wohl!«, flüsterte ein Operator an den Monitoren seinem Kollegen zu.

Der Generalstabschef überlegte einen kurzen Augenblick, ob er den Rückzug befehlen sollte, zumal der zweite Hubschrauber gerade unversehrt den durch das Feuer hell erleuchteten Boden erreicht hatte.

Als hätte der Geheimdienstchef die Gedanken des Generals erraten, schüttelte der verneinend den Kopf. Es war abgemacht, dass Iris und Marc die volle Verantwortung behielten, egal in welcher Situation. Doch eines war gewiss, der Crash hatte nicht nur die Kaserne aufgeweckt, sondern die halbe Stadt.

Iris rappelte sich hoch, verschaffte sich einen Überblick. Das Zielgebäude war hell erleuchtet. Die Elitesoldaten sahen bewaffnete Männer und hörten Befehle.

Iris blickte die Kasernenstraße hinunter, auch dort gingen die Lichter an. Rufe, erste Schüsse!

»Das schaffen wir nicht allein, Iris!«, rief ihm Marc zu.

»Plan B!«

Iris sprach ins Mikrofon: »Terminator, Terminator, Terminator!«

»Terminator bestätigt!«, kam die Antwort zurück.

Die beiden Teams näherten sich dem zweistöckigen Gebäude, während die Hubschrauberpiloten Feuerschutz gaben. Iris signalisierte Marc, dass seine Gruppe den rechten Eingang nehmen sollte, während er selbst den linken übernahm. Die ersten angreifenden feindlichen Soldaten rannten direkt in ihr Feuer. Die acht Männer des Kommandos lehnten an der Hauswand.

Handzeichen.

Erstes Team hinein! Eins – Zwei – Drei – Vier – Sichern.

Lageüberblick.

Feuer auf angreifende Soldaten, Sprengsätze, Schreie.

Langsam bewegten sie sich gegenseitig Deckung gebend auf die Zellen in der oberen Etage zu.

»Kommt hier hoch!«, rief eine Frauenstimme. Iris erkannte sofort die Ärztin, seine Informantin, an ihren schulterlangen blonden Haaren. Sie warf ihm einen Schlüssel zu, wurde im selben Augenblick von einem Schuss getroffen und brach zusammen. Iris wollte zu ihr eilen, als er die Stimme des Drohnen-Operators in seinem Kopfhörer hörte. »Über einhundert Soldaten im Anmarsch, ebenfalls zehn Schützenpanzer.

« Das Alpha-Team von Iris war als erstes an den Türen. Der Schlüssel der Ärztin machte eine Sprengung überflüssig. In wenigen Minuten waren alle Türen geöffnet. Die befreiten Gefangenen stürmten auf ihre Retter zu. Marc und Tom sahen sich einen kurzen Moment an. Marc warf ihm die Maschinenpistole eines getöteten Soldaten zu und drückte ihn sofort zu Boden, als neue Angreifer auf sie zielten. Iris und Marc gaben sich das Zeichen, dass alle Zellen leer waren, aber einer der acht Gefangenen fehlte.

Sie waren weit hinter ihrem Zeitplan. Von draußen rückte eine Armada heran. Sie mussten sofort zu ihrem unversehrten Hubschrauber, dessen Rotoren sie hörten. Aber sie waren gefangen. Jetzt das Haus zu verlassen, wäre Selbstmord. Die ersten Granaten schlugen ein.

Marc sah, dass Iris stark am rechten Arm blutete. Iris winkte ab, nicht wichtig. Tom robbte zu ihm. Keine Zeit, die Jacke auszuziehen, aber die Verwundung sah schlimmer aus, als Iris das signalisiert hatte. Tom riss vom Verband seines Oberschenkels ein Stück heraus und schnürte Iris den Arm ab. Iris nickte ihm dankbar zu.

Die beiden Teams hockten mit den befreiten Männern im Gebäude vor den Türen.

»Hoffentlich«, dachte Marc. »Hoffentlich bleibt der Ersatzhubschrauber intakt, sonst war es das.«

In der Ferne war nun das Ketten- und Motorengeräusch der heranrückenden Panzer deutlich zu hören. Nur ein paar Salven und das Gebäude würde in Schutt und Asche liegen. Sie tauschten Blicke aus. Die Situation war allen klar, auch den sieben Befreiten, die gerade noch den Hauch von Freiheit gespürt hatten und mit erbeuteten Waffen zwischen ihren Rettern lagen.

Marc hatte plötzlich ein Déjà-vu.

»Irak, gescheiterte Geiselbefreiung, Tom an seiner Seite, Massen von Soldaten auf sie zulaufend, zwei gegen Hunderte, eine aussichtslose Situation, auf ein Wunder wartend.« Es gab kein Vorwärts, kein Zurück. Die Teams von Iris und Marc saßen in der Falle. Sie warteten auf die Angreifer, die jetzt durch die Türen brachen.

»Feuer!«, rief Iris. Die ersten Angreifer brachen zusammen, wurden von anderen überrannt und stürmten zu den Befreiern hoch. Zielen, Schießen, Schutz geben, Stellungswechsel. Die nächsten feindlichen Wellen stürmten in das Gebäude. Der ungleiche Kampf war chancenlos.

Iris und Marc sahen sich kurz an. Alles leerschießen, Nahkampf, mehr ging nicht. Marc hielt schützend seinen Körper über den verwundeten Tom. »Ich glaube an Wunder, wie im Irak«, schrie der in den Lärm hinein. Er sollte recht behalten. Ein Heulen in der Luft. Der donnernde Lärm der zwei MiG-29 Kampfflugzeuge, die über die Kaserne flogen, gefolgt von den Explosionen der Bomben, änderte alles. »Terminator« hatte im allerletzten Moment funktioniert.

Der Fliegerleitoffizier in der Operationszentrale in Kiew dirigierte die ukrainischen Piloten anhand der Livebilder der Drohne. Bereits beim ersten Angriff stoppte die heranrückende Kolonne, Fahrzeuge wurden durch die Luft geschleudert. Soldaten flohen panisch.

Die Teams sahen durch die geborstenen Türen und Fenster, wie die Kampfflugzeuge vorbeifegten. Marc dachte, wie schwer es für die Piloten sein musste, diese kleine Kaserne in der Stadt zu finden und mit den veralteten MiGs präzise zu bekämpfen. Er wusste, dass die findigen Ukrainer mit gekauften portablen Navigationsgeräten ihren Job erledigten und westliche Raketen unter ihre MiGs montiert hatten.

Die Angreifer suchten Schutz. Es folgten ein zweiter und dritter Luftangriff auf das Kasernengelände. Dann wurde es ruhig. Meldung des Formationsführers: »Area sauber!«

Der Generalstabschef sah erleichtert, wie die beiden Teams zu dem intakten Hubschrauber hinausstürmten. Ein Soldat aus dem Alpha-Team stützte Iris, dessen Gesicht nun fahl war. Marc hatte Tom über die Schulter gehängt, der kaum laufen konnte.

Die Hubschrauberpiloten rissen die Arme hoch: »Rein mit euch!«

Wenige hundert Meter weiter brachen Panzer durch die Mauer und suchten nach Zielen. Marc wollte gerade als letzter in den Hubschrauber springen, als er eine Person mit langen blonden Haaren im Eingang des Gefängnisgebäudes am Boden liegend sah, den Arm kraftlos gehoben. Aber sie winkte. Die Ärztin! Er überblickte die Lage mit Blick auf die Panzer, rannte zurück, packte die Ärztin unter dem Feuerschutz der Kameraden und erreichte den bereits in der Luft schwebenden Hubschrauber. Sechs Männerarme zogen sie beide hinein, als die Panzer die ersten Salven abfeuerten. Der Hubschrauber senkte sich hinter der Mauer ab und verschwand im Dunkel der Nacht.

Die Piloten flogen den kürzest möglichen Weg zurück, in der Hoffnung, dass aufsteigende russische Jagdflugzeuge und Raketen von den eigenen Iris-T SLM – und Patriot-Flugabwehrwaffen erkannt wurden.

Der verwundete Commander Iris sah sich die Gesichter der Befreiten an. Er meldete nach Kiew: »Operation abgeschlossen, ein Gefangener fehlt, die Ärztin bei uns, insgesamt vier Personen leicht verletzt.«

»Bravo Iris! Wer fehlt?«, fragte der Generalstabschef.

»Nika, er befand sich nicht im Gebäude.«

KAPITEL 2

»Ciao, Mama«, rief Pia.

»Ciao, mein Liebling, bis heute Nachmittag!«

Jelke übergab Pia ihrer Freundin, die sie mit ihrer eigenen Tochter in die Kindertagesstätte Blankenese fuhr. Nächste Woche würde es umgekehrt sein.

Seit Marcs Abflug konnte sie kaum noch schlafen. Warum meldete er sich nicht?

Sie scrollte auch dieses Mal eher erwartungslos durch die Schlagzeilen und stockte, da war es! Der ukrainische Präsident in der morgendlichen Ansprache: »In einer Operation mit unseren Spezialkräften haben wir in der letzten Nacht unsere von Russen in Luhansk festgehaltenen und zum Tode verurteilten ukrainischen Kämpfer befreit. Alle geretteten Soldaten sind wohlauf und mit den Familien vereint.«

Erleichtert und wütend zugleich sprang sie auf. »Und was ist mit meiner Familie, wo ist mein Mann, Herr Präsident?« Ihre Finger flogen weiter über die Tasten, als sie plötzlich Marc im Video sah.

»Marc, warum hast du dich nicht gemeldet?«

Er grinste. »Ich musste dem Präsidenten mit der Veröffentlichung den Vortritt lassen, aber jetzt können wir sprechen. Du siehst, es geht mir gut. Ich komme in einem Stück zurück.« »Oh, Marc, ich will das nie wieder erleben. Wann bist du hier?«

»Ich arbeite daran. Zuerst muss ich zur Grenze nach Polen kommen. Von Rzeszów geht es mit einem Flieger nach Hause. Zivil oder militärisch, ich weiß es nicht. Rechne übermorgen mit mir. Dann werde ich dir erzählen, was passiert ist. Jetzt ist das etwas ungünstig.«

Jelke verstand.

»Ich liebe dich, Jelke.«

»Ich dich auch, mein Schatz. Mach dich auf was gefasst, wenn du zu Hause bist.«

Marc wusste nicht genau, was sie meinte.

»Geht es Pia gut?«

»Bestens, sie hat dich nicht vermisst.«

****

Der neue Tag brach an. Marc würde morgen kommen, wenn alles gut liefe. Bestimmt war er froh. Er war in seinem Job als Security Consultant gelegentlich über Nacht fort, aber er liebte die Abwesenheit von zu Hause nicht mehr. Die Frontarbeit beim Kunden machten seine Leute.

Sie ging ins Bad, prüfte ihr Gesicht im Spiegel und wollte gerade aus ihrem schwarzen Satin-Morgenmantel schlüpfen, als sie hörte, wie sich die Tür öffnete und ihr Hund bellte. Sie sah in den Hausflur und starrte Marc an: »Kannst du bitte schön einmal normal kommunizieren und deine Ankunft melden!« Dann rannte sie zu ihm, sprang mit einem Satz auf ihn zu, mit den Beinen seine Hüfte umklammernd. Marc gelang es gerade noch mit einer Hand die Haustür zu schließen und den Hund streichelnd abzuwehren, als sie von ihm ließ und ihn direkt über den Flur zur Couch zerrte.

»Darf ich vorher noch einmal die Toilette besuchen, gnädige Frau?«

»Nein!«, sagte sie. »Nahkampf, Herr Anderson, jetzt!«

Sie zog seine Hose ganz herunter und nahm erstaunt wahr, dass er olivgrüne lange Unterhosen trug, die sie bisher nicht kannte. Das ukrainische Militär hatte ganze Arbeit an ihrem Mann geleistet. Er hätte auch im Kettenhemd kommen können, es war ihr vollkommen gleichgültig. Sie wollte das, was darunter war, öffnete seine Militär-Unterhose und setzte sich rittlings auf ihn.

Plötzlich sah sie über die Couch hinweg Herrn Schröder, der das Geschehen mit großen Augen betrachtete. Sie wollte laut lachen, aber diese letzte riesige Welle in ihr war zu stark und endete in einem langen hellen Schrei, der nicht mehr aufzuhalten war.

Herr Schröder duckte sich augenblicklich.

Marc zog sie zu sich, umschloss sie liebevoll und flüsterte: »Jeder Nahkampf ist nichts, verglichen mit dieser Frau.«

Sie beugte sich zu ihm, küsste seine dichten dunklen Wimpern, verbiss sich in seinen Ohrläppchen und blieb regungslos auf ihm liegen.

»Ich glaube, das werden Zwillinge, Marc.«

»Zehn Tage Samenstau, kein Wunder«, flüsterte er in ihr Ohr. Sie lachte.

»Du warst mir auch wirklich treu? Die Mädchen in der Ukraine sollen bildhübsch sein.«

Er schmunzelte.

»Wohl wahr, aber sie mögen keine Männer, die ihnen von der besten aller Ehefrauen zu Hause erzählen.«

»Danke, Marc, ich liebe dich so sehr.«

»Und du, Frau Anderson. Warst du mir treu?«

»Ja, seitdem du mich verlassen hast.«

»Kannst du das beweisen?«

»Natürlich, es gibt einen Zeugen.«

»Wie bitte, wer?«

»Herr Schröder.«

»Unser Hund kann leider nicht reden.«

»Aber beißen. Er hat uns gerade mit großen Augen zugeschaut und den Mann unter mir nur nicht gebissen, weil er ihn kannte.«

Marc lachte schallend.

»Das nennt man Multitasking. Okay, akzeptiert. Guter Hund!« Sie lachte den geliebten Mischlingshund aus dem Tierheim an, beugte sich erneut über Marc und führte langsam und zielgerichtet ihre Hand zwischen seine Beine.

»Ich liebe deine olivfarbene Unterhose … nie wieder ohne.« »Und ich liebe diese Frau, ihren Geruch, ihre Augen, ihre Hände. Ich liebe Sie, Frau Anderson, mit allem an Ihnen.«

Es war ihr egal, dass Herr Schröder wieder zuschaute. Sie hatte ihren Marc wieder.

Später fragte er, seine unterwürfige Rolle spielend: »Darf ich jetzt zur Toilette gehen?«

»Ausnahmsweise, mein Krieger. Lust auf ein Frühstück im Bett?«

»Das wäre richtig geil. Was für ein wundervoller Start in den Tag!«

Die Glasen-Uhr schlug achtmal an, als sie mit einem Tablett zurückkam.

»Voila, Herr Anderson! Dein Welcome-Breakfast mit einem gekochten Ei, Käse, Marmelade, Erdbeerjoghurt, Traubensaft, Weintrauben, warmen Semmeln und Champagner.«

»Von der nackten Blondine dahinter ganz zu schweigen!«

»Angeber! Überschätze dich nicht! Wir päppeln dich jetzt erst einmal auf.«

Sie reichte ihm das Tablett und setzte sich zu ihm ins Bett, vor dem sich Herr Schröder bereits in Erwartung eines Leckerlis in Position gebracht hatte.

Von der Elbe hörten sie den anschwellenden und abklingenden Motorlärm der Schiffe. Ein Flugzeug aus Fuhlsbüttel hinterließ einen Streifen am blauen Himmel.

Sie aßen und schwiegen. Jelke versuchte, sich in seine Gedanken hineinzufinden. Er kam aus einer vollkommen anderen Welt. Ohnehin war ihr die Welt der Soldaten fremd. Sie war Sozialpädagogin und zutiefst davon überzeugt, dass der Mensch nicht böse geboren wurde. Sie suchte das Gute im Menschen zu fördern und fürchtete, dass Marc in der Befreiungsoperation Grauenvolles erlebt hatte. Die Breaking News ließen Schlimmes vermuten.

»Magst du reden, Schatz?«

Marc lehnte seinen Kopf zurück. Während seiner Zeit beim Kommando Spezialkräfte hatte er nie über seine Einsätze gesprochen. Sie waren geheim und belastend für andere, die damit nichts zu tun hatten. Er wüsste auch nicht, wie er jemandem erklären sollte, dass er töten musste, um nicht getötet zu werden. Dass er sein Leben für andere oder für ihm wichtige Werte riskierte.

Doch er konnte Jelkes Frage auch nicht ignorieren. Sie kannten sich zu gut, und sie stellte die Frage nie aus Neugier, sondern immer aus tiefer Sorge um ihn. Sie fürchtete wahrscheinlich auch, dass sein altes Verlusttrauma wieder auftreten könnte. Aber diese Sorge war unbegründet. In diesem Einsatz hatte er niemanden verloren, der ihm nahestand, im Gegenteil.

»Wir haben Tom zurückgebracht. Er kuriert sich gerade in Kiew aus.«

»Was für eine wundervolle Nachricht! Ich bin soooo froh, dass du wieder hier bist.«

Sie sah sein ernstes Gesicht. »Geht es dir gut, mein Schatz?«, fragte sie.

»Ja, es geht mir gut. Ich bin sicher, dass der Psychopath in Moskau die Todesstrafe auch umgesetzt hätte. Das haben wir mit einem großartigen Team verhindert.«

Jelke spürte, dass ihre nächste Frage nach Einzelheiten des Einsatzes nicht beantwortet werden würde. Es war auch gleichgültig. Er lag unverletzt neben ihr.

»Welche Verletzung hat Tom?«, fragte sie.

»Durchschuss am rechten Oberschenkel, alles reparabel und ohne Folgen, sagt der Arzt.«

»Glaubst du, dass er bei der Hochzeit deiner Schwester in Litauen dabei sein kann?«

»Du kennst ihn. In Kiew hat er nach seiner Rettung gleich kundgetan, dass er jetzt erst recht wieder zur Front muss. Seine Leute würden auf ihn warten.«

»Und, wird das passieren?«

»Der Kommandeur der Internationalen Liga, ein unglaublich guter Typ, hat ihm neben einer Medaille drei Monate Heimaturlaub verpasst. Danach wolle man über die Zukunft reden.«

»Daran warst du nicht ganz unschuldig?«

»Stimmt, du weißt doch, der Soldat ist zur Kameradschaft verpflichtet. Der Pflicht bin ich nachgekommen«, sagte er und sah sie zwinkernd an.

»Du mit deinem Kameradschaftsfimmel«, meinte sie. »Einmal Soldat, immer Soldat.«

Er lachte. Seine Frau verstand ihn. »Tom wird in den nächsten Tagen wieder in Hamburg sein und sich richtig auskurieren. Außerdem freut er sich auf die Hochzeit meiner Schwester.« Jelke griff zum Nachttisch. »Schau, das ist die Anzeige.«

Edith und Darias Vanagas laden ein …

Marc las den weiteren Text.

»Das ist ja mal etwas ganz Besonderes! Mein Schwager Darias und meine Schwester Edith fliegen die Hochzeitsgesellschaft nach Vilnius!«

»Genau, ich habe mit Edith gesprochen. Sie ist riesig stolz, dass er unser Flugkapitän ist und sie uns als Chefstewardess bewirten darf. Das Ereignis in Vilnius muss wahnsinnig sein! Es soll eine litauische Hochzeit in einer russisch-orthodoxen Kirche mit über einhundert Gästen werden. Darias fährt ganz groß auf und möchte natürlich auch seinen berühmten Schwager präsentieren.«

»Was ich verhindern werde. Wer passt eigentlich auf Herrn Schröder auf?«

»Meine KITA-Freundin, sie hat selbst einen Hund, beide verstehen sich bestens. Prost, mein Lieber! Auf unser wunderbares Leben in Frieden.«

Sie tranken einen Schluck Champagner.

»Du hast so recht, Jelke. Was ich gesehen habe, ist unfassbar.«

Er berichtete, dass in der Ukraine jeder direkt oder indirekt vom Krieg betroffen sei. Viele Familien hätten ihre Ehemänner, Söhne oder Brüder verloren. Soldaten würden ihre Familien vermissen, Wohnungen seien zerstört, und es gäbe regelmäßig Strom- und Wasserausfälle. Das Leben sei grausam, geprägt von Luftalarm, dem Verstecken im Keller und einer großen Sehnsucht, draußen im Café zu sitzen. Doch wenn das möglich wäre, säßen dort zu neunzig Prozent nur Frauen. »Du wirst es kaum glauben, aber der Verteidigungswille der Menschen ist nach fast zwei Jahren Krieg ungebrochen! Sie sind entschlossen, keinen Zentimeter ihres Landes aufzugeben. Sie stehen wie eine Festung hinter ihrem Präsidenten und verabscheuen den Kriegsverbrecher im Kreml. Ich glaube, selbst wenn eine Atombombe fallen würde, würden sie weiter gegen die Russen kämpfen. Ich habe wirklich viel gesehen, aber dieser Krieg übertrifft alles in puncto Grausamkeit. Es ist weitaus schlimmer, als die Bilder zeigen.«

»Was macht das mit dir, Marc? Ich kenne dein Helfersyndrom. Willst du etwa dorthin zurück?«, fragte sie.

»Nein, Jelke. Das Problem lässt sich sowieso nicht auf dem Schlachtfeld lösen.«

»Wie dann?«, fragte sie.

Marc starrte an die Decke.

»Iwan muss verschwinden. Vorher wird es keinen Frieden geben. Nicht für die Ukraine, nicht für die Welt«, sagte er.

»Und wie soll das geschehen?«

»Ich hätte da einige Ideen.«

Sie sah ihn drohend an.

»Untersteh dich! Denke nicht einmal daran!«

»Keine Sorge, das liegt nicht in meinem Zuständigkeitsbereich«, beruhigte er sie.

»Und was ist, wenn die SEALs dich wieder anfordern?«

»Mich alte Krähe? Nein, mein Schatz. Nach diesem Einsatz brauche ich etwas ganz anderes.«

»Ich ahne es. Du möchtest heute deinen Oldie fliegen.«

»Genau, über den Wolken … Wind-Nord-Ost, Startbahn 03 … meine Gedanken sortieren … einfach wie Ikarus über den Horizont blicken.«

Er tippte mit dem Finger in sein Champagnerglas, benetzte ihre Lippen und küsste sie.

KAPITEL 3

Der Bahnhof von Sankt Petersburg war menschenleer. Niemand fragte, warum das Gelände hermetisch abgeriegelt war. Niemand wusste es, außer den drei Personen vom Geheimdienst und dem Bahnhofsleiter, die dem völlig normal aussehendem grünen Personenzug nachsahen, der aber nicht auf vier, sondern auf sechs Achsen fuhr und auf dem Dach eine Spezialausrüstung trug. Niemand außer den Eingeweihten kannte das Ziel des Zuges, und niemand stellte Fragen. Kaum war der ungewöhnliche Personenzug verschwunden, strömten die Menschen wieder in den Bahnhof.

Michael Wussow saß allein in dem schwer gepanzerten Waggon. Sein langjähriger Freund hatte seit dem Krieg in der Ukraine sein Reiseverhalten vollkommen verändert. Er fuhr in seinen eigenen Zügen auf einem eigenen Streckennetz mit für ihn gebauten unterirdischen Bahnhöfen in der Nähe seiner Datschen. Wie bei Wyborg, dem Ziel dieser zweistündigen Fahrt.

Er schaute auf die hölzerne, verzierte Wandvertäfelung, die schweren blauen Gardinen an den hohen Scheiben, die von außen nicht einsehbar und wie Wohnzimmerfenster geschnitten waren. Er betrachtete die dunklen Möbel, die lederne Sitzgruppe auf einem schweren dunkelgrünen Teppich und die Wandbilder des Kremls und der Basilius-Kathedrale, die mit goldenen Lampen eingerahmt waren.

In einem kleinen Bücherregal standen Bücher über die Zaren Russlands, darunter eines mit dem Titel Die Ermordung des letzten Zaren Nikolaus II. und seiner Familie samt Gefolge.

Dieses unglaubliche Ereignis hatte Michael während seiner Ausbildung als Geheimdienstoffizier in der DDR intensiv studiert. Er erinnerte sich. Die Tat fand während der sowjetischen Ära kaum Beachtung, erst als die genauen Umstände der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1918 aufgeklärt wurden, stieg das Interesse daran.

Nach einer Odyssee durch Sibirien wurden die Romanows nach Jekaterinburg gebracht. In jener Nacht wurden die sieben Mitglieder der Zarenfamilie in den Keller geschickt. Die Frauen trugen Kleider, in die pfundweise Schmuck und Perlen eingenäht waren. Dann erschienen die Mörder, von denen einige betrunken waren. Sie erklärten, dass die Anwesenden zum Tode verurteilt seien, und begannen zu schießen. Da die Kugeln am Schmuck der Frauen abprallten, griffen die Mörder zum Bajonett, um die Opfer zu erstechen. Die Bajonette blieben jedoch bei den Mädchen in den Miedern hängen. Es dauerte zwanzig Minuten, bis alle tot war. Selbst der kleine Hund wurde getötet. Die nackten Leichen wurden in eine Grube geworfen, wieder herausgeholt, verbrannt und in eine noch tiefere Grube geworfen.

Das Massaker an den Romanows durch die Bolschewiki wurde aufgearbeitet und die sterblichen Überreste der Zarenfamilie in St. Petersburg in der Peter-und Paul-Kathedrale beigesetzt.

Michael hatte diesen Ort gelegentlich besucht, vielleicht auch, weil er in seiner Arbeit nicht die Frage hatte klären können, ob die Familie des letzten russischen Zaren einem Ritualmord zum Opfer gefallen war.

Er blätterte durch die Seiten, ein Lesezeichen rutschte heraus. Michael las: »Pass bitte immer auf Dich und auf uns alle auf. Yulia.«

Er hörte ein Geräusch hinter sich. Ein junger Mann im schwarzen Anzug erschien. »Bitte Ihren PCR-Test.«

Michael wusste, dass sein Gastgeber auch lange nach der Corona-Pandemie diesen Nachweis grundsätzlich verlangte, wenn er mit jemandem in Kontakt trat.

Der Mann sah sich das Ergebnis »Negativ« an und steckte das Schreiben ein.

»Die Arme heben!« Er untersuchte ihn intensiv nach Waffen. »Umdrehen!«

Er gab ihm ein Zeichen, die Schuhe zu heben, tastete sie mit einem Scanner ab und verließ ihn mit einem kurzen Spasibo, Danke.

Michael hätte sich gewundert, wenn die Kontrolle nicht erfolgt wäre. Er kannte Iwan zu gut, Angst vor Ansteckung, misstrauisch, vorsichtig.

Neugierig betrat er das Bad und staunte kurz. Alle sanitären Anlagen, inklusive Badewanne waren mit goldenen Armaturen ausgestattet. Er sah einen begehbaren Schrank und einen weiteren Nebenraum, offensichtlich eine Sauna. Im Regal eine Haarbürste, eine zweite Zahnbürste und Parfümpackungen aus Frankreich. Alles verschlossen im Originalzustand. Offensichtlich für Yulia vorbereitet, Iwans heimliche Frau, die sich seit Monaten mit den beiden gemeinsamen Jungen in Monaco aufhielt.

Michael dachte zurück. Es war gut, endlich wieder bei seinem Freund zu sein, den er seit 1989 kannte. Er hatte ihm bei einem gesundheitlichen Problem seiner ersten Frau geholfen und ihm später als Chef der East Stream AG gedient.

Sie hatten sich seitdem Hunderte Male getroffen, gemeinsam gejagt, gezecht und gefischt. Iwan brachte Michaels Kinder in Davos das Skifahren bei. Als beide vor gut zwanzig Jahren in einer tiefen Ehekrise steckten, frühstückten sie jeden Morgen gemeinsam und klagten sich gegenseitig ihr Leid. Doch sie verband mehr als das.

Michael war einst Spion der Stasi, Hauptmann der Volksarmee, und Iwan war Major beim KGB. Die beiden sprachen eine Sprache, die der Geheimdienstler. Sie konnten einander lesen, ohne zu sprechen, sie profitierten voneinander. Michael war der unscheinbare Strippenzieher, absolut verlässlich. Iwan förderte ihn wie einen Oligarchen, der er aber nie wurde und auch niemals sein wollte. Ein guter Stasi-Agent fiel nie auf.

Doch mit dem Krieg änderte sich alles. Seine Pipelinefirma wurde in die staatlich gelenkte Insolvenz geschickt. Jetzt stand er im Fokus der westlichen Geheimdienste und war ein Niemand, von dem keiner mehr etwas wissen wollte.

Das gleiche Schicksal ereilte seinen ehemaligen Aufsichtsratsvorsitzenden, den früheren Bundeskanzler Schreiber. Doch dieser führte weiterhin seine Geschäfte, während Michael der einzige Deutsche war, der auf der Sanktionsliste der USA stand.

Das bekam er unmittelbar zu spüren, denn seine Kreditkarten funktionierten nicht mehr und sein Geld auf den Konten war blockiert. Ohne das Geld seiner Frau hätte er diese Reise nach Sankt Petersburg nicht bezahlen können. In Deutschland fühlte er sich zu Hause. Er lebte gerne in seinem Dorf. Doch seitdem seine Beziehung zu seinem Wegbegleiter Iwan bekannt geworden war, wirkte er plötzlich auch auf Nachbarn und Freunde toxisch. Auswandern? Seine Frau wäre gerne für immer in Russland geblieben. Sie war eine glühende Verehrerin von Iwan. Aber er wäre auch in Russland ein Niemand. Er fühlte sich staatenlos und ohne ein Zuhause.

Es tat gut, sich frisch zu machen, nachdem die Reise bereits zwölf Stunden gedauert hatte. Er war von Freiburg mit dem Auto nach Düsseldorf gefahren und dann mit Turkish Airlines nach Istanbul gereist, von dort aus weiter nach Sankt Petersburg. »Alles wegen dieser verdammten Sanktionen«, dachte er. »Der Westen schießt sich selbst richtig ins Aus. Zum Glück gibt es noch die Türkei.«

Er betrat erneut den Wohnbereich des Waggons, suchte sich auf der linken Seite einen Fensterplatz in Fahrtrichtung und betrachtete die vorbeiziehende Landschaft. Die letzten Häuser von Sankt Petersburg verschwanden und zwischen den Wäldern schimmerte im Abendlicht der Finnische Meerbusen. Diese Landschaft liebte er. Sie war ihm aus der Zeit seiner geschäftlichen Aktivitäten in Sankt Petersburg vertraut.

Michael Wussow zuckte kurz zusammen, als sich eine Hand von hinten schwer auf seine Schulter legte.

»Einmal KGB, immer KGB«, sagte Michael auf Russisch, nachdem er sich gefasst hatte.

Er erhob sich, drehte sich um und ergriff die ausgestreckte Hand seines Gastgebers, der ihn lächelnd ansah.

»Schön, dich zu sehen, Michael Michailowitsch.«

Obwohl sein Name nicht wirklich Michailowitsch war, nannte er ihn gerne so, wenn es ernst wurde – Mischa, wenn sie sehr persönlich wurden.

Sie betrachteten sich kurz, um herauszufinden, ob sich der andere verändert hatte. Der kleine schlanke Iwan mit seinem sorgfältig gekämmten dünnen Haar war leger gekleidet. Er trug eine braune Wildlederjacke über einem hellen Rollkragenpullover.

»Schön, dich zu sehen, Iwan. Danke für die Einladung. Ich kann etwas Aufmunterung gebrauchen.«

Iwan nickte, als ob er Michaels Situation sehr gut verstünde, lud ihn mit einer Geste zum gedeckten Tisch ein und ging hinter seinem massigen Freund her. »Was möchtest du trinken, Michailowitsch? Kaffee, Tee, etwas Alkoholisches?«

»Du trinkst grünen Tee, wie immer?«

»Stimmt, wie immer.«

»Dann nehme ich auch gerne einen.«

Iwan winkte einer blau uniformierten und etwas zu stark geschminkten Bahn-Stewardess zu, die sich dezent im Hintergrund hielt.

»Wie fühlt man sich als neuer Zar?«

Iwan schmunzelte.

»So ein Quatsch, nenn mich nicht so, Mischa! Für meinen Vornamen Iwan kann ich nichts. Typisch deutsche Boulevard-Presse! Ich sehe mich nicht als Zaren. Ich herrsche nicht, halte weder Hof, noch sitze ich vor dem Spiegel und probiere Hüte aus. Ich arbeite jeden Tag zwölf Stunden und leiste mir nur sechs Stunden Schlaf.«

»Aber viele Menschen halten dich nach zwanzig Jahren Herrschaft für einen Zaren, und sie gehen davon aus, dass du das bis 2036 auch bleiben möchtest.«

»Meine sogenannten Untertanen verwechseln da etwas mit der Geschichte«, antwortete Iwan mit ironischem Unterton. »Oder, weil sie vielleicht Angst vor dir haben, so wie es üblich in den Zarenreichen war?«, fragte Michael vorsichtig.

»Wer gegen mich ist, bekommt natürlich ein Problem. So ist das nun einmal in einem autokratisch geführtem Land. Wer für mich ist bis zur Selbstaufgabe, wird reich belohnt. Das gilt auch für dich.«

»Das weiß ich Iwan, und es ist gut zu wissen. Ich habe in Deutschland Schwierigkeiten, Freund und Feind zu erkennen.«

»Das kann ich mir in diesen Zeiten gut vorstellen.«

»Und du in deinem Russland, wem traust du, Iwan?«

»Ich vertraue niemandem mehr, außer meiner Familie und meinem Hund …«, er unterbrach sich kurz, sah seinen Besucher eindringlich an und fuhr in nahezu akzentfreiem Deutsch fort: »Und hoffentlich auch dir, Michael Michailowitsch. Ich weiß, dass Berlin deinen Wert erkannt hat. Ich hoffe sehr für unsere Freundschaft, dass du damit richtig umgehen wirst.« Michaels Brust zog sich bei Iwans letzter Bemerkung zusammen. Ein schwieriger Start. Sein Freund hatte sich körperlich und auch charakterlich deutlich verändert. Sein Gesicht wirkte runder, vielleicht aufgedunsen, und er schien härter geworden zu sein. Michael überlegte einen Moment, was wohl der Grund für diese Veränderung sein könnte. Iwan war schon immer etwas unnahbar gewesen, aber er konnte auch ganz anders sein – liebevoll, fürsorglich und warmherzig. Wo war seine russische Seele geblieben? Hatte er sie im Gefängnis seiner Ängste verloren?

Der Tee wurde in einem Geschirr serviert, das Michael aufgrund der goldenen Sternchen und der mit Goldrändern verzierten Wände schnell als ein St. Petersburger Lomonosov-Service erkannte.

»Du reist luxuriös, Iwan. Ich vermute, der Privatzug dient nur zur Tarnung?«

Iwan lächelte. »Es sind nur wenige Waggons mit Wohn-, Arbeits- und Schlafbereichen sowie einem Servicewagen. Für mich gibt es keine effektivere und sicherere Art zu reisen. Meine Air Force One auf Schienen.«

Michael sah aus dem Fenster einen Hubschrauber, der den Zug schon eine Weile begleitete. Das Leben seines Freundes hatte sich stark verändert. Er reiste durch sein Imperium ähnlich wie Kim Jong-un in gepanzerten Zügen. Was für eine Entwicklung bei seinem Freund! Außerdem bezweifelte er, dass diese privaten gepanzerten Züge in einer Zeit der grenzenlosen Aufklärung wirklich noch sicher waren. Wahrscheinlich lag Iwans Sicherheit im ständigen Wechsel seiner Verkehrsmittel begründet, die oft nur leer fuhren und gelegentlich auch mit einem Doppelgänger als Passagier. Angeblich sollte er drei haben.

Der Zug verlangsamte die Fahrt. Die Stewardess erschien und nickte dem Regierungschef zu. Oberhalb des kleinen unterirdischen Kopfbahnhofs ohne jedes Schild erwartete sie eine schwarze Limousine. Die Fahrt führte durch eine malerische Seenlandschaft mit alten Wäldern südlich an Wyborg vorbei. Die Straße schien nicht öffentlich zu sein. Ab und zu sah er Wachsoldaten.

»Meine Urlaubsresidenz wird dir gefallen, fast so schön wie dein Haus im Schwarzwald.«

Nach wenigen Kilometern stoppte der Wagen.

Michael sah einen Sicherheitszaun und Sicherheitsleute mit Hunden.

»Deutlich besser bewacht als meine Datscha im Schwarzwald«, meinte er.

Der Wald auf der rechten und linken Seite der schmalen Straße wurde dichter. Links erblickte Michael einen Helikopterlandeplatz, rechts ein großes Haus mit einem schwarzweißen Holzunterbau und roten Dachziegeln.

»Mein Gästehaus«, sagte Iwan.

Sie folgten noch ein kurzes Stück der Straße bis zum äußersten Ende der Halbinsel und hielten vor einem dreigeschossigen Gebäude mit Terrassen, Sommergärten und einem eigenen Anlegesteg.

Sie betraten das Haus. Michael sah sich um. Die dezente architektonische Einfügung der Anlage in die russisch-finnische Seelandschaft war beeindruckend, wobei innen die edel restaurierten Räume mit den vergoldeten Fliesen und Marmorverkleidungen unverkennbar Iwans Handschrift zeigten. Er liebte St. Petersburger Glanz an den Wänden und auf den Tischen.

Iwan pfiff. Eine schwarze Labradorhündin raste heran und sprang freudig jaulend ihrem Herrchen entgegen. Iwan streckte die Hand aus, die Hündin machte »Platz«. Dann zeigte er ihr, dass sie ihn begrüßen durfte. Sie sprang hoch zu ihm und leckte kurz über sein Gesicht. Michael bemerkte, dass dieses Gesicht plötzlich ganz weich wurde.

»Weißt du, was ich an ihr mag? Sie begrüßt mich, als wäre ich alles für sie. Sie ist positiv, beschützt mich und sie ist unbestechlich.«

»Ich kenne das Gefühl, besonders, wenn man einsam ist«, erwiderte Michael.

»Möchtest du ein deutsches Bier?«

»Gerne, Iwan.«

Sie saßen auf der Terrasse, blickten über das Wasser und genossen ein gegrilltes Steak mit gebackener Kartoffel und Sour Cream. Auf einem Beistellwagen standen Soßen, Salate und Getränke.

Iwan gab dem Service das Zeichen zu verschwinden.

»Wie weit ist es zur finnischen Grenze?«

»Keine zwanzig Kilometer.«

»Rückst du der NATO nicht ein bisschen zu eng auf die Pelle?«, fragte Michael lachend.

»Moment mal. Ich war zuerst hier, danach trat Finnland der NATO bei.«

»Und wie fühlst du dich dabei?«

Iwan antwortete knapp: »Die NATO wird bald der Vergangenheit angehören.«

An dem Tonfall merkte Michael, dass er jetzt nicht weiter insistieren sollte. Der Abend war noch lang. Er wechselte auf die persönliche Ebene.

»Du bist zu einem einsamen Wolf geworden, mein Lieber.« »Ach ja, findest du? Woraus leitest du das ab?«

»So interpretiere ich zumindest die Bilder, die im Westen über dich verbreitet werden. Du sitzt an langen Tischen den Leuten weit gegenüber, schaust finster, hast die Körpersprache eines KGB-Offiziers, der keine Fehler machen will. Du reist nur Richtung Osten und zankst dich mit deinen westlichen Gesprächspartnern, wenn sie dich überhaupt noch anrufen.«

Iwan sah ihn staunend an. »Interessante Interpretation. Nein, mein Lieber, ich spiele mit ihnen. Ich halte die Regierungschefs an der langen Leine. Die Deutschen, Franzosen, Briten und Amerikaner. Ich bin nicht irgendein Verwalter einer Regionalmacht, wie man mich verspottet hat.«

»Daran erinnere ich mich gut«, sagte Michael.

»Ich bin Iwan Pavlenko, der Mann an der Spitze des größten Landes der Welt. Ich bin derjenige, den sie seit einem Vierteljahrhundert völlig unterschätzt haben. Ich hatte immer meinen Plan. Sie glaubten nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 stark zu sein. Jetzt haben sie Angst, weil ich mir nach der Krim unsere andere Heimat zurückhole und natürlich, weil ich den Finger am roten Knopf habe.«

»So ist es, Iwan. Ohne deine Macht mit diesem roten Knopf wäre die Weltlage eine andere«, erwiderte Michael, der aber auch registriert hatte, wie sehr Iwan in der Ich-Form sprach. Er schien noch überzeugter von sich zu sein als früher.

»Weil sie wissen, dass Russland die meisten Atomsprengköpfe auf der Welt hat, buhlen Sie um mein Vertrauen. Sie wollen mich einfangen, um unser Land dann aufs Neue zu demütigen. Machen wir uns nichts vor, Michael. Sie wollen Russland am Boden sehen, zerschlagen, zersplittert und verarmt. Dafür pumpen sie die Ukraine mit Waffen voll und spielen scheinheilig den Friedensapostel. Der Westen hat die Weltordnung neu erfunden. Russland ist böse, der Westen ist gut. Die Europäer sind endgültig zu Vasallen der USA mutiert. Es gab eine Zeit, da reichten wir uns die Hände. Das ist vorbei. Der Westen möchte einen neuen Kalten Krieg. Er soll ihn haben!«

»Und das bedeutet?«

»Ich konzentriere mich noch mehr als früher darauf, sie auszuspionieren, zu spalten und zu verunsichern. Meine Krieger sind in erster Linie die Trolls. Hast du die Meldung gelesen, wonach Berliner den Tiergarten abgeholzt hätten, auf der verzweifelten Suche nach Feuerholz? Das lief wirklich prächtig!«

»Habe ich gelesen. Ich fand es ehrlich gesagt lächerlich.«

»Darum geht es nicht. Entscheidend ist, dass es drei Tage gelesen wurde. Es bleibt immer etwas hängen. Die meisten Menschen sind Idioten.«

»Wenn du das sagst, Iwan. Was mich mehr beschäftigt – warum hast du meine Pipeline in der Ostsee gesprengt? Das war doch deine Tat, du Meister der Tarnung und Täuschung … oder?«

Sein Gegenüber lächelte ein wenig und schwieg. Es gab Geheimnisse, die waren geheimer, als es irgendeine Geheimhaltungsstufe hätte hergeben können.

Michael gab nicht auf: »Es war mir sofort klar, mein Freund. Du wolltest die USA mit ihren Eigeninteressen vorführen, ein bisschen auch die Ukraine. Vor allem wolltest du von Russland ablenken. Wer käme auch schon auf die Idee, dass der Erbauer seine eigene Pipeline zerstört, durch die ohnehin kein Gas mehr fließt. Es wird ja viel gelogen in diesem Krieg, aber das war ein Paradestück der Desinformation. Nur die Deutschen fallen als Täter aus. Die sind dafür zu doof, zu lieb und zu feige.«

Iwan schwieg.

»Du hättest mich als deinen früheren Pipeline-Chef wenigstens vorher anrufen können. Hast du denn deinem Kumpel, dem Bundeskanzler a. D. Gert Schreiber die Wahrheit gesagt?«

Iwan beugte sich zu ihm hinüber: »Du bist hier, Michael Michailowitsch, weil du einer von wenigen bist, denen ich überhaupt noch trauen kann. Ich vertraue weder Ausländern, weder meinen politischen Genossen, weder meinen Militärs noch den Oligarchen. Ich bin umgeben von Speichelleckern, die mir dienen, solange ich sie mit Geld und Macht füttere. Einige scharren schon mit den Hufen und warten nur den richtigen Augenblick ab, dass sie mich im Keller abschlachten, wie Zar Nikolaus II. oder auf einem Hinterhof standrechtlich erschießen können wie Ceausescu oder aus dem Erdloch ziehen wie Saddam Hussein.«

Er unterbrach einen Moment und fuhr fort: »Oder wie Gaddafi zu pfählen. Das Video darüber ist beeindruckend, sehr beeindruckend. Hast du es gesehen?«

»Nein, Iwan, ich kenne es nicht.«

»Menschen sind wie Hyänen, Mischa. Dabei war Gaddafi eine respektierte Figur. Schau dir nur an, was heute aus Libyen geworden ist. Aus diesem Grund unterstütze ich auch Assad in Syrien. Er regiert mit harter Hand, aber das Land ist stabil! Und siehe da, inzwischen wird er in seiner Interessensphäre wieder hoch geachtet! Alles ist nur eine Frage der Zeit und der Geduld, von beidem habe ich reichlich.«

»Aber Assad kann sich nur noch in einem Pulk von Sicherheitsleuten bewegen«, bemerkte Michael.

»Das ist der Preis, den ein Herrscher zahlen muss, mein Lieber. Ich lebe und arbeite in Bunkern, esse nur vorgekostete Gerichte und das allein. Ich ändere ständig meine Routine und habe deswegen vielleicht schon einige Male überlebt.« Wussow ließ das sacken. Das hatte er nicht gewusst. Soweit war es also mit Iwan gekommen.

»Was fürchtest du am meisten, Iwan?«

Iwan zog eine Augenbraue hoch. »Was ich fürchte? Die ganze Palette! Attentäter, Bomben im Flugzeug, Raketenangriffe, wie zum Beispiel hier auf meine Datscha. Eine Vergiftung, eine Entführung oder eine Drohne, wie gerade nördlich von Moskau passiert. Dort wollte ich einen Industriepark besuchen, aber zum Glück habe ich es nicht getan. Vielleicht habe ich schon ähnliche Vorahnungen wie Adolf Hitler. Diese Kamikaze-Drohne, Typ UJ-22 aus der Ukraine, mit siebzehn Kilogramm Sprengstoff an Bord, flog über siebenhundert Kilometer, ohne von unserer Luftverteidigung entdeckt zu werden. Das gleiche Versagen wie damals bei diesem Deutschen, der während des Kalten Krieges mit seinem Sportflugzeug unbehelligt durch halb Russland flog und auf dem Roten Platz landete. Unfassbar! Heute haben wir mit der S-400 das modernste Luftverteidigungssystem der Welt. Aber es gibt trotzdem keine Garantien für mich. Wer nach mir sucht, wird mich finden. Ich kann das Risiko nur minimieren, und das tue ich bis zur Schmerzgrenze.«

Michael schwieg. Er dachte an Iwans Hitler-Vergleich, der sich ähnlich isoliert hatte, über zwanzig Attentaten entkommen war und das letzte am 20. Juli 1944 wie ein Wunder überlebt hatte.

»Wenn jemand die Einsamkeit von Macht spürt, dann bin ich das, Mischa. Es zehrt an einem, es zehrt verdammt, aber die Sache ist es wert.«

»Ist es dir das wirklich wert, Iwan? Du siehst nicht besonders gesund aus«, bemerkte Michael besorgt.

Iwan stand auf und sagte: »Lass uns ins Haus gehen. Ich zeige dir etwas.«

Sie gingen durch das Büro. Michael schmunzelte. Der Raum sah aus wie all die anderen Büros in Iwans Residenzen. So wussten die Zuschauer an den Bildschirmen nie, wo sich der Präsident tatsächlich befand. Sie glaubten, er sei in Moskau. Tatsächlich war er aber am Schwarzen Meer oder hier an der Grenze zu Finnland oder vielleicht in einer Residenz im fernen Osten des Landes, zu der er in seinem perfekt getarnten Zug fuhr. Tarnen und Täuschen war ein Grundsatz, den sie beide als ehemalige Geheimdienstler verinnerlicht hatten. Iwan Pavlenko war darin allerdings ein Meister.